Selbstwert und Selbstwirksamkeit lebertransplantierter Kinder und Jugendlicher


Diplomarbeit, 2007

113 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

Einleitung

1. Lebererkrankung und Transplantation bei Kindern
1.1 Funktion und Struktur der Leber
1.2 Leberfunktion und zentrales Nervensystem
1.3 Lebererkrankungen im Kindesalter
1.3.1 Biliäre Atresie
1.3.2 Stoffwechselerkrankungen
1.3.3 Intrahepatische cholestatische Lebererkrankungen
1.3.4 Akut-fulminantes Leberversagen
1.3.5 Maligne Tumore
1.4 Lebertransplantation als Behandlungsmethode
1.4.1 Historische Entwicklung der Lebertransplantation bei Kindern
1.4.2 Splitliver-Technik und Lebendspende
1.4.3 Überleben und Wachstum von Kindern nach LTX

2. Selbstwert und Selbstwirksamkeit
2.1 Selbstkonzept
2.2 Selbstwirksamkeit
2.3 Selbstwert
2.4 Vergleich der beiden theoretischen Konstrukte

3. Zusammenhang von Selbstwert/Selbstwirksamkeit und Lebererkrankungen bei Kindern und Jugendlichen: ein Forschungsüberblick
3.1 Selbstwirksamkeit und chronische Erkrankung
3.2 Selbstwert und chronische Erkrankung
3.3 Selbstkonzept und Lebertransplantation

4. Fragestellung und Hypothesen
4.1 Theoretischer Ausgangspunkt
4.2 „Positive Illusion“ als Abwehrprozess
4.3 Fragestellungen
4.4 Hypothesen

5. Methode
5.1 Durchführung der Untersuchung
5.1.1 Rahmenbedingungen
5.1.2 Teilnehmerauswahl
5.1.3 Untersuchungsverlauf
5.2 Stichprobenbeschreibung
5.2.1 Soziodemographische Merkmale
5.2.2 Krankheitsbezogene Merkmale
5.3 Testpsychologische Verfahren
5.3.1 Die Aussagen-Liste zum Selbstwertgefühl für Kinder und Jugendliche (ALS)
5.3.2 Rosenberg-Skala zum globalen Selbstwertgefühl (RSS)
5.3.3 Allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung (SWE) /General Perceived Self-Efficacy Scale (GSE)
5.3.4 Zusätzliche Verfahren
5.4 Statistische Auswertung der Daten

6. Ergebnisse
6.1 Non-Responder Analyse
6.2 Geschlechtsspezifische Vergleiche
6.3 Überprüfung der Normalverteilungsannahme
6.4 Vergleich lebertransplantierter Kinder und Jugendlicher mit der Altersnorm
6.4.1 Normvergleich hinsichtlich des Selbstwertes
6.4.2 Normvergleich hinsichtlich der Selbstwirksamkeit
6.5 Zusammenhangsanalysen
6.5.1 Zusammenhang zwischen dem Selbstwert und der Selbstwirksamkeit lebertransplantierter Kinder und Jugendlicher mit dem postoperativen Zeitraum.
6.5.2 Zusammenhang zwischen der „positiven Illusion“ lebertransplantierter Jugendlicher und der Belastung
6.6 Ergänzende Analysen

7. Diskussion
Im folgenden Abschnitt werden die Ergebnisse der Untersuchung zueinander in Beziehung gesetzt und diskutiert. In einem zweiten Schritt wird versucht, Erklärungsansätze zu entwickeln. Des Weiteren wird auf die Schwierigkeiten in der Methodik eingegangen. Die Arbeit schließt mit einem Ausblick.
7.1 Selbstwert und Selbstwirksamkeit lebertransplantierter Kinder und Jugendlicher
7.2 Erklärungsansätze
7.3 Methodische Kritik
7.4 Ausblick

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Anhang

Zusammenfassung

Die vorliegende Studie untersucht das Ausmaß des Selbstwertes und der Selbstwirksamkeit von Kindern und Jugendlichen nach einer Lebertransplantation, wobei in der Literatur über diesbezügliche erhöhte Werte und das Vorhandensein von Abwehrpozessen bei chronisch Erkrankten, als mögliche Bewältigungsstrategie, berichtet wurde.

Dazu wurden Werte von 35 lebertransplantierten Kindern und Jugendlichen am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf in der Aussagen-Liste zum Selbstwertgefühl für Kinder und Jugendliche (ALS) und ausschließlich von 26 betroffenen Jugendlichen in der Rosenbergskala zum globalen Selbstwertgefühl (RSS) und in der Allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung (SWE) erhoben. Die Teilnehmer waren zum Zeitpunkt der Untersuchung zwischen 98 und 221 Monate alt. Die Transplantation fand frühestens mit einem Monat und spätestens mit 15 Jahren statt. Die häufigste Diagnose war biliäre Atresie (50 %). 20 Kinder hatten eine Lebendspende erhalten.

