Seit alters her wandern Menschen in allen Teilen der Erde, gelegentlich sogar von Kontinent zu Kontinent. „Wir sprechen bisweilen sogar von der anthropologischen Urkonstante des Wanderns, da Sesshaftigkeit der Menschen wohl erst seit der Jungsteinzeit eine maßgebliche Rolle spielte.“ Rechtlich betrachtet waren viele dieser Migrationen illegal, denn bis zur Anerkennung eines Menschenrechts auf Auswanderung Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts entbehrten große Teile solcher Ströme einer gesetzlichen Genehmigung. Die Versuche, die innerdeutsche Grenze von Ost nach West zu überschreiten oder in kleinen Fischerbooten von den kanarischen Inseln nach Venezuela und in andere lateinamerikanische Staaten zu gelangen, sind nur zwei der möglichen Beispiele, die die jüngere europäische Migrationsgeschichte dafür liefert. Räumliche Mobilität ist also auch ein Merkmal der modernen Gesellschaften.
Inhaltsverzeichnis
Anstelle eines Vorworts
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen
Lesehinweise
1. Einleitung
1.1. Zum Problem
1.2. Zu den Fragestellungen und Zielen
1.3. Zum Aufbau
Teil I: Grundlagen
2. Die Theorie der sozialen Schließung
2.1. Max Weber: ‚Offene’ und ‚geschlossene’ soziale Beziehungen
2.2. Frank Parkin: Exklusion, Usurpation und duale Schließung
2.3. Raymond Murphy: Schließungstheorie zur Analyse von Herrschaft
2.3.1. Analyserahmen zur Strukturierung von Schließungsregeln
2.3.2. Exklusion, Monopolisierung und gesellschaftliche Rationalisierung
3. Gegenstand und Kontext dieser Arbeit
3.1. Der Begriff: Illegal
3.1.1. Schwierigkeiten und mögliche Alternativen einer umstrittenen Terminologie
3.1.2. Begriffsabgrenzung und –bestimmung
3.2. Das Land: Spanien
3.2.1. Spanien als Ziel illegaler Einwanderung
3.2.2. Gran Canaria – Südgrenze der Europäischen Union
3.3. Das Forschungsfeld: Illegale Migranten
3.3.1. Rechtliche und politische Rahmenbedingungen
3.3.1.1. Soziale Rechte
3.3.1.2. Konsequenzen bei Entdeckung
3.3.1.3. Wege aus der Illegalität
3.3.2. Schätzungen zur Größenordnung
3.3.3. Nationale und demographische Zusammensetzung
3.4. Zum Stand der Forschung
4. Zwischenbetrachtung
4.1. Soziale Schließung und illegale Migration – eine Übersetzung
4.1.1. Soziale Schließung – eine Theorie mittlerer Reichweite
4.1.2. Illegale Migration aus schließungstheoretischer Sicht
4.2. Integration der theoretischen Vorüberlegungen
Teil II: Empirische Forschung
5. Vorgehen und Forschungsmethode
5.1. Experteninterviews
5.1.1. Der Interviewleitfaden
5.1.2. Die Interviewpartner
5.1.3. Durchführung der Interviews
5.1.4. Das Auswertungsverfahren: die qualitative Inhaltsanalyse
5.2. Narrative Interviews
5.2.1. Die Interviewpartner
5.2.2. Durchführung der Interviews
5.2.3. Die Auswertung und das Problem der Zuverlässigkeit
6. Ergebnisse der Untersuchung
6.1. Die Wohnsituation
6.1.1. „Como los topos, debajo de la tierra“
6.1.2. Mietverhältnisse
6.1.3. Fazit
6.2. Arbeit und Existenzsicherung
6.2.1. Arbeitssuche
6.2.2. Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen
6.2.3. Kontrollen und Strafen
6.2.4. Gegenseitige Unterstützung
6.2.5. Fazit
6.3. Soziale Rechte: Bildungs- und Gesundheitswesen
6.3.1. Empadronamiento
6.3.2. Bildung
6.3.3. Gesundheitsversorgung
6.3.4. Fazit
6.4. Die aktuelle juristische Situation illegaler Migranten in Theorie und Praxis
6.4.1. ‚Legal illegal’ – Konsequenzen des illegalen Status für Migranten
6.4.2. Formen der Regularisierung: arraigo social und arraigo laboral
6.4.3. Fazit
6.5. Soziale Kontakte und Beziehungen
6.5.1. Die Einstellung der Aufnahmegesellschaft
6.5.2. Getrennte Welten - Barrieren und Trennlinien
6.5.3. Fazit
6.6. Die historische Verantwortung eines ehemaligen Auswanderungslandes
6.7. Zusammenfassung: Illegale Migration auf Gran Canaria und in Spanien
6.7.1. Gran Canaria und Spanien – Verallgemeinerung trotz Besonderheiten
Teil III: Zusammenführung
7. Analyse der Untersuchungsergebnisse – Synthese von Theorie und Praxis
7.1. Ebenen der Auseinandersetzung und umkämpfte Güter
7.2. Komponenten der Schließungsgleichung: Akteure, Strategien und Einflussmomente
7.3. Strukturelle Zusammenhänge von Exklusion und Mitgliedschaft
7.4. Mitgliedschaft als dynamischer Prozess
8. Schlussbetrachtung
8.1. Exkurs nach Deutschland: zwei EU-Staaten im Vergleich
8.1.1. Mitteilungspflicht und die „‚Illegalität’ von ‚Hilfen’“
8.1.1.1. Schulbesuch
8.1.1.2. Gesundheitsversorgung
8.1.2. Rechtliche Konsequenzen des illegalen Status
8.1.3. Fazit
8.2. Zusammenfassung: die Forschungsergebnisse im Überblick
8.3. Offene Fragen – Anregungen für weiterführende Forschungen
8.4. Geschlossene Gesellschaft?! – Abschließende Stellungnahme zu zwei Satzzeichen
Nachwort: Eine kritische Reflexion der Fragestellung
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Abb. 1: Herkunftsregionen illegaler Migranten in Spanien (2003/04)
Abb. 2: Anteil Männer an ausgewählten Beispielen illegaler Wohnbevölkerung in Spanien (2003/04)
Abb. 3: Herkunftsregionen illegaler Migranten auf Gran Canaria (2000)
Abb. 4: Modell der Schließungsstrukturen im Falle illegaler Migration
Abb. 5: Vermutete Einflussfaktoren und Kausalzusammenhänge
Tabelle: Dimensionen der Schließungsgleichung
Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Lesehinweise
Die Arbeit ist nach den Regeln derneuen Rechtschreibungverfasst. Bei Zitaten in alter Rechtschreibung wurde diese jedoch ohne besondere Kennzeichnung beibehalten.
FürZitategelten folgende Zitierweisen:
- längere Zitate aus dem Forschungsmaterial und der Literatur sind durch Einrücken und eine kleinere Schrift gekennzeichnet.
- kurze Zitate im Fließtext werden durch „doppelte Anführungs-zeichen“ hervorgehoben.
In der Regel sindQuellenangabenin einer Fußnote vermerkt. Für eine bessere Übersicht sind Bezüge zu den geführten Interviews (wortgetreue sowie sinngemäße Wiedergaben) jedoch durch die eingeklammerte Nummer oder den Buchstaben des entsprechenden Interviews am Ende des Absatzes / Zitates kenntlich gemacht. Die Nummerierung der Interviews erfolgte in chronologischer Reihenfolge.
Die deutscheÜbersetzunglängerer Zitate aus den spanischen Interviews sowie aus spanischer Literatur wurde jeweils direkt im Anschluss inkursiver Schriftangefügt.
An Stellen, an denen keine (gängigen)geschlechtsneutralen Begriffezur Verfügung stehen, wurden aus Gründen der Lesbarkeit in der Regel nur die maskulinen Formen verwendet, obwohl natürlich beide Geschlechter gemeint sind. Bezieht sie die Aussage explizit nur auf Angehörige eines Geschlechts, so ist dies gesondert vermerkt.
1. Einleitung
No hay muro suficientemente alto en el mundo que no pueda saltarse. Y, si no, cavaremos en la tierra y pasaremos por debajo.
Keine Mauer der Welt ist hoch genug, als dass man sie nicht überwinden könnte. Und wenn doch, werden wir einen Tunnel graben und darunter hindurch kriechen.[1]
Menschen wandern. Seit alters her wandern Menschen in allen Teilen der Erde, gelegentlich sogar von Kontinent zu Kontinent. „Wir sprechen bisweilen sogar von der anthropologischen Urkonstante des Wanderns, da Sesshaftigkeit der Menschen wohl erst seit der Jungsteinzeit eine maßgebliche Rolle spielte.“[2]Rechtlich betrachtet waren viele dieser Migrationenillegal, denn bis zur Anerkennung eines Menschenrechts auf Auswanderung[3]Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts entbehrten große Teile solcher Ströme einer gesetzlichen Genehmigung. Die Versuche, die innerdeutsche Grenze von Ost nach West zu überschreiten oder in kleinen Fischerbooten von den kanarischen Inseln nach Venezuela und in andere lateinamerikanische Staaten zu gelangen, sind nur zwei der möglichen Beispiele, die die jüngere europäische Migrationsgeschichte dafür liefert. Räumliche Mobilität ist also auch ein Merkmal der modernen Gesellschaften.
