Unterschiedliche Nationalvorstellungen als eine Ursache verschiedener Entwicklungsverläufe der antikommunistischen Opposition in der DDR und der Volksrepublik Polen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

40 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung

B. Der Begriff der Nation

C. Polnische und deutsche Konstruktion der Gemeinschaftsvorstellung ‚Nation’
I. Flucht in die Geschichte – der Fall Polen
II. „Deutsches Volk“ gegen „verderbte Nation“ – der Fall Deutschland

D. Opposition in der VR Polen und der DDR
I. Die Volksrepublik Polen
1. Der unvollendete Totalitarismus – Das Herrschaftssystem in Volkspolen
2. Historische Kontinuitäten – Polnische, antikommunistische Opposition
II. Die Deutsche Demokratische Republik
1. Vom totalitären zum „spättotalitären Versorgungs- und Überwachungsstaat“
2. Die Antifaschismusfalle – Die Opposition in der DDR nach dem Mauerbau

E. Schlussbetrachtung

Abkürzungsverzeichnis

Bibliographie

A. Einleitung

Mit der Wahl Tadeusz Mazowieckis zum ersten freien Ministerpräsidenten in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg (24. August 1989) endete die jahrzehntelange Herrschaft eines autoritären Regimes von sowjetischen Gnaden. Zu dieser Zeit lag die DDR ebenfalls in ihren letzten Atemzügen. Friedensgebete und Fürbitten zogen täglich mehr Teilnehmer an, machten bis dahin apolitische Bürger gewissermaßen über Nacht zu Systemgegnern. Über Ungarn flohen zahlreiche DDR-Bürger bereits in den Westen, die bundesrepublikanische Botschaft in Prag wurde zum Ziel Tausender Fluchtwilliger. Der sozialistische Versuch Deutsche Demokratische Republik feierte noch einen letzten runden Geburtstag, der jedoch schon nicht mehr frei von Störungen verlief. Mit dem Rücktritt Erich Honeckers am 18. Oktober war das System bereits kollabiert.

Zwei Länder mit durchaus ähnlichen politischen Umwälzungen also, die sich jedoch hinsichtlich der jeweiligen Ausprägung von Opposition gegenüber dem Regime deutlich unterschieden. Dieser Unterschied ist seit der Wende in der Forschung in durchaus größerem Umfang gewürdigt worden. Neben den offiziellen Beziehungen der beiden ‚Bruderstaaten’ gehört die Betrachtung oppositioneller Betätigungen zu den am häufigsten bearbeiteten Themen. Vergleichaspekte sind dabei zumeist Quantität und Qualität der Opposition, es werden also der Umfang oppositioneller Arbeit und die jeweiligen Inhalte gegenübergestellt. Hierbei kommt es stets zu sehr ähnlichen Ergebnissen, gehört es doch zu wissenschaftlich unbestrittenen Tatsachen, dass sich in Volkspolen die Opposition sehr viel früher als Massenphänomen gezeigt hat als in der DDR. Außerdem hielten die meisten kritischen Stimmen im Osten Deutschlands bis zuletzt an dem Gedanken fest, die DDR reformieren zu können, während sich damit in Polen schon früh nur noch die wenigsten Systemgegner befassten.

Die Ursachen solcher Differenzen werden häufig in einer unterschiedlichen Durchherrschung der Gesellschaft beider Länder gesehen, welche die Rahmenbedingungen oppositioneller Betätigung darstellte. Diese Durchherrschung war in der DDR deutlich intensiver, erreichten es doch die Machthaber im ostdeutschen Rumpfstaat besser, ihr eigenes Wertesystem durchzusetzen und damit die Gesellschaft zu homogenisieren, während es beispielsweise in Polen nie gelang, die starke Stellung der katholischen Kirche zu neutralisieren oder die Landwirtschaft umfassend zu kollektivieren. Außerdem litt die Opposition in Ostdeutschland bis 1961 unter dem menschlichen Exodus, waren es doch gerade die mit dem System Unzufriedenen, die das Land verließen und als kritische Stimmen fehlten, man sogar von einer fehlenden Notwendigkeit von Opposition infolge der noch offenen Fluchtmöglichkeiten sprechen könnte. Nicht unrichtig wird deshalb auf bessere Möglichkeiten oppositionellen Handelns in Polen verwiesen, die sich aus solchen gegensätzlichen Rahmenbedingungen ergaben.

