Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe


Diplomarbeit, 2005

84 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. AUFBAU DER WISSENSCHAFTLICHEN ARBEIT

2. ZUM BEGRIFF UND DEN GESCHICHTLICHEN HINTERGRÜNDEN IN DER FACHLICHEN DISKUSSION
2.1 Lebensweltorientierung
2.2 Sozialraum und Sozialraumorientierung im Bereich der Jugendhilfe
2.3 Handlungslinien in der Entwicklung sozialraumorientierter Ansätze ab 1850
2.4 Soziarumorientierung - ein wichtiges Moment der Jugendhilfe seit 1990
2.4.1 Die Einzelfall- und Zielgruppenarbeit
2.4.2 Die fallunspezifische und infrastrukturelle Arbeit

3. DIE SOZIALRAUMANALYSE ALS GRUNDLAGE FÜR SOZIALRAUMORIENTIERTE KONZEPTE
3.1 Handlungslinien in der Entwicklung von Sozialraumanalysen
3.2 Mögliche methodische Zugänge und Zielsetzungen zur Analyse eines Sozialraums
3.2.1 Lokalisierung und Abgrenzung eines Raums
3.2.2 Detaillierte, soziokulturelle Strukturanalyse des Sozial- raums
3.2.3 Bestandsaufnahme im Quartier
3.2.4 Erfassung des subjektiven Empfinden der Bewohner gegen- über ihrem Sozialraum
3.3 Sozialraumanalysen in der Jugendhilfe

4. STEUERUNGSMÖGLICHKEITEN IM SOZIALRAUM UND DEREN VERANKERUNG IM KJHG
4.1 Sozialraumbudgets
4.1.1 Koordination der Träger und der Budgetsummen, durch das KJHG
4.1.2 Ziele von Sozialraumbudgets
4.2 Steuerungsverantwortung der Träger bezüglich des Sozialraumbud- gets
4.2.1 Trägerexklusivität im Sozialraum
4.2.2 Trägerpluralität im Sozialraum
4.2.3 Steuerungsbereich der Sozialraumgremien
4.3 Rechtliche Machbarkeiten sozialraumorientierter Ansätze im Kontext des KJHG
4.3.1 Der Hilfeplan nach §36 SGB VIII
4.3.2 Jugendhilfeplanung nach § 80 SGB VIII
4.3.3 Aktive Beteiligung des Leistungsberechtigten
4.3.4 Ansätze sozialräumlicher Ressourcenerschließung und Ver- netzung
4.3.5 Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten § 5 und § 36 Abs.1 SGB VIII

5. ZWEI ERFOLGREICHE PRAXISPROJEKTE SOZIALRAUMORIENTIERTER FINANZIERUNG
5.1 Die Reform der Erziehungshilfen in Stuttgart
5.1.1 Ziele, Voraussetzungen und deren Umsetzung
5.1.2 Die Steuerungs- und Trägerverantwortung im Sozialraum
5.1.2.1 Die Steuerungsverantwortung
5.1.2.2 Die Trägerverantwortung
5.1.3 Die Budgetzusammensetzung und Verteilung
5.1.4 Problematiken und Aussichten bei der praktischen Umset- zung des Stuttgarter Modells
5.2 Das Bundesmodellprojekt INTEGRA
5.2.1 Ziele, Voraussetzungen und deren Umsetzung im Modell- gebiet Celle
5.2.2 Die Steuerungs- und Trägerverantwortung im Sozialraum
5.2.3 Die Budgetzusammensetzung und Verteilung
5.2.4 Problematiken und Aussichten bei der praktischen Umset- zung des INTEGRA Modells

6. ABSCHLIEßENDE BEMERKUNGEN ZU SOZIALRAUMORIENTIERTEN ANSÄTZEN IN DEN FELDERN DER JUGENDHILFE
6.1 Problematiken und Grenzen
6.2 Kritischer Ausblick

LITERATURVERZEICHNIS

Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe

1. Aufbau der wissenschaftlichen Arbeit

Problemstellung:

Ich möchte mich im Rahmen dieser Arbeit mit Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe befassen und die Relevanz verschiedener Ansätze bezüglich der Finanzierung aufzeigen, welche sich in der Neuorganisation der Jugendhilfe seit 1990 (vgl. u. a. Faltermeier/ Wiesener 2002a, S. 519), etabliert haben. Außerdem soll beleuchtet werden ob Sozialraumorientierung beziehungsweise Sozialraumbudgetierung im definitionstheoretischem Sinne, mit dem Kinder und Jugendhilfegesetz (KJHG), speziell mit den Hilfen zur Erziehung § 27 rechtlich vereinbar ist und inwiefern. Das heißt es wird geprüft, ob die soziokulturellen, infrastrukturellen und fallspezifischen Aufgaben und Pflichten des öffentlichen Trägers durch Sozialraumorientierung bedarfsgerechter umgesetzt werden können. Oder verkompliziert Sozialraumorientierung die Flexibilisierung und Individualisierung der jugendspezifischen Hilfen im Quartier gar?

Sozialraumorientierung ist in den letzten Jahrzehnten, gerade im Rahmen der Jugendarbeit und Jugendhilfe immer wieder in der Fachdiskussion aufgetaucht. Sie meint die Orientierung und die Arbeit mit Jugendlichen, unter Einbezug ihrer in der Lebenswelt vorhandenen Ressourcen. Diese im sozialen Raum der Jugendlichen vorhandenen Ressourcen sollen erschlossen und auch für spätere Problematiken mit Jugendlichen nutzbar gemacht werden. Es soll deutlich werden, dass Sozialraumorientierte Budgets beziehungsweise Sozialraumbudgets eine Kombination aus lebensweltlichen Ressourcen und finanziellen Mitteln darstellen und nur in diesem Zusammenhang ihre gewünschte sozialräumliche Wirkung entfalten können. Dementsprechend dürfen Sozialraumbudgets lediglich als Instrument zur Unterstützung Sozialraumorientierter Ansätze in der Jugendhilfe angesehen werden. Somit sind Sozialraumbudgets keineswegs mit Sozialraumorientierung gleichzusetzen, was in manchen Teilen der Fachliteratur so verstanden werden könnte.

Ziel dieser Arbeit ist es, aufzuzeigen, dass Sozialraumbudgets nur ihre positive Wirkung entfalten können wenn sie konkret auf die Bedingungen des jeweiligen Sozialraums konzipiert sind. Des Weiteren soll dargestellt werden, dass man Budgetkonzepte nicht einfach auf andere geographisch festgelegte Sozialräume übertragen kann, da jeder Sozialraum individuelle Gegebenheiten und Ressourcen in sich birgt, welche es zu berücksichtigen gilt.