Allerdings waren Europa im Allgemeinen und Spanien im Besonderen seit der industriellen Revolution vorwiegend Auswanderungsgebiete, heute haben fast alle europäischen Staaten eine positive Migrationsbilanz vorzuweisen.[4]In Spanien vollzog sich dieser Wandel zwar besonders spät, dafür hat sich das einst klassische Auswanderungsland innerhalb kürzester Zeit zum Eingangstor Europas und zu einem der attraktivsten Zielländer für Einwanderer aus aller Welt entwickelt. Dabei übersteigt das stetig wachsende Migrationspotential schon seit einiger Zeit die Aufnahmekapazitäten der Zielländer, die auf diesen Druck mit immer restriktiverer Migrationspolitik – Zuwanderungsbeschränkungen, Formulierung von Auswahlkriterien für potentielle Einwanderer, scharfe Kontrollen der Durchsetzung der Aufenthaltsgesetze u.v.m. – reagieren.[5]
Die logische Konsequenz aus steigendem Migrationsdruck und zunehmender Verengung legaler Kanäle sind Wanderungen unter Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen – also das, was heute gemeinhin alsillegale Migrationbezeichnet wird.
1.1. Zum Problem
Auch in diesem engeren Verständnis ist illegale Migration kein neues Phänomen, jedoch hat seine Bedeutung – in globaler Hinsicht wie im speziellen Falle Spaniens – seit einigen Jahren zugenommen. Weltweit werden steigende Zahlen illegaler Migranten geschätzt, als „Begleiterscheinung regulärer Migration“[6]unterliegt auch die illegale Migration den Zwängen und Möglichkeiten einer zusammenwachsenden Welt. Als südliche Grenze Europas spielt Spanien dabei eine ganz besondere Rolle. Die Zahl derer, die sich illegal im Land aufhalten, wird sechsstellig geschätzt, mit steigender Tendenz.[7]Während Spanien noch bis vor circa zwanzig Jahren über keine wirkliche Ausländer- oder Einwanderungsgesetzgebung verfügte, werden die Restriktionen nun auch dort von Gesetzesreform zu Gesetzesreform immer weitreichender. Gerade im Vergleich mit der Situation in Deutschland fällt zwar auf, dass Migranten ohne Aufenthaltsstatus noch immer einige rechtlich gesicherte Ansprüche auf bestimmte Grundrechte haben. Aber auch hier ist die Entwicklung hin zu einer immer stärkeren Einschränkung dieser Rechte deutlich erkennbar. Ein Leben in der Illegalität in Spanien ist davon einschneidend geprägt.
Der Begriff derIllegalität, so einfach er zunächst scheint, bezeichnet dabei eine Vielzahl von Phänomenen, sowohl, was den rechtlichen Status betrifft, als auch in Bezug auf die soziale Realität der betroffenen Menschen. In der aufenthaltsrechtlichen Illegalität in Spanien befinden sich neben denjenigen Migranten, die tatsächlich einen unerlaubten Grenzübertritt hinter sich haben – wie beispielsweise ohne Erlaubnis nachgereiste Familienangehörige von (legalen) Migranten oder Spaniern – auch Flüchtlinge, denen kein Recht auf Asyl gewährt wurde, irregulär beschäftigte Ausländer, Menschen, deren Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist, solche, denen bereits ein Ausweisungsbescheid ausgestellt, dieser jedoch (noch) nicht durchgesetzt wurde, Opfer von Menschenhandel und Schleusungen und viele mehr. Ähnlich differenziert muss also auch die Lebenslage der betroffenen Menschen betrachtet werden, die vielleicht als einzige Gemeinsamkeit der fehlende Aufenthaltsstatus verbindet.
1.2. Zu den Fragestellungen und Zielen
Aufbauend auf die (im Anschluss an Max Webers Begriffsfeld deroffenenundgeschlossenensozialen Beziehungen) von Frank Parkin und vor allem Raymond Murphy (weiter-) entwickelteTheorie der sozialen Schließunglässt sich illegale Migration als ein Resultat (und vielleicht gleichzeitig als eine Ursache) sozialer Schließungsprozesse begreifen. Nach dieser Theorie stehen sich illegale Migranten – Ausgeschlossene – und die Aufnahmegesellschaft bzw. der Nationalstaat, auf dessen Territorium sie leben – Ausschließende – auf verschiedenen Seiten einer sog.Schließungsgleichungin Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Güter und Ressourcen gegenüber. Sie greifen dabei auf zwei grundsätzlich entgegengesetzte Handlungsstrategien zurück, definiert alsAusschließungundUsurpation. Während erstere die Monopolisierung von gesellschaftlichen Privilegien und Ressourcen zum Ziel hat, versuchen usurpatorische Handlungsformen genau diese in Frage zu stellen und zum Vorteil der Ausgeschlossenen zu verringern.
Da der Ausschluss aus einem System immer auch Inklusion bedeutet – die Inklusion anderer in dasselbe, ebenso wie die Einbindung der dort Ausgeschlossenen in andere Systeme – lassen sich Mitgliedschaftsstrukturen parallel zu der Untersuchung von Exklusionsformen erkennen und ableiten.
Begreift man die Theorie der sozialen Schließung als eine Theorie mittlerer Reichweite[8], bietet sie sich an, um das zu erforschende Phänomen der illegalen Migration als einen „jener Prozesse [zu betrachten, A.F.], in denen soziale Akteure den Versuch unternehmen, Ressourcen, Privilegien, Macht oder Prestige zu monopolisieren und andere Akteure davon auszuschließen […].“[9]Aus dieser theoretischen Perspektive heraus sollen zunächst die staatlichen und gesellschaftlichen Exklusionsformen sowie darauf folgende Reaktionsmuster und Usurpationsstrategien illegaler Migranten herausgearbeitet werden. Ein wichtiger, über den Ansatz insbes. Murphys hinaus gehender Aspekt, der nicht aus den Augen verloren werden darf, ist die aktive Rolle, die beide Seiten, Ausschließende wie Ausgeschlossene, dabei einnehmen. Denn weder der Staat, noch die illegalen Migranten sind in diesem Prozess machtlose Opfer statischer Strukturen. Im Gegenteil: beide Parteien sind kollektive Akteure, die die Strukturen durch ihr Handeln gleichermaßen konzipieren und prägen.
Ausgehend von dieser theoretischen Basis soll die Situation illegaler Migranten in der spanischen Aufnahmegesellschaft empirisch untersucht und dargestellt werden. Die zentrale Frage, die diese Arbeit so zu beantworten versucht, lautet:Welchen Strukturen rechtlicher und sozialer Mitgliedschaft unterliegt ein Leben in der Illegalität in Spanien und wie werden diese durch Migranten auf der einen und Aufnahmegesellschaft auf der anderen Seite geprägt?
Als untersuchtes Fallbeispiel wird dabei Gran Canaria im Mittelpunkt der Analyse stehen. Die kanarischen Inseln sind aufgrund ihrer Nähe zum afrikanischen Kontinent seit einigen Jahren stark frequentiertes Ziel und ein Zentrum illegaler Migration in Spanien – nicht nur aus Afrika.
Die stetige Eingrenzung der legalen Zuwanderungsmöglichkeiten, die wachsende Abschottung europäischer Nationalstaaten nach außen und die folglich immer strikteren Kontrollen auf der einen Seite stehen im krassen Gegensatz zu den steigenden (geschätzten) Zahlen illegal anwesender Bevölkerung in nahezu allen Aufnahmeländern und den daraus resultierenden wachsenden humanitären Problemen und Herausforderungen andererseits. Im Spannungsfeld zwischen ordnungsrechtlicher und menschenrechtlicher Perspektive bewegt sich die Wahrnehmung illegaler Migration zwischen Verbrechen und Verzweiflungstat. Für ein besseres Verständnis des Phänomens wird in dieser Arbeit Mitgliedschaft auch als ein gesetzliches Konstrukt untersucht werden. Dabei gilt das Interesse sowohl dem rechtlichen Rahmen, der vor allem anderen den Status der Betroffenen als ‚Illegale’ festlegt, als auch den Differenzen zwischen theoretischer Gestaltung und praktischer Ausprägung desselben.
Außerdem soll Fragen nachgegangen werden, die den staatlichen und (zivil-) gesellschaftlichen Umgang mit Menschen ohne gültige Aufenthaltstitel betreffen. Denn illegale Migranten wohnen und leben in der aufnehmenden Gesellschaft, sie gehen Arbeitsverhältnisse ein, gründen Familien oder holen sie nach, schließen Kontakte – je länger sie da sind, desto mehr. Sie sind also in soziale Kontexte eingebunden und es ist anzunehmen, dass die betroffenen gesellschaftlichen Bereiche dadurch strukturell beeinflusst werden. Allerdings hat die sozialwissenschaftliche Forschung bisher „wenig Aufmerksamkeit darauf verwendet […], ganz allgemein danach zu fragen, welche sozialen Strukturen aus illegaler Migration hervor gehen und welche Bedeutung diesen für die Gesellschaft zukommt […].“[10]
Welche Kontakte und Verbindungen bestehen zwischen illegalen Migranten und Aufnahmegesellschaft und wie gestalten sich diese? Wie kommen Arbeits- und Mietverhältnisse in der Illegalität zustande? Welchen theoretischen Zugang haben illegale Einwanderer zu und welchen praktischen Anteil nehmen sie an sozialen Gütern der Gesellschaft, in der sie leben (z.B. Gesundheitsversorgung oder Bildung)?