Im Normvergleich weisen die untersuchten Kinder und Jugendlichen signifikant höhere Werte in den beiden Selbstwert-Skalen (ALS und RSS) auf. Hinsichtlich der Selbstwirksamkeit (SWE) finden sich bei den betroffenen Jugendlichen keine signifikant höheren Werte als bei der Normpopulation. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Hauptskalen erweisen sich als nicht überzufällig. Es wurden keine Zusammenhänge zwischen den beiden Konstrukten (ALS- und SWE-Skala) und dem postoperativen Zeitraum festgestellt. Das hohe Ausmaß der „positiven Illusion“ bei lebertransplantierten Jugendlichen geht mit niedrigerer selbsteingeschätzter psychosozialer Belastung einher. Ein negativer Zusammenhang findet sich bei der entsprechenden Substichprobe zwischen der „positiven Illusion“ und der fremdangegebenen Belastung (Nebenwirkungen). Des Weiteren korrespondieren der Selbstwert und die Selbstwirksamkeit lebertransplantierter Jugendlicher positiv mit der „positiven Illusion“. Es besteht bei einem Drittel von ihnen ein sicherer Hinweis auf das Vorhandensein von Abwehrprozessen.

Die Befunde der vorliegenden Arbeit indizieren, dass das Ausmaß des Selbstwertes bei lebertransplantierten Kindern und Jugendlichen überprüft werden sollte, um im Falle eines Hinweises auf Abwehrprozesse oder diesbezüglicher niedrigerer Werte rechtzeitig gezielte Fördermaßnahmen ergreifen zu können. Denn es bestehen enge Zusammenhänge zwischen diesem Konstrukt und der psychischen Gesundheit. Weitere Forschungsarbeiten sind notwendig, um genauere Kenntnisse über krankheits- und entwicklungsbezogene Variablen gewinnen zu können, die die Inanspruchnahme von Abwehrprozessen beeinflussen.

Einleitung

Kaum eine andere medizinische Intervention zieht ähnliche dramatische Veränderungen nach sich wie das Ersetzen eines Organs (Dew et al., 1998). Aufgrund neu entwickelter lebensnotwendiger Medikamente, der Fortschritte in der chirurgischen Technik und regelmäßiger medizinischer Kontrollen im Bereich der Lebertransplantation vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist die Überlebenswahrscheinlichkeit und somit die Überlebensrate der Betroffenen in der letzten Zeit jedoch deutlich angestiegen. Entsprechend muss eine zunehmende Zahl von Patienten und Familien lernen, mit dem „neuen Organ“ umzugehen und ihre Lebensweise auf die somatischen, psychischen und sozialen Folgen der Erkrankung einzustellen. Auch wenn sich der Gesundheitszustand bei vielen Patienten nach der Transplantation deutlich verbessert hat, bleiben sie chronisch krank (Slater, 1994). Aus dieser Perspektive erscheint allgemein die Frage nach Adaptationsprozessen und psychosozialen Folgen chronischer Erkrankungen, sehr wichtig zu sein. Denn trotz der weitgehenden Stabilisierung des Gesundheitszustandes kann die psychische Verfassung und die Integration ins Umfeld seitens der Betroffenen durch die Erkrankung und Transplantation negativ beeinflusst werden, wobei die beiden Bereiche einer Wechselwirkung unterliegen.