In den nun folgenden Ausführungen, wird der sozialräumliche Blick kurz zurück gewandt und die historischen Ansätze und Entwicklungslinien, welche hauptsächlich in der Lebensweltorientierung zu finden sind, aufgezeigt. Die aktuellen Ansätze der Sozialraumorientierung in den Feldern der Jugendhilfe lassen sich mit Hilfe des historischen Kontextes besser nachvollziehen und verstehen.

Zum allgemeinen Verständnis möchte ich nun erst einmal die Begrifflichkeiten definieren und dann den Blick zurück wenden. Des Weiteren umfasst diese Arbeit die aktuellen Handlungslinien, welche sich in der fachlichen Diskussion um die Jugendhilfe heraus kristallisieren. Im Anschluss werde ich die Sozialraumanalyse vorstellen, ein Instrument das zur Identifikation beziehungsweise Lokalisierung jugendspezifischer Problemlagen im Quartier dient. Sozialraumanalysen werden nicht nur in der Jugendhilfearbeit genutzt, sondern bieten auch Aufschluss über städtebauliche Missstände oder Defizite in der Verteilung sozialer Dienste.

Abschließend werde ich mich mit der Frage beschäftigen welche Zukunftsperspektiven, Konzept- und Methodenmöglichkeiten sich aufgrund der aktuellen fachlichen Diskussion um dieses Thema abzeichnen, beziehungsweise welche möglichen Weiterentwicklungen es im Bereich der Sozialraumorientierung in der Jugendhilfearbeit geben könnte.

2. Zum Begriff und den geschichtlichen Hintergründen in der fachlichen Dis-

kussion um Sozialraumorientierung

Sozialraumorientierung, ein Schlagwort welches man in der aktuellen Diskussion in verschiedensten Bereichen hört: Sozialraumorientierung im städtebaulichen Bereich, Sozialraumorientierung in der Kommunalpolitik, Sozialraumorientierung in der lokalen Ökonomie aber vor allem bezieht man Sozialraumorientierung auf die Bereiche der allgemeinen Sozialen Arbeit.

Aber, was ist ein Sozialraum oder wie könnte man den Begriff Sozialraumorientierung genau definieren?

Fakt ist, dass Kinder und Jugendliche öffentliche Räume anders nutzen und empfinden als Erwachsene. Erwachsene betrachten architektonische Gegebenheiten eher funktional, während Kinder und Jugendliche auch gesellschaftliche Definitionen, meist aus ihrem freundschaftlichen Umfeld, mit in die Beurteilung eines städtebaulichen Produkts einfließen lassen. Dieser wechselseitige Prozess zwischen Jugendlichen und der gelebten Struktur in ihrem sozialen Nahraum wird als Aneignung bezeichnet. Das Aneignungskonzept nach Deinet (vgl. u. a. Deinet 2002a, S. 31 – 44, Deinet 2002b, S. 151 – 166, Deinet/ Kirsch 2005) basiert auf strikter Trennung der begrifflichen Inhalte von „Lebenswelt“ und „Sozialraum“. Seiner Meinung nach ist ein Sozialraum, ausschließlich sozialgeographisch abgrenzbar „und damit werden wesentliche Subjektbezogene und qualitative Aspekte vernachlässigt“ (Deinet 2002a, S. 31). „Der Begriff Lebenswelt ist demgegenüber sehr stark subjektbezogen: Die Lebenswelten spezifischer Zielgruppen oder einzelner Kinder und Jugendlicher entstehen als subjektive Aneignungsräume und sind nur zum Teil mit dem jeweiligen Sozialraum deckungsgleich“ (Deinet 2002b, S. 156). Der Einbezug sozialräumlicher Ansätze der Jugendhilfe und eine Verlagerung dieser, in die Lebenswelt der Jugendlichen ist das ausschlaggebende Mittel um Sozialraumorientierung sowohl in der Jugendarbeit als auch in der Jugendhilfe qualitativ hochwertig etablieren zu können.

Nun folgend werde ich beide Begriffe, den der Lebensweltorientierung und den der Sozialraumorientierung, detailliert umschreiben. Außerdem soll deutlich werden, dass beide Begriffe bezüglich ihres definitionstheoretischen Inhalts im Feld der Jugendhilfearbeit gewisse Schnittmengen aufweisen.

2.1 Lebensweltorientierung

Sozialraumorientierung und Lebensweltorientierung in der Jugendhilfearbeit, verfolgen in manchen Bereichen die gleichen Ziele. Denn „Lebensweltorientierte Jugendhilfe inszeniert soziale Beziehungen in der Nachbarschaft, unter Kollegen, unter Menschen, die in gleiche Probleme involviert sind; sie arrangiert Räume, Situationen und Gelegenheiten für Kinder und Heranwachsende; sie engagiert sich in den Anstrengungen um lebensweltliche Erfahrungen und Räume in Institutionen und sozialen Netzen, auch im Stadtteil, in der Stadt und der Region“ (Thiersch 1995, S. 26 - 27). Genau diese Ansätze verfolgt auch Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe, jedoch sind im Rahmen der Sozialraumorientierung auch noch weitere Aspekte wie beispielsweise die Sozialraumorientierte Budgetplanung, in einer Konzeptplanung der Leistungserbringer zu berücksichtigen.

Vergleicht man die Ansätze der Lebensweltorientierung, mit den grundlegenden Leitstandards der Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe und den daraus ableitbaren Zielen, erkennt man schnell dass die Methoden und Ansätze, ebenso wie die Ziele anteilig einheitliche Intensionen aufweisen. Zu nennen sind hier Parallelen wie, die Ressourcenbündelung und Vernetzung oder die Unterstützung von Selbstorganisation und Aktivierung der Eigenverantwortlichkeit, der betroffenen Menschen in ihrer Lebenswelt.

In den siebziger Jahren, kann das Jugendwohlfahrtsgesetz von 1924 aufgrund der Lebensweltorientierung in der Jugendhilfe den tatsächlichen Entwicklungen der Jugendhilfe nicht mehr gerecht werden. Präventive Jugendhilfearbeit ist im Rahmen des Jugendwohlfahrtsgesetztes nicht möglich, aber genau das fordert die damalige Jugendbewegung. Lebensweltorientierung in der Jugendhilfe wird im Rahmen des 8. Jugendberichts (Der Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit 1990) erst mal konkret, konzeptionell diskutiert. Die Lebensweltorientierung in der sozialen Arbeit ebenso wie in der Jugendhilfe, soll an die Bedarfe und Möglichkeiten der Bedürftigen anknüpfen. Außerdem sollen die Methoden der Lebensweltorientierung nicht ausschließlich die Eigenverantwortlichkeit der Betroffenen stärken, sondern auch deren eigenen Handlungskompetenzen steigern. Ziel ist es, Bedürftige zur Eigenorganisation zu aktivieren und anzuleiten.

