,,Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen - an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Kollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war."
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1888
Mit dieser These in >Ecce homo< sollte Friedrich Nietzsche Recht behalten.
Er gilt als dunkler, aber neuzeitlich-fortschrittlicher Philosoph. Er besticht durch seine poetische Sprachkraft und wurde als sprachschöpferischer Künstler in eine Reihe mit Dostojewskij und Goethe gestellt. Auf der anderen Seite ist seine Arbeit positivistisch1, psychologisch und vor allem unzeitgemäß. Und das muss sie mit dem Anspruch einer Philosophie der Zukunft auch sein: immer unzeitgemäß.
Aufgrund dessen ist es auch nicht verwunderlich, dass er sich an das wagt, was für die Gesellschaft in der er lebt undenkbar ist: die Umwertung aller Werte.
Die Genealogie der Moral gilt als Nietzsches philosophisch geschlossenstes Werk. Nie ist es ihm sonst so gut gelungen, seinem Denken eine systematische Ordnung zu geben. Diese Publikation sollte dazu dienen, einige Hauptvoraussetzungen der vorangegangenen Schrift >Jenseits von Gut und Böse< zu verdeutlichen. Außerdem gab ihm, wie er in der Vorrede zur Genealogie beschreibt, Paul Rée ,,den ersten Anstoss, von meinen Hypothesen über den Ursprung der Moral Etwas zu verlautbaren."
Diese Verlautbarungen wurden so stark und standen derart in Abrede zu geltenden Konventionen und Normen, dass er sie selbst als Streitschrift deklarierte. Die Genealogie ist eine Kampfansage.
,,Sie ist - neben Kierkegaards >Krankheit zum Tode< [...] - sicher deren revolutionärstes Werk seit Kant."4
Inhaltsverzeichnis
I. Vorwort
II. Perspektivierung der Moral
III. Zur Genealogie der Moral
3.2 Erste Abhandlung
3.2. Zweite Abhandlung
3.3. Dritte Abhandlung
3.3. Das asketische Ideal in der Wissenschaft – ein Exkurs –
IV. Die Funktion der Moral
4.1. Grundvoraussetzungen
4.2. Nietzsches Ansatz
4.3 Die Funktion der platonisch-christlichen Moral
4.4. Die Funktion der Moral nach Nietzsche
V. Schlussbetrachtung
VI. Literaturverzeichnis
Alle Angaben und Zitate aus Nietzsches Werken in römischen Ziffern beziehen sich auf: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. Von G. Colli/M. Montinari; dtv/de Gruyter,
I. Vorwort
„Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Kollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1888
Mit dieser These in >Ecce homo< sollte Friedrich Nietzsche Recht behalten.
Er gilt als dunkler, aber neuzeitlich-fortschrittlicher Philosoph. Er besticht durch seine poetische Sprachkraft und wurde als sprachschöpferischer Künstler in eine Reihe mit Dostojewskij und Goethe gestellt.
Auf der anderen Seite ist seine Arbeit positivistisch[1], psychologisch und vor allem unzeitgemäß. Und das muss sie mit dem Anspruch einer Philosophie der Zukunft auch sein: immer unzeitgemäß.
Aufgrund dessen ist es auch nicht verwunderlich, dass er sich an das wagt, was für die Gesellschaft in der er lebt undenkbar ist: die Umwertung aller Werte.
Alle Schriften nach >Also sprach Zarathustra< sind von diesem Gedanken beherrscht. Alle philosophischen Probleme sind für Nietzsche Wertprobleme.
„das Sein des Wertes selbst wird nicht mehr problematisch; überall dort, wo die Philosophie der Vergangenheit dem Sein nachdachte, steht sie – in der Sicht Nietzsches – schon unter der geheimen Führung von Wertgesichtspunkten, sie will dem >Werden< entrinnen, sie wertet das Ständige und Bleibende als das Höhere, Wertvollere, als das Eigentliche.“[2]
Die Genealogie der Moral gilt als Nietzsches philosophisch geschlossenstes Werk. Nie ist es ihm sonst so gut gelungen, seinem Denken eine systematische Ordnung zu geben. Diese Publikation sollte dazu dienen, einige Hauptvoraussetzungen der vorangegangenen Schrift >Jenseits von Gut und Böse< zu verdeutlichen. Außerdem gab ihm, wie er in der Vorrede zur Genealogie beschreibt, Paul Rée „den ersten Anstoss, von meinen Hypothesen über den Ursprung der Moral Etwas zu verlautbaren.“[3]
Diese Verlautbarungen wurden so stark und standen derart in Abrede zu geltenden Konventionen und Normen, dass er sie selbst als Streitschrift deklarierte. Die Genealogie ist eine Kampfansage.
„Sie ist – neben Kierkegaards >Krankheit zum Tode< [...] – sicher deren revolutionärstes Werk seit Kant.“[4]
Sie ist eine bissige und radikale Absage an die teleologische Geschichtsschreibung, Religion und Moral; sie ist die Opposition zu den vorherrschenden geistigen Strömungen seiner Zeit, die Nietzsche in den höchsten Zustand, die Überwindung des Nihilismus führen will.
Will man nun die Frage nach der Funktion der Moral nach Nietzsche angemessen beantworten, muss man sich zuerst eingehender mit der >Genealogie der Moral< beschäftigen. Man wird erkennen, dass sich die Moral seit Sokrates nicht am Besonderen, sondern am Allzumenschlichen, am Allgemeinen orientiert.
Was für Konsequenzen wirft das auf ? Was ist der Entstehungsherd der Begrifflichkeiten gut und böse, oder wahr und falsch in unserer Kultur ? Durch was wird unsere tradierte Moral bestimmt und welche Auswirkungen hat das ?
Diesen Fragen möchte ich versuchen in dieser Seminararbeit nachzugehen und sie zu beantworten.
Dabei möchte ich mich stark an die Genealogie halten, da die Gliederung in die drei Abhandlungen die historische Ableitung und psychologische Typisierung von Ressentiment oder asketischem Ideal, die Richtung zu einer Zweckmäßigkeit der Moral weisen.
Daraus resultierend soll die Funktion der Moral nach Nietzsche abgeleitet werden, der als Kritiker der Moral aber selbst nicht ohne Moral sein kann und dies auch weiß.
Anmerkung:
Nietzsche hat für seine Moralgenealogie eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien herangezogen, jedoch stets „den unbefangensten Gebrauch“ von ihnen gemacht. Er stutzt sich seine Quellen nicht nur für seine Zusammenhänge zurecht, sondern gibt die Quellen als solche in der Regel gar nicht erst an. Autoren[5] nennt er zumeist nur dort, wo er sie angreift, nicht, wo er sie nur zitiert.
II. Perspektivierung der Moral
Den Gedanken einer Perspektivierung der Philosophie und damit auch eine Betrachtung der Moral unter diesen Umständen erwähnt Nietzsche das erste Mal in der >Fröhlichen Wissenschaft<.
„In den ersten Aphorismen formuliert er dabei den Ausgangspunkt der >Genealogie der Moral<: Mit dem Tod Gottes ist die ganze europäische Moral untergraben und damit eine neue Freiheit der Erkenntnis möglich (343). [...] Das Problem der Moral muß seinerseits in einer „Entstehungsgeschichte“ der Moral angegangen werden (345). Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit des Philosophen, da noch zweifeln zu können, wo andere schon glauben müssen.“[6]
Auch im darauffolgenden Werk, dem Zarathustra geht es ihm um die Moral. Bereits die Verwendung der Figur des Zarathustra symbolisiert für Nietzsche das, was er Selbstüberwindung der Moral nennt. Die historische Gestalt des persischen Propheten Zarathustra, der als einer der ersten den Dualismus zweier Wirkmächte in die Welt gebracht hat, soll hier symbolisch auch der erste sein, der diesen zweitausend Jahre alten Irrtum erkennt.
Er, der die Moral durch den Glauben an das Jenseits in die Metaphysik geführt hatte, er der Immanenz und Transzendenz unterschied und so den Beginn eines Wertesystems von gut und böse, Wahrheit und Lüge heraufbeschwor wird jetzt erneut gefragt: „Und was, oh Zarathustra, ist die Moral deiner Geschichte ? [...] Den Vernichter der Moral heissen mich die Guten und Gerechten: meine Geschichte ist unmoralisch.“[7]
Die Rolle Zarathustras hat in unserer Kultur Sokrates inne. Mit seiner Idee des Guten impliziert Sokrates, dass wir etwas nur dann tun, wenn wir wissen, dass es gut ist. Der Unterschied des Guten und Bösen war der auf das Handeln angewendete Unterschied des Wahren und Falschen. Das Denken gilt als „höchstes Gut“, nämlich insofern, dass es unabhängig und frei ist.
Doch zurück zur Perspektivierung. Bereits in >Jenseits von Gut und Böse< zeigt Nietzsche den Versuch Moral neu zu denken. Nämlich unter der Perspektive der Naturgeschichte. Mit dem fünften Hauptstück – zur Naturgeschichte der Moral – tut Nietzsche das, was die Philosophen vor ihm nie gewagt hatten (oder gar nicht auf die Idee kamen): er befasst sich mit dem grundsätzlichen Problem der Legitimität der Moral.
„In aller bisherigen Wissenschaft der Moral fehlte, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der Moral selbst: es fehlte der Argwohn dafür, daß es hier etwas Problematisches gebe. Was die Philosophen >Begründung der Moral< nannten und von sich forderten, war, im rechten Lichte gesehn, nur eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, [...]“[8]
Deswegen betrachtet er die Moral nun als Natur an sich. Das heißt, dass die Moral, die als Natur verstanden sein soll nicht mehr als „gesetzt“ und unabhängig fungieren kann, sondern in Natur und Geschichte verwoben sein muss.
„Das bedeutet: Auch die Natur und die Geschichte werden immer schon von einer Moral aus verstanden. Wir haben es bei Moral, Natur und Geschichte nach Nietzsche mit Perspektiven aufeinander zu tun, mit einem Netz von Perspektiven, in dem jedes aus dem anderen und nur aus dem anderen verstanden werden kann.“[9]
Hiermit enthebt Nietzsche das Denken seiner Vormachtstellung. Das Denken verliert seine Freiheit an eine Moral.
„jeder Philosoph hat bisher geglaubt, die Moral begründet zu haben; die Moral selbst aber galt als „gegeben“. [...] – gerade dadurch, dass sie in Hinsicht auf Völker, Zeiten, Vergangenheiten schlecht unterrichtet und selbst wenig wissbegierig waren, bekamen sie die eigentlichen Probleme der Moral gar nicht zu Gesichte: - als welche alle erst bei einer Vergleichung vieler Moralen auftauchen.“[10]
Der bisherige Umgang mit der Moral, als etwas, was sich von selbst versteht, als etwas, was ein Fixpunkt war, hatte es verhindert, sie als Gegenstand von Zweifeln möglich zu machen.
Diese revolutionäre Perspektivierung ist nun die Bedingung der Möglichkeit für die Moral, sich selbst zu reflektieren; sich aus der Eigenperspektive in Frage zu stellen.
Nietzsche zeigt durch die Perspektive, dass eine Vielzahl an Beurteilungen denkbar sind: gut und böse kann als Nützlichkeitskalkül verstanden werden, wenn es im Sinne des Utilitarismus für jedermann geltend sein soll. Will man gut und böse an sich denken, muss es allerdings (im Sinne Nietzsches, der ein Gegner des Utilitarismus ist) in Frage kommen, dass dieses Nützliche für jeden etwas anderes sein kann.
Das moralisch Gute aber soll homogen, soll für alle dasselbe sein.
Nietzsche führt die Moral der Selbstlosigkeit ad absurdum:
Setzt man ein utilitaristisches Prinzip zu Grunde, „so kann jeder vom anderen dasselbe Gute erwarten, ohne Rücksicht auf ihre (seine) unterschiedlichen Lebensbedingungen. Keine Rücksicht auf die eigenen Lebensbedingungen zu nehmen, heißt selbstlos handeln. Die Moral, wie wir sie kennen, verlangt Selbstlosigkeit, sie erwartet aber zugleich Gegenseitigkeit der Selbstlosigkeit. Sie ist eine Moral der Selbstlosigkeit auf Gegenseitigkeit.
[...] Selbstlosigkeit und Nützlichkeit widersprechen sich aber, zumindest in der Moral der Selbstlosigkeit. Die Moral der Selbstlosigkeit auf Gegenseitigkeit gerät so in eine Paradoxie, und sie lebt von dieser Paradoxie, ohne sie sich deutlich machen zu können.“[11]
Auch andere Perspektiven sind denkbar und in Nietzsches Philosophie eingebunden. Der Blickwinkel des Lebens an sich auf die Moral unterscheidet - auch in evolutionärer Hinsicht – stark und schwach. Diese Termini greift er auf und stilisiert treffend ihre psychologischen Eigenarten. So bedient sich die vom Christentum konzipierte Moral ebenfalls Nützlichkeits- und Machtkalkülen, die sie zeitgleich negiert. Die Schwachen „herrschen“ über die Starken, wobei sie nach Nietzsche immer schwach bleiben (und die Starken demzufolge immer stark). Es kommt zur Rache der Sklavenmoral an der Herrenmoral. Dieser Unterschied von Sklaven- und Herrenmoral blieb bisher unreflektiert und in gewisser Weise faktisch nicht unterschieden. Das Ressentiment und eine Moral der Ohnmacht wird geboren, die aufgrund ihrer Schwäche Gleichgesinnte benötigt, die den Willen zur Macht kaschieren, um so auch die Ohnmacht kaschieren zu können.
Eine weitere wichtige Perspektivierung um Nietzsche verstehen zu können ist, dass man gerade durch verschiedene Perspektiven und demzufolge unsäglich vielen möglichen Moralen keine wirkliche Wahrheit im Urteilen erzielen kann. Denn eine wirkliche Wahrheit müsste für alle die selbe sein.
„Jeder aber muß grundsätzlich mit anderen Grenzen seines Denkens, mit einem anderen Nicht-anders-denken-Können oder einer anderen moralischen Bedingtheit seines Denkens rechnen. Das Urteilen überhaupt und also auch das moralische Urteilen kann darum nicht mehr unter die Differenz von wahr und falsch, sondern muß statt dessen unter die Differenz von wahrhaftig und unwahrhaftig gestellt werden.“[12]
Der Umgang mit Moralen bedeutet also auf Richten zu verzichten, um Gerechtigkeit zu ermöglichen.
[...]
[1] Bis zum Zarathustra
[2] Fink;
[3] KSA V;
[4] Stegmaier;
[5] vgl. KSA V; S.250 (Paul Rée); S. 257 ff (engl. Psychologen)
[6] vgl. Stegmaier;
[7] KSA IV;
[8] KSA V;
[9] Stegmaier;
[10] KSA V; S. 105 f
[11] Stegmaier;
[12] Stegmaier;
- Arbeit zitieren
- Florian Schoemer (Autor:in), 2001, Die Funktion der Moral nach Nietzsche, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/842