„Lissabon, hattest du denn an Lastern so viel?“ - Voltaires poetische Erdbebendarstellungen


Hausarbeit, 2004

23 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Naturkatastrophen als vom Menschen interpretiertes Phänomen
2.1 Das Erdbeben in Lissabon

3. La Poème sur le désastre de Lisbonne
3.1 Bemerkungen zum Vorwort des Gedichts
3.2 Untersuchung des Gedichts

4. Exkurs: Candide

5. Fazit

Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur

1. Einleitung

Seit je her sind Menschen von Naturkatastrophen fasziniert. Eines der in vielerlei Hinsicht bewegendsten Ereignisse war das Erdbeben von Lissabon im November 1755. Fast keine andere Katastrophe der jüngeren Geschichte hat die Menschen so zur geistigen Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt angeregt. Sowohl für die Geisteswissenschaften als auch für die Weiterentwicklung in naturwissenschaftlichen Bereichen gingen von Lissabon maßgebliche Impulse aus. „Die Zerstörung Lissabons hatte mindestens für die europäische Geschichte eine erheblich größere Wirkung, denn dieses Erdbeben erschütterte nicht nur eine irdische Region, sondern auch eine kulturelle, wissenschaftliche, geistige Welt.“[1]

Viele Dichter und Denker haben sich mit dem Beben von Lissabon beschäftigt. Goethe beschreibt in Dichtung und Wahrheit seine Erinnerungen an das Jahr 1755. Kleist nahm die Szenerie der portugiesischen Stadt für seine Novelle des Erdbebens von Chili auf. Rousseau und Kant suchten in der Katastrophe Argumentationsansätze menschlicher Existenz in der Natur.

Als einer der ersten äußerte sich Voltaire öffentlich zu den Begebenheiten in Lissabon. Es ist bekannt, dass ihn die Katastrophe sehr beschäftigte, dass er in einer seiner ersten schriftlichen Äußerung anstatt seines damaligen Wohnortes Genf, Lissabon auf den Absender schrieb. Sein Gedicht La Poème sur le désastre de Lisbonne soll Gegenstand dieser Arbeit sein. Es ist von vielen Seiten untersucht, interpretiert und zitiert worden, so dass man es als ein wichtiges literarisches Zeugnis des Erdbebens von Lissabon ansehen kann. Horst Günther fasst die Literarität, die von Voltaires Erdbebengedicht ausgeht, mit folgenden Worten zusammen: „Das Außerordentliche daran war, daß diese Revision in der Poesie vollzogen wurde und daß Voltaire damit seinen Stil für die heitere Darstellung einer gräßlichen Welt und die gottvolle Naivität, die die seine war, endlich finden sollte.“[2]

Daneben werde ich in einem kurzen Exkurs auf das fünfte und sechste Kapitel in Voltaires Roman Candide oder Der Optimismus eingehen, weil er dort ebenfalls die Katastrophe von Lissabon reflektiert.

Grundsätzlich habe ich versucht, die poetologischen Beschreibungen des Erdbebens in den Vordergrund meiner Betrachtungen zu stellen, denn sie sind es, die im Mittelpunkt einer literaturwissenschaftlichen Arbeit stehen sollten. Allerdings traten dabei einige Schwierigkeiten auf, weil sowohl für den Roman als auch für das Gedicht die stilistischen Werkzeuge eher Mittel zum Zweck sind. Beide haben ihre Schwerpunkte in der Auseinandersetzung mit den philosophischen Fragestellungen ihrer Zeit, so dass diese Arbeit nicht umhin kommt, auch ihnen ein besonderes Augenmerk zu widmen.

Das wirkt sich auch in der Forschungsliteratur aus, die insbesondere die philosophischen Ansätze reflektiert. Diverse Autoren haben sich der Theodizeefrage in Voltaires Werken gewidmet. Allerdings kommen beispielsweise die Voltaire-Forscher Theodore Besterman und Horst Günther sowie Thomas E. Bourke, Florian Dombois und natürlich auch Wolfgang Breidert, an dessen deutscher Übersetzung sich diese Arbeit orientiert, nicht an einer, wenn auch nur kleinen, literaturwissenschaftliche Interpretation vorbei.

