Das Zusammenleben von Sesshaften und Zigeunern in Clemens Brentanos "Die mehreren Wehmüller"

Der Entwurf einer heterogenen Gesellschaftsform?


Seminararbeit, 2005

18 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Oft geduldet aber nicht integriert: die Rolle der Zigeuner in der Gesellschaft
2.1 Jahrzehntelange Verfolgung einer Völkergruppe
2.1.1 Ursachen der Verfolgung
2.2 Unterstützung aus der Bevölkerung
2.3 Das Zigeunermilieu bei Brentano
2.4 Die Erwerbsquellen der Zigeuner
2.4.1 Die Wahrsagerei als Broterwerb
2.4.1.1 Einblick in die bürgerliche Gesellschaft
2.4.2 Heilkunde und „Viehdoktorei“
2.4.3 Die Musik: Verdienstmöglichkeit und Ausdrucksmittel

3 Die Verwischung sozialer Barrieren: Mitidika als Ebenbild eines neuartigen Gesellschaftsbildes
3.1 Das Beseitigen alter Klischees: ein erster Schritt in Richtung heterogene Gesellschaft
3.1.1 Die dunkle Hautfarbe als Verhüllung der wahren Schönheit
3.1.2 Der Schmuck als Teilaspekt der Schönheit
3.2 Die versammelte Gruppe in der Gaststätte: ein heterogener Mikrokosmos
3.3 Mitidika. Grenzdurchbruch auf dem Weg zu einer heterogenen Gesellschaft
3.3.1 Die Konzeption eines neuen Frauenbildes

4 Abschließende Reflexionen und Schlussfolgerungen

5 Literatur:

1 Einleitung

In dieser vorliegenden Hausarbeit über „Die mehreren Wehmüller“ von Clemens Brentano werde ich mich mit den Zigeunern als Individuen, ihrer Lebensführung sowie ihrer Rolle innerhalb der Gesellschaft befassen. In einem ersten Teil der Arbeit versuche ich anhand von Textauszügen aus „Die mehreren Wehmüller“ zu zeigen , in wieweit das von Brentano dargestellte Zigeunerleben dem reellen Alltagsleben der Zigeuner in der Zeit des ausgehenden 18., beginnenden 19. Jahrhunderts entsprach. In diesem Kontext kommt es zu einer Darstellung der verschiedenen Aspekte eines typischen Zigeunerdaseins unter Berücksichtigung des sozialen Verhaltens der Zigeuner zu der sesshaften Bevölkerung, der Erwerbsquellen der männlichen wie auch weiblichen Mitglieder einer Zigeunergruppe sowie ihres Verhältnisses zur Kunst und der Magie. Des Weiteren werde ich auch untersuchen, ob sich Brentano in irgendeiner Art und Weise der in der Zigeunerforschung anzutreffenden Klischees bedient, und , sollte dies der Fall sein, wie er diese in seiner Erzählung verarbeitet.

In einem zweiten Teil der Hausarbeit konzentriere ich mich vorwiegend auf das von Brentano entworfene Gesellschaftsbild , welches er in den „Wehmüller“ darstellt. Anhand der Figur Mitidika soll versucht werden herauszufinden, inwiefern diese junge Zigeunerin als eine Art Modellmitglied einer neuartigen Gesellschaftsform bezeichnet werden kann, in welcher Menschen verschiedener ethnischer und sozialer Herkunft miteinander, anstatt nebeneinander leben. Inwieweit die Figur der Mitidika unter diesem Blickpunkt als Bindeglied zwischen zwei oder mehreren parallel existierenden Gesellschaften funktioniert, soll auch in diesem Teil der Arbeit beleuchtet werden.

2 Oft geduldet aber nicht integriert: die Rolle der Zigeuner in der Gesellschaft

In Brentanos Erzählung „Die mehreren Wehmüller“ erhält der Leser anhand der drei Figuren Michaly, Mitidika und deren Großmutter Susanna, ihr Name wird übrigens nur ein einziges Mal in der Erzählung erwähnt[1], in mehren Erzählepisoden detaillierte Einblicke in das Alltagsleben der Zigeuner. Der Autor beobachtet die Zigeuner einerseits durch das Auge des Erzählers, andererseits durch die Augen der auftretenden Figuren: durch diese Beobachtungstechnik bekommt der Leser nicht nur Fakten über das Zigeunerdasein geliefert, sondern wird ebenfalls , anhand der von einzelnen Figuren geäußerten abwertenden Bewertungen gegenüber den Zigeunern, mit den Vorurteilen und Problemen konfrontiert, denen die Zigeuner im Alltag ausgesetzt sind . Bevor ich, unter Berücksichtigung ausgewählter Textpassagen aus den „Wehmüller“, einen Blick auf die Schilderung des Zigeuneralltags bei Brentano werfe, befasse ich mich mit der gesellschaftlichen Situation der Zigeuner im ausgehenden 18. bzw. beginnenden 19. Jahrhundert, die Zeitspanne, in welche auch die Veröffentlichung der Erzählung fiel.