Die Jugendhilfe hat hier die Aufgabe, Strukturen und Dienste im sozialen Nahraum der Jugendlichen und ihrer Familien zu schaffen, welche die eben genannten Faktoren positiv beeinflussen und darüber hinaus die Minimierung stationärer Einrichtungen zu Folge haben. Erstmals ist von Dezentralisierung stationärer Einrichtungen der Jugendhilfe im Rahmen lebensweltlicher Ansätze die Rede. Zum einen sollen die Leistungserbringer der Jugendhilfe in den sozialen Nahraum des Jugendklientels verlagert werden und zum anderen werden die Jugendhilfeleistungen die individuellen Ressourcen des Jugendlichen in die Hilfsarbeit einbeziehen .

2.2 Sozialraum und Sozialraumorientierung im Bereich der Jugendhilfe

Die Lebensweltweltorientierung in den Bereichen der Jugendhilfe wird seit einigen Jahren, von den aktuellen Ansätzen der Sozialraumorientierung übervorteilt. Die Sozialraumorientierung in den Feldern der Jugendhilfe ist einfach zeitgemäßer und beschränkt sich nicht nur ausschließlich auf die Integration und Flexibilisierung der sozialen Jugendhilfedienste im Quartier, sondern versucht alle Bereiche der Jugendhilfe aus sozialräumlichen Blickwinkel zu betrachten und auch gerade die Kinder- und Jugendhilfegesetze KJHG mit Sozialraumorientierung im definitionstheoretischen Sinne in Einklang zu bringen. Dem ist noch hinzuzufügen, dass eine ganzheitliche Form von Sozialraumorientierung auch die Entwicklung Sozialraumbezogener Budget- und Finanzierungskonzepte mit sich bringt.

Es hängt von der Zielsetzung eines Projektes ab, was genau als Sozialraum angesehen wird, eine allgemein gültige Definition gibt es nicht. Aus dem Blickwinkel der Kinder- und Jugendhilfe, findet dass Identitätsbildende Leben einer „Klientengruppe“ im so genannten sozialen Raum statt. Der soziale Nahraum eines Jugendlichen ist sein Sozialraum, also der Raum wo seine soziokulturellen Kontakte regelmäßig stattfinden. Das kann zum Beispiel sowohl ein Stadtteil, ein Dorf als auch spezielles Internetforum sein, aus dem Kulturen beziehungsweise Subkulturen entstehen können. Auch der Sozialraum selbst kann als `Leistungsberechtigter` im Kontext des KJHG bezeichnet werden, denn Sozialraumorientierung beinhaltet immer auch die Umgestaltung des sozialen Nahraums der Jugendlichen um `Fällen`, präventiv entgegenwirken zu können. Diesen Raum gilt es in jeglicher Form positiv zu beeinflussen um Missstände aufzuspüren, zu verhindern und zu beseitigen, bevor sie zu sozialen Problemen werden.

Der soziale Raum ist ein Ergebnis sozialer Organisation mit Unterstützung aktiver Bürger zur baulichen und infrastrukturellen Veränderung des jeweiligen Quartiers, welches Folgen auf die Handlungsmöglichkeiten der Bürger des sozialen Raums mit sich bringt, denn „der Sozialraum bedingt das Handeln von Menschen, die in ihm leben und umgekehrt“ (Baisch-Weber 2002, S. 29). Die Strukturen des Sozialraums schlagen sich prägend auf das Subjekt nieder, aber auch das handelnde Subjekt hat Einfluss auf die Entwicklung des sozialen Raums. Trotzdem lässt sich ein lokalisierter Sozialer Raum immer geographisch exakt, von einem anderen sozialen Raum abgrenzen. „So bewegen sich die Vorstellungen eines für die Sozialraumorientierung geeigneten Umfangs des Sozialraumes zwischen 30.000 und 80.000 Einwohnern“ (Münder 2001, S. 13).

In der Fachdiskussion innerhalb der Jugendhilfe wird „Sozialraumorientierung physikalisch- geographisch definiert und beschreibt die Gestaltung und Erbringung der Hilfeleistungen an dem Ort, wo die Kinder und Jugendlichen und deren Familien leben, und zwar unabhängig von subjektiven Bedeutungen“ (Thuns 2003, S. 165 - 166). Durch Sozialraumorientierung sollen die Leistungserbringer der Träger in den Lebensraum der „Klienten“ verlagert werden, dies ist von bedeutender Wichtigkeit weil soziale Probleme auch immer einen gewissen Raumbezug aufweisen. Durch gute Kontakte im Sozialraum einer so genannten „Klientengruppe“, können Problematiken oftmals schon präventiv bearbeitet werden (vgl. Hinte 2002, S. 111). Außerdem können einmal erschlossene Ressourcen wie beispielsweise Kontakte zu Schlüsselpersonen des Sozialraums, auch für die Arbeit an zukünftigen Projekten genutzt werden.

Für die Jugendhilfearbeit bedeutet Sozialraumorientierung aber vor allem auch Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Diese Räume müssen qualitativ vielfältige Möglichkeiten zur Aneignung durch Jugendliche beinhalten, so kann durch Sozialraumorientierung schon auf neu entstehende Jugendkulturen wirken.

Neben Präventivarbeit sollte in der Sozialraumorientierung der Jugendhilfe weiteres Augenmerk auf die Wiedergewinnung öffentlicher Plätze gelegt werden. Durch die Wiedergewinnung gelebter Struktur im Quartier, resultiert nämlich eine neue sozialräumliche Bindung zwischen den Jugendlichen und ihren Familien und dem jeweiligen Stadtteil. Um soziale Bezüge zu einem Raum herzustellen, wiederherzustellen oder aufrechtzuerhalten, sollten Jugendliche bei jeglicher Art von Veränderungsprozessen im sozialen Nahraum, so weit wie möglich beteiligt werden. Deshalb ist es auch von bedeutender Wichtigkeit, dass die Finanzierung von Jugendhilfearbeit immer den Sozialraum und seine individuellen Ressourcen, in die Etatplanung explizit mit einbezieht. Die Integration und Nutzung sozialräumlicher Ressourcen kann im Idealfall die Kosten für Jugendhilfearbeit senken.

Im Folgenden wird der geschichtliche Hintergrund beleuchtet, welcher zur aktuellen Entwicklung im Bereich der Sozialraumorientierten Jugendhilfearbeit führte.