Und trotzdem sind es natürlich die poetischen Mittel, die von Voltaire zur Beschreibung und Auseinandersetzung des Erdbebens von Lissabon verwendet werden, und nicht etwa, wie man es von Katastrophen unserer Zeit her kennt, im nachrichtlich-journalistischen Stil verfasste Texte.

2. Naturkatastrophen als vom Menschen interpretiertes Phänomen

Was sind Naturkatastrophen und was erzeugt deren positive und negative Faszination? Ist es die unbeschreibliche Kraft und Gewalt oder das Leid, das sie anrichten? Sind es auf der anderen Seite aber nicht auch Ereignisse in deren Folgen nicht Leid sondern fruchtbares Land stehen, wie beispielsweise bei Flutkatastrophen? Im Fokus eines gesellschaftlichen Diskurses stehen wohl eher diejenigen, die Leid und Unglück über eine Region und seine Menschen bringen. Wie wird demnach ein Erdbeben oder eine Sturmflut zur Katastrophe, welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein?

Erdbeben und Vulkanausbrüche gehören zunächst ganz allgemein zu den Naturgefahren. Sie können reell zu Naturereignissen werden. Man spricht aber erst dann von Naturkatastrophen, wenn diese Ereignisse schwerwiegende Folgen für den Menschen haben, sein Leben oder sein Hab und Gut und seine Umwelt haben. Ein Erdbeben oder ein Vulkanausbruch in einer unbesiedelten Vollwüste oder Polargegend wird daher – auch wenn es noch so stark sein sollte – nicht unbedingt zu einer Katastrophe werden.[3]

Diese Definition macht deutlich, dass es eine Verbindung zwischen dem Menschen und dem Naturereignis geben muss. Um es auf den Punkt zubringen: Die Katastrophen, gleich welcher Art, stellen einen fundamentale Bedrohung der menschlichen Existenz dar. Die Natur bringt den Menschen in eine Situation, die für ihn nicht beeinflussbar ist, sie setzt ihn einer sein Leben bedrohenden Gefahr aus. Daraus entsteht das natürliche Bedürfnis des Menschen, solche Dinge zu erklären, in ihnen einen Auslöser oder einen tieferen Sinn zu suchen. Verständlich ist dabei, dass man sich bei Unerklärlichem zuerst einer metaphysischen Deutung öffnet. Denn es ist unter anderem das Nicht-Wissen, das Unkalkulierbare und Unvorhersehbare, was dem Kampf gegen die Naturgewalten eine weitere Bedeutungsebene verleiht. Bereits in der Antike wurden so Deutungsansätze gesucht.

Einer verbreiteten Auffassung zufolge forderte die Überschreitung der dem Menschen gesetzten Grenzen, die Missachtung des Göttlichen (die Hybris) den Zorn und die Rache der Götter (die Nemesis) heraus, was sich insbesondere in Naturkatastrophen artikulieren konnte.[4]

Ebenfalls bekannt ist natürlich das alttestamentarische Bild der Sintflut, oder der nordische Kriegs- und Donnergott Thor, der mit einem Schlag seines Hammers die Erde erzittern ließ. Im Falle von Erdbeben ist es demnach nicht schwierig, sich eine göttliche – unter Umständen zornige – Macht vorzustellen. Solche Erklärungen lassen sich unabhängig voneinander sowohl in antiken, christlichen, heidnischen und anderen Kulturen zu unterschiedlichen Zeiten zu beobachten.[5] Demnach können Naturkatastrophen meistens auch in gewisse Verbindung mit sozialen Katastrophen gebracht werden.

Erst mit Beginn der Aufklärung und den Erkenntnissen im naturwissenschaftlichen Bereich konnten weitere Erklärungsmuster abgeleitet werden.

2.1 Das Erdbeben in Lissabon

Die portugiesische Handels- und Hafenstadt Lissabon erlebt in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine blühende Zeit. Durch die Lage an der Mündung des Flusses Tejo, einen gut geschützten Hafen und die Seeverbindung hin zur neuen Welt floriert der Handel zwischen Europa und Amerika. Es gibt ausländische Handelsniederlassungen, Kunst und Kultur werden gefördert, vor Ort sind 90 Konvente ansässig und über 40 Pfarrkirchen stehen in der Stadt.