Schreckensmeldungen, polemische Debatten, immer striktere Bestimmungen und härtere Kontrollen: illegale Migration ist längst Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit Europas (und der Welt) geworden. Trotzdem ist der Begriff Illegalität „noch mehr als denunziatives und kriminalisierendes Hieb- und Stichwort denn als politisches Aufgabenfeld bekannt“, wie Klaus J. Bade feststellt.[11]Diese Arbeit möchte das Phänomen der illegalen Migration mit Hilfe der Theorie der sozialen Schließung zunächst in einen größeren soziologischen Zusammenhang stellen, seine Exponiertheit in der öffentlichen Debatte in Frage stellen und ihm den ‚normalen’ Stellenwert verleihen, den es (nicht nur) in der spanischen Realität längst eingenommen hat. Mit Hilfe des Kontrastes, den staatliche oder ordnungsrechtliche Ansprüche und Regelungen auf der einen mit persönlichen Erzählungen, Erfahrungen und Erlebnissen der Menschen, die täglich mit Illegalität konfrontiert sind oder sogar illegal in Spanien leben, auf der anderen Seite entstehen lassen, sollen Strukturen des Lebens in der Illegalität in Spanien näher analysiert und beschrieben werden.
ExplizitnichtZiel dieser Arbeit ist es allerdings, eine Bewertung des Problemkomplexes aus humanitärer, menschen- oder auch verwaltungsrechtlicher Sicht vorzunehmen oder Alternativen bzw. Perspektiven für den gesellschaftlichen oder politischen Umgang mit aufenthaltsrechtlicher Illegalität aufzuzeigen. Das Herausarbeiten rechtlicher und sozialer Mitgliedschaftsstrukturen in der Illegalität ist als eine Art Situationsbeschreibung zu verstehen, eine – soweit möglich – wertfrei Momentaufnahme der Lebenslage(n) illegaler Migranten in Spanien.
1.3. Zum Aufbau
Die Studie gliedert sich in drei zentrale Teile.
Der erste Teilstellt zunächst die Grundlagen dieser Arbeit dar. Er wird eröffnet durch ein Kapitel zur Theorie der sozialen Schließung, die die theoretische Basis der Analyse bildet. Anhand von knappen Zusammenfassungen der relevanten Arbeiten Max Webers, Frank Parkins und Raymond Murphys werden Entstehung, Entwicklung und zentrale Aspekte der Theorie wiedergegeben.
Das anschließende Kapitel widmet sich dem Gegenstand und Kontext dieser Arbeit. Zunächst wird der umstrittene, hier jedoch trotzdem verwendete Begriff ‚illegal’ erklärt, abgegrenzt und im Sinne dieser Arbeit definiert. Da es den Rahmen sprengen würde, die Untersuchung auf das gesamte Gebiet Spaniens auszudehnen, beschränkt sich die Feldforschung auf ein ausgewähltes Beispiel: Gran Canaria. Es folgen daher Erläuterungen zur besonderen Rolle, die Gran Canaria in Bezug auf die Einwanderung nach Spanien spielt, sowie zu den Besonderheiten dieser Insel im Verhältnis zu Spanien generell. Eine Darstellung der rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen von aufenthaltsrechtlicher Illegalität, der geschätzten Größenordnung, der nationalen und demographischen Zusammensetzung illegal anwesender Bevölkerung in Spanien bzw. auf Gran Canaria schließen sich daran an, bevor ein kurzer Überblick über den Stand der Forschung den Abschluss des dritten Kapitels bildet.
Eine Zwischenbetrachtung, die das Phänomen der illegalen Migration in schließungstheoretische Worte fassen, die theoretischen Vorüberlegungen zusammenführen und für die nachfolgende empirische Untersuchung aufbereiten möchte, liefert das vierte Kapitel. Das gesammelte Wissen wird in ein hypothetisches Modell integriert, das die zusammengestellten Annahmen über Einflussfaktoren und Kausalzusammenhänge der rechtlichen und sozialen Mitgliedschaftsstrukturen in der Illegalität in Spanien abbildet, somit quasi die Forschungsfrage repräsentiert und daher die folgende empirische Untersuchung anleitet.
Den zweiten Teilder Arbeit bildet die Darstellung des empirischen Forschungsprozesses. Mit Hilfe von Experteninterviews mit Menschen, die in ihrer täglichen Arbeit mit aufenthaltsrechtlicher Illegalität konfrontiert sind, wurde Fachwissen zum Gegenstand erschlossen und durch die Ergebnisse narrativer Interviews mit Betroffenen untermauert bzw. ergänzt. Die Resultate stellt das sechste Kapitel zusammen. Dabei werden einzelne Lebensbereiche – Wohnen, Arbeit und Existenzsicherung, Bildungs- und Gesundheitswesen, die juristische Situation, soziale Kontakte und Beziehungen – getrennt von einander analysiert, um ein detailliertes Bild der in den einzelnen Bereichen teilweise stark divergierenden Mitgliedschaftsstrukturen zu erhalten. Ein gewissermaßen beiläufiges Forschungsergebnis findet sich in der herausgestellten historischen Verantwortung, die Spanien – und dort ganz besonders die kanarischen Inseln – als traditionelles Auswanderungsland gegenüber der aktuellen Einwanderungswelle hat. Dementsprechend wird darauf kurz eingegangen, bevor die in der Feldforschung auf Gran Canaria gewonnenen Ergebnisse soweit möglich verallgemeinert und in Beziehung zu ganz Spanien gesetzt werden.
Der dritte Teilder Arbeit führt die beiden vorhergegangenen und doch sehr unterschiedlichen zusammen, indem die Ergebnisse der empirischen Forschung mit Hilfe des eingangs entwickelten analytischen Konzepts der Theorie der sozialen Schließung strukturiert und dargestellt werden. Die im siebten Kapitel entwickelte mehrdimensionale Schließungsgleichung, die beteiligte Akteure und umkämpfte Güter auf den verschiedenen Ebenen der Auseinandersetzung in sich vereint und einander gegenüberstellt, ist das Resultat der Synthese von Theorie und Praxis.
Der anschließende Vergleich der Situation illegaler Migranten in Spanien mit der in Deutschland kann zwar im Rahmen dieser Arbeit nur sehr knapp und oberflächlich gezogen werden, dient aber trotzdem dazu, die herausgearbeiteten Strukturen durch einen gewissen Perspektivwechsel zu relativieren und dementsprechend besser verstehen zu können.
Eine abschließende Beurteilung der Forschungsergebnisse im Hinblick auf die gestellte Forschungsfrage sowie eine Reflexion des gewählten Titels „Geschlossene Gesellschaft?!“ wird in der Schlussbetrachtung vorgenommen.
Teil I: Grundlagen
2. Die Theorie der sozialen Schließung
Eine soziale Subkultur zu „schließen“, eine Grenze zu ziehen, das bedeutet immer mindestens so sehr wie „ausschließen“ auch „hereinholen“. Man zieht eine Grenze, um kontrollieren zu können, wer hinausgeht und wer hereinkommt.[12]
Jürgen Mackert bezeichnet das Konzept der sozialen Schließung als eine „fast vergessene[…] Theorie“, die „in der deutschen Soziologie bisher keine systematische Berücksichtigung erfahren“ habe.[13]Erst in jüngster Zeit – da soziale Auseinandersetzungen um immer knapper werdende wohlfahrtsstaatliche Ressourcen in modernen Gesellschaften Umbrüche hervorrufen, deren Analyse die In- und Exklusion von Gruppen und Individuen in bzw. von soziale(n) Systeme(n) in den Mittelpunkt stellt – greife auch die deutsche Soziologie häufiger auf einen schließungstheoretischen Ansatz zurück.[14]
Konzepte von Öffnung und Schließung finden in verschiedenen Ansätzen der soziologischen Theoriebildung Platz.[15]Diese Arbeit kann und will nun nicht alle Überlegungen zum Thema darstellen und greift folglich nur einen Ansatz heraus, nämlich – in Anlehnung an Jürgen Mackert (2004a) –die Theorie sozialer Schließung.