Kinder und Jugendliche nehmen in diesem Zusammenhang einen besonderen Platz ein. Denn aufgrund der krankheitsbedingten Einschränkungen sind bei dieser Altersgruppe zusätzlich die entwicklungsbedingten Prozesse wie die Ablösung von den Eltern, der Gewinn von Autonomie und die Entstehung eines positiven Selbstkonzeptes besonders gefährdet (Resch, 1999). Die langandauernden Krankenhausaufenthalte und/oder körperliche und emotionale Belastungen - sowohl vor als auch nach der Transplantation - ziehen oft Entwicklungsverzögerungen bei den Kindern und Jugendlichen nach sich. Diese werden durch das so genannte „Glasglockenleben“ in der postoperativen Phase, das sich in den notwendigen medizinischen Maßnahmen und der Einschränkung des sozialen Lebens äußert, verstärkt. Weil das Immunsystem, insbesondere durch die immunsuppressiven Medikamente, geschwächt ist, müssen die betroffenen Familien ständig auf eine möglichst infektfreie Umwelt achten. Das Bedürfnis nach Selbstständigkeit seitens der Jugendlichen kann zu massiven familiären Konflikten führen, die für diese Phase der typischen Auseinadersetzungen in ihrem Ausmaß noch übertreffen. Denn die kontinuierlichen Sorgen der Eltern um die Gesundheit (und somit das Überleben) ihres Kindes erschweren die gegenseitige Ablösung. Diese Zustände deuten auf eine höhere Anforderung im Hinblick auf die altersspezifischen Aufgaben bei lebertransplantierten Kindern und Jugendlichen hin. Angesichts der Tatsache, dass die erfolgreiche Adaptation an die Umwelt einen hohen Stellenwert für einen stabilen psychosozialen/gesundheitlichen Zustand und den weiteren Lebensverlauf einnimmt, ist es erschreckend wie wenig Aufmerksamkeit diesem Gebiet in der Transplantationsmedizin gewidmet ist. Im Vergleich zu den medizinischen Problemen sind die Anpassungsprozesse lebertransplantierter Kinder und Jugendlicher heute nur zum Teil bekannt, wenig erforscht und werden nicht systematisch unterstützt. Dieser Zustand hemmt das frühzeitige Erkennen von Beeinträchtigungen und den damit verbundenen raschen Beginn von Fördermaßnahmen, die für Betroffene von großer Bedeutung sein könnten.

Dementsprechend liegt der Beweggrund für die Durchführung der vorliegenden Untersuchung auf der Hand. Dabei wird ein wichtiger Aspekt der Entwicklung fokussiert. Es handelt sich um Selbstkonzept, das sowohl das Produkt als auch eine einflussreiche Determinante des Anpassungsprozesses der Kinder und Jugendlichen darstellt. Aufgrund der komplexen Struktur des Selbstkonzeptes ist die Auswahl auf zwei entscheidende Facetten als dessen repräsentativsten Vertreter gefallen. Ausserdem sind der Selbstwert und die Selbstwirksamkeit unter dem gesundheitlichen Gesichtspunkt eine der meist erforschten intrapsychischen Konstrukte. In der vorliegenden Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, ob Kinder nach einer Lebertransplantation ihrer Altersgruppe entsprechendes Ausmaß an Selbstwert und Selbstwirksamkeit besitzen und welche Bedingungen der Krankheit und ihrer Behandlung auf deren Ausprägung Einfluss nehmen. Zu diesem Zweck wird im ersten Teil der Arbeit eine theoretische Grundlage geschaffen. Kapitel eins widmet sich dem Organ Leber und seinen Erkrankungsformen und schließt mit der Behandlungsmöglichkeit der Lebertransplantation ab. In Kapitel zwei geht es um die begriffliche Einführung und die theoretische Grundlegung der verwendeten Konstrukte, nämlich des Selbstwertes und der Selbstwirksamkeit. Abschließend wird der Forschungsstand zum Thema der vorliegenden Arbeit dargelegt. Im empirischen zweiten Teil der Arbeit werden die Stichprobe der untersuchten Kinder und Jugendlichen, die verwendeten Methoden und sodann die Ergebnisse der Untersuchung vorgestellt. Diese werden im letzten Teil diskutiert.

Die Erkenntnisse aus der vorliegenden Untersuchung könnten zu Konsequenzen für den künftigen Umgang mit lebertransplantierten Kindern und Jugendlichen führen, sollte sich herausstellen, dass diese Betroffenengruppe selbst nach einem längeren postoperativen Zeitraum zu Abwehrtendenzen tendieren. Dies betrifft möglicherweise Fragen, die den Zeitpunkt der Transplantation und das Ausmaß der Belastung berühren. Für deren Art könnte von Interesse sein, ob sich ein spezifisches Profil bei lebertransplantierten Kindern nachweisen lässt. Auch dieser Frage soll in der vorliegenden Arbeit unter Einbeziehung bisheriger Forschungsergebnisse nachgegangen werden. In jedem Fall müssten das Selbstwertgefühl und das eingeschätzte Handlungspotential der entsprechenden Zielgruppe bei der routinemäßigen Betreuung der Patienten im klinischen Alltag einen höheren Stellenwert bekommen. Dazu möchte die vorliegende Untersuchung einen Beitrag leisten.

1. Lebererkrankung und Transplantation bei Kindern

Das erste Kapitel soll der Einführung in den Themenbereich der Lebertransplantation dienen. Dazu wird zunächst ein grober Überblick über die Physiologie der Leber gegeben. In einem zweiten Schritt wird die Bedeutung ihrer Funktion für das zentrale Nervensystem skizziert, um danach die häufigsten zu einer Transplantation führenden Lebererkrankungen im Kindesalter zu erörtern. Den Abschluss bildet die Darstellung der Transplantation als Behandlungsmethode.

