Intersubjektivität in Sartres "Das Sein und das Nichts" und "Der Idiot der Familie"


Seminararbeit, 2007

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Intersubjektivität in Das Sein und das Nichts
1. Hinführung: Grundgedanken in Das Sein und das Nichts
2. Sartres Voruntersuchungen zur „Fremdexistenz“
3. Der Andere als Gegenstand
4. Der Blick und die Scham
5. Der Subjekt-Andere
6. Die Konstitution des Ich durch den Anderen
7. Auswertung

II. Intersubjektivität in Der Idiot der Familie
1. Hinführung: Fragen der Methode
2. Die Kindheit Flauberts
3. Die Mutter als die Andere

III. Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

„Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.

Daß es mir zum Beispiel niemals zu Bewusstsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt.

Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. […] Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, dass ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht.“[1]

Rainer Maria Rilkes eindringliche Beschreibung der Anderen aus der Sicht Malte Laurids Brigges beschränkt sich keineswegs darauf, nur die Außenansichten der Menschen zu schildern; vielmehr wird der Blick auf das Subjekt hinter der Maske, hinter der persona gerichtet und zugleich auf die empathische, immer auf den begegnenden Anderen gerichtete, Intention des wahrnehmenden Bewusstseins gelenkt. Die theoretische Grundlage für einige Beschreibungen aus Rilkes einzigem Roman könnte von dem französischen Philosophen stammen, dessen Schaffen oft auf Schlagwortsätze heruntergebrochen wird: „Die Hölle, das sind die Anderen“ oder „Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt“ sind zwar Zitate aus bekannten Werken von Jean-Paul Sartre, geben jedoch kaum die Detailfülle und Komplexität, aber auch Systematik seiner Philosophie wieder.

Die vorliegende Arbeit will, grob ausgedrückt, Theorie und Anwendung der Sozialphilosophie Sartres – im Rahmen einer Theorie der Intersubjektivität – anhand zweier ausgewählter Teile untersuchen. So befasse ich mich im ersten Teil mit der berühmten phänomenologischen Untersuchung des Blicks in Sartres erstem Hauptwerk Das Sein und das Nichts[2], wobei ich zunächst in knapper Weise die wesentlichen Haltestellen der Argumentation darstellen will, um dann die sozialphilosophischen Implikationen betreffend eine Theorie der Intersubjektivität zusammenzufassen.

Obwohl es sich im Kontext sozialphilosophischer Untersuchungen anbieten würde, im Anschluss die Kritik der dialektischen Vernunft[3] zu behandeln, da sie als Sartres genuin sozialphilosophisches Werk gilt, werde ich die Ergebnisse meiner ersten Untersuchung stattdessen auf Sartres „Alterswerk“, in diesem Falle seine Flaubertstudie Der Idiot der Familie[4], anwenden. Da eine Untersuchung, die auch nur annähernd dem gewaltigen qualitativen und auch quantitativen Umfang gerecht zu werden versucht, fast zum Scheitern verurteilt ist, jedenfalls aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, will ich mich auf ausgewählte Aspekte aus dem ersten Band der deutschen Ausgabe beschränken. Ziel meiner Untersuchung soll sein, die ausgewählten Teile miteinander zu vergleichen. Dabei soll geklärt werden, ob das Verhältnis der Schriften zueinander eher als Spannungsverhältnis zweier verschiedener Intersubjektivitätskonzepte verstanden werden muss, oder ob sich im Gegenteil die Darstellung in Der Idiot der Familie auf die grundlegenden sozialphilosophischen Implikationen in dem Blick-Kapitel aus Das Sein und das Nichts gründen lässt.

