Zu Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen von EDV-Simulatiossystemen für schriftliche Echtzeit-Mikrokommunikation - Elizas Nachkommen als Instrumente der Sozionik


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

99 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1) Einleitende Bemerkungen
1.1) Zu Begriff und Einsatzfeld der Sozionik
1.2) Argumentationsziel

2) Soziologische Theorie und simulierte Mikrokommunikation: Ein Integrationsversuch
2.1) Schriftliche Mikrokommunikation
2.1.1) Begriffliche Eingrenzung
2.1.2) Modellierbarkeit in der soziologischen Theorie
2.1.2.1) Meads Symbolischer Interaktionismus
2.1.3) Modellierbarkeit in der EDV: Zur Komplementarität von Theorie und Praxis
2.1.3.1) Historische Grundlagen: Weizenbaums ELIZA und die Folgen

3) Leistungsfähigkeit und –grenzen vorhandener Modellimplementationen
3.1) Exemplarische Darstellung zweier EDV-Implementationen
3.1.1) TESMIK
3.1.1.1) Plattform, Autorin, Entstehungsjahr
3.1.1.2) Interne Funktionsweise (Programmlogischer Ablauf)
3.1.1.3) Bekannte Schwächen Inhalt, Forts.
3.1.1.4) Möglichkeit nutzerseitiger Wissensaddition
3.1.1.4.1) SYNTAKTIK.DAT
3.1.1.4.2) ANSPRACHE.DAT
3.1.1.4.3) WORTE.DAT
3.1.1.4.4) ANSWER.DAT
3.1.2) ELIZA.JS
3.1.2.1) Plattform, Autor, Entstehungsjahr
3.1.2.2) Interne Funktionsweise (Programmlogischer Ablauf)
3.1.2.3) Bekannte Schwächen
3.1.2.4) Möglichkeit nutzerseitiger Wissensaddition

4) Fazit

5) Literatur- und Abbildungsverzeichnis
5.1) Literatur
5.2) Abbildungen

6) Anhang
6.1) TESMIK
6.1.1) Listing aller Module
6.1.1.1) form1.frm
6.1.1.2) form2.frm
6.1.1.3) form5.frm
6.1.1.4) form9.frm
Inhalt, Forts.
6.1.1.5) frmbrowser.frm
6.1.1.6) frmsplash.frm
6.1.1.7) frmtip.frm
6.1.1.8) dialog.frm
6.1.2) Skriptdatei answer.dat
6.1.3) Skriptdatei worte.dat
6.1.4) Skriptdatei ansprache.dat
6.1.5) Skriptdatei syntaktik.dat
6.2) ELIZA.JS
6.2.1) Listing ELIZA.JS

1) Einleitende Bemerkungen

Die Soziologie ist – unabhängig von den vielfältigen Kombinationen an Paradigmen, Methodologierichtungen, Theorien und Methoden, in deren Kontext sie verstanden und betrieben werden kann – bereits durch ihre zuerst von Auguste Comte (1798 – 1857) im Jahre 1837[1] eingeführte lateinisch-griechische Bezeichnung als Wissenschaft gekennzeichnet, die „das systematische und kontrollierte Beobachten und Erklären von regelmäßig auftretenden sozialen Beziehungen, von ihren Ursachen, Bedingungen und Folgen“[2] (nach einer Definition von Imogen Seger 1970) zum Gegenstand hat, also die Frage nach den Strukturen, Sub-/Objekten und Wandelbedingungen sozialen Handelns und sozialer Gebilde.[3] Da Sozialität notwendigerweise die Existenz mindestens zweier über wie auch immer geartete Wege interagierender (nicht notwendigerweise interdependenter), nicht-identischer, strukturell und funktionell plausibel differenzierbarer Akteurselemente voraussetzt, aus deren Interaktion also Sozialität, „Gesellschaftlichkeit“ erst entstehen kann[4], rekurrieren sozialwissenschaftliche Diskussion und Forschung letztlich immer auf Phänomene, die ohne menschliches Wirken nicht existent wären und damit nicht Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung sein könnten. Losgelöst von divergierenden Grundannahmen (mit weitreichenden erkenntnisbezogenen Konsequenzen) über die Beschaffenheit der genannten Akteurselemente (Individualismus-Kollektivismus-Problematik)[5] beschäftigt sich Soziologie also mit den Folgen des Umstandes, daß – zum einen – mehr als ein Mensch existiert, und – zum zweiten – Menschen über von ihnen bewußt oder unbewußt erschaffene Medien in allen Ebenen gesellschaftlicher Interaktion auf andere Menschen (bzw. deren genannte Medien) Bezug nehmen. So ergibt sich auch für die Sozialwissenschaften die methodologische Besonderheit, „daß die ,Objekte’ des Sozialwissenschaftlers selbst handlungsfähige ,Subjekte’ sind, die mit ihrem Handeln einen subjektiven Sinn verbinden“[6], und „daß der Wissenschaftler als Individuum selbst Gegenstand seines Erkenntnisbereiches ist“[7], jedenfalls, was die unterstellte Eigenschaft dieses Wissenschaftlers als Teilnehmer am sozialen Diskurs angeht .