1.1 Funktion und Struktur der Leber

Die Leber erfüllt eine Reihe unterschiedlicher Aufgaben im menschlichen Körper. Sie ist das zentrale Stoffwechselorgan (Kohlenhydratstoffwechsel, Fett­stoffwechsel, Eiweißstoffwechsel, Gallensäurenstoffwechsel, Bilirubinstoffwechsel) (Schulte & Spranger, 1988). Nach Goesser (2000) lassen sich die daraus resultierenden Funktionen der Leber wie folgt zusammenfassen:

- Verwertung von Nahrungsmittelbestandteilen, d. h. Aufnahme aus dem Blutkreislauf,
Speicherung, regulierte Abgabe an den Körper, Beteiligung am Verdauungsprozess;
- Produktion von Eiweißstoffen, z.B. Transportproteinen, Blutgerinnungsfaktoren;
- Bildung, Aktivierung und Inaktivierung von Hormonen, z. B Wachstumshormone;
- Entgiftung und Ausscheidung von körpereigenen und körperfremden Stoffen;
- Speicherung und Bereitstellung von Vitaminen (A, B, E, K) und Spurenelementen (Eisen, Kupfer, Zink, Mangan); Unspezifische Abwehrvorgänge gegen Viren, Bakterien, Antigene, Toxine und andere Substanzen;
- Blutbildung während der Fetalzeit (Schulte & Spranger, 1988) und Blutspeicherung.

Nach der Geburt liegt häufig noch eine funktionelle Unreife vor; viele in der Leber metabolisierten Substanzen erreichen erst nach Tagen bis Jahren die Werte des Erwachsenen (z.B. Gallensäure).

Bei Neugeborenen wiegt die Leber etwa 5% des Körpergewichts, bei Jugendlichen 2%. Anatomisch setzt sie sich aus vier unvollständig getrennten Lappen zusammen. Ihre strukturelle Grundeinheit ist das Leberläppchen. Die Blutversorgung erfolgt einerseits arteriell über die Äste der Leberarterie, andererseits über die Pfortader, die nährstoffreiches Blut vom Darm transportiert.

Die Leber ist ein hoch regeneratives Organ, nach einer Teilresektion wachsen, bei ausreichender Funktionsfähigkeit des verbliebenen Teils, die Leberzellen nach.

1.2 Leberfunktion und zentrales Nervensystem

Die oben dargestellten Funktionen der Leber sind auch für Entwicklung und Funktion des zentralen Nervensystems evident. Struktur und Funktion gewährleisten seine Arbeitsfähigkeit, dabei bildet sich die Struktur im funktionellen Gebrauch heraus. Dies gilt insbesondere für das noch im Wachstum begriffene Gehirn des Kindes.

Neben günstigen Bedingungen für den funktionellen Gebrauch benötigt das Gehirn für seine Entwicklung auch eine biologisch günstige Umgebung. Störungen des Stoffwechsels können zu irreversiblen strukturellen Schädigungen oder über funktionelle Beeinträchtigungen zu Entwicklungsverzögerungen führen.

Durch ihre Beteiligung an der Verdauung, ihre zentrale Rolle im Stoffwechsel und als Speicherorgan ist die Leber in hohem Maße an der Schaffung dieses günstigen biologischen Milieus beteiligt (Lang, 1987). Umgekehrt führt eine Leberschädigung, wie die hepatische Encephalopathie des Erwachsenen, direkt oder indirekt zu

- Mangel an Metaboliten oder
- Anhäufung von Metaboliten.

Folgen dieser metabolischen Verschiebungen sind:

- strukturelle Veränderungen (z.B. beeinträchtigen Störungen des Fettstoffwechsels die Myelinisierung. Z.B. führen Anhäufung von Ammoniak (NH3) infolge gestörter Harnstoffsynthese und/oder vermindertes Albumin zu cerebralen Ödemen und cortialer Atrophie (Stewart, Kennard, Waller & Fixler, 1994);
- Beeinträchtigung der Funktion (z.B. führen Hyperammoniämie und/oder Anhäufung von Aminosäuren infolge mangelnden Abbaus zur Bildung „falscher“ Transmitter. Z.B. kann es zu erheblichen Beeinträchtigungen des Energiehaushalts durch Mangel an Glucose infolge gestörten Glykogenabbaus oder gestörter Gluconeogenese kommen, vor allem wenn auch die Bildung von Ketonkörpern, der einzigen alternativen Energiequelle für Nervenzellen, gestört ist);
- Zellzerstörung durch Spontansynthese oder mangelnden Abbau neurotoxischer Substanzen. Dies kann z.B. durch die übermäßige Speicherung von Kupfer bei Morbus Wilson geschehen.