Diesen zahlreichen Arbeiten, die sich mit den genannten Unterschieden beschäftigen, soll mit der vorliegenden Hausarbeit keine weitere hinzugefügt werden. Der Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen ist vielmehr ein anderer Aspekt, der als solcher zwar in vielen der angesprochenen Aufsätze und Bücher erwähnt wird, dies nicht selten aber eher beiläufig und ohne ausreichende Würdigung erfolgt. Es wird zunächst die These aufgestellt, dass es nicht nur die (exogenen) Rahmenbedingungen sind, die über Stärke und Erfolg einer oppositionellen Bewegung entscheiden und dies gerade im autoritären oder totalitären System. Über diese Rahmenbedingungen hinaus bedarf es nämlich einer Art oppositioneller Metaebene oder auch (nachfolgend bevorzugt) oppositioneller Sinnwelt, die über den Grad des Erfolges mitentscheidet. Solch eine Sinnwelt bildet gewissermaßen einen motivischen Überbau und legitimiert und stabilisiert Opposition auch außerhalb konkreter Betätigungs- und Konfliktfelder. Einen solchen Überbau finden wir gerade außerhalb demokratischer Systeme, wenn Oppositionsarbeit rechtlich eingeschränkt oder gar verboten ist.

Eine Möglichkeit wäre beispielsweise, oppositionelle Betätigung religiös zu begründen. Zählt man etwa zu einer religiösen Minderheit, die von einer Gruppe anderen Glaubens unterdrückt wird, kann die eigene Religion ein solches Legitimationsreservoir darstellen. Beispiele hierfür sind nicht schwierig zu finden. Mit dem Kampf buddhistischer Mönche gegen chinesische Besatzung in Tibet oder schiitischem Widerstand gegen das sunnitisch dominierte Regime Saddam Husseins im Irak sollen an dieser Stelle zwei genügen. Eine andere Möglichkeit wäre es, sich auf nationale Gemeinschaftsvorstellungen zu berufen, nicht nur im Falle einer Fremdbeherrschung, sondern auch, wenn Angehörige der eigenen Nation mit fremden Staaten zum eigenen Vorteil und entgegen der Zustimmung größerer Bevölkerungsteile zusammenarbeiten. Diese Konstellation finden wir sowohl in Volkspolen als auch in der DDR, waren doch beide Staaten ohne die ökonomische und militärische Protektion der Sowjetunion nicht lebensfähig. Es wird also gefragt, inwieweit deutsche und polnische Nationalvorstellungen geeignet gewesen sind, gegen das Regime gerichtete, oppositionelle Arbeit zu legitimieren und zu stabilisieren. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, zu zeigen, dass nicht nur die unterschiedlichen systemischen Rahmenbedingungen zu unterschiedlichen qualitativen und quantitativen Ausprägungen von Opposition führten, sondern auch unterschiedliche Konzeptionen von Nation.

Zu fragen ist, ob es den Oppositionellen gelang, eine eigene, entgegen der offiziellen stehende Sinnwelt zu konstruieren. Es ist nämlich das eine, nur die exogenen Rahmenbedingungen zu erforschen und daraus Schlüsse zu ziehen. Erst eine immanente Betrachtung der Opposition und ihrer Mitglieder rundet das Bild ab. Insofern will diese Arbeit keinesfalls die eine gegen die andere Betrachtungsweise austauschen, in der Ergänzung liegt das Ziel. Ein weiterer Vorteil ist zudem, dass hierbei nicht erst – wie es häufig geschieht – im Jahr 1945 angesetzt wird, sondern ein größerer Rückblick gewagt sein soll. Denn – so die weitere These – oppositionelle Betätigung in beiden Systemen wurde eben auch entscheidend von Determinanten bestimmt, die in der Nationalgeschichte beider Länder zu suchen und zu finden sind.