2.1 Jahrzehntelange Verfolgung einer Völkergruppe

Die ersten Zigeunergruppen tauchten vermutlich im 14. Jahrhundert in Europa auf; im Laufe des ersten und zweiten Jahrzehnts des 15. Jahrhunderts wanderten zum ersten Mal größere Scharen von Zigeuner in das damalige Deutschland ein.[2] Es war aber das 18. Jahrhundert, welches zu einem Jahrhundert des Leidens für die Zigeuner wurde. In den Städten gänzlich unerwünscht, wurden sie auch auf dem Lande gejagt, verfolgt und gefoltert, da man diese häufig mit Geldnarren und Bettlern, später auch mit Mördern, Räubern und Dieben gleichsetzte.[3] Morde an Zigeuner waren alles andere als seltene Verbrechen: in territorial zersplitterten Gebieten wurden diese Verbrechen nicht einmal gesühnt , da bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Zigeuner in mehreren Herzogtümer und Landgrafschaften als vogelfrei erklärt worden waren.[4] Bis ans Ende dieses Jahrhunderts wurden im Laufe sogenannter Streifen in diesen Gebieten zahlreiche Zigeuner niedergemacht, ohne dass die Obrigkeit bemüht war herauszufinden, ob und was die Zigeuner überhaupt verbrochen hatten, um solchen Hassfeldzügen der sesshaften Bevölkerung ausgesetzt zu sein[5]. Es passierte aber ebenfalls sehr häufig, dass die Zigeuner von der sesshaften Bevölkerung über die bevorstehenden Streifzüge in Kenntnis gesetzt wurden und sich daraufhin in Sicherheit bringen konnten

2.1.1 Ursachen der Verfolgung

Eine der Hauptursachen für diese Verfolgungen mag wohl der Umstand gewesen sein, dass die Zigeuner von der sesshaften Bevölkerung als Opfer des eigenen Aberglaubens auserkoren wurden. Es waren insbesondere die Zigeunerfrauen, welche sehr oft Wahrsagerei betrieben und auch ihre Dienste als Wunderheilerinnen anboten. Nicht selten wurden Zigeunerinnen als Hexen gebrandmarkt und endeten auf dem Scheiterhaufen. Clemens Brentano liefert in der vom Kroaten dargebotenen Binnenerzählung „Das Picknick des Kater Mores“ ein Beispiel für die gerade zu einer Paranoia ausartenden Angst der Bevölkerung vor Frauen, denen man übernatürliche Fähigkeiten zutraute:

„Ich ließ nach einer slavonischen Viehmagd rufen, die bei mir diente , um mir einen Umschlag von ihr kochen zu lassen, aber sie war nirgends zu finden [...] Als wir an die Eiche kamen [...] sahen wir einen Menschen darauf sitzen, der uns erbärmlich um Hülfe anflehte. Ich erkannte bald Mlatka, die slavonische Magd; sie hing halb erfroren mit den Röcken in den Baumästen verwickelt, und das Blut rann von ihr nieder in den Schnee [...].“[6]

Auch wenn es sich in der Erzählung des kroatischen Edelmannes nicht um eine Zigeunerin, sondern um eine junge slavonische Viehmagd handelt, so wird auch sie anschließend mit Magie und Hexerei in Verbindung gebracht:

„Ich weiß nun, wie es mit der Slavonin beschaffen war , ließ sie schwebend, dass sie die Erde nicht berührte, auf den Wurstwagen tragen und festbinden [...] sie ist zum Glück an dem Schuss, den sie im Leibe hatte , gestorben, sonst wäre sie gewiss auf den Scheiterhaufen gekommen.“[7]

Die junge Frau wird sofort als Hexe vorverurteilt und ihr Handeln als Hexerei definiert, ohne die genauen Umstände und Beweggründe ihres Tuns zu überprüfen.

2.2 Unterstützung aus der Bevölkerung

Wie ich bereits in der Einleitung angedeutet habe, werde ich mich erst im zweiten Teil der Arbeit mit der Frage auseinandersetzen, ob und wie Clemens Brentano in „Die mehreren Wehmüller“ ein neuartiges, heterogenes Gesellschaftsbild zeichnet. Wurde in dem vorangegangenen Kapitel auf den schwierigen Stand, den die Zigeuner in der Gesellschaft hatten, aufmerksam gemacht, so möchte ich nun anhand einiger Textauszüge aus den „Wehmüller“ und unter Berufung auf einige Forschungstexte zeigen, dass es durchaus auch Bürger innerhalb der Gesellschaft gab, die den Zigeunern wohlgesinnt waren.

Obwohl die Zigeuner eher zurückgezogen in abgelegenen Hütten und Wäldern lebten, ergaben sich dennoch oft Gelegenheiten, um soziale Kontakte mit der sesshaften Bevölkerung zu pflegen. Volksfeste trugen ihren Teil dazu bei, die sozialen Barrieren zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen zu lockern. In Brentanos Erzählung ist es der Violinspieler Michaly, der die Gäste einer Gaststätte mit seiner Musik unterhält. Seine Präsenz wird von allen Anwesenden geduldet. Unter den Augen des Vizegespans wird der Zigeuner sogar unter „die Linde des Dorfes gezogen“[8], wo er den versammelten Dorfbewohnern zum Tanz aufspielen soll. Die Zigeuner pflegten häufig gute Beziehungen zur Dorfobrigkeit und zur Kirche, es war keine Seltenheit, dass verstorbene Zigeuner ihre letzte Ruhe auf dem Dorffriedhof fanden, obwohl dieses Volk nicht immer sehr vertraut mit den Lehren der Kirche war.[9]

Michaly trägt im übrigen zur allgemeinen Erheiterung der durch den Pestkordon betrübten Gesellschaft bei: „Da lachte die ganze Gesellschaft und Michaly begann so tolle Melodien aus seiner Geige herauszulocken, dass die Fröhlichkeit bald wieder hergestellt wurde“[10]

Die meisten Leute, welche einen engeren Kontakt zu den Zigeunern pflegten, hatten oft einen gesellschaftlichen Makel an sich: sie existierten am Rande der Gesellschaft und besaßen meistens eine Wirtschaft oder einen Ausschank. Bei Brentano haben vorwiegend jene Leute zu den Zigeunern Kontakt, welche sich durch ihre Lebensführung oder ihr Aussehen von der Gesellschaft abheben . In der Rahmenerzählung begegnet man der alten Wirtsfrau Tschermack, welche auch dem Zigeuner Michaly Einlass in ihre Wirtsstube gewährt. Diese ehemalige Amazone, die „unter den Wurmserschen Husaren gedient hatte[...] Tabak rauchte“ und „den Dolman und die Mütze trug [...] hatte hinter ihrem Spinnrad ein martialisches Aussehen.“[11] Allein ihr Aussehen unterscheidet sie von anderen Frauenbildern innerhalb der Erzählung.

Als Martino , Baciochi und Marinina bei der Zigeunerin einkehren, sind auch sie in einem gewissen Sinne mit einem gesellschaftlichen Makel behaftet. Der Feuerwerker Baciochi ist nahezu ohne Hab und Gut vor den französischen Soldaten auf der Flucht, nachdem in Venedig eins seiner Feuerwerke zu Ehren Napoleons eine ganze Brandkatastrophe ausgelöst hatte . Die kleine Truppe um den Feuerwerker findet nicht nur Unterschlupf bei der Zigeunerin: sie müssen auch auf Verpflegung zurückgreifen, welche man „von einem Contrebandier um einige Pfennige gekauft hatte.“[12]

[...]


[1] Vgl. Brentano, Clemens: Die mehreren Wehmüller, S.58

[2] Vgl. Hohmann, Joachim S.: Geschichte der Zigeunerverfolgung in Deutschland, S.13

[3] Vgl. Kugler, Stefani : Kunst-Zigeuner, S 25

[4] Vgl. Fricke, Thomas: Zigeuner im Zeitalter des Absolutismus, S.93

[5] ebd., S.92

[6] Vgl. Brentano, S.32

[7] Vgl. ebd., S.33

[8] Vgl. Brentano, S.22

[9] Vgl. Fricke, S.366

[10] Vgl. Brentano, S.39

[11] Vgl. ebd., S.20

[12] Vgl. ebd.,S.47

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Das Zusammenleben von Sesshaften und Zigeunern in Clemens Brentanos "Die mehreren Wehmüller"
Untertitel
Der Entwurf einer heterogenen Gesellschaftsform?
Hochschule
Universität Trier
Veranstaltung
Zigeuner-Bilder in der Literatur
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
18
Katalognummer
V84783
ISBN (eBook)
9783638012508
ISBN (Buch)
9783638916400
Dateigröße
445 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zusammenleben, Sesshaften, Zigeunern, Clemens, Brentanos, Wehmüller, Zigeuner-Bilder
Arbeit zitieren
Patrick Versall (Autor:in), 2005, Das Zusammenleben von Sesshaften und Zigeunern in Clemens Brentanos "Die mehreren Wehmüller", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84783

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