Kollektive soziale Phänomene beliebiger Komplexität lassen sich also theorieungebunden als Produkte menschlicher Interaktion beschreiben. Das grundlegende Potential für fachliche Differenzen im deskriptiven und explanatorischen Aspekt dieser Kollektivphänomene liegt denn auch in der Frage, inwieweit eine rekursive Kausalität von Handlungen in der Mikroebene und der Makroebene der Interaktion besteht, und in welchen Wirkungsmechanismen der jeweiligen Ebene welcher Komplexität sich diese Kausalität niederschlägt. Auf welcher Ebene befindet sich also das am Entstehen, an der Charakteristik, an Wandel und Vergehen von Kollektivphänomenen beteiligte Subjekt, auf welcher Ebene findet die diesbezüglich relevante Handlung statt, und führt diese Handlung unmittelbar zu einer Wirkung auf das beobachtete Kollektivphänomen? Makrosoziologien wie die funktional-strukturelle bzw. die ältere strukturell-funktionale Systemtheorie oder die Kritische Theorie etwa teilen trotz der massiven Unterschiede in ihren Grundannahmen über die Charakteristik, historische Genese und funktionale Differenzierung der Akteure, über Interaktionsmechanismen, -inhalte und –reichweiten sowie in ihren Terminologien und konkret-politischen Wirkungsabsichten dennoch die Annahme, daß die soziale Realität im Theoriesinne konstituierenden Subjekte – „kommunizierende Integrations-/Organisations-/Gesellschaftssysteme“ bei Luhmann[8], „latente kompromißbildende Klassen“ beim frühen Habermas[9] – selbst Makrogebilde sind. Sie leiten also Kollektivphänomene aus Kollektivphänomenen her, gehen von gesellschaftlichen Strukturzusammenhängen aus und betrachten das Individuum als Bestandteil einer Struktur, die zwar ohne es nicht existieren könnte, dessen individuelles Fehlen in der Struktur wiederum dem Wesen dieser Struktur nicht nennenswert abträglich wäre: Luhmann etwa „faßt das, was ansonsten als ,Mensch’, ,Persönlichkeit’ oder ,Individuum’ bezeichnet wird, unter dem Begriff der psychischen Systeme zusammen. Die Bedeutung von Individuen ist für ihn jedoch nachrangig im Vergleich mit ,sozialen Systemen’ wie Regierungen, Unternehmen oder Gesellschaften [...].“[10] Demgegenüber legen soziologische Mikrotheorien (individualistische Verhaltens- und Nutzentheorien nach Homans, Opp und Coleman oder interpretative Theorien wie der Meadsche Symbolische Interaktionismus) den Schwerpunkt darauf, gerade das Verhalten einzelner oder mehrerer Individuen bzw. deren Motive oder Interaktion zu untersuchen (methodologischer Individualismus): „Das Soziale ergibt sich aus einzelnen, an Individuen bestimmbaren Bedürfnissen, Motiven und Handlungen.“[11] Makrophänomene werden demnach als beabsichtigte oder nichtbeabsichtigte Folgen des individuellen Handelns betrachtet und aus der für das Individuum relevanten Situations- und Selektions(Handlungs-)logik über Transformationsregeln der Aggregation erklärt[12].