2.3 Handlungslinien in der Entwicklung sozialraumorientierter Ansätze ab 1850

Das aufkommende Interesse an defizitären Stadtgebieten kann man als Grundstein für die moderne soziale Arbeit und der Sozialraumorientierung betrachten.

Doch wo liegen genau die Wurzeln, welches sind die geschichtlichen Einflüsse, Methoden, Leitlinien und Traditionen in der aktuellen Diskussion um die Sozialraumorientierung speziell in der Jugendhilfearbeit?

Die Entwicklungslinien von Sozialraumorientierung, gerade in konzeptioneller Hinsicht weisen Parallelen mit den geschichtlichen Hintergründen der Gemeinwesenarbeit auf (vgl. Hinte 2002, S. 92). Ein grundliegender Unterschied beider Ansätze ist die Abgrenzung der Gemeinwesenarbeit von der Arbeit am Einzelfall. Sozialraumorientierung hingegen berücksichtigt neben der fallunspezifischen Arbeit ausdrücklich die am einzelnen Fall der Hilfebedürftigkeit . So beruht die Tradition beider Bereiche sowohl auf frühe Ansätze der amerikanischen Soziologie, der Sozialökologie als auch auf die der Lebensweltorientierung (vgl. Thiersch 1995). Sozialökologische Ansätze resultieren aus Wechselwirkungen „zwischen Menschen und ihrer sozialen, biologischen und physischen Umwelt“ (Becker 2002, S. 897), welche bezogen auf Sozialraumorientierung, ansatzweise erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts in Projekten Einzug erhielten.

Das so genannte Prinzip des `friendly visiting` entsteht zunächst in England und wird zeitnah auch in Amerika umgesetzt. Friendly visiting umfasst die Überprüfung individueller, sozialer und finanzieller Gegebenheiten von Familien bezüglich der Unterstützung aus Steuergeldern oder auf sozialintegrative Unterstützung. In Deutschland wird dies Armenaufsicht genannt, welche sich in den folgenden Jahren zum Berufsbild der Wohltätigkeitsarbeit entwickelt. Der lokale Bezug wird weiter ausgebaut und so entsteht dann 1853 das `Elberfelder Modell` der Stadt Elberfeld. Im Zuge dieses Modells wird die Stadt in einzelne Armenviertel aufgeteilt, für welche jeweils ein ehrenamtlich angestellter Armutspfleger zuständig ist. Dieser überprüft ebenso Familien auf Bedürftigkeit, als auch die Anträge zur Unterstützung aus Steuergeldern, welche meist in Form von Sach- und Lebensmittelleistungen gewährt werden (vgl. u. a. Wendt 1989, Müller 2002).

Als Wegbereiterin der Einzelfallarbeit gilt Mary Richmond (1861 - 1928), welche aufgrund ihrer wegweisenden Publikation ´Social Diagnosis´ (1917) auch mehr und mehr Europaweit, Nacharmer in Bereichen der sozialen Arbeit animiert. Das Buch `Social Diagnosis` gilt über Jahrzehnte als Standardwerk für die richtige Herangehensweise, zur richtigen Bearbeitung und zum Verständnis, des einzelnen Falles. Das Standardwerk Mary Richmonds richtet sich primär danach, durch die Bearbeitung des individuellen Einzelfalls das lokale Umfeld indirekt positiv zu beeinflussen (vgl. Müller 2002, S. 31 – 33).

Die Gründer der so genannten Settelment- Bewegungen in England und USA, sehen erstmals die Gegebenheiten des Wohnquartiers als Ursache sozialer Deprivation. 1884 gründet ein Pfarrerehepaar in London das erste Settlement in einem Arbeiterviertel, die `Toynebee Hall`. Hier siedeln sich Studenten inmitten des Viertels an, um soziale Hilfestellungen anzubieten aber vor allem, um die Entwicklungen vor Ort zu beobachten. Der, durch die Industrialisierung entstehende Klassenspaltung muss entgegengewirkt werden. Im Rahmen von diesem Settlement wird erkannt, dass nicht ausschließlich finanzielle Mittel zur Behebung sozialer Deprivation nötig sind. Die Bildung des ortsansässigen Klientels wird von den Studenten als Ressource zur Selbsthilfe genutzt. Durch Bildung wird das soziale Engagement der Bewohner im Quartier geweckt. Einerseits werden Nachbarschaftsvereine gegründet und Bildungsangebote erarbeitet, andererseits werden erstmalig Sozialgesetze gefordert.

Fast zeitgleich, 1889 entwickelt sich ein Settelment, namens `Hull House` in West Chicago, welches für die Entwicklung von Theorie und Praxis der allgemeinen sozialen Arbeit, von wichtiger Bedeutung ist. Die Gründerin dieses Wohnquartiers, Jane Addams (1860 - 1935) zieht mit einigen ihrer Kolleginnen der Universität Chicago in dieses Armenviertel, um eine Anlaufstelle für Bedürftige zu eröffnen. Diese Anlaufstelle stellt Dienstleistungen, für eine Vielzahl von Immigranten zur Verfügung und wird auch als gemeinnütziger Ort für kulturelle Betätigungen und Bildung genutzt. Im Vordergrund steht die Partizipation und Steigerung der Eigenverantwortlichkeit der Arbeiter in ihren Betrieben. Außerdem werden wichtige wissenschaftliche Daten über die Bewohnerstruktur im Quartier gesammelt und ausgewertet. Die Bewohner vor Ort werden angeleitet und animiert ihre Lebensverhältnisse eigeninitiativ zu verbessern. Im Laufe der Zeit wird diese umfangreiche Datensammlung mehrfach, als Mittel zu erfolgreichen sozialpolitischen Verstößen, genutzt. (vgl. Bitanz/Klöck 1994, S. 40). „Während Richmond in ihrem Lehrbuch Befragungen zu Lebenslauf und Lebensführung und gezielte Beobachtungen in den Wohnungen der Hilfesuchenden forderte, untersuchten die Frauen von Hull House die Strukturen ihres Wohnquartiers und legten detaillierte Karteien der Bewohner einzelner Blöcke mit Informationen über Heimatland der Mieter, Sprachfertigkeit, Schulbildung, Kinderzahl, Arbeitsplatz Wohnungszustand und Mietpreis, aber auch von nahe liegenden Fabriken, Geschäften und Kneipen an“ (Müller 2002, S. 33). Diese Datensammlung aussagekräftiger soziokultureller Entwicklungen im Stadtteil, kann als `Kinderschuh` der heutigen Sozialraumanalyse angesehen werden (vgl. Kap. 3.1).