Am Beginn der Hausarbeit soll zunächst eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Nation stehen, mit dem Ziel, diesen näher zu konturieren (Abschnitt B). Dabei wird auf einen soziologischen Ansatz zugegriffen, der Nation als vorgestellte politische Gemeinschaft begreift. Anschließend (Abschnitt C) sollen die polnische und die deutsche Variante der Gemeinschaftsvorstellung Nation bestimmt und einander gegenübergestellt werden. Bereits hierbei werden wesentliche Unterschiede sichtbar gemacht, die auf die Zeit nach 1945 erheblichen Einfluss haben sollten. Im Hauptteil der Arbeit (Abschnitt D) werden diese Ergebnisse aufgegriffen und eben jene, aus den unterschiedlichen Formen der Gemeinschaftsvorstellung Nation herrührenden Unterschiede in ihren Konsequenzen für oppositionelle Arbeit sichtbar gemacht. Eine Schlussbetrachtung wird diese Arbeit abrunden.

B. Der Begriff der Nation

Die vornehmlich funktionelle Dimension des Nationsbegriffes, mit der sowohl erklärenden als auch legitimierenden und normierenden Aufgabe,[1] bedingt, dass eine gemeinhin anerkannte Deutung oder Definition weder gegenwärtig feststellbar noch zukünftig zu erwarten ist. Zudem müssen die Auswirkungen des Zeitgeistes stets in die Betrachtungen einfließen, hinterlässt dieser doch in den Sozial- und Geschichtswissenschaften generell seine Spuren, erst recht beim Nationsbegriff, dessen wissenschaftliche Konturierung nennenswert erst erfolgte, als er in den meisten Gesellschaften Europas schon längst einen festen Platz eingenommen hatte. In diesem Sinne ist festzustellen, dass der Nationsbegriff offen für gesellschaftlichen und vor allem politischen Wandel ist.

Nachfolgend soll sich eines soziologischen Nationsbegriffes bedient werden, der sich erst ab etwa den 1980er Jahren – ausgehend vor allem von der angelsächsischen Nationalismusforschung – durchzusetzen begann. Insbesondere Benedict Anderson prägte diese Etappe der Forschung, indem er ‚Nation’ als rein kommunikativ hergestelltes, gedankliches Konstrukt, nämlich als „vorgestellte politische Gemeinschaft“[2] begreift. Die Tatsache, dass sich die Angehörigen einer Nation zwar nicht mehr gegenseitig kennen und begegnen können, in jedem Einzelnen aber die Vorstellung von der Gemeinschaft innewohnt, ist Hauptmerkmal seiner Charakterisierung. Anderson nimmt damit ‚Nationen’ weitestgehend ihre apodiktische Natürlichkeit, was aber nicht erklären kann, warum sich Menschen oft so fraglos mit der ‚Nation’ identifizieren, für sie zu töten und zu sterben bereit sind.[3]

Erst Klaus Holz löst dieses Defizit in Erweiterung des sehr allgemeinen Nationenbegriffes Andersons, wenn er schreibt: „Nation ist eine vorgestellte politische Gemeinschaft in der Geschichte. Diese Semantik stellt die Identität einer Gruppe von Individuen und zwischen diesen Individuen und ‚ihrem’ Staat her. Die Nation wird beiden Verhältnissen vorausgesetzt und erhält wenigstens tendenziell den Rang einer Gewissheit und nicht weiter hintergehbaren Letztinstanz.“[4] Eine Gemeinschaft sei, so Holz weiter, dann gemeint, wenn Existenz und Identität einer Gruppe, in einem absoluten Fixpunkt verankert und aus diesem hergeleitet sind. Dieser Fixpunkt gerät zum Absolutum, weil er axiomatisch vorgegeben und unhinterfragbar ist, sich mithin aus sich selber heraus erklärt.[5] Erst in dieser Diktion kann sich die ‚Nation’ als vorgestellte Gemeinschaft von höchstem Wert erschließen, lässt sich ihre massensuggestive und transzendente Kraft erahnen, offenbart sich letztendlich aber auch ihrer Eignung, staatliche Zielsetzungen und Maßnahmen als im ‚nationalen Interesse’ zu deuten und so auch Herrschaft – demokratisch oder diktatorisch – zu legitimieren.