An dieser Stelle soll nun weder die Aussagekraft oder die Adäquanz, noch die theoretische Geschlossenheit konkurrierender Mikro- und Makroansätze oder gar Ansätzen mittlerer Reichweite erörtert werden. Der kurze Exkurs zeigt jedoch, daß der als gegeben anzunehmende Umstand menschlicher Interaktion je nach wissenschafts- und erkenntnistheoretischer Fundamentierung in vielfältiger Form modellhaft dargestellt werden kann, denn unabhängig von der in Anspruch genommenen Ebene handelt es sich auch bei sozialwissenschaftlichen Theorien um nichts anderes als widerspruchsfreie Verkettungen empirisch gehaltvoller Hypothesen über die Beschaffenheit der (gesellschaftlichen) Realität, die einen Wirkungszusammenhang im Rahmen der theoriespezifischen Begrifflichkeiten und Definitionen unterstellen und vor allem dazu dienen, die unüberschaubare Komplexität des sozial Seienden in eine überschaubare Nomologik zu reduzieren.

1.1) Zu Begriff und Einsatzfeld der Sozionik

Damit ergeben sich für die Soziologie interessante Überschneidungspunkte mit Wissenschaften, die für gewöhnlich nicht intuitiv mit ihr in Verbindung gebracht werden. Gerade in der quantitativ-empirischen Forschungstradition etwa ist inzwischen die Informatik längst Hilfswissenschaft zur Auswertung großer Datenmengen: „Paradigmatisch dafür sind die längst zum sozialwissenschaftlichen Alltag gehörenden Statistikprogramme wie SPSS [...]“[13]. Aber auch für im Ergebnis eventuell weniger zahlenorientierte Anwendungen, wie die theoriefundierte Darstellung komplexer sozialer Modelle und Prognose der Konsequenzen von Parameterschwankungen, bietet sich aufgrund der genannten modellübergreifenden Eigenschaft impliziter und expliziter Wirkungszusammenhänge der Einsatz elektronischer Rechenanlagen an. Dies selbst, obwohl in den „ersten sozialwissenschaftlich relevanten Computersimulationen [...] nur solche Problemdimensionen von den Simulationsprogrammen modelliert werden [konnten, M. A.], die in quantifizierten Größen ausgedrückt wurden – Rohstoffressourcen, Energieverbrauch, Bevölkerungswachstum etc.“[14] Während Klüver dabei mit seiner Grundkritik recht zu haben scheint, die Übertragung sozialwissenschaftlicher Gesellschaftsmodelle in maschinenverarbeitbare Form setze Quantifizierbarkeit der Ursachen- und Resultatfaktoren voraus – schließlich handele es sich bei Computern um Datenverarbeitungsanlagen – greift dieser Einwand dennoch zu kurz, da er von einer prinzipiell makrosoziologisch orientierten Sichtweise auf sozialwissenschaftliche Simulationen ausgeht, die auf Basis statischer Transformationsfunktionen und der Theorie nachgebildeten Variablen funktionieren. Nicht jedoch trifft das Argument zu auf Simulationsansätze mikrosoziologischer Fundamentierung, die durch die Nachbildung autonomer Agenten mit der Kompetenz zu Kommunikation, Wissensmehrung und Gestaltungsfähigkeit der Umwelt dynamische und schwer prognostizierbare kollektive Effektstrukturen auf der Makroebene hervorbringen. Gerade hier wird deutlich, wie nutzbringend Sozionik – die Integration von Soziologie und künstlicher Intelligenz – zur Verbildlichung und Prüfung hochkomplexer Gesellschaftsmodelle sich auswirken kann, zumal das menschliche Abstraktionsvermögen nachweislich mit der Aufgabe überfordert ist, die vielfältigen resultierenden Handlungsfolgen und Rückkopplungen zu integrieren: „Das im sozialen Alltag bewährte Denken versagt demnach häufig bei Problemen, deren Dimensionen nur noch analytisch erfaßbar und der alltäglichen Intuition unmittelbar nicht mehr zugänglich sind.“[15] Sozionik, ein von Malsch 1995[16] geprägter Ausdruck, beschreibt also ein interdisziplinäres Forschungsgebiet fernab „der zivilisierten Normalwissenschaften, wo Informatik und Soziologie sich gute Nacht sagen und wo die Wege der etablierten Forschung sich im Nichts verlieren [...].“[17] Diese zynisch klingende Explikation berücksichtigt, daß „KI [künstliche Intelligenz, M. A.] und Soziologie nicht gerade die geborenen Partner“[18] sind, unter Umständen aufgrund der psychologisch unangenehm anmutenden Nähe zur technizistischen „sozialen Physik“[19] des 19. Jahrhunderts im Sinne Comtes: „[...] wissenschafts-, technik- oder industriesoziologische Untersuchungen [...] ziehen eine Anwendbarkeit von KI-Konzepten auf die soziale Welt [...] entweder überhaupt nicht in Betracht, [...] oder sie weisen ein derartiges Ansinnen kategorisch zurück.“[20] Und in der Tat erschließt sich nicht leicht der Gedanke der Abbildbarkeit theoretischer Begriffe, die integral stützende Bestandteile des sie umgebenden Theoriegebäudes sind, wie der der Systemautopoiesis (Luhmann), des generalisierten Anderen (Mead) oder des Idealtypus (Weber). Diese methodische Unsicherheit impliziert aber nicht allein Unmöglichkeit, da logisch aus einem Widerspruch alles gefolgert werden kann – also neben kategorischer Akzeptanz oder Rejektion sozialwissenschaftlicher Simulationsvorhaben auch eine kritische Beurteilung der situativen[21] und technischen[22] Adäquanz. Das Problem der wechselseitigen Metaphernmigration von Soziologie und Informatik ist also in dem Grad, in dem es als Problem aufgefaßt wird, abhängig von Rahmenbedingungen, die beide Wissenschaften setzen; es liegt also auf einer rein operativen Ebene, nämlich in der Begriffsdissemination für kalkulatorische Zwecke. Hier können Ansätze aus der KI helfen, fehlende definitorische Klarheit im Sinne zu großer interpretativer Dimensionen und innersystematische Kontradiktionen des zu simulierenden Sozialmodells zu beleuchten, indem etwa eine möglichst große Zahl von Eventualitäten der unklar umrissenen Theorieelemente parametrisch in eine Simulation eingeht und im Ergebnis auf die theoretisch unterstellten Makroeffekte rückbezogen wird. „In diesen Kontext gehört auch, daß die ,qualitative’ Dimension vieler soziologisch relevanter Forschungsrichtungen sich in den Programmen wiedergeben läßt ohne unangemessene Forderungen nach exakten Quantifizierungen“[23], so daß Simulationsprogramme – wie bereits angeführt – nicht nur in die Lage versetzt werden, Makromodelle abzubilden[24], sondern auch die Makroeffekte von Mikrointeraktionen durch erschöpfende Operationalisierung etwa des Kommunikationsbegriffes zu verdeutlichen[25]: „Alles andere wäre wieder nur eine Neuauflage des schlechten naturwissenschaftlichen Reduktionismus durch in diesem Fall Programmkonstrukteure. Die völlig unsoziologischen Weltmodelle sind nicht nur in dieser Hinsicht ein warnendes Beispiel.“[26] Sinnvolle Integrationen zeichnen sich aber weiterhin im Einsatz von KI-Technik in der statistischen Datenauswertung ab, „große Datenmengen beispielsweise mit induktiven Verfahren durchzuforsten, latente Zusammenhänge und Strukturen sichtbar zu machen und vorläufige Hypothesen zu erzeugen. In Verbindung mit den multivariaten Verfahren der schließenden Statistik kann die KI somit einen interessanten Beitrag zur empirischen Sozialforschung leisten.“[27]