2.4 Soziarumorientierung- ein wichtiges Moment der Jugendhilfe seit 1990

Der Paradigmenwechsel vom „Fall zum Feld“ (Hinte 1999, S. 3) zeigt eine Trendwende in der allgemeinen fachlichen Diskussion um Einzelfälle, Zielgruppen bis hin zur aktuellen Diskussion um Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe. Zeitlich ist diese Trendwende mit dem am 26. 6. 1990 in Kraft getretenen Kinder und Jugendhilferechts KJHG, welches das Kernelement des achten Sozialgesetzbuches SGB VIII darstellt, festzulegen. Hier wird gesetzlich die Wichtigkeit von Präventivarbeit, Lebensweltorientierung und Individualisierung von Leistungen, in der Jugendhilfe dargestellt und in einem Gesetzestext niedergeschrieben. Der Jugendhilfeplan wird zum maßgeblichen Steuerungsinstrument und Ressourcen werden von nun an kommunal verteilt.

Die Begrifflichkeit Sozialraumorientierung schlägt sich im definitionstheoretischen Sinne insbesondere im KJHG § 1 und § 27 Hilfe zur Erziehung (HZE) nieder (vgl. u. a. Saurier 2002, S. 466 - 467). Die Erziehungshilfen im sozialen Nahraum der Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien zu positionieren, ist eine nahe liegende Schlussfolge wenn man Sozialraumorientierung in weiteren Feldern der Jugendhilfe etablieren möchte.

Durch die so genannte Neuorganisation beziehungsweise Neuorientierung der Jugendhilfe wird primär das Ziel verfolgt, Leistungen auf die Förderung individueller und sozialer Entwicklungen von Kindern und Jugendlichen, sowie auf die Unterstützung ihrer Familien, auszurichten (vgl. u. a. Faltermeier/ Wiesener 2002, S. 518 - 519). Über das KJHG werden nun auch die kommunalen Ressourcen verteilt. „Die deutsche Kinder- und Jugendhilfe stellt heute eine ausdifferenzierte Infrastruktur von Betreuungs-, Begleitungs-, und Beratungsangeboten für Kinder dar. Deren zentrale Errungenschaft besteht darin, dass Kindern, Jugendlichen und ihren Familien Unterstützungsleistungen gewährt werden können, die ihre individuellen und individualisierten Sozialisationsverläufe berücksichtigen“ (Wolff 2002, S. 42). Durch diese Neuorientierung der Jugendhilfe sollen positive Lebensbedingungen für junge Menschen geschaffen, erhalten und unterstützt werden. Die ausschließliche Orientierung am Einzelfall ist seitdem faktisch passé, was in der reellen Umsetzung des Gesetzes natürlich noch nicht hundertprozentig zu bewerkstelligen ist.

Von Kritikern (vgl. u. a. Schipmann 2002, S. 127 - 136) wird dies aktuell stark kritisiert. Ihrer Meinung nach soll auf Sozialraumorientierung im Wirkungsbereich der Jugendhilfe, nicht das primäre Augenmerk gelegt werden. Dies löse weder die finanziellen Probleme der Kommunen und Gemeinden noch die `Überbürokratisierung` der Leistungserbringer . Schipmann ist der Meinung, dass die reale gesellschaftliche Situation in Deutschland falsch eingeschätzt würde und dass Sozialraumorientierung in ihrer ganzheitlichen Intension keineswegs mit den aktuellen Kinder- und Jugendhilfegesetzten vereinbar ist. Dies wird aktuell von Befürwortern der Sozialraumorientierung, gerade im Bereich der Jungendhilfearbeit widerlegt. Die verpflichtenden Rechte des KJHG können im Rahmen Sozialraumorientierter Ansätze nämlich alle eingehalten werden und Paragraphen, die verschieden auslegbar sind und keine explizite Rechtverpflichtungen beinhalten, müssen einfach zugunsten von Sozialraumorientierung ausgelegt werden können (vgl. u. a. Kap. 4.3, Münder 2001, S. 6 - 124). Genau diese Art von Gesetzesinterpretation lässt sich auch bezüglich der Sozialraumbudgetierung ohne weiteres anwenden.

Des Weiteren bleibt abzuwarten, inwiefern und in welchen Bereichen, sich Sozialraumorientierung in den Feldern der Jugendhilfe durchsetzt und welche Weiterentwicklungen es in der Auslegung und Umsetzung der Kinder- und Jugendgesetze zukünftig geben wird. Wendet man den Blick noch etwas weiter zurück, beispielsweise auf die Lebensweltorientierung nach Thiersch, welche in den 70er und 80er Jahren als optimale Blickrichtung zur Arbeit mit Jugendlichen und deren Familien galt, erkennt man schnell dass derartige Ansätze in den Bereichen der Jugendhilfe und Jugendarbeit nicht immer langlebig seien müssen, aber im Kontext ihrer Zeit immer das so genannte non plus Ultra darstellen.

Resümierend ist festzustellen, dass die Jugendhilfe eine gelebte Struktur ist, die sich stetig weiterentwickelt und nur dadurch die Weiterqualifizierung der Jugendhilfegesetze und deren praktische Umsetzung gewährleistet, was ausschließlich dem Kreis der Empfänger, also den bedürftigen Kindern und Jugendlichen und ihren Familien zugute kommt. Da Sozialraumorientierung auf die wechselnden Bedingungen der jeweiligen Lebenswelt des Jugendlichen individuell anknüpft, kann dieser Ansatz theoretisch auch in ferner Zukunft in der Jugendhilfearbeit Anwendung finden.

Bevor das KJHG 1990 in Kraft getreten ist, lag das primäre Augenmerk der Jugendhilfe auf der Bearbeitung identifizierter Einzelfälle der Hilfebedürftigkeit oder auf der Behebung gruppenspezifischer Missstände im Kontext der Jugendhilfegesetze (vgl. Kap. 2.3). Durch die Neuorganisation in den Bereichen der Jugendhilfe hat sich neben und durch Sozialraumorientierung auch das Praxisfeld der Jugendhilfearbeit ausgeweitet. So wurde festgestellt, dass präventiv- und fallunspezifische Arbeit im sozialen Nahraum der Leistungsberechtigten Fallzahlen im Idealfall senkt. Dementsprechend können Kosten auf Dauer eingespart und der Verwaltungsaufwand minimiert werden. In der Neuorientierten Jugendhilfearbeit unterscheidet man zwei verschiedene Arten von `Fallbearbeitung`, die Einzelfall- und Zielgruppenarbeit und die fallunspezifische Arbeit.