Am Vormittag des 1. November 1755, am kirchlichen Feiertag Allerheiligen, wird Lissabon von einem starken Erdbeben erschüttert. Gegen 10 Uhr ereignet sich rund 200 Kilometer vor der Küste im Atlantik ein starkes Seebeben. Zu dieser Zeit sind viele der 150.000 Einwohner gerade in den überfüllten Kirchen zum Gottesdienst.

Kurz darauf folgt eine zweite Erschütterung, die mehr als 17.000 Häuser zum Einsturz bringt. Durch den aufgewirbelten Staub verdunkelt sich die Stadt. Nach dem dritten Stoß liegt nahezu die gesamte Stadt in Trümmern. „Er [der Erdstoß] ließ manche Häuser wie auf Wellen reiten und zerstörte auch solidere Gebäude, so auch zur Hälfte den königlichen Palast. Turmteile der Kathedrale durchschlugen das Dach des überfüllten Kirchenschiffs“[6]. Umgefallene Kerzen in den Kirchen und die offenen Herdfeuer in den Häusern verursachen in ganz Lissabon schwere Brände. Fünf Tage lang können einige der Großfeuer in der Stadt nicht gelöscht werden; was nicht durch die Beben zerstört wird, fällt den Flammen zum Opfer. Durch das Epizentrum des Bebens im Atlantik türmen sich die Wassermassen auf, so dass drei Tsunamis in die Mündung des Tejo drücken und über die Stadt rollen. Am Ende der Katastrophe liegt die Stadt zu zwei Dritteln in Schutt und Asche und es sind zahlreiche Opfer zu beklagen. Verschiedene Quellen nennen zwischen 20.000 und 60.000 Tote, „andere, ebenso glaubwürdige Quellen sprechen von über 100.000 Opfern.“[7] Viele Menschen verlieren durch das Unglück ihre Angehörigen, ihr Zuhause und bedingt durch zahlreiche Plünderungen ihren restlichen Besitz.

Der noch junge König Dom José I. ist mit der Situation in der Hauptstadt überfordert. Dennoch setzt er klugerweise den Sebastião José de Carvalho e Mello[8] als Krisenmanager ein. Diesem gelingt es in relativ kurzer Zeit wieder für Ordnung zu sorgen. Er schickt Boten aus, um das Ausmaß der Schäden im Lissaboner Umland zu erfassen, organisiert Aufräumtrupps und lässt gefasste Plünderer zur Abschreckung standrechtlich erhängen.

Das Erdbeben von Lissabon soll bis in Mitteleuropa und Skandinavien spürbar gewesen sein und in Deutschland sollen die Brunnenpegel geschwankt haben. Aber auch noch in Nordafrika und Südwest-Portugal kommt es zu großen Schäden. In den marokkanischen Städten Fez und Mequinez starben 10.000 Menschen durch die Ausläufer. Berechnungen zufolge soll das Beben eine Amplitude von 8,7 auf der heute genutzten Richter-Skala gehabt haben.[9]

Trotz öffentlich geäußerter Überlegungen, ob Lissabon überhaupt an solch gefährlicher Stelle erneut errichtet werden sollte, erwächst die Stadt innerhalb kürzester Zeit wieder aus den Trümmern. Denn nach neueren soziologischen Untersuchungen steht fest: „Selbst nach einer Naturkatastrophe versuchen die Geretteten zurückzukehren, da sie sich nach ihrer Einschätzung für den Rest ihres Lebens sicher glauben.“[10] In unserem Fall also unter der Annahme der Menschen, dass sie mit ihrem Überleben von der Gnade Gottes bedacht wurden, und nicht in der Katastrophe, als Strafe ihrer Sünden, umkommen mussten. Unter diesem metaphysischen Aspekt mag die Erklärung sogar noch plausibler scheinen, als in der heutigen, auf Sicherheit bedachten Welt.