Es bleibt die Frage zu beantworten, welche Strategien geeignet erscheinen, die Gemeinschaftsvorstellung ‚Nation’ zu konstruieren und zu stabilisieren. Denn wenn versucht werden soll, die Gemeinschaftsvorstellungen verschiedener ‚Nationen’ zu fassen und miteinander zu vergleichen, müssen vor allem Strategien zu ihrer Stabilisierung untersucht werden, mit deren Hilfe die realiter nie zu erreichende Identität zwischen Individuum und Gemeinschaft sowie zwischen den Individuen selbst permanent suggeriert und inszeniert wird. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass in Polen und in Deutschland nicht nur ungleiche historische Entwicklungslinien konstatiert werden können, sondern sich gerade im Bereich deutscher und polnischer Strategien zur Stabilisierung der Gemeinschaftsvorstellungen ‚Nation’ fundamentale Unterschied exemplifizieren lassen, die – so die These – bis in die Zeit nach 1945 ausstrahlten und die Entwicklung einer Opposition gegen die sozialistischen Machthaber jeweils beeinflussten.

C. Polnische und deutsche Konstruktion der Gemeinschaftsvorstellung ‚Nation’

I. Flucht in die Geschichte – der Fall Polen

„Der Alltag der Geschichte ist schwierig, hart und dunkel, voll Lüge, Belanglosigkeit und falschem Schein. Aber gerade das, was in ihm am schwierigsten, am verdrießlichsten, am dunkelsten ist, kann mit der Zeit Glanz und Wert annehmen.“ Marian Brandys

Um das hochgradig emotionale, nicht zuletzt auch häufig sehr unkritische Verhältnis der Polen zu ihrer ‚Nation’ begreifen zu können, sind mit dem Sarmatismus und dem durch die Zeit der Teilungen und Fremdherrschaft entstandenen Messianismus zwei historische Phänomene zu analysieren, die teilweise bis heute wirken, in jedem Falle aber gerade für die antikommunistische Opposition Anknüpfungspunkte zur Konstruktion einer eigenen (parallel zur kommunistischen liegenden) Sinnwelt boten. Der Sarmatismus steht dabei nicht nur für einen historisch kaum belegbaren Abstammungsmythos des polnischen Adels (Szlachta) vom Volk der Sarmaten,[6] er begründete auch ein bis heute als ’typisch polnisch’ geltendes Freiheitsgefühl.

Nach der Entstehung eines polnisch-litauischen Großreiches im Jahre 1386 durch Heirat[7] und in Folge der vernichtenden Niederlage des Deutschritterordens in der Schlacht bei Grunwald/Tannenberg (1410) gelang es der polnisch-litauischen Union sogar, das ehemalige Ordensgebiet (Preußen) in Lehnshoheit zu nehmen.[8] Fortan entwickelte sich das Reich rasch, der Handel blühte und es herrschte Religionsfreiheit. Durch die wirtschaftliche Prosperität gewann der Adel zusätzliche Macht. Seit 1505 stand er dem polnisch-litauischen König im neu gegründeten Reichstag (Sejm) gegenüber; es beginnt das ‚Goldene Zeitalter’ (Złoty Wiek). Die starke Stellung des Adels wurde nicht nur qua ökonomischer Macht und dem höchsten Anteil an der Gesamtbevölkerung im damaligen Europa (etwa 8%)[9] gerechtfertigt, sie entsprang auch dem mythologisch verklärten Eigenbild. Die Ideologie des Sarmatismus half, sich von ‚normalen’ Polen zu unterscheiden und diente dazu, sich durch Gleichsetzung mit der griechisch-römischen Antike – dem Zeitalter der Sarmaten – zu adeln. Auch die Bedeutung des Wortes Szlachta, nämlich Geschlecht, drückt die besondere Rolle aus, in der sich der polnische Adel selbst sah. Politisch manifestierte sich die Besonderheit der Szlachta im liberum veto, der Möglichkeit, durch lediglich eine Gegenstimme eines Adeligen den gesamten Sejm zu blockieren. Es herrschte also das Einstimmigkeitsprinzip, in welchem sich ebenfalls der politische Sarmatismus manifestierte: Der Einzelne ist alles, der Staat (König) ist nichts. Zwischen den Adeligen herrscht Gleichheit, gefordert wurden Ehre, Mut, Tugend und Patriotismus. Dem Prinzip der Gleichheit folgend, herrschte wie in keinem anderen Land dieser Zeit Kompromissbereitschaft. Unglaublich, aber zunächst wurde zu keinem Zeitpunkt vom liberum veto Gebrauch gemacht. Als der letzte Jagiełłonenkönig, Zygmunt II., 1572 ohne Nachkommen stirbt, erreicht die Macht der Szlachta ihren Höhepunkt. Fortan wählt der Adel den König, seine Ernennung erfolgt nur noch auf Lebenszeit. Die Adelsrepublik Polen (Rzeczpospolita Polska) beendet das dynastische Zeitalter im Reich.