1.2) Argumentationsziel

Der Gegenstand der vorliegenden Argumentation ist im soziologischen Theoriekanon denn auch auf der Mikroebene gesellschaftlicher Interaktion angesiedelt. Es soll im folgenden der Frage nachgegangen werden, inwiefern über das Medium der Sprache abgewickelte Kommunikationsvorgänge zwischen exakt zwei wechselseitigen Kommunikatoren bzw. Rezipienten in ihrem Inhalts- und Beziehungsaspekt per EDV-gestützter Simulation ab- bzw. nachgebildet werden können; wo diesbezügliche Leistungsgrenzen und -perspektiven zu verorten sind; und, als dringlichstes Anliegen, welche soziologischen, weiterhin linguistischen und sozialpsychologischen Grundkonzepte durch das Modell akzeptiert bzw. realisiert werden, denn: „Ob man will oder nicht, mit den Methoden handelt man sich zugleich die dahinter stehenden wissenschaftlichen Konzepte ein [...], kauft die Konzepte gewissermaßen im Sack [...].“[28] Am Beispiel der von Joseph Weizenbaum 1965 entwickelten Sprechmaschine ELIZA wird gezeigt, daß zur sozialwissenschaftlichen Fundamentierung der Modellannahmen ELIZAs insbesondere der Symbolische Interaktionismus von dessen Methodologie, Terminologie und Wirkungslogik als interpretative Mikrotheorie her herangezogen werden kann. Hierzu werden kommunikationswissenschaftliche Anleihen genommen. Weiterhin sollen exemplarisch an zwei Weiterentwicklungen ELIZAs in deutscher Sprache, einerseits TESMIK von Maren Arnhold 2000, sowie andererseits ELIZA.JS von Heiko Schröder und Peter Teich 1998, die Reichweitengrenzen von Theorie und Simulation demonstriert werden.