Zum allgemeinen Verständnis möchte ich nun diese Bereiche beleuchten um die Wichtigkeit beider Bearbeitungsansätze aufzuzeigen.

Fallunspezifische Arbeit kann Einzelfallarbeit im Idealfall schon im Vorfeld präventiv verhindern. Einzelfall- und Zielgruppenarbeit hingegen kann parallel zur lebensweltlichen Ressourcenerschließung im Quartier dienen und genutzt werden.

2.4.1. Einzelfall- und Zielgruppenarbeit

Schon im Rahmen des Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG), welches 1924 in Kraft getreten ist wurde das primäre Augenmerk auf die Arbeit am Einzelfall- beziehungsweise auf Gruppenarbeit gelegt. Mit Einzelfallarbeit „sind Tätigkeiten gemeint, die sich unmittelbar auf einen als Fall identifizierten Menschen oder eine Gruppe beziehen, sei dieser Fall nun im Rahmen eines geordneten Hilfeplanverfahrens entstanden, im Zuge einer aufsuchenden Arbeit oder während der Tätigkeit in einer Einrichtung“ (Hinte/ Litges/ Groppe 2003, S. 34).

Die Einzelfallarbeit ist auch heute noch das Grundgerüst der Jugendhilfearbeit, jedoch wird heutzutage das Hauptaugenmerk auf die Reduzierung der Fälle durch Präventivarbeit gelegt. Die Abrechnung über Fachleistungsstunden ist unkompliziert, gängig und in den Augen der so genannten professionellen Leistungserbringer, ein sicheres Instrument zur Finanzierung ihrer Fälle. Außerdem ist die Finanzierung von Fallarbeit im Kinder- und Jugendhilferecht § 77 und § 78 SGB VIII, klar und detailliert geregelt. Ist ein Fall identifiziert, entsteht eine rechtliche Leistungspflicht des öffentlichen Jugendhilfeträgers, dem Leistungsberechtigten gegenüber. „Das bedeutet, dass bei Einzelfallbezogenen Hilfen, insbesondere bei den Hilfen zur Erziehung, diese zentralen verwaltungsverfahrensrechtlichen Tätigkeiten vom Jugendamt selbst vorzunehmen sind“ (Münder 2001, S. 83).

Fallunspezifische Arbeit hingegen, ist ein neues Betätigungsfeld der Jugendhilfe und ihrer Mitarbeiter, welches nicht durch routiniertes Handeln der Leistungserbringer umsetzbar ist. Für diesen Handlungsbereich müssen neue Methoden entwickelt werden, was erst einmal mit Mehrarbeit und Weiterqualifikation der Mitarbeiter in einem neuen Arbeitsgebiet, verbunden ist. Diese Gründe reichen den Leistungserbringern oft, sich aus der Verantwortung zu ziehen und ausschließlich routinierte Fallarbeit zu leisten, mit der Begründung dass Fallarbeit leistungsrechtlich verpflichtend geleistet werden muss. Dementsprechend hat ein identifizierter, Leistungsberechtigter Bürger einen Rechtsanspruch auf Hilfeleistungen, welcher beim öffentlichen Träger geltend gemacht werden muss, damit dieser der individuellen Leistungsberechtigung nachkommen kann. Die individuelle Umsetzung der Hilfeleistung wird dann vom öffentlichen Träger unter Berücksichtung der Rechte des Leistungsberechtigten an einen freien Träger übergeben, welcher die jeweilige Leistung dann umsetzt.

Der öffentliche Träger hat bei der Finanzierung Einzelfallbezogener Leistungen also eine rechtliche Leistungsverpflichtung dem Leistungsberechtigten gegenüber, wohingegen der freie Träger nach wie vor durch ausgehandelte, vertragliche Vereinbarungen die Umsetzung der individuellen Leistung im Rahmen der Mitwirkung des Leistungsberechtigten am Hilfeplan § 36 SGB VIII, detailliert festsetzt. Diese Faktoren machen es in der derzeitigen Praxis der Jugendhilfearbeit schwierig, den Weg zur praktischen Sozialraumorientierung zu finden. Die Finanzierung fallunspezifischer Arbeit oder Fallbezogener Ressourcenerschließung und Vernetzung bedarf einem Sozialraumbudget. Sozialraumorientierte Budgetkonzepte sind aufwendig zu konzipieren, denn sie müssen individuell auf den Sozialraum, nicht auf die Anzahl der im Quartier ansässigen `Fälle`, zugeschnitten werden. Fallarbeit und fallunspezifische Arbeit müssen zukünftig enger aneinander gekoppelt werden. Die Finanzierungsstränge sollten in einem Sozialraumbudget zusammengefasst, aufeinander abgestimmt und dann in Einklang mit den Kinder- und Jugendgesetzen gebracht werden.

Durch die Neuorganisation in der Jugendhilfe, ab 1990 wurde erstmals der Paradigmenwechsel vom „Fall zum Feld“ (Hinte 1999, S. 3) auch im Jugendhilfegesetz festgeschrieben und man entfernt sich seither auch praktisch vom lokalisierten Einzelfall.

Partizipations- und Präventivarbeit sollte der Einzelfall- und Gruppenarbeit vorgeschaltet werden, um zukünftige Fälle im Idealfall zu unterbinden. Vorbeugende Aufklärungsarbeit im Quartier bezüglich Jugendhilfearbeit führt dazu, dass Jugendliche bei zukünftigen Problemen eher die Jugendhilfestelle im Sozialraum zu Rate ziehen. Durch fallspezifische Ressourcenerschließung und Vernetzung im Umfeld des jeweiligen Klienten beziehungsweise der Klientengruppe, können so genannte Fälle schon präventiv verhindert werden. Der praktische Einbezug aller lebensweltlichen Ressourcen des jeweiligen Leistungsberechtigten Jugendlichen, beispielsweise der Einbezug von Freundeskreis, Schule, Familie und Sportverein können die Lebensverhältnisse des Jugendlichen so positiv beeinflussen, dass Einzelfallarbeit und Inanspruchnahme von Fachleistungsstunden verhindert werden können. Der leistungserbringende freie Träger kann sich die meist langjährigen sozialen Bände des jeweiligen Jugendlichen zu Nutze machen, indem sie im sozialen Nahraum des jeweiligen Leistungsberechtigten realitätsnahe Informationen über die tatsächliche Lebenssituation des Leistungsberechtigten einholt und auch Freunde Familie usw. des Jugendlichen aktiv an der Umsetzung des individuellen Hilfeplans § 36 KJHG beteiligt.