I. Intersubjektivität in Das Sein und das Nichts

1. Hinführung: Grundgedanken in Das Sein und das Nichts

Sartres Hauptwerk Das Sein und das Nichts[5], angelegt als „phänomenologische Ontologie“, unternimmt nichts Geringeres, als die Existenzweise des Menschen im Bezug zur Welt, zu sich selbst und zu anderen zu erfassen. Dabei ist die Orientierung an dem zeitlich früheren Sein und Zeit von Martin Heidegger kaum zu übersehen; an einigen Stellen zitiert Sartre Heidegger sogar wörtlich, ohne jedoch die Quelle anzugeben. Anders als dieser aber stellt Sartre nicht den Sinn des Seins in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen, sondern vielmehr die Seinsweise des Menschen gegenüber der Welt. Dabei zeigt er sich beeinflusst von Edmund Husserl, dessen phänomenologische Methode eines der wichtigsten Werkzeuge Sartres in seiner Untersuchung ist, zugleich übernimmt er (zunächst) wichtige Positionen Husserls. So versteht Sartre das Bewusstsein mit Husserl als intentional, d.h. als immer schon auf die Gegenstände gerichtet („Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas“), und als fundamental unterschieden vom Sein der Welt. Gleichzeitig ist der Mensch vor jeder

(Selbst-)Bewusstwerdung schon im Besitz originärer Beziehungen zu den Gegenständen und der Welt im Gesamten. Diese prä-kognitive Gegebenheit des Menschen als immer schon im Bezug zur Welt verbindet Sartre nun mit quasi-ontologischen Bestimmungen des Seins der Welt und des Menschen. Dabei orientiert er sich an dem dritten großen Philosophen[6], Georg Wilhelm Friedrich Hegel, von dem er, wenn nicht die Dialektik im Ganzen, so zumindest Teile des ontologisch-dialektischen Vokabulars entlehnt. Damit ausgestattet, salopp formuliert, fasst er nun den Menschen als Für-Sich, das sich vom An-Sich der Dinge darin unterscheidet, dass es gleichzeitig Sein und Nichts ist. Sein ist es in der Weise, dass seine Existenz seinem Wesen vorausgeht; Nichts ist es vor dem Horizont der Zeitlichkeit: Das Für-Sich ist das, was es nicht ist und nicht das, was es ist. Dieser dramatisch klingende Satz lässt sich im Hinblick auf die Zeit auch verständlicher formulieren: „Ich bin meine Zukunft und bin sie zugleich nicht; ich bin meine Gewesenheit und bin sie auch nicht […] ich bin die Zukunft noch nicht, und die Gewesenheit nicht mehr[7].

Ein weiterer wichtige Grundgedanke ist die Freiheit: Gemeinsam mit der Existenz und dem durch das Für-Sich vermittelten Nichts ist sie gewissermaßen gleichzeitig Vollzug des Nichtens und Seinsweise in einem, sowohl die Existenz des Menschen als auch seine erste Bedingung ist die Freiheit. Damit ist die Bestimmung des Menschen komplett: Er ist das von dem An-Sich der Welt unterschiedene Für-Sich, nicht-identisch mit sich selbst und damit immer frei, sich selbst auf die Welt hin zu entwerfen.