2) Soziologische Theorie und simulierte Mikrokommunikation: Ein Integrationsversuch

2.1) Schriftliche Mikrokommunikation

2.1.1) Begriffliche Eingrenzung

Jedweder Kommunikationsakt ist gleichzeitig auch ein Akt sozialen Handelns, also der gesellschaftlichen Interaktion. Dieses ergibt sich nicht nur aus der Etymologie des Ausdrucks „Kommunikation“ von lat. communitas (Gemeinschaft) heraus, sondern auch aus der Notwendigkeit, daß zwischen zwei beliebigen Individuen eines sozialen Gefüges aufgrund der prinzipiellen Nichtzugänglichkeit sämtlicher Persönlichkeits- und Erfahrungsaspekte des Gegenübers[29] ein ständiges Informationsgefälle konstatiert werden kann und ausgeglichen sein will. Kommunikation ist also auch Informationsaustausch, aber nicht nur dieses, da sie eingebettet ist „in Prozesse der Verständigung, der Kooperation und der wechselseitigen Interpretation von Handlungsgründen, Absichten, Mitteilungen und Verhaltenserwartungen.“[30] Somit läßt sich im Umkehrschluß jegliches soziale Handeln auch als kommunikatives Handeln begreifen, da bereits durch jeden Akt, der sich auf menschliche Interaktion auswirkt (wenn auch nur durch das Verändern von Interaktionsrahmenbedingungen, etwa das räumlich höhere Plazieren der Vorsitzenden in einer Gerichtsverhandlung oder das Aufstellen von Verkehrszeichen aufgrund einer kodifizierten Norm), gleichzeitig Informationen ausgetauscht werden. Der situative Status und die besondere Funktion der Vorsitzenden werden gegenüber dem Beobachter herausgehoben; die Verkehrszeichen erinnern an die unveränderte Gültigkeit der Straßenverkehrsordnung. Gleichermaßen ist bereits das Anrempeln eines Fußgängers durch eine Radfahrerin soziales und damit kommunikatives Handeln. Und zwar nicht erst, wenn letzterer sich entschuldigt oder beide in einen Streit verfallen, auch wenn etwa Max Weber diese Konsequenz als für soziales Handeln erst konstitutiv ansieht: „Nicht jede Art von Berührung von Menschen ist sozialen Charakters“[31]. Die derartige Einengung des Kommunikationsbegriffs bzw. des Begriffs des sozialen Handelns erscheint jedoch nicht plausibel, da auch der Zusammenprall von Fußgänger und Radfahrerin über die physikalischen Effekte hinaus unmittelbar soziale Folgen hat – der gesellschaftliche Handlungsspielraum des u. U. verletzten Fußgängers wird gegenüber den Handlungsalternativen ohne Eintreten des Unfalls definitiv beeinflußt – und von einem sozialen Subjekt verursacht wird. Die Kollision ist Ausdruck von vorherigen sozialen Handlungsentscheidungen (die Radfahrerin hat eventuell einem jungen Mann nachgeschaut, der Fußgänger spazierte gedankenverloren auf dem Radweg), über die im Augenblick der Kollision Informationen ausgetauscht werden, wenn auch in sehr drastischer und schmerzhafter Form.

Zu wirksamer, d. h., sozialer Effekte hervorrufender Kommunikation sind also, wie Maletzke 1972 exemplarisch an der Massenkommunikation dargelegt hat[32] bzw. sich aus der Kernfrage des „political approach“ Harold D. Lasswells („who says what to whom in which channel and with what effect?“)[33], ergibt, lediglich vier Wirkungselemente notwendig: Kommunikator(en), Rezipient(en), Medium/Medien und Aussage(n). Damit ist noch nichts über die Struktur der vier Elemente ausgesagt, was auch nicht beabsichtigt, sondern vielmehr theorie- und methodologiebezogen diskutabel ist; dieses Kommunikationsverständnis ist aufgrund seiner interpretativen und vor allem wirkungsbezogenen Offenheit sowohl für Mikro- als auch für Makroansätze soziologischer Forschung als Ausgangspunkt geeignet, da keine Stellung zum Kommunikations- und Rezeptionsvorgang, also zur Art der Informationsverarbeitung an sich, genommen wird. Für Luhmann nach seiner autopoietischen Wende z. B. nimmt die Kommunikation als System selbst die Funktion des Kommunikators und Rezipienten ein, da für ihn aus der Kommunikation körperlicher und psychischer Systeme selektiv ausgewählte und verstandene sowie über andere Systeme übertragene Kommunikation das „konstitutive Element sozialer Systeme“ darstellt[34] und die Rückwirkung der Kommunikation auf psychische Systeme nur wiederum über Kommunikation verbildlicht werden kann. Kontrahent Habermas richtet seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“[35] entsprechend den Inhalt des direkten Kommunikationsvorganges zwischen Individuen im Rahmen ihrer Lebenswelt und den wechselseitigen Beziehungen dieser mit der Systemwelt ins Zentrum einer kritischen Gesellschaftsanalyse.

Somit ist gleichwohl schriftliche Kommunikation unzweideutig als soziales Handeln zu verstehen. Ihrem Wesen entsprechend ist sie indirekt, benötigt also technische Medien wie Tonplatten, Papyrusrollen, Bücher oder Bildschirme, die sie von Sender zu Empfänger übertragen – codiert auf der syntaktischen Ebene in Form abstrakter Symbole, die wiederum auf der semantischen Ebene in Verbindung mit dem inhaltsbezogenen relevanten Vorwissen des/der Rezipienten diesem Deutungs- und Bedeutungsspielräume gestatten. In den Kriterien der Gerichtetheit (Ein-/Mehrseitigkeit), Öffentlichkeit und Rezipientenstruktur ist schriftliche Kommunikation hingegen sehr variabel. Die Verkündung von Gesetzestexten im Bundesanzeiger etwa ist als einseitige und öffentliche Kommunikation mit disperser Rezipientenstruktur charakterisierbar (der Bundespräsident als gesetzunterzeichnende und damit offiziell kommunizierende Instanz erwartet keine unmittelbar an ihn gerichtete Reaktion des Rezipienten). Ein Briefwechsel zwischen engen Freunden andererseits ist weder öffentlich noch einseitig, und auch die Rezipientenstruktur ist quantitativ wie qualitativ sehr begrenzt umrissen.

[...]


[1] Comte, A.: Cours de philosophie positive. Band IV. Paris: 1837. S. 200f.

[2] Seger, I.: Knaurs Buch der modernen Soziologie. München/Zürich: Droemer/Knaur, 1970. S. 13.

[3] vgl. Henecka, H. P.: Grundkurs Soziologie. 5. Auflage. Opladen: Leske + Budrich, 1994. S. 55: „Gleichgültig, welchen Standpunkt ein Soziologe auch einnimmt, das allen Soziologen gemeinsame Interesse gilt den sozialen Umwelteinflüssen und Wirkkräften“. Hervorhebung im Original.

[4] vgl. Scherr, A.: Individuum/Person. In: Schäfers, B.: Grundbegriffe der Soziologie. 4. Auflage. Opladen: Leske + Budrich, 1995. S. 120: „Die einzelnen in ihrer Besonderheit [...] sind als solche kein genuiner Gegenstand der Soziologie. [...] Gleichwohl ist I.[ndividuum/Person, M. A.] ein unverzichtbarer Grundbegriff der Soziologie. Denn nur in gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen können einzelne ihre Besonderheit ausbilden. In umgekehrter Perspektive ist Gesellschaft auch als Resultat individuellen Handelns zu untersuchen.“

[5] Lankenau, K./Zimmermann, G. E.: Methodologie. In: Schäfers 1995, S. 203 - 207.