Natürlich ist jeder Tote einer solchen Katastrophe zu beklagen, dennoch muss die Frage erlaubt sein, warum ausgerechnet Lissabon in den Fokus der allgemeinen Diskussion von Denkern, Kirche und Öffentlichkeit geraten ist. Denn bereits vorher gab es Naturkatastrophen, die weit mehr Opfer gefordert hatten.[11] Das Erdbeben von Lissabon löste jedoch etwas aus, was man heutzutage einen wahren intellektuellen und gesellschaftsrelevanten ,Hype’ nennen würde.

3. La Poème sur le désastre de Lisbonne

Das Erdbeben von Lissabon wird für Europa ein nahezu paradigmatisches Ereignis, das im Zeichen der Aufklärung eine besondere Bedeutung erhalten hat. Neben Voltaire und anderen Intellektuellen wird es von einem Großteil der europäischen Bevölkerung umfassend reflektiert. Zahlreiche Gedichte, Pamphlete, Flugblätter und Zeitungsartikel beschäftigen sich mit der Katastrophe und ihren Auswirkungen auf das mentale Gefüge des Kontinents. Dass gerade Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne in dieser Intensität behandelt wird, mag an seiner Popularität, an der intensiven Verbreitung und am nachfolgenden Diskurs mit Rousseau liegen, der eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Der Briefwechsel zwischen beiden wird jedoch publik und zirkuliert innerhalb kürzester Zeit in den intellektuellen Kreisen Europas. Dass hierbei vor allem die Kritik am Optimismus, wie ihn insbesondere Leibniz mit seiner Theodizee vertrat, deutlich wurde, erstaunt nicht. Gerade auch im Hinblick darauf, dass die Berliner Akademie kurz vor dem Erdbeben zur Auseinandersetzung mit diesem philosophischen Ansatz aufgerufen hatte. In genannter Preisschrift sollte über Alexander Popes Lehrsatz „What ever is, is right“ diskutiert werden. Voltaire, der früher mit dem metaphysischen Optimismus Popes sympathisiert hatte, gerät nämlich unter dem Eindruck des Erdbebens in Zweifel an der sinnhaften Einrichtung der Welt.

Bereits drei Wochen nach dem Erdbeben, am 24. November 1755, schreibt Voltaire an seinen Arzt Jean-Robert Tronchin: „Verehrter Herr, die Natur ist grausam. Man kann sich kaum vorstellen, wie die Gesetze der Bewegung in der besten der möglichen Welten solche entsetzlichen Katastrophen bewirken können. […] Was für ein erbärmliches Glücksspiel ist das Leben des menschlichen Daseins!“[12] Voltaires Erschütterung wird hier ohne Zweifel deutlich. In seinem Gedicht zur Katastrophe von Lissabon – das keine zwei Wochen[13] später erscheint - wird diese Entrüstung weiter manifestiert werden. Horst Günther beschreibt Voltaires auslösende Momente mit dem „Dilemma zwischen Güte und Vollkommenheit Gottes und dem Übel in seiner von ihm geschaffenen Welt.“[14]

Von Voltaires Gedicht erscheinen allein im folgenden Jahr 20 Ausgaben. Zeitungen und Zeitschriften rezensieren es und bringen Berichte über die Katastrophe. Diverse Flugschriften kursieren, denen theologische, philosophische und naturwissenschaftliche Veröffentlichungen folgen. „Wenn man sich durch diese Berge von bedrucktem Papier hindurchliest, erkennt man, daß das Ereignis nur deshalb die Phantasie so vieler Menschen beschäftigte, weil Voltaire den Anstoß dazu gegeben hatte.“[15] Harald Weinreich geht noch weiter und konstatiert: „So wird das Erdbeben von Lissabon, hauptsächlich unter der Wirkung des Voltaireschen Gedichtes, ein europäisches Ereignis.“[16] Damit ist dann auch bereits eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach dem ,Hype’ des Lissaboner Erdbebens gegeben. Es war nämlich ein Ereignis, dass in seiner Zeit die aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bestimmte, und so eine allgemein übertragbare Referenz erhielt. Im Folgenden soll nun dem von Besterman erwähnten Anstoß gefolgt und Voltaires Gedicht näher betrachtet werden.

3.1 Bemerkungen zum Vorwort des Gedichts

Voltaire hat dem Lissabon-Gedicht ein sehr ausführliches Vorwort in Prosa vorangestellt, in dem er eine tendenziell gegensätzliche Position zu den Thesen einnimmt, die er später im Poème nennt. Zudem scheint es, als wolle er den Kritikern keinen Vorschub gewähren, so dass man zwischendurch den Eindruck bekommen muss, als würde sich Voltaire auf Popes Seite stellen. „Es gibt immer eine Hinsicht nach der man eine Schrift verurteilen, und eine Hinsicht, nach der man ihr zustimmen kann.“[17] Geschickt fasst er die Grundthese des Popeschen „Essay on Man“ mit vorangegangener mehrdeutiger Aussage zusammen. Basierend auf Popes Losung „What ever is, is right“ skizziert Voltaire nun leicht überspitzt die daraus resultierende Erkenntnis. Gleichwohl kommt er lakonisch zu folgendem Ergebnis: „Das sind die Konklusionen, die man aus dem Gedicht von Herrn Pope zog, und diese Konklusionen vermehrten sogar noch seine Berühmtheit und den Erfolg dieses Werkes.“[18]

Florian Dombois kommt in seinem Aufsatz deshalb zu folgendem Schluss: „Es handelt sich um eine geschickte captatio benevolentiae, die die Polemik des nachfolgenden Gedichts abzumildern sucht.“[19] Da erscheint es nur konsequent, dass Voltaire von sich als dem Autor in der dritten Person fortfährt, der „[…]sich gegen den Missbrauch, den man mit diesem alten Axiom „Alles ist gut“ treiben kann“[20], wendet. Ferner räumt er ein, dass doch die allgemeine Erkenntnis und Akzeptanz vorherrsche, dass es auf der Welt „Übles wie auch Gutes gibt“[21]. Wobei auch Richard A. Brooks in der Auseinandersetzung mit dem Vorwort bemerkt: „However, these statements should be read with skepticism since their purpose was to avoid offending public opinion.“[22]

So muss man das Vorwort als ambivalentes Konstrukt sehen, dass zum einen die Kritiker besänftigen soll, zum anderen aber bereits vor dem Gedicht auf die offenen Fragen hinzuweisen versucht. Denn die Einsicht nach der Frage Warum? bleibt dennoch weitgehend unbeantwortet, weil keiner der Philosophen bislang eine befriedigende Erklärung für solche menschlichen Unglücke liefern konnte, wie sie durch diese Naturkatastrophe ausgelöst wurden. Demnach prangert das Gedicht vor allem die nach Voltaire sinnverdrehte und fehlinterpretierte Nutzung des „Alles ist gut“ - Grundsatzes an, nicht jedoch den Grundsatz an sich. Wobei sich hier die etwas diplomatische Formulierung nicht verstecken lässt, denn offensichtlich will er mit seinem Vorwort vermeiden, dass sein Gedicht als Tirade gegen die Theodizee oder den Optimismus gelesen wird. Vielmehr geht es um einen „großen Knoten, den alle Philosophen durcheinandergebracht haben“[23].

Indem Voltaire noch vor dem eigentlichen Textbeginn den Standpunkt des Kritikers zum Thema erhebt, muß sich der Blick des Rezensenten notwendig an seinem Gedicht brechen. Anstatt daß nämlich der Kritiker geradewegs den Autor zensiert, kreiert Voltaire eine Konstellation, in welcher er über die Kritiker Popes richtet, die wiederum indirekt als negatives Exempel für Kritiker Voltaires herhalten müssen.[24]

Ein wahrlich raffinierter Schachzug, erwartet doch Voltaire, dass er gerade von den Anhängern des Popeschen Optimismus in seiner Argumentation kritisiert werden würde. Und auch in dem, dem Vorwort angehängten, Post Scriptum lässt es sich Voltaire nicht nehmen die Hintertür einen kleinen Spalt weit offen zu halten. Denn listig sagt er: „[…] daß man nicht das, was er widerlegt, für das, was er akzeptiert, nehmen darf.“[25]

[...]


[1] Wolfgang Breidert: Die Erschütterung der vollkommenen Welt. Darmstadt 1994. S. 6.

[2] Horst Günther: Voltaire. Frankfurt am Main. 1994. S. 41.