1.3 Lebererkrankungen im Kindesalter

Im Folgenden werden die Lebererkrankungen im Kindesalter dargestellt, die im Endstadium am häufigsten zu einer Leberzirrhose und damit zu einem Verlust der Funktion führen. Die Leberzirrhose stellt nach Pschyrembel (1993) progrediente, narbig- und bindegewebige Umwandlung der Leber infolge Untergangs der Leberzellen und Umgestaltung des Gefäßapparates dar. Der erfolgte Umbau ist irreversibel.

In diesem Stadium der Krankheit steht heute noch keine Alter­native zur Transplantation zur Verfügung.

1.3.1 Biliäre Atresie

Die häufigste Indikation, die bei Kindern zur Transplantation führt, ist die biliäre Atresie (Gallengangatresie). Ihr Anteil an Diagnosen bei lebererkrankten Kindern beträgt insgesamt 50-60%, bei transplantierten Kindern unter zwei Jahren 70- 80%. Die Angaben über die Inzi­denz variieren von 1:8000 bis 1:15000 (Mildenberger, 1999). Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen, wobei es bisher keine Anzeichen für eine Vererbung der Krankheit gibt.

Bei dieser Erkrankung kommt es innerhalb weniger Wochen nach der Geburt zu einem vollständigen oder teilweisen Verschluss vorwiegend der extra- aber auch der intrahepatischen Gallengänge. Dadurch wird der Abfluss der Galle aus der Leber in den Darm verhindert. Dies führt zum einen dazu, dass Abbauprodukte der Leber (z.B. Bilirubin) nicht in den Darm ausgeschieden werden können und sich in der Leber stauen. Es entwickelt sich ein cholestatischer Ikterus und eine gemischte Hyperbili­rubinämie mit Hepatomegalie. Zum anderen enthält die Galle Säuren, die zur Ver­dauung von Fett im Darm benötigt werden. Wenn diese im Darm fehlen, kommt es etwa im Alter von zwei bis drei Monaten zu Mangelernährung und Wachstumsverzögerungen, da neben Fetten auch fettlösliche Vitamine (A, D, E und K) nicht aufgenommen werden können. Weitere Folgen sind Juckreiz und Anzeichen einer portalen Hypertension.

Bei einem kleinen Teil der Säuglinge besteht die Möglichkeit, durch die nach ihrem Entwickler Kasai benannte Operation, die atretischen Gallengänge zu operieren und für einen künstlichen Gallenabfluss zu sorgen. Meistens stellt sich nach der Operation keine vollständige Heilung ein, da die intrahepatischen Gallengänge nicht zu operieren, oftmals jedoch ebenfalls betroffen sind. Das Verfahren ist am erfolgreichsten, wenn es bis zur achten Lebenswoche durch­geführt wird und das Lebergewebe sich noch nicht in einem zirrhotischen Umbau­prozess befindet. Bei 85 bis 90 % der Kinder schreitet die Erkrankung so weit fort, dass sie bereits ein bis zwei Jahre nach der Operation ein neues Organ benötigen und zur Lebertransplan­tation vorgestellt werden (Pettit, Zitelli & Rowe, 1984).

1.3.2 Stoffwechselerkrankungen

Die zweithäufigste Indikation zur Lebertransplantation nach der Gallengangatresie ist die Gruppe der angeborenen metabolischen Störungen (Esquivel, Vincent & van Thiel, 1987), wobei bspw. folgende Erkrankungen unterschieden werden (vgl. Kelly, 1994).

- Morbus Wilson: Dieser autosomal rezessiv vererbten Erkrankung liegt eine Störung des Kupferstoffwechsels zugrunde. Infolge eines hepatozellulären Transportdefekts mit verminderter biliärer Sekretion kommt es im Laufe der Erkran­kung zu einer toxischen Anhäufung des mit der Nahrung aufgenommenen Kupfers im Zytoplasma der Leberzellen und zu einem zirrhotischen Umbau der Leber. Wenn die hepatische Speicherkapazität überschritten wird, lagert sich das Kupfer in Gehirn, Nieren, Knochen, Kornea und anderen Organsystemen ab. Durch Degene­ration der Stammganglien führt die Erkrankung auch zu extrapyramidalen Sympto­men. Sie beginnt zwischen dem sechsten und dreißigsten Lebensjahr, ