In dem vom ursprünglichen Titel "Lyrik des Expressionismus" auf "Lyrik des Expressionistischen Jahrzehnts" umbenannten Aufsatz von 1955 setzt sich Benn mit dem Begriff des Expressionismus auseinander. Ausgehend von der Frage "was ein expressionistisches Gedicht eigentlich ist", bzw. was als "typisch expressionistisches Gebilde" zu gelten habe, muss Benn feststellen: "ich meinerseits weiß es nicht". Diese Äußerung zeigt die Ratlosigkeit, die angesichts des Expressionismusbegriffs und seiner konkreten Anwendung nicht nur die Forschung, sondern auch Benn selbst befällt und die Änderung des Titels notwendig macht. Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der Bezeichnung Expressionismus verwendet Benn den Begriff "in dem ihr seit vier Jahrzehnten zugewachsenen Sinn" und definiert ihn: "als einheitlich in seiner inneren Grundhaltung als Wirklichkeitszertrümmerung, als rücksichtsloses An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehen bis dorthin, wo sie nicht mehr individuell und sensualistisch gefärbt, gefälscht, verwirklicht verwertbar in den psychologischen Prozeß verschoben werden können, sondern im akausalen Dauerschweigen des absoluten Ich der seltenen Berufung durch den schöpferischen Geist entgegensehen". [...]
Zunächst wird es darum gehen, diese Definition Benns aus der geschichtlichen Situation des Dichters in dieser Zeit zu verstehen. Dabei ist ein Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit unerlässlich, da gerade das Ungenügen an der so genannten Wirklichkeit, innerhalb der sich kein Sinn und Ziel des Daseins mehr auffinden lässt, für die Expressionisten eine Wendung zur inneren Wirklichkeit notwendig macht.
Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang das von Benn propagierte "Doppelleben" und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Bedeutung der Kunst, um die es in einem zweiten Teil gehen wird. Gerade um die Bedeutung der Kunst für Benn zu verstehen, ist es außerdem notwendig, sich mit dem von Benn als maßgeblich für den theoretischen Hintergrund seiner Kunstauffassung bezeichneten Autor Nietzsche auseinander zu setzen, so dass die Darstellung wesentlicher Züge der Kunsttheorie Nietzsches einen Platz in dieser Hausarbeit findet.
Schließlich wird es um den in der Definition angesprochenen subjektiven Aspekt in der Kunstproduktion und damit verbunden um die Begriffe der "Artistik" und des "Willens zur Form" gehen, als auch um die mit der besonderen Rolle der Worte einhergehende "Wirklichkeitszertrümmerung" und des "An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehens".
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Begriff der Wirklichkeit
- Wirklichkeitsbegriff Nietzsches
- Äußere Wirklichkeit im "Expressionistischen Jahrzehnt"
- Nietzsche: Dionysos und Apollon
- Innere Wirklichkeit
- Doppelleben
- Bedeutung der Kunst
- Bedeutung der Kunst für Nietzsche
- Bedeutung der Kunst im Expressionismus
- Verhältnis dichterischer Sprache und Wirklichkeit
- Kunst als Form
- Artistik
- Wille zur Form
- Worte
- Schluß
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Hausarbeit analysiert die Theorie des Expressionismus nach Gottfried Benn, wobei die Philosophie Friedrich Nietzsches als maßgeblicher theoretischer Hintergrund in den Fokus gerückt wird. Die Arbeit untersucht, wie Benn die Expressionistische Kunstauffassung in den Kontext seiner Zeit stellt und dabei die Bedeutung der Kunst als Reaktion auf die veränderte gesellschaftliche Wirklichkeit und den Wandel des Wirklichkeitsbegriffs analysiert.
- Der Einfluss der Philosophie Nietzsches auf die Kunsttheorie Benns
- Der Ausdruck des "Expressionistischen Jahrzehnts" als Antwort auf die gesellschaftliche und wissenschaftliche Entwicklung
- Die Bedeutung des "Doppellebens" und die Rolle der Kunst in der Erschließung der inneren Wirklichkeit
- Die Rolle der "Artistik" und des "Willens zur Form" in der Kunstproduktion
- Die "Wirklichkeitszertrümmerung" und das "An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehen" als Ausdruck des expressionistischen Kunstverständnisses
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Die Arbeit stellt den Begriff des Expressionismus vor und beleuchtet Benns Auseinandersetzung mit der Bezeichnung in seinem Aufsatz "Lyrik des Expressionistischen Jahrzehnts". Die Arbeit betont die Bedeutung von Benns Definition des Expressionismus als "Wirklichkeitszertrümmerung" und "schöpferischem Geist".
- Begriff der Wirklichkeit: Dieses Kapitel beleuchtet den Wirklichkeitsbegriff Nietzsches und stellt dessen Einfluss auf die Kunsttheorie Benns dar. Es werden die zentralen Elemente der Philosophie Nietzsches, wie die Subjekt-Relativität der Wirklichkeit und der Fokus auf die Kunst als Ausdruck des Lebens, erläutert.
- Äußere Wirklichkeit im "Expressionistischen Jahrzehnt": Dieses Kapitel analysiert die Kritik des Expressionismus an der "sogenannten Wirklichkeit" und stellt die Veränderung des Wirklichkeitsbegriffs um 1910 dar. Es wird deutlich, wie die schnell voranschreitende Technik und der Entwicklungs- und Fortschrittsglaube die Sichtweise der Welt veränderten und den Expressionismus als Reaktion darauf begreifbar machen.
Schlüsselwörter
Die Arbeit konzentriert sich auf die Theorie des Expressionismus, insbesondere auf Gottfried Benns Definition des Expressionismus als "Wirklichkeitszertrümmerung" und "schöpferischem Geist". Die Analyse beleuchtet den Einfluss der Philosophie Friedrich Nietzsches, insbesondere dessen Fokus auf die Kunst als Ausdruck des Lebens und die Subjekt-Relativität der Wirklichkeit. Zu den weiteren wichtigen Schlüsselbegriffen gehören: "Doppelleben", "Artistik", "Wille zur Form", "An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehen", "Äußere Wirklichkeit", "Innere Wirklichkeit" und "Expressionistisches Jahrzehnt".
- Arbeit zitieren
- Agnes Uken (Autor:in), 1999, Die Theorie des Expressionismus nach Gottfried Benn unter Einbezug der Philosophie Friedrich Nietzsches, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84107