[3] Eugen Seibold: Entfesselte Erde. Stuttgart 1995. S. 18.

[4] Holger Sonnabend: Hybris und Katastrophe. Der Gewaltherrscher und die Natur. In: Stuttgarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums. Stuttgart 1998. S. 34.

[5] Dem gegenüber hat Angelos Chaniotis einen interessanten Aufsatz über „Willkommene Erdbeben“ (In: Stuttgarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums. Stuttgart 1998. S. 404-416.) verfasst, in dem die unterschiedlichen Interpretationen im antiken Griechenland erörtert werden. So galten Erdbeben in kriegerischen Auseinandersetzungen auch als Hilfestellung der Götter, um beispielsweise feindliche Mauern zu erschüttern. Neben der beängstigenden Dimension wird hier also auch eine positive Interpretationsmöglichkeit eröffnet.

[6] Eugen Seibold: a.a.O. S. 37.

[7] Lee Davis: Lexikon der Naturkatastrophen. Graz 2003. S. 103. Davis geht aber auch von einer höheren Einwohnerzahl aus; er spricht von 200.000 Überlebenden.

[8] Dieser wird später zum Marquis von Pombal ernannt, und häufig auch nur so in der Forschungsliteratur bezeichnet.

[9] Fernand Salentiny: 6000 Jahre Naturkatastrophen. Zürich 1978. S. 75.

[10] Eugen Seibold: a.a.O. S. 25.

[11] Hier seien einige wenige Katastrophen genannt, die vor Lissabon stattgefunden haben: Erdbeben in Shensi (China) 1556: 830 000 Opfer, Vulkanausbruch des Ätna 1669: 20 000 Opfer, Sturmflut in Kalkutta 1737: 300 000 Opfer, die Große „Mannsdränke“ an der deutschen Nordseeküste 1362: 100 000 Opfer. Vgl. auch Eugen Seibold. a.a.O. S. 20.

Sogar Voltaire reflektiert in seinem Vorwort zum Lissabon-Gedicht verschiedene Katastrophen, die weit mehr Opfer als forderten, als das besagte Erdbeben.

[12] Theodore Besterman: Voltaire. München 1971. S. 300 f.

[13] Vgl. Breidert, S. 53, der vom 4.12. 1755 als Veröffentlichungsdatum spricht; Besterman, S. 302, geht davon aus, dass es sogar schon Ende November verfasst war.

[14] Horst Günther: Das Erdbeben von Lissabon. Berlin 1994. S. 30.

[15] Theodore Besterman: a.a.O. S. 305.

[16] Harald Weinreich: Literatur für Leser. Stuttgart 1971. S. 65.

[17] Voltaire bei Breidert S. 58.

[18] ebd. S. 59.

[19] Florian Dombois: Über Erdbeben. Ein Versuch zur Erweiterung seismologischer Darstellungsweisen. Diss. Berlin 1998 S. 105.

[20] Voltaire bei Breidert S. 59.

[21] ebd. S. 60.

[22] Richard A. Brooks: Voltaire and Leibniz. Genf 1964. S. 93.

[23] Voltaire bei Breidert S. 60.

[24] Florian Dombois: a.a.O. S. 105.

[25] Voltaire bei Breidert S. 60.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
„Lissabon, hattest du denn an Lastern so viel?“ - Voltaires poetische Erdbebendarstellungen
Hochschule
Universität Karlsruhe (TH)  (Institut für Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Katastrophen in Literatur und Natur
Note
1.0
Autor
Jahr
2004
Seiten
23
Katalognummer
V83200
ISBN (eBook)
9783638895071
ISBN (Buch)
9783638895132
Dateigröße
492 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar des Dozenten: "Eine ausgezeichnete Arbeit, die auch abgelegenere Literatur zum Thema nutzt. Kleinere Fehler und ein etwas ausweichender Schluss trüben den Gesamteindruck geringfügig."
Schlagworte
Lastern, Voltaires, Erdbebendarstellungen, Katastrophen, Literatur, Natur
Arbeit zitieren
M.A. Florian Schneider (Autor:in), 2004, „Lissabon, hattest du denn an Lastern so viel?“ - Voltaires poetische Erdbebendarstellungen , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83200

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