Im definitionstheoretischen Sinne umfasst Einzelfallarbeit die Arbeit am bedürftigen Individuum inklusive Fallbezogener Ressourcenerschließung. Wohingegen fallunspezifische Arbeit zwar klientenorientiert arbeitet und auch Ressourcen im Sozialraum erschließt, diese sind aber nicht für die Arbeit mit einem bestimmten Leistungsberechtigten vorgesehen, sondern werden im Idealfall in einem Ressourcenpool gesammelt und für zukünftige Arbeit am Klientel genutzt.

2.4.2 Fallunspezifische Arbeit

Das Tätigkeitsfeld der fallunspezifischen, infrastrukturellen Arbeit umfasst überwiegend Recherchen über das jeweilige Quartier, seine soziokulturelle Struktur, mögliche nutzbare Ressourcen, bauliche Gegebenheiten usw., aber lässt außerdem Raum für Ideen zur Vorbeugenden Arbeit mit dem jeweiligen, ortsansässigen Jugendklientel und deren Familien. Veranstaltungen freier Träger welche fallunspezifische Arbeit im Sozialraum anbieten, werden im Rahmen eines Sozialraumbudgets gemäß der im Budgetvertrag festgelegten Konditionen, finanziell unterstützt. Hier muss sich auf die im Kinder- und Jugendgesetz festgeschriebenen Klausen der aktiven Beteiligung des sozialen Nahraums beispielsweise bei den Hilfen zur Erziehung § 27 Abs. 2 KJHG berufen werden, damit eine finanzielle Unterstützung im Sinne des KJHG im Wirkungskreis fallunspezifischer Arbeit überhaupt umsetzbar ist. Bei der Fallunspezifischen Arbeit der Jugendhilfe werden vor allem Familien mit Kindern angesprochen, welche nicht leistungsberechtigt im Sinne des KJHG sind, dies dient der vorbeugenden Vermeidung von zu hohem Fallaufkommen im Sozialraum. Es herrscht gerade in defizitären Stadtgebieten eine große Unwissenheit über den Wirkungsbereich der Jugendhilfe vor, was zur Folge hat das leistungsberechtigte Personen ihren Leistungsanspruch nicht aufzeigen und ihnen somit die Möglichkeit zur Verbesserung ihrer soziokulturellen Lage nicht gewährt werden kann. Durch Projekte und Aktionen der fallunspezifischen Jugendhilfe im Sozialraum wird ein Band zu ortsansässigen Schlüsselpersonen geknüpft, welche Einblicke in die persönlichen Familienstrukturen im Sozialraum geben können, die nur durch jahrelange persönliche Kontakte zum Klientel möglich sind. Es gibt keine empirische Methode die derartig unverfälscht persönliche Beziehungen wiederspiegeln kann, wie persönlicher und vertrauensvoller Kontakt zu den Bewohnern des Sozialraums. Deshalb soll durch fallunspezifische Jugendhilfearbeit eine derartige Basis zwischen Bewohnern des Sozialraums und der Jugendhilfearbeit im Quartier hergestellt werden.

Grundlage für fallunspezifische Leistungserbringung sind Verträge mit dem öffentlichen Träger, diese Verträge werden bezüglich ihres Konzeptes geprüft. Kommt der öffentliche Träger zu dem Schluss, dass das Konzept bedarfsorientiert, sozialraumorientiert und im Kontext des KJHG umsetzbar ist, wird diese Leistungserbringung im Sozialraum im Rahmen eines festgelegten Anteils vom vorhandenen Sozialraumbudget unterstützt. Da die Weiterentwicklung der Ansätze und Konzepte in irgendeiner Form gewährleistet werden muss, sollten derartige Verträge in regelmäßigen Abständen überprüft und der aktuellen Situation im Quartier angeglichen werden. Infrastrukturelle, fallunspezifische Arbeit wird durch Subventionen gemäß § 74 SGB VIII unterstützt, welche anteilig im Sozialraumbudget enthalten sein müssen. Ob nun die nötige finanzielle Unterstützung durch Leistungsverträge mit dem öffentlichen Träger oder direkt durch Subventionen gemäß § 74 KJHG finanziell realisiert wird, hängt zum einen von der individuellen Zielsetzung eines Projektes, zum anderen von dem realen Bedarf im Quartier ab (vgl. Münder 2001, S. 6 - 24).

Sanftes Heranführen einer Zielgruppe an das System der Jugendhilfearbeit bewirkt, dass diese Jugendlichen und ihre Familien bei eventuellen, zukünftigen jugendhilfespezifischen Schwierigkeiten eher Institutionen der Jugendhilfe beziehungsweise des allgemeinen sozialen Dienstes (ASD) aufsuchen um sich soziale Beratung und Hilfe heranzuziehen. Wer jedoch präventive, infrastrukturelle und Sozialraumorientierte Leistungen in Anspruch nimmt, hat keinen Leistungsanspruch im Kontext des KJHG. Das heißt Leistungen und Vorteile wie beispielsweise das Wunsch- und Wahlrecht nach § 27 oder auch der Anspruch auf einen Hilfeplan nach § 36 KJHG, entfällt bei diesem Personenkreis da die Teilnahme an derartigen Aktionen des freien Trägers der Jugendhilfe, auf freiwilliger Basis genutzt wird und nicht auf Grundlage eines Leistungsanspruchs im Sinne des KJHG.

Die Kombination der Nutzung interner Ressourcen des Quartiers und individueller Ressourcen der Leistungsberechtigten, bildet den Schwerpunkt der Sozialraumorientierung der Jugendhilfearbeit. „Es geht um den Aufbau, die Unterstützung sowie das Aufspüren lebensweltlicher Kapazitäten- vom Sportverein über den lokalen Schrotthandel bis hin zu informellen Netzwerken, zum Kleinhandel und zu großen Unternehmen, die einen wesentlichen, oft eigenartig funktionierenden Teil eines sozialräumlichen Milieus repräsentieren und eine Vielzahl von Gestaltungsleistungen erbringen, ohne dass die Jugendhilfe auch nur einen Finger rühren muss“ (Hinte/ Litges/ Groppe 2003, S. 35).

Freie Kinder- und Jugendarbeit, im Rahmen der Hilfen zur Erziehung § 27, zählt auch zu fallunspezifischer Arbeit welche durch ein so genanntes Sozialraumbudget finanziert werden kann. Ob die Leistungen der Hilfen zur Erziehung tatsächlich im jeweiligen Sozialraumbudget beinhaltet sind, hängt von der Konzeption des individuellen Budgets ab. Trotz der Möglichkeiten, welche durch fallunspezifische Arbeit geboten werden, haben Fachkräfte meist weder den Mut noch den nötigen Elan zur Eigeninitiative auf diesem Tätigkeitsfeld. Diese Demotivation seitens der Mitarbeiter resultiert aus einer unzureichenden fachlichen Qualifikation auf Gebiet der Sozialraumorientierten Budgetplanung. Obwohl ein gewisser Spielraum im Rahmen eines Sozialraumbudgets vorgesehen ist, tendieren viele Fachkräfte noch immer zur primären Bearbeitung des Einzelfalls nach bewährtem Muster, was letztendlich kaum Zeit für fallunspezifische Arbeit zulässt. Begründet wird dies meist mit steigendem Fallaufkommen. Faktisch unterstützt wird dieser Arbeitsweg der Einzel- und Gruppenarbeit auch durch noch aktuell gängige Finanzierungsformen, welche ausschließlich nach bearbeiteter Anzahl von Fällen abrechnet. Dass durch eine derartige Form der Einzelfallbearbeitung viele Jugendliche erst zu Fällen werden, scheint hintergründig.

Resümierend kann man festhalten, dass Fallunspezifische Tätigkeiten auch immer das Ziel haben, sogenanntes Fallaufkommen schon im vornherein durch Vernetzung und Transparenz der Jugendhilfearbeit im Quartier allgemein verständlich zu machen. Dadurch kann das Fallaufkommen im Idealfall ausschließlich reduziert und somit langfristig Kosten des öffentlichen Trägers einspart und Verwaltungswege im Idealfall verkürzt werden (vgl. Hinte/ Litges/ Groppe 2003, S. 30 – 36).

3. Die Sozialraumanalyse als Grundlage für sozialraumorientierte Konzeptionen in der Jugendhilfearbeit

Um problematische Lebenslagen von Jugendlichen in einem Quartier differenziert und detailliert betrachten zu können werden bundesweit zunehmend Sozialraumanalysen zu Rate gezogen. Sozialraumanalysen identifizierenden ein Stadtgebiet, wo Deprivation Jugendlicher in hohem Maße vorkommt, woraus bei vielen Jugendlichen und ihren Familien soziokulturelle Defizite resultieren. Um Deprivation Jugendlicher in ihrem sozialen Lebensraum identifizieren zu können, kann eine Sozialraumanalyse durchgeführt werden, welche auch den aktuellen Stand einer Entwicklung in einem, durch die Sozialraumanalyse, lokalisierbaren Sozialraum aufzeigt.

Empirische Daten können durch eine auf die Bedarfe des jeweiligen Sozialraums konzipierte Sozialraumanalyse ermittelt und mit Daten anderer Sozialräume verglichen werden. So können Handlungsmuster von Jugendlichen und deren Wirkungen, aus sozialräumlichem Blickwinkel betrachtet und dargestellt werden. Durch flexible Konzipierungen von Sozialraumanalysen, können Räume möglichst realitätsnah erschlossen werden. Außerdem bedient man sich in der kommunalen Sozialplanung, spezifischer Analysen des Sozialraums, um quartiersrelevanten Defizite im Jugendhilfebereich und anderen Sozialen Bereichen aufzuzeigen und um dann angemessene Leistungen bereitstellen zu können (vgl. Spielberg 1997, S. 895 - 896).

Durch die Erkenntnisse aus der Sozialraumanalyse eines speziellen Quartiers, kann die Jugendhilfe ihre Leistungserbringenden Träger dort positionieren, wo der Bedarf am größten ist. Die Erkenntnisse aus einer Sozialraumanalyse bieten die Basis für weiterführende, Sozialraumorientierte Planungsprozesse in der Jugendhilfearbeit, welche explizit im KJHG § 1 und § 80, der bedarfsgerechten Planung von Diensten und Einrichtungen, gefordert werden. Somit haben Kinder und Jungendliche und deren Familien ein Recht auf empirische Analysen des Sozialraums, wenn diese „junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen“ (KJHG 1990, § 1 Abs. 3).

Heutige Sozialraumanalysen bieten detaillierten, analytischen Aufschluss über die soziokulturelle Struktur von Sozialräumen, woraufhin dann ein bedarfsgerechtes Budgetkonzept entworfen werden kann. Nach der Lokalisierung eines sozialen Raums und der abgeschlossenen Bedarfsbemessung bezüglich Jugendhilfearbeit für diesen sozialen Raum, muss die Wahl über eine angemessene Finanzierung geregelt werden. Nun stellt sich die Frage, welche Budgetkonzeption ist für welche Problemlage angemessen?

In den folgenden Ausführungen werde ich kurz den Blick zurückwenden um aufzuzeigen, dass derartige Analysen und Datenerhebungen in Stadtgebieten nicht erst durch die Brisanz von Sozialraumorientierung entwickelt und thematisiert worden sind, sondern dass mehr oder weniger ähnliche Ansätze schon seit Jahrzehnten auf der ganzen Welt ihren Einsatz finden, um Bevölkerungsstrukturen realitätsnah zu beleuchten.

3.1 Handlungslinien in der Entwicklung von Sozialraumanalysen

Wirklich aussagekräftige Forschungsreihen, werden um 1900, von Robert E. Park in Chicago entwickelt. Im Rahmen wachsender Industrialisierung und aufgrund steigender Zahlen von Immigrantenfamilien in amerikanischen Großstädten wächst dort die Differenzierung zwischen den Klassen. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen städtebaulichen Gegebenheiten und sozialer Deprivation wird laut. Im Rahmen der `Chicagoer Schule` (vgl. Park/ Bugres/ McKenzie 1925) werden diesbezüglich erstmals ernstzunehmende und konkrete Theorien entwickelt. Auch in Deutschland sind zeitgleich Ansätze zur wissenschaftlichen Erfassung der Bevölkerungsstruktur festzustellen. „Schon Anfang der Zwanzigerjahre lässt sich für Berlin die Bemühung um einen so genannten `Sozialatlas` nachweisen. In ihm sollten demographische Daten über Bevölkerungsdichte, Kinderzahl pro Familie, Zahl allein erziehender Erwachsener, Heimeinweisungen und Inobhutnahmen von Kindern- und Jugendlichen und Fälle von Kinder- und Jugendkriminalität auf Stadtteilbasis zusammengestellt und zu einer Skala von `Belastungsziffern` angeordnet“ (Müller 2002, S. 34) werden.

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Ende der Leseprobe aus 84 Seiten

Details

Titel
Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Note
2,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
84
Katalognummer
V84893
ISBN (eBook)
9783638896108
ISBN (Buch)
9783638896214
Dateigröße
688 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialraumorientierung, Jugendhilfe
Arbeit zitieren
Diplom Sozialwissenschftlerin Isabell Wieloch (Autor:in), 2005, Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84893

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