2. Sartres Voruntersuchungen zur „Fremdexistenz“

Hat Sartre im bisherigen Verlauf den Menschen nun gewissermaßen prinzipienhaft ontologisch erfasst[8], so geht er in seiner Untersuchung des Blicks daran, die ersten, originären[9] Begegnungen mit dem Anderen zu beschreiben. Dabei ist es in erster Linie seine Intention, auf eine alte philosophische Streitfrage zu antworten, nämlich die, wie wir uns der Existenz anderer Menschen sicher sein können. Sartre steht vor dem gleichen Problem, wie andere Philosophen vor ihm auch; seine bisherige ontologische Bestimmung des Menschen lässt seinen Weltbezug auch ohne andere Menschen zu, der Andere wäre also kontingent. Sartre teilt die bisherigen Erklärungsversuche grob in zwei Kategorien ein: idealistische, die das Wesen des Menschen als prinzipiell unerkennbar erklären und dann in einen „metaphysischen Realismus“ umschlagen, weil sie die Existenz fremder Bewusstseine in der Welt dogmatisch setzen müssen, um die Gefahr des Solipsismus zu vermeiden und realistische, in denen die erkennbare Welt vorausgesetzt wird, wobei dann die Erkenntnis fremder Bewusstseine bloß wahrscheinlich werden. Letztere schlagen dann ihrerseits in einen Idealismus um, weil wahrscheinliche Bewusstseine eben nur außerweltlich erkannt werden können. Insgesamt kritisiert Sartre also das Primat der Erkenntnis, die nach empirisch-rationalistischen Kriterien Welt und Mensch versucht zu beschreiben. Demgegenüber setzt Sartre eine phänomenologische Analyse als Beschreibung der präkognitiven Erlebnisse im Zusammenhang mit der Welt und dem Andern, mit anderen Worten: Es geht Sartre nicht um das „Wahrnehmen“ oder „Sehen“, da diese Tätigkeiten bereits eine rationale oder kognitive Tätigkeit voraussetzen, sondern um das Erleben, mein Erleben, das erst im Nachhinein überhaupt beschrieben werden kann. Im Folgenden soll nun die Argumentation im Kapitel „Der Blick“ in Kürze nachvollzogen werden[10].

[...]


[1] Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Stuttgart 2004, S. 9.

[2] Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, Hamburg 122006. Im Folgenden zitiert als: SN.

[3] Sartre, Jean-Paul: Kritik der dialektischen Vernunft. Theorie der gesellschaftlichen Praxis, Hamburg 31980.

[4] Sartre, Jean-Paul: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821-1857. Bd. I Die Konstitution, Hamburg 1977. Im Folgenden zitiert als IF.

[5] An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die vorliegende Untersuchung nur einen möglichen Aspekt herausgreift. So würden sich bei der Betrachtung der „Konkreten Beziehungen zu Anderen“ weitere Verknüpfungen bieten, wie auch bei einer Einbindung der „Kritik der dialektischen Vernunft“ überhaupt. Aus Platzgründen muss hier darauf verzichtet werden.

[6] Vgl. auch SN 424-456.

[7] Biemel, Walter: J.-P. Sartre. Die Faszination der Freiheit, in: Speck, Josef (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart V, München 21992, S. 95

[8] Hartmann, Klaus: Die Philosophie J.-P. Sartres. Zwei Untersuchungen zu L’Ètre et le Néant und zur Critique de la raison dialectique, Teil II: Sartres Sozialphilosophie, Berlin u.a. 1983, S. 26.

[9] Ich verwende hier den Begriff des „Originären“ im Sinne Husserls, vgl.: Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie Bd.1 (Husserliana Bd. III,1), Den Haag 1976, S. 41-42.

[10] Da dieses Kapitel wohl eines der am häufigsten wiedergegebene Beispiele für Sartres Philosophie darstellt, fasse ich nur die wichtigsten Punkte zusammen und verweise insgesamt auf ausführliche Analysen bei:

Regenbogen, Arnim: Sartres Theorie der Intersubjektivität, Berlin 1969, S. 56-66; Honneth, Axel: Die Gleichursprünglichkeit von Anerkennung und Verdinglichung. Zu Sartres Theorie der Intersubjektivität (405-538), in: Schumacher, Bernard N. (Hg.): Jean-Paul Sartre. Das Sein und das Nichts (Klassiker auslegen Bd. 22, hg. v. Otfried Höffe), Berlin 2003, S. 135-158.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Intersubjektivität in Sartres "Das Sein und das Nichts" und "Der Idiot der Familie"
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Philosophische Fakultät)
Veranstaltung
Jean-Paul Sartre: Freiheit und Situation
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
20
Katalognummer
V85034
ISBN (eBook)
9783638002967
ISBN (Buch)
9783638927505
Dateigröße
575 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Intersubjektivität, Sartres, Sein, Nichts, Idiot, Familie, Jean-Paul, Sartre, Freiheit, Situation
Arbeit zitieren
Daniel Zorn (Autor:in), 2007, Intersubjektivität in Sartres "Das Sein und das Nichts" und "Der Idiot der Familie", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85034

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