Den Ausgangspunkt dieser Theorie bilden die Ausführungen Max Webers (1925) über ‚offene’ und ‚geschlossene’ soziale Beziehungen. Im Anschluss daran entwickelten hauptsächlich Frank Parkin (1974, 1979, 1983, 2004a/b) und Raymond Murphy (1984, 1986, 1988, 2004a/b) das Konzept weiter. Im Folgenden sollen nun Entstehung und Kernpunkte einer Theorie der sozialen Schließung anhand relevanter Ausschnitte der Werke dieser drei dargestellt werden.[16]
2.1. Max Weber: ‚Offene’ und ‚geschlossene’ soziale Beziehungen
In den Grundbegriffen von ‚Wirtschaft und Gesellschaft’ entwirft Weber das Begriffsfeld deroffenenundgeschlossenensozialen Beziehungen, das gewissermaßen als Grundstein einer Theorie der sozialen Schließung angesehen werden kann. Er definiert darin eine soziale Beziehung als nach außenoffen,
wenn und insoweit die Teilnahme an dem an ihrem Sinngehalt orientierten gegenseitigen sozialen Handeln, welches sie konstituiert, nach ihren geltenden Ordnungen niemand verwehrt wird, der dazu tatsächlich in der Lage und geneigt ist.[17]
Nach außengeschlossensoll eine soziale Beziehung folglich heißen,
insoweit und in dem Grade, als ihr Sinngehalt oder ihre geltenden Ordnungen die Teilnahme ausschließen oder beschränken und an Bedingungen knüpfen.[18]
Während die Bedingungen für Offenheit oder Geschlossenheit traditionell, affektuell, wert- oder zweckrational sein können, legt Weber seinen Schwerpunkt auf die rationale Schließung:
Eine soziale Beziehung kann den Beteiligten Chancen der Befriedigung innerer und äußerer Interessen eröffnen, sei es dem Zweck oder dem Erfolg nach, sei es durch solidarisches Handeln oder durch Interessenausgleich. Wenn die Beteiligten von ihrer Propagierung eine Verbesserung ihrer eigenen Chancen nach Maß, Art, Sicherung oder Wert erwarten, so sind sie an Offenheit, wenn umgekehrt von deren Monopolisierung, so sind sie an Schließung nach außen interessiert.[19]
Da eine Schließung nach außen stets eine Chancenmaximierung und -monopolisierung zur Folge haben soll, muss die Zahl der Konkurrenten möglichst niedrig gehalten werden und die ausschließenden Gruppen werden versuchen, andere unterzuordnen. Zur Abgrenzung wird dabei ein beliebiges „äußerlich feststellbares Merkmal eines Teils der (aktuell oder potentiell) Mitkonkurrierenden“[20]herangezogen. Darüber hinaus entwirft Weber eine recht differenzierte Vorstellung der Abstufung von Schließung nach außen – von vollständiger Exklusion bis zu unter bestimmten Bedingungen möglicher Inklusion[21]– sowie analog eine Staffelung der Schließung nach innen, wodurch den Beteiligten die Chancen frei bzw. auf unterschiedliche Art reguliert garantiert werden[22]. Die Übergänge zwischen den verschiedenen Stufen der Regulierung sind sowohl im Falle der Schließung nach außen, als auch der nach innen, fließend. Außerdem betont Weber, dass Offenheit und Geschlossenheit einer sozialen Beziehung durchaus wandelbar sind und sich veränderten Rahmenbedingungen anpassen. Darüber hinaus verweist er auch darauf, dass das Schließungshandeln „der einen […] dann ein entsprechendes der anderen, gegen die es sich wendet, hervorrufen“ kann, verfolgt jedoch diese Idee nicht weiter.[23]
Drei zentrale Aspekte des dieser Arbeit zu Grunde liegenden Analysekonzepts sind damit bereits formuliert:
1) eine differenzierte Abstufung von Graden der Exklusion, die Mitgliedschaftsstrukturen in der Illegalität prägen,
2) die Prozesshaftigkeit und Wandlungsfähigkeit sozialer Schließung sowie
3) ein aus der Exklusion resultierendes Gegenhandeln des ausgeschlossenen Kollektivs der illegalen Migranten.
2.2. Frank Parkin: Exklusion, Usurpation und duale Schließung
Ungefähr ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, bis das Weber’sche Konzept der Schließung sozialer Beziehungen wieder aufgenommen und gleichzeitig erweitert wurde. Frank Parkin nutzte es, um eine Alternative zur marxistischen Klassentheorie zu entwickeln, die zwar noch „die traditionelle und notwendige Betonung der Dichotomie“[24]zwischen den Klassen enthielt, trotzdem aber eine Analyse der komplexen Schichtungsordnung moderner Gesellschaften möglich machen sollte, zu der sich „das gängige Vokabular der Klassenanalyse […] nicht ohne weiteres […] eignet“[25]. Der strenge Dualismus des Klassenkonzeptes führe, so Parkin, zu Defiziten bei der Analyse von, erstens, Zwischenebenen und Gruppen, die sich nicht eindeutig einer Klasse zuordnen lassen, sowie, zweitens, von Konflikten innerhalb einer Klasse. Sein Anspruch war es, soziale Beziehungen „sowohlinnerhalbals auchzwischenKlassen […] als Bestandteile eines einheitlichen Schichtungsschemas zu begreifen“[26].
Mit Bezug auf Weber kritisiert Parkin die fehlende Anbindung der Ausführungen zur sozialen Schließung an andere schichtungstheoretische Überlegungen und die daraus resultierende enge Fassung des Begriffs. In einem ersten Schritt dehnt er daher das Konzept der Schließung dahin gehend aus, dass es „auch andere Formen sozialen Konkurrenzhandelns einbezieht, bei denen es um die Maximierung von kollektiven Ansprüchen auf Vorteile und Erfolgschancen geht.“[27]Damit bezeichnet Schließung bei Parkin nun nicht mehr nur die Ausschließungspraktiken, sondern gleichermaßen auch die Gegenreaktion der Ausgeschlossenen.[28]Er entwickelt die Idee einer Schließungsgleichung, auf deren zwei Seiten sich Ausgeschlossene und Ausschließende gegenüber stehen. Dadurch wird ein Begriff von sozialer Schließung erreicht, der zwei „unterschiedliche reziproke Handlungstypen impliziert“[29]und damit zwei entgegen gesetzte und trotzdem aufeinander bezogene Strategien zur Durchsetzung eines Anspruchs auf begehrte Ressourcen bezeichnet:ExklusionundUsurpation[30].
Exklusionsstrategien können als die „dominante Schließungsform in allen Schichtungssystemen“[31]gelten und sind dadurch charakterisiert, „dass eine soziale Gruppe den Versuch unternimmt, ihre Privilegien durch die Unterordnung einer anderen Gruppe zu erhalten oder zu vermehren, d. h. eine andere Gruppe oder Schicht als unter der eigenen stehend auszugrenzen.“[32]Wenn die Ausgegrenzten ihrerseits nun wiederum ausgrenzen, indem sie den Zugang zu den verbleibenden Ressourcen erneut beschränken, entsteht eine stark aufgegliederte Schichtungsordnung[33], die eben durch diese Ausschließungsstrategien, die den politischen Druck nach unten richten und weitergeben, stabil gehalten wird. Ein weiteres die Exklusionsstrategien und damit die soziale Ordnung stabilisierendes Merkmal sieht Parkin im überwiegendlegalistischenCharakter von Ausschließungsstrategien. In der Regel werden solche nämlich staatlich getragen (und finanziert) sowie rechtlich abgesichert. Der Staat schafft zudem meist erst die Voraussetzung, dass eine soziale Gruppe eine andere ausschließen kann. Denn Exklusionskriterien werden nicht willkürlich gewählt:
In allen Fällen, in denen an rassische, religiöse, sprachliche oder geschlechtsspezifische Merkmale zu Schließungszwecken angeknüpft wurde, ist die jeweilige Gruppe im Vorfeld über einen bestimmten Zeitraum durch den Staat als untergeordnet definiert worden.[34]
Ausgeschlossen werden dementsprechend bereits Marginalisierte, die sich nur schwer organisieren können.
Parkin unterscheidet des Weiteren zwischen zwei Arten von Auschließungsregelungen, und zwar zwischenkollektivistischenundindividualistischen. Diese Unterscheidung charakterisiert „Wege und Mittel, durch die der Zugang zu öffentlichen Gütern und ganz allgemein zu Ressourcen geregelt wird“[35]und sie beeinflusst die soziale Situation der ausgeschlossenen Gruppen: der Ausschluss findet entweder aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe statt und betrifft dementsprechend ein Kollektiv, oder er ist bestimmt durch spezifische Fähigkeiten und Eigenschaften und betrifft den sozialen Status des Einzelnen.
Im Gegensatz zur stabilisierenden Wirkung von Exklusionsstrategien fordern Usurpationsstrategien die gültige Schichtungsordnung immer wieder heraus. Hier richtet sich der Druck nach oben. Verteilungsmodi werden in Frage gestellt. Usurpation kann als die „kollektive Antwort ausgegrenzter Gruppen verstanden werden, die ihrerseits nicht dazu in der Lage sind, durch Ausschließungstechniken Ressourcen für sich in Anspruch zu nehmen“[36], aber die Standards der Verteilung von Ressourcen zu ihrem Vorteil verändern wollen. Da sich diese Gruppen gegen die bestehende – und zumeist staatlich gesicherte - Ordnung wenden, sind Usurpationsstrategien i. d. R. auf einesolidaristischeTaktik[37], d. h. auf den Zusammenschluss der Ausgegrenzten angewiesen.