Von diesem Zeitpunkt an setzte jedoch der unaufhaltsame Niedergang des polnisch-litauischen Großreiches ein. Die erfolgreiche, aber militärisch eher unbedeutende, Verteidigung des Klosters Jasna Góra bei Tschenstochau (Częstochowa) gegen ein übermächtiges schwedisches Heer (1655) sowie die Entsetzung der von den Türken belagerten Stadt Wien durch einen von König Jan III. Sobieski geführten polnisch-deutschen Verband im Jahre 1683[10] markierten letzte Erfolge des Reiches. Tatsächlich konnten auch sie das eigentliche Problem Polens nicht mehr verdecken. Die Kompromisskultur des ‚Goldenen Zeitalters’ war Makulatur, die Gleichheit innerhalb der Szlachta war verloren. Die soziale Differenzierung des polnischen Adels in verarmten Landadel und reiche Magnatenfamilien führte zunehmend zu Interessenskonflikten.[11] Im Jahr 1652 wurde erstmals das liberum veto eingesetzt, in den folgenden Jahren geschah dies immer häufiger. Der Sejm wurde zum Spielball der Szlachta, Polen verlor den Anschluss an die moderne Welt. In dieser Zeit werden mit ‚polnischem Reichstag’ und ‚polnischer Wirtschaft’ Stereotype geprägt, die bis heute noch als Sinnbild eines unregierbaren und unorganisierten Polen gelten.[12]

Das Land geriet zunehmend unter die Kontrolle seiner Nachbarn, insbesondere Russland und Preußen, aber auch Österreich griff bestimmend in die polnische Politik ein. Als der Sejm 1733 noch einmal versuchte, einen polnischen König zu inthronisieren, marschierten russische Truppen in das Land. Erst 1764 – nach drei Sachsen – bestieg wieder ein Pole den Thron, jedoch nur, weil Stanisław II. ehemals ein Geliebter der russischen Zarin Katharina der Großen gewesen war.[13] Ein Streit des Königs mit der Szlachta bot den Nachbarn den willkommenen Anlass einzugreifen. Im Jahre 1772 kam es zur ersten polnischen Teilung und damit zum Beginn eines Traumas. Stanisław II. stabilisierte Restpolen zunächst durch ein innenpolitisches Reformprogramm und versuchte durch Förderung der Kultur ein einendes Nationalbewusstsein zu schaffen. Die erste Verfassung Europas (3. Mai 1791) schaffte das liberum veto ab und sah de jure die Volkssouveränität vor. So kurz nach der französischen Revolution war dies offensichtlich sowohl für Preußen, als auch für Russland zu viel. Der zweiten polnischen Teilung (1793)[14] folgte, nach einem gescheiterten polnischen Aufstand 1795 die dritte. Damit waren die Polen eine ‚Nation’ ohne Staat.

In diesem Zeitalter der Fremdherrschaft, die bis 1918 dauerte, begann sich mit dem Messianismus eine Ideologie unter den meisten Polen zu verfestigen, die als erneute Belebung des Sarmatenmythos vom auserwählten Volk gesehen werden kann. Dabei gilt als seine eigentliche Geburtsstunde der gescheiterte Novemberaufstand gegen die russische Fremdherrschaft im Jahre 1830.[15] Unter vielen Polen galt fortan die heilige Pflicht zum Aufstand, ohne Rücksicht auf die Folgen. Das Land wurde als Symbol für alle unterdrückten Völker der Welt gesehen. „Polen - [als] Christus der Völker“[16] werde eines Tages auferstehen und Europa von der Sklaverei befreien. Das Europa, welches von Polen so viel erhalten habe, Polen jedoch immer wieder im Stich gelassen habe. Das als unverschuldet angesehene Leid der Polen wurde in Analogie zum Leiden Christus gesehen, das religiöse Paradigma mithin bemüht, um der Niederlage einen Sinn abzugewinnen. Der Messianismus muss als der Versuch gesehen werden, das Scheitern in der Geschichte durch die Heilsgeschichte zu bewältigen.[17] Polen sah sich selbst in einer Sonderrolle als Held und Opfer zugleich. Dieser Messianismus ist bis in das 20 Jh. mentalitätsprägend geblieben.[18] In der Folgezeit schien sich die historische Rolle Polens immer wieder zu bestätigen, sei es durch eine Reihe gescheiterter opferreicher Aufstände[19] oder weil sich Polen von Europa – und hier insbesondere von England und Frankreich – stets im Stich gelassen fühlte.[20]

[...]