[6] Esser, H.: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt/Main: Campus, 1993, S. 83.

[7] Lankenau/Zimmermann 1995, S. 205.

[8] vgl. Luhmann, N.: Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Anwendungen der Systemtheorie. In: Soziologische Aufklärung. Band 2/1975. S. 9 – 20.

[9] vgl. Habermas, J.: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt am Main: 1973.

[10] Treibel, A.: Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart. 5. Auflage. Opladen: Leske + Budrich, 2000. S. 31 – 32. Hervorhebung im Original.

[11] Treibel 2000, S. 92.

[12] vgl. Esser 1993, S. 83 – 111.

[13] Klüver, J.: Soziologie als Computerexperiment. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg, 1995. S. 3.

[14] Klüver 1995, ebd.

[15] Klüver 1995, S. 2.

[16] Malsch, T.: Was heißt Sozionik? Referat auf der Klausurtagung „Malaucène II“ am 19. Juni 1995. In: Information & Kommunikation 25/1995. Dortmund: IUK-Institut, 1995.

[17] Malsch, T./Florian, M./Jonas, M./Schulz-Schaeffer, I.: Sozionik. In: Malsch, T. (Hg.): Sozionik: soziologische Ansichten über künstliche Sozialität Berlin: Ed. Sigma, 1998. S. 9.

[18] Malsch 1998, S. 10.

[19] vgl. Comte 1837, S. 6, Anm. 1.

[20] Malsch 1998, S. 16.

[21] im Hinblick auf das erwartete Erkenntnisinteresse

[22] bezüglich der zu erwartenden Programmkomplexität und deren Verhältnismäßigkeit zum Erkenntniswert

[23] Klüver 1995, S. 8.

[24] was v. a. durch Gleichungssysteme geschieht

[25] als durch Multiagentensysteme realisierbare Aufgabe

[26] Klüver 1995, ebd.

[27] Malsch 1998, S. 10-11.

[28] Malsch 1998, S. 11.

[29] im Hinblick auf dessen Sozialisation (Werte- und Normenmuster), Motivationen, exogen oder endogen initiierte kognitive Prozesse sowie Wissensarten, -umfang und –inhalte

[30] Scherr, A.: Kommunikation. In: Schäfers, B.: Grundbegriffe der Soziologie. 4. Auflage. Opladen: Leske + Budrich, 1995. S. 155.

[31] Weber, M.: Soziologische Grundbegriffe. Tübingen: Mohr (Siebeck), 1960. S. 19.

[32] Maletzke, G.: Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Systematik. 2. Auflage. Hamburg: Verlag des Hans-Bredow-Instituts, 1972.

[33] der sogenannten „Lasswell-Formel“, vgl. Lasswell, H. D.: The structure and function of communication in society. In: Bryson, L. (Hg.): The communication of ideas. New York: Harper, 1948.

[34] Krause, D.: Luhmann-Lexikon. 2. Auflage. Stuttgart: Enke, 1999. S. 132.

[35] Habermas, J.: Theorie kommunikativen Handelns. Bdd. 1 + 2. Frankfurt am Main: 1981.

Ende der Leseprobe aus 99 Seiten

Details

Titel
Zu Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen von EDV-Simulatiossystemen für schriftliche Echtzeit-Mikrokommunikation - Elizas Nachkommen als Instrumente der Sozionik
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Soziologisches Seminar)
Veranstaltung
Sozialwissenschaftliche Simulationen und Modelle, PD Dr. Volker Müller-Benedict, Wintersemester 2000/2001
Note
1,3
Autor
Jahr
2000
Seiten
99
Katalognummer
V83927
ISBN (eBook)
9783638001496
ISBN (Buch)
9783638911511
Dateigröße
739 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Leistungsfähigkeit, Leistungsgrenzen, EDV-Simulatiossystemen, Echtzeit-Mikrokommunikation, Elizas, Nachkommen, Instrumente, Sozionik, Sozialwissenschaftliche, Simulationen, Modelle, Volker, Müller-Benedict, Wintersemester
Arbeit zitieren
M. A. Maren Arnhold (Autor:in), 2000, Zu Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen von EDV-Simulatiossystemen für schriftliche Echtzeit-Mikrokommunikation - Elizas Nachkommen als Instrumente der Sozionik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83927

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