Mit der Definition des Verhältnisses zwischen sozialen Klassen über ihre unterschiedlichen Prinzipien sozialen Handelns im Verteilungskampf, genauer: über die jeweils angewandte Schließungsform, entfernt sich Parkin von der Annahme, dass Klassen über formale Merkmale (beispielsweise die Stellung im Produktionsprozess) bestimmt werden. „Das Konzept der Schließung bezieht sich auf die prozessualen Kennzeichen von Klasse und betont damit die Prinzipien, die der Klassenbildung zugrunde liegen.“[38]
Auf die Erweiterung des weberianischen Schließungsbegriffs folgt für Parkin auch die Ausdehnung des Konzepts von ökonomischer Ausbeutung, das bisher die Beziehung zwischen sozialen Klassen bestimmte. In seiner sehr weiten Definition als „der Gebrauch von Macht ‚nach unten’“[39]versteht er unter Ausbeutung jedes Handeln, das zur Entstehung einer Schicht Untergeordneter führt, indem diese vom Zugang zu Ressourcen ausgeschlossen werden. Damit wird Ausbeutung zu einer generellen Bezeichnung von Machtverhältnissen und die in Schließungsprozessen entstehende Schichtungsordnung wird zum Spiegel von Machtverteilung in Gesellschaften.[40]
Mit diesen Begriffserweiterungen und der Gegenüberstellung von exkludierenden und usurpatorischen Schließungsstrategien gelingt es jedoch immer noch nicht in zufrieden stellendem Maße, den strengen Klassendualismus aufzuheben und komplexere Beziehungen vor allem auch innerhalb von Klassen zu erklären. Dafür unternimmt Parkin einen weiteren Schritt: er hält es in der Praxis für durchaus nicht ungewöhnlich, dass eine soziale Gruppe exkludierende und usurpatorische Strategien kombiniert. Zwar definiert er den „Klassencharakter jeder Gruppe durch ihre primäre Schließungsstrategie“[41], zur Maximierung ihrer Zugangschancen zu Ressourcen greifen soziale Gruppen jedoch nicht selten auf ergänzende Strategien konträrer Art zurück. Parkin führt dafür den Begriff derdualen Schließungein.
Obwohl Parkin eine Alternative zum marxistischen Klassenmodell liefern möchte, bleibt er mit seiner Theorie diesem noch sehr verhaftet. Es gelingt ihm nicht, einen Analyserahmen zu entwerfen, der über die Klassenordnung hinausgeht. Es ist diese Aufgabe, der sich in der Folge Raymond Murphy annimmt.
2.3. Raymond Murphy: Schließungstheorie zur Analyse von Herrschaft
In den oben dargestellten Ansätzen sieht Raymond Murphy vielversprechendes Potenzial, die „zentrale Schwäche dieser Theorien besteht jedoch darin, dass sie strukturelle Beziehungen zwischen unterschiedlichen Sets von Schließungsregeln vernachlässigen.“[42]Er setzt sich daher zum Ziel, einen konzeptionellen und methodologischen Rahmen zu entwickeln, der es ermöglichen soll, über die vorhergehenden Ansätze hinaus sowohl die Beziehungen zwischen den Schließungsregeln, als in der Folge auch die gesamte Exklusionsstruktur sozialer Systeme zu analysieren. „In den Mittelpunkt des Interesses rückt die Analyse solcher Beziehungen, die die Tiefenstruktur von Herrschaft präsentieren.“[43]
Ein solches Analysekonzept versucht Murphy anschließend in einen umfassenden theoretischen Rahmen einzubinden.
2.3.1. Analyserahmen zur Strukturierung von Schließungsregeln
In einem ersten Schritt auf dem Weg zu einer erfolgreichen Analyse der Strukturierung von Schließungsregeln unterscheidet Murphy (2004a) zwischenprimären,abgeleitetenundkontingentenExklusionsformen. Erstere bezeichnen ein staatlich geschütztes Set von Schließungsregeln. „Der Staat ist der entscheidende Akteur, der über Zugang zu oder Ausschluss von Macht, Ressourcen und Chancen in einer Gesellschaft entscheidet.“[44]Die primäre Exklusionsform, die Murphy z.B. in marktkapitalistischen Gesellschaften im rechtlichen Schutz des Privateigentums sieht, entscheidet grundlegend über die Verteilung von Ressourcen und dominiert alle anderen Schließungsformen in einer Gesellschaft, da sie alle von ihr abhängig sind. Methodologisch sinnvoll sollte daher immer mit der Bestimmung der primären Exklusionsform einer sozialen Gruppe begonnen werden. Der darauf folgend vorgeschlagene zweite Schritt zur Schließungsanalyse ist die Untersuchung der verbleibenden Exklusionsformen, der Grenze zwischen ihnen und ihrer unterschiedlichen Beziehungen zur primären Form.
Abgeleitete Exklusionsformen „sind Regeln zur Monopolisierung von Chancen in Gesellschaften, die zwar direkt von der primären Exklusionsform abgeleitet, jedoch nicht mit ihr identisch sind“[45]. Vielmehr entstehen sie aus der primären Form, sind auch rechtlich durch diese geschützt. Abgeleitete Exklusionsformen werden aber nur selten selbst zu formalem Recht; viel eher werden bestehende Gesetze zum Schutz der primären Exklusionsform genutzt, um über das mit ihr korrespondierende Set von Schließungsregeln hinaus weitere durchzusetzen. So können sich beispielsweise Unternehmer in kapitalistischen Gesellschaften, die für die Vergabe von Positionen in ihrem Unternehmen bestimmte Bildungszertifikate verlangen, auf das Recht berufen, ihr Eigentum, also das Unternehmen, nach ihren Vorstellungen zu gestalten.
Die dritte Exklusionsform, d. h. die kontingente, umfasst Schließungsregeln, die zwar nicht direkt von der primären Form abgeleitet sind, trotzdem jedoch von dem durch diese dominierten Kontext abhängen. Kontingente Exklusionsformen entstehen nicht direkt aus der primären, beide stehen jedoch in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander. So können z.B. viele der berufsbezogenen Zulassungsvoraussetzungen in kapitalistischen Gesellschaften nicht vollständig auf das Recht auf Privateigentum zurückgeführt werden, trotzdem sind sie durch eben diesen Kontext bestimmt.
DieRegelnder Exklusion können bei beiden letztgenannten Exklusionsformendurchaus identisch sein (z.B. auf Bildungstitel, Geschlecht, Religion etc. beruhend), jedoch unterscheidet sich – abhängig davon, ob es sich um abgeleitete oder kontingente Exklusionsformen handelt – ihr Wirkungsbereich: im ersten Fall ist dies der Rahmen kapitalistischer Unternehmen, im zweiten, allgemeiner, die Gesellschaft.[46]
Einen dritten methodologischen Schritt der Untersuchung von Schließung stellt die Analyse der gesamten Struktur der Exklusion dar. Murphy unterscheidet drei Typen von Exklusionsstrukturen, die er inTandem,dualoderpolarunterteilt.
In Gesellschaften mit einer Tandemstruktur der Exklusion herrscht eine primäre und damit charakteristische Exklusionsform vor, abgeleitete und kontingente Formen ergänzen die Struktur. Beispiele hierfür sieht Murphy in der aristokratischen Gesellschaft (Exklusion durch Abstammung), der kapitalistischen Gesellschaft (Exklusion durch Privateigentum) oder auch der staatssozialistischen Gesellschaft (Exklusion durch Position in der Kommunistischen Partei).
Eine duale Exklusionsstruktur dagegen ist gekennzeichnet von zwei primären, gleichgestellten und sich nicht widersprechenden Sets von Exklusionsregeln (mit je ihren beigeordneten Sets abgeleiteter und kontingenter Schließungsregeln). Das kapitalistische Weltsystem lässt sich beispielsweise aus einer Perspektive betrachten, die eine solche Struktur erkennbar macht. Hier ermöglichen zwei Sets von Gesetzen Exklusion – Privateigentum auf der einen, Staatsbürgerschaft auf der anderen Seite. Das Recht auf Privateigentum, das eine primäre Exklusionsform bildet, hat weiterhin die oben beschriebene Wirkung. Darüber hinaus – und unabhängig vom Privateigentum – fungieren „Staatsbürgergesetze […] als kollektivistische Exklusionskriterien, die entsprechend der geografischen Lage ihres Geburtsortes die Menschen in zwei Lager teilt: die, die Rechte haben, und jene, die von diesen Rechten ausgeschlossen sind.“[47]
Die polare Exklusionsstruktur ist ebenfalls durch zwei primäre Exklusionsformen charakterisiert, die aber, im Kontrast zum zuvor beschriebenen Fall, einander entgegengesetzt sind. „Eine polare Schließungsstruktur wird durch die paradoxe Abhängigkeit jeder der beiden primären Schließungsformen vom Gegensatz zu der jeweils anderen und der Usurpation durch sie charakterisiert.“[48]Als Beispiel dient hier –ebenfalls auf der Ebene des Weltsystems, allerdings bereits von der Geschichte überholt – der Gegensatz zwischen den primären Exklusionsformen durch Privatbesitz in kapitalistischen sowie Kommunistische Partei in sozialistischen Gesellschaften.
Wie deutlich wird, legt Murphy seinen Schwerpunkt auf die differenzierte Analyse von Exklusionsformen. Der Usurpationsseite dagegen wendet er sich nur sehr knapp zu.[49]Er unterscheidet zwischen auf Inklusion zielenden (inclusionary) und revolutionären (revolutionary) Usurpationsstrategien. Während die erste Form den Kampf ausgeschlossener Gruppen um Chancengleichheit und damit um Inklusion in die bestehenden Strukturen beinhaltet, bezeichnet revolutionäre Usurpation den Versuch, die bestehenden Strukturen, z.B. die Struktur der Positionen in einer Gesellschaft, zu verändern.
Die aufgezeigte Differenzierung von Schließungsregeln, -formen und -strukturen ermöglicht Murphy die genaue Analyse der Beziehungen zwischen ihnen.
Herrschaftsbeziehungen auf Basis bestimmter Exklusionsregeln […] bilden strukturelle Schließungsbeziehungen erster Ordnung; die Beziehungen zwischen diesen stellen strukturelle Schließungsbeziehungen zweiter Ordnung und damit die Tiefenstruktur von Schließung in einem sozialen System dar.[50]
Durch diesen konzeptionellen und methodologischen Analyserahmen erst wird es der Schließungstheorie möglich, eine explizite Hierarchie von Schließungsregeln zu erkennen und damit zum besseren Verständnis der Fragmentierung von Klassen sowie zur Erklärung von Intraklassenkonflikten beizutragen.
2.3.2. Exklusion, Monopolisierung und gesellschaftliche Rationalisierung
In seinem Versuch, das soeben dargestellte analytische Konzept in einen weiter gefassten theoretischen Rahmen einzubinden, um „mit der Theorie sozialer Schließung auf gesellschaftstheoretischer Ebene einen Weg jenseits von Klassen- und Schichtungstheorie anbieten zu können“[51], greift Murphy (2004b) erneut auf Weber – konkret: auf dessen Konzept der Rationalisierung[52]– zurück.[53]
„Formale Rationalisierung ist ein dynamischer Prozess, der auf eine kontinuierliche Verbesserung der Herrschaftsmittel über Natur und Mensch zielt.“[54]Der Zweck dieses Prozesses ist zum einen die Kontrolle über die Natur durch wissenschaftliche und technologische Rationalisierung, zum anderen die Kontrolle über den Menschen durch rational-legale Herrschaft, die in Bürokratien, im formalen Rechtssystem und auf dem kapitalistischen Markt zum Ausdruck kommt. Dabei bedeutet Rationalisierung ständigen Wandel, und zwar in Form „einer Modifikation von Herrschaft und Schließung, um Herrschaft zu stärken und auszuweiten, sie umfassender, subtiler und legitimer zu machen. […] Kurz: Formale Rationalisierung beinhaltet die Rationalisierung der Exklusionskriterien selbst.“[55]Damit liegt sie einer Transformation von kollektivistischen hin zu individualistisch erscheinenden Kriterien zu Grunde. Entscheidend für Inklusion oder Exklusion sind in zunehmendem Maße nicht mehr Regeln, die auf der Zugehörigkeit zu einer speziellen sozialen Gruppe beruhen, sondern solche, die in einer „Beziehung zu den Mitteln materiellen Erwerbs“[56]stehen und sich über den Zugang zu bestimmten Ressourcen definieren: individualistische Kriterien wie Fähigkeiten, Wissen, verfügbare Mittel etc.
Dieser Wandel bedeutet nun eine Entwicklung hin zu Wettbewerben um Positionen, Güter, Teilhabe o. ä., die von der formalen Gleichheit aller Teilnehmer ausgehen. Jedoch handelt es sich dabei nicht auch um substantielle Gleichheit, denn weder Exklusion noch Herrschaft werden dadurch abgeschafft. „Formal offene Systeme sind trotz ihrer formalen Offenheit Schließungssysteme.“[57]Es entstehen denjenigen Vorteile, die zu Beginn über mehr Ressourcen verfügen, denn die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Wettbewerb zu gewinnen, korrespondiert mit den eingesetzten Ressourcen. Für diese wiederum lässt sich eine Kette ausmachen: verfügbare Ressourcen resultieren aus den Vorteilen, die aus vorangegangenen Wettbewerben gezogen wurden. Den Beginn einer solchen Kette stellt häufig „das Fortwirken traditionell kollektivistischer Exklusionsformen dar“[58]. Damit bestehen solche kollektivistischen Kriterien durchaus weiterhin, wenn auch gewissermaßen versteckt und im Untergrund.
Trotzdem schließt sich Murphy den Ausführungen Parkins an, der individualistische Exklusionskriterien im Vergleich mit kollektivistischen als effektiver im Hinblick auf die Sicherung von Privilegien bezeichnet.
Formal rationale Exklusionskriterien könnenunter bestimmten Bedingungenzu weniger Monopolisierung, Exklusion und Ungleichheit hinsichtlich der Chancen und Bedingungen zwischen Individuen und Gruppen führen.[59]
Jedoch führen formal offene Wettbewerbe keinesfalls notwendiger Weise zu mehr Gleichheit und weniger Exklusion.
Die Entwicklung hin zu individualistischen Exklusionskriterienim Innern von Staatenhängt darüber hinaus eng mit einer Verstärkung kollektivistischer Monopolisierung und Exklusionauf internationaler Ebenezusammen. So hat z.B. die Staatsbürgerschaft im Prozess der formalen Rationalisierung als kollektivistische Form der Exklusion stark an Bedeutung gewonnen.[60]
Mit diesen Überlegungen entwickelt Murphy einen theoretischen Rahmen, der „die modernisierungstheoretische Annahme fortschreitender Inklusion“ zurückweist und im Gegensatz dazu einen „Prozeß der Durchsetzung neuer Formen der Exklusion und der Umstellung von Exklusionskriterien“ identifiziert.[61]In Kombination mit den zuvor dargestellten Beiträgen von Weber und Parkin möchte es Murphys Werk nun ermöglichen, Verteilungskämpfe in modernen Gesellschaften zu analysieren.
Als ein solcher Verteilungskampf wird illegale Migration hier angesehen. Bevor das Phänomen aber dementsprechend in eine schließungstheoretische Sprache übersetzt werden kann, indem Anknüpfungspunkte herausgearbeitet und auch kleinere, aber notwendige Anpassungen des Ansatzes vorgenommen werden, wird das folgende Kapitel zunächst einmal näher auf das Begriffs- und Forschungsfeld der Illegalität eingehen.
3. Gegenstand und Kontext dieser Arbeit
‚Passeporte’ heißt natürlich wörtlich etwas sehr deutliches. Es heißt: Geh durch die Tür. Es ist das Dokument, mit dem man die Kontrolle überwinden kann.[62]
3.1. Der Begriff: Illegal
3.1.1. Schwierigkeiten und mögliche Alternativen einer umstrittenen Terminologie
‚Papierlose’, ‚Personen ohne Status / Statuslose’, ‚Heimliche’ oder der Titelbegriff ‚Illegale Migranten’ – all das sind Bezeichnungen, die allein die deutsche Sprache für Menschen kennt, die sich trotz fehlender Erlaubnis auf einem staatlichen Territorium aufhalten. U.a. die Vereinten Nationen bezeichnen die nicht erlaubte Einreise in einen fremden Staat auch als ‚irreguläre Migration’.[63]In anderen Sprachen existieren vergleichbare Termini: so spricht man im Englischen zum Beispiel von ‚undocumented persons’, auf Italienisch auch von ‚clandestini’, im Französischen darüber hinaus von ‚sans papiers’, im Spanischen dementsprechend von ‚sin papeles’, ‚inmigrantes irregulares’ oder ‚indocumentados’. Jeder dieser Begriffe bezeichnet das gleiche Phänomen, ihre Vielfalt lässt jedoch zum einen auf unterschiedliche Akzentsetzungen und Sichtweisen, zum anderen auch auf die Uneinigkeit in der Benennung des Problems schließen.
Während die Bezeichnung ‚Papierlose’ (resp. ‚sin papeles’) den Blick auf das Fehlen eines Ausweises oder gültiger Aufenthaltspapiere lenkt, betont ‚undocumented persons’ (resp. ‚indocumentados’) eher den Umstand, dass diese Menschen staatlich nicht erfasst sind. ‚Statuslos’ hingegen weist vorrangig auf die Problematik des Aufenthaltsstatus’ hin. All diese Termini vermeiden es allerdings, die betroffenen Menschen zu illegalen Personen zu erklären. Doch damit werde „assoziativ die Grenze zu ‚Kriminellen’ fließend“, befürchtet nicht nur die Deutsche Bischofskonferenz.[64]
Neben dieser möglichen negativen Konnotation ist eine weitere Schwierigkeit des Begriffs ‚illegale Migranten’ in der Tatsache zu finden, dass viele von ihnen gar keine ‚illegale Migration’ - im Sinne der Bewegung von ihrer Heimat in das Aufnahmeland – also keinen illegalen Grenzübertritt hinter sich haben. Die aufenthaltsrechtliche Illegalität in Spanien „no se produce en la entrada, sino en la permanencia“ (entsteht nicht durch die Einreise, sondern durch das Bleiben).[65]
Andererseits weist der Terminus ‚illegal’ jedoch auch auf einen wichtigen Effekt hin, den Einwanderung oder Aufenthalt trotz fehlender staatlicher Erlaubnis mit sich bringen:
Illegale Zuwanderer exkludieren sich selbst mit dem Versuch, ihre Wanderung staatlich unbeobachtbar zu machen, vom Recht – nicht deshalb, weil der Staat ihnen den Zugang dazu verwehrt, sondern weil die Teilnahme am Recht voraussetzt, daß sie als rechtsfähige Adressen identifizierbar sind.[66]
Der Versuch, der staatlichen Kontrolle zu entgehen, hat also zur Folge, dass die betroffenen Personen faktisch vom Rechtsystem ausgeschlossen sind. Das wiederum bringt starke soziale Einschränkungen und Einschnitte mit sich, die weiter unten noch zu untersuchen sind.