[1] Vgl. Bleek/Bala 2003, S. 410.

[2] Anderson 1988, S. 15.

[3] Hier folgt der Autor Thomas Haury, der Andersons Begründung, dass die Etablierung der landeseinheitlichen Sprache sowie deren Verbreitung durch Alphabetisierung, die Schaffung eines staatlichen Bildungssystems und der Aufschwung der Druckindustrie zur Ausbildung der Gemeinschaftsvorstellung ‚Nation’ führten, zu kurz greift. Vgl. dazu Anderson 1988, S. 51 und 134 sowie Haury 2002, S. 45 f.

[4] Holz 1997, S. 55.

[5] Vgl. ebd.

[6] Die Sarmaten waren ein mit den Skythen verwandtes, indo-iranisches Reitervolk, das etwa ab dem 4. Jh. vor Chr. Im nördlichen Schwarzmeerraum lebte. Von dort soll es an die Weichsel gewandert sein und sich nach Vorstellungen der Szlachta dort mit den Polanen vermischt haben.

[7] Zwischen Hedwig (Jadwiga) von Anjou, der Tochter des Königs von Ungarn und Polen, Ludwig dem Großen, und dem litauischen Großfürsten Jagiełło. Vgl. Hösch 2004b, S. 496 f.

[8] Vgl. Schoeps 2001, S. 11 ff. und Alexander 2003, S. 65 ff.

[9] Dies entsprach etwa 600.000 Menschen. Die Dimension wird erst im Vergleich deutlich. So hatte beispielsweise der Adel in Frankreich zu dieser Zeit lediglich einen Anteil von 0,3 % an der Gesamtbevölkerung. Vgl. Alexander 2003, S. 89.

[10] Am 12. September am Wiener Kahlenberg, gemeinsam mit Truppen des Herzogs von Lothringen, Karl V. Vgl. Alexander 2003, S. 137 f.

[11] Vgl. Hösch 2005a, S. 503 f.

[12] Vgl. Orłowski 2003, S. 270 ff. und Davies 2000, S. 254.

[13] Vgl. Jäger-Dabek 2003, S. 36 f.

[14] An dieser war Österreich nicht beteiligt.

[15] Vgl. Olschowsky 2003, S. 280.

[16] So ein Roman des Nationaldichters Adam Mickiewicz.

[17] Vgl. Olschowsky 2003, S. 280.

[18] Vgl. Pysz/Scharff 1987, die neben dem Messianismus auch das liberum Veto als historisches Erbteil betrachten, welches den Charakter der Polen nachhaltig prägte.

[19] So 1846 gegen Österreich, 1848 gegen Preußen, 1863/64 gegen Russland sowie der gescheiterte Aufstand von Warschau im Jahre 1944.

[20] Dies begann mit der trügerischen Hoffnung, durch Unterstützung Napoleons die staatliche Eigenständigkeit zurück zu gewinnen und endete mit dem ‚Verrat’ der Alliierten an Polen, in dem Sie Stalins Westverschiebung Polens nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges legitimierten.

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Details

Titel
Unterschiedliche Nationalvorstellungen als eine Ursache verschiedener Entwicklungsverläufe der antikommunistischen Opposition in der DDR und der Volksrepublik Polen
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften)
Veranstaltung
Hauptseminar „Opposition und Widerstand in der DDR“
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
40
Katalognummer
V84440
ISBN (eBook)
9783638007771
Dateigröße
576 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Unterschiedliche, Nationalvorstellungen, Ursache, Entwicklungsverläufe, Opposition, Volksrepublik, Polen, Hauptseminar, Widerstand, DDR“
Arbeit zitieren
Kai Posmik (Autor:in), 2006, Unterschiedliche Nationalvorstellungen als eine Ursache verschiedener Entwicklungsverläufe der antikommunistischen Opposition in der DDR und der Volksrepublik Polen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84440

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