Vor diesem Hintergrund und in Anlehnung an eine Vielzahl der zu Grunde liegenden wissenschaftlichen Texte verwendet auch diese Arbeit vorwiegend – aus Gründen der Lesbarkeit allerdings nicht ausschließlich – den Begriff ‚illegale Migranten’, obwohl und gerade weil er im öffentlichen Diskurs oft missverständlich und undifferenziert verwendet wird.
3.1.2. Begriffsabgrenzung und –bestimmung
Gerade die häufig ungenaue Verwendung des Begriffs macht es notwendig, weiteren Ausführungen eine klare Definition dessen voranzustellen, wen oder was illegale Migration / illegale Migranten im Folgenden bezeichnen soll.
In der Migrationsforschung wird die illegale Migration als eine von vielen Formen moderner Migration angesehen.[67]Daher bietet es sich an, mit der Klärung des Sachverhaltes Migration zu beginnen und das Spezifische derillegalenMigration anschließend vor diesem Hintergrund zu betrachten.
In den Sozialwissenschaften werden unter dem Begriff der Migration allgemein solche Bewegungen von Personen und Personengruppen um Raum (spatial movement) verstanden, die einen dauerhaften Wohnortwechsel (permanent change of residence) bedingen.[68]
Nähere Eingrenzungen, z.B. in Bezug auf die Dauer des Aufenthalts, die Entfernung zwischen Herkunftsort und Ziel oder politische Kategorien sind im Rahmen dieser Arbeit nicht notwendig. Allerdings erfordert die hier betrachtete illegale Migration eine Beschränkung auf internationale Migrationsbewegungen (im Gegensatz zu Binnenmigration), da die Überschreitung nationalstaatlicher Grenzen die Grundlage für den illegalen Status bildet.
Die Ursachen der Migration – z.B. politische, soziokulturelle, wirtschaftliche, ökologische, religiöse oder kriegerische Bedingungen – sind für die Fragestellung dieser Untersuchung irrelevant.[69]Es ist jedoch von Bedeutung, dass legalen wie illegalen Migrationen gleichermaßen meist Versuche der Realisierung von Lebenschancen zu Grunde liegen.[70]
Eine Unterscheidung zwischen legal und illegal wird doch erst durch Regulierungsmaßnahmen moderner Migrationspolitik möglich, die legale Zugangswege in die Industrieländer immer mehr einschränken und damit die Abspaltung illegaler Migration von anderen Ausprägungen – Migration von sog. Gastarbeitern, Kolonialwanderung etc. – quasi hervorrufen.[71]Michael Bommes bezeichnet solche rechtlichen und politischen Interventionen als „Ausdruck eines Strukturproblems der modernen Weltgesellschaft“, die nämlich einerseits permanent Anreize, andererseits – aufgrund der Unterteilung in nationalstaatliche Einheiten – gleichzeitig Einschränkungen für internationale Migrationen erzeugt und mit diesen Restriktionen Illegalität gewissermaßen erst möglich macht.[72]
Nun sind sich nicht einmal die Juristen einig darüber, was genau unter einem legalen – und analog dazu einem illegalen – Aufenthalt zu verstehen ist.[73]Die Terminologie ‚illegale Migranten’ birgt darüber hinaus eine weitere Schwierigkeit in sich: entgegen der grammatikalischen Logik kann damit natürlich keine Charakterisierung der betroffenen Migranten als illegale Menschen gemeint sein.[74]Ihrer Illegalität liegt zunächst einmal kein kriminelles, sondern ein aufenthalts- oder arbeitsrechtliches Delikt zu Grunde – wobei die Grenzen oft fließend sind und sich u. U. verschiedene Kategorien von Rechtsverstößen vermischen. Allerdings sind Menschen, die sich vorrangig aus kriminellen Gründen auf fremdem Staatsgebiet aufhalten, in dieser Arbeit explizit nicht mit in die vorliegende Untersuchung einbezogen.
In dieser Arbeit werden folglich Personen als illegale Migranten (abgekürzt auch ‚Illegale’) bezeichnet, die unerlaubt nach Spanien einreisen und/oder sich unerlaubt auf spanischem Boden aufhalten. Unter ‚unerlaubt’ wird verstanden, dass die betreffende Person für ihre Einreise und/oder den Aufenthalt keine nach nationalem und internationalem Recht gültigen Papiere besitzt. Auch in dem Fall, dass die Person zuvor zwar reguläre Papiere besaß, diese jedoch durch Zeitüberschreitung, Regelübertretung o.ä. ungültig wurden, gilt die Person als illegaler Migrant.
Die Gruppe derer, die manchmal als ‚Scheinlegale’ bezeichnet werden, da sie scheinbar echte Papiere besitzen, die einer oberflächlichen oder sogar gründlichen Überprüfung standhalten können (z.B. durch gefälschte, gestohlene oder anderweitig illegal erworbene Dokumente, aber auch durch Abschluss einer Scheinehe) wird in dieser Arbeit ebenfalls zur Gruppe der illegalen Migranten hinzugerechnet, da auch sie ihren Aufenthalt auf etwas begründen, das durch Gesetze und Behörden als nicht legal angesehen und bekämpft wird, sodass Scheinlegale im Falle ihrer Entdeckung mit den gleichen Folgen (z.B. Einreiseverweigerung, Ausweisung, Verhaftung) rechnen müssen, wie Illegale.[75]
3.2. Das Land: Spanien
Die spanische Migrationsgeschichte des letzten halben Jahrtausends war vor allem eine Geschichte der Auswanderung – zunächst hauptsächlich in Richtung Lateinamerika, ab den 1960er Jahren, als die Staaten in Nord- und Westeuropa begannen, ausländische Arbeitskräfte anzuwerben, wurden auch Deutschland und die Schweiz wichtige Ziele für spanische Emigranten.[76]
Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten wendete sich das Blatt. Seit den 1980er Jahren hat sich Spanien in verschiedener Hinsicht zu einem Einwanderungsland entwickelt: Als Ziel für Immigranten aus Europa, die sich zunächst vorwiegend in den touristisch interessanten Gebieten niederließen, aus wirtschaftlichen Interessen oder auch um ihren Lebensabend in der Sonne zu verbringen; als Ziel für Immigranten aus Lateinamerika, die hauptsächlich zum Arbeiten nach Spanien kamen, da sie aufgrund der historischen und kulturellen Verbindungen zur iberischen Halbinsel über einen bevorzugten Status bei der Vergabe von Arbeitsgenehmigungen verfügten; als Ziel für Immigranten aus Asien und Afrika, ebenfalls vornehmlich zu Erwerbszwecken, jedoch bewegen sich die Zahlen afrikanischer und asiatische Migranten bis ca. 1990 in zu vernachlässigenden Größenordungen.[77]
Die Zahl der Ausländer in Spanien hat sich zwischen 1975 und 2000 von ca. 200 000 auf ungefähr eine Million verfünffacht, wobei illegale Migranten nicht mitgezählt sind. Die jährlichen Zuwachsraten bei der Vergabe von Aufenthaltstiteln betragen seit 2000 kontinuierlich ca. 20 Prozent. Im Gemeinderegister registrierte Ausländer[78]stellten im Januar 2005 8,46 Prozent der Gesamtbevölkerung Spaniens.[79]
3.2.1. Spanien als Ziel illegaler Einwanderung
Parallel zur regulären Einwanderung hat in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren auch die illegale Migration nach Spanien an Bedeutung gewonnen. Fischer (2006) führt als Gründe für diese Entwicklung unter anderem folgende Punkte an:[80]
1. Während die Kontrollen und Einreisebeschränkungen in den Staaten Nord- und Westeuropas immer strikter wurden, behielt Spanien lange Zeit eine wesentlich weniger strenge Gesetzgebung bei (und hat sie z.T. heute noch).
2. Zunächst wurde die Einwanderung nach Spanien durch seine Verbindungen zu ehemaligen Kolonien gewissermaßen begünstigt.
3. Die aktuellen Migrationsströme lassen aber eher darauf schließen, dass Migranten Spanien weniger aufgrund historischer Anknüpfungspunkte als Ziel wählen, sonder mehr deshalb, weil es bereits als Einwanderungsland wahrgenommen wird. Dieses Bild trägt viel zur weiteren Entwicklung der Immigration bei.
4. Spanien hat, wie die südeuropäischen Länder im Allgemeinen, in den letzten Jahrzehnten ein starkes wirtschaftliches Wachstum erlebt. Daraus entstand ein Bedarf an Arbeitskräften, legalen und illegalen. Denn der informelle Sektor, der illegale Migranten ausschließlich aufnimmt, hat sich ebenfalls vergrößert.
5. Außerdem hat sich auch der spanische Arbeitsmarkt dahingehend entwickelt, dass für bestimmte Tätigkeiten keine einheimischen Arbeitskräfte mehr zur Verfügung stehen und gezielt ausländische Kräfte nachgefragt werden. Da dies auch den informellen Sektor betrifft, ergeben sich auch daraus Anreize für illegale Migranten.
6. Nicht zuletzt ist natürlich die geografische Lage Spaniens an der Südgrenze Europas – und damit in direkter Nachbarschaft zu Afrika – zu nennen. Hier treffen massive Einkommensunterschiede, stark divergierende Geburtenraten u.v.m. unmittelbar aufeinander. Die Verlockung ist dementsprechend besonders hoch.
Fischer führt trotzdem „das große Ausmaß dieser Form der Einwanderung [vor allem, A.F.] auf die starke Nachfrage von Seiten der spanischen Schattenwirtschaft“ zurück.[81]
In Bezug auf die geographische Verteilung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus ist festzuhalten, dass illegale Migration in Spanien zwar kein auf ein kleines Gebiet, auf Großstädte oder Grenzregionen beschränktes Phänomen ist; Menschen, die ohne Papiere im Land leben, gibt es überall. Jedoch lassen sich trotzdem gewisse Zentren ausmachen, in denen sich Bevölkerungsgruppen ohne Aufenthaltstitel konzentrieren. Insbesondere sind das die großen Städte Madrid und Barcelona, sowie die südlichen Küstenregionen der iberischen Halbinsel, die Balearen und die Kanaren. Die Gründe für diese Verteilung sind zum einen sicherlich geografischer, zum anderen aber auch wirtschaftlicher Natur: Madrid und Barcelona sind die führenden Wirtschaftszentren des Landes, dementsprechend umfangreich gestalten sich die Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Im Süden des Festlandes und auf den genannten Inseln ist die Nachfrage nach günstigen Arbeitskräften aufgrund der ausgeprägten Landwirtschaft und der dort angesiedelten Tourismuszentren besonders hoch.[82]
[...]
[1]Naranjo Noble 2006: 162.
[2]Breuer 2006: 2.
[3]Art. 12 (2) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 regelt das Recht auf Reisefreiheit: „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“ OHCHR: http://www.unhchr.ch/udhr/lang/ger.htm (letzter Zugriff: 30.06.2007).
[4]Vgl. Han 2005: 11.
[5]Vgl. Han 2005: 124.
[6]Krieger u.a. 2006: 15.
[7]Vgl. 3.3.2. Schätzungen zur Größenordnung.
[8]Vgl. 4.4.1. Soziale Schließung – eine Theorie mittlerer Reichweite.
[9]Mackert 2004c: 10, 11.
[10]Bommes 2006: 101.
[11]Bade 2001c: 65. Trotzdem geht auch Bade in seinen Arbeiten von diesem Begriff aus.
[12]Steinert 2004: 193.
[13]Mackert 2004a: 7 u. 9.
[14]Einen guten Überblick über den Stand der schließungstheoretischen Forschung liefert Mackert 2004a. Exemplarisch für die Anwendung der Theorie sozialer Schließung können Mackert 1999 und Achermann / Gass 2003 genannt werden.
[15]U.a. zum Beispiel in der Luhmann’schen Systemtheorie (Vgl. Luhmann 1984 und 1994).
[16]Auch Randall Collins (1975, 1987) hat entscheidende Beiträge zum Verständnis von (beruflicher) Schließung geleistet. Seine Arbeiten sind allerdings für die Entwicklung des hier zu Grunde liegenden Konzepts sozialer Schließung irrelevant und werden daher nicht weiter berücksichtigt.
[17]Weber 1925: 23.
[18]Weber 1925: 23.
[19]Weber 1925: 23. (Hervorh. i.O.).
[20]Weber 1925: 201.
[21]Vgl. Weber 1925: 201-203.
[22]Vgl. Weber 1925: 23, 24.
[23]Weber 1925: 201.
[24]Parkin 2004a: 30.
[25]Parkin 2004a: 29.
[26]Parkin 2004a: 27.
[27]Parkin 2004a: 30.
[28]Parkin entwickelt damit die ja bereits bei Weber angeklungene Idee weiter, um sie ausreichend und systematisch in die Begriffsdefinition einzubeziehen.
[29]Parkin 2004a: 31.
[30]Zunächst verwendet Parkin (2004a) an dieser Stelle die Bezeichnung Solidarismus / solidaristische Schließungsstrategien, ersetzt sie aber später durch Usurpation. Solidarismus wird damit zu einer Unterkategorie, d. h. zu einer möglichen Usurpationsstrategie (Vgl. Parkin 2004b).
[31]Parkin 2004a: 31.
[32]Parkin 2004a: 31.
[33]Diese Annahme steht im starken Gegensatz zum marxistischen Modell der Klassenpolarisierung, Parkin (2004a: 31) bezeichnet den entstehenden Zustand daher auch als einen der „politischen Entschärfung“.
[34]Parkin 2004b: 52.
[35]Parkin 2004a: 33.
[36]Parkin 2004a: 31.
[37]Exklusionsstrategien sind zwar eher legalistisch und Usurpationsstrategien demgegenüber eher solidaristisch, aber das sind keineswegs notwendige Bedingungen. Parkin (2004b: 54ff.) führt einige Beispiele an, in denen Usurpation über Gesetzgebung bzw. Exklusion durch Solidarismus erreicht wird.
[38]Parkin 2004a: 40.
[39]Parkin 2004b: 46.
[40]Vgl. Parkin 2004b: 45/46.
[41]Parkin 2004a: 40.
[42]Murphy 2004a: 87.
[43]Murphy 2004a: 87.
[44]Murphy 2004a: 97.
[45]Murphy 2004a: 97.
[46]Vgl. Mackert 1999: 143.
[47]Murphy 2004a: 102.
[48]Murphy 2004a: 102.
[49]Aus der Dominanz der Bedeutung von Exklusionsformen und –regeln lässt sich schließen, dass Murphy die Handlungen der Ausgeschlossenen lediglich als Reaktion, und nicht – wie z.B. Parkin in seinem Konzept der dualen Schließung – als eigenständigen Faktor in wechselseitigen Prozessen begreift.
[50]Murphy 2004a: 107.
[51]Mackert 1999: 149.
[52]Das Stichwort der Rationalisierung gilt in der und für die Soziologie als eines der wichtigsten, das Webers Werk hervorgebracht hat. Unter diesem Oberbegriff versuchte Weber eine Vielzahl von ihm beobachteter Phänomene zu verstehen. Als den Prozess der Rationalisierung bezeichnete er eine historische Entwicklung des Ordnens und der Systematisierung. Im Laufe seines Schaffensprozesses nahm Webers Überzeugung zu, dass dieser Prozess universal und unaufhaltsam sei. (Vgl. Kaesler 2003)
[53]Seine Zusammenführung der Weberschen Konzepte von Schließung und Rationalisierung bezeichnet Murphy selbst als eine Weiterentwicklung des Werkes Webers. (Vgl. Murphy 2004a: 87, Fn. 1)
[54]Murphy 2004b: 111.
[55]Murphy 2004b: 112.
[56]Murphy 2004b: 114.
[57]Murphy 2004b: 115.
[58]Murphy 2004b: 117.
[59]Murphy 2004b: 118.
[60]Vgl. Murphy 2004b: 120.
[61]Mackert 1999: 147.
[62]Valentin Gröbner in Joachim Meißner: SWR 2 Wissen: Der edelste Teil des Menschen.
[63]Vgl. www.un.org.
[64]Deutsche Bischofskonferenz 2001: 15.
[65]Izquierdo Escribano 1999: 67.
[66]Bommes 2001: 50.
[67]Vgl. Han 2005: 124.
[68]Han 2005: 7.
[69]Nähere Ausführungen dazu, sowie zu Kategorisierungen der Determinanten (z.B. in sog. Push- und Pullfaktoren) und Typologisierungen von Migrationsformen Vgl. u.a. Han 2005.
[70]Vgl. Bommes 2006: 96.
[71]Vgl. Krieger u.a. 2006: 15.
[72]Bommes 2006: 96.
[73]Vgl. Bommes 2006: 95.
[74]"Ihr sollt wissen, daß kein Mensch illegal ist. Das ist ein Widerspruch in sich. Menschen können schön sein oder noch schöner. Sie können gerecht sein oder ungerecht. Aber illegal? Wie kann ein Mensch illegal sein?“ (Elie Wiesel) Zit. nach: Kein Mensch ist illegal. Netzwerk gegen Abschiebung und Ausgrenzung in Köln. (http://www.kmii-koeln.de/index.php?special=Ueber+uns).
[75]Definition in Anlehnung an Alt 2003: 20/21.
[76]Vgl. Kreienbrink 2006: 1.
[77]Vgl. Izqierdo Escribano 1992: 53-55.
[78]Vgl. Exkurs:Padrón Municipalunter 3.3.1.1. Soziale Rechte.
[79]Vgl. Kreienbrink 2006: 2.
[80]Vgl. Fischer 2006: 134.
[81]Fischer 2006: 136.
[82]Fundación „la Caixa“ 2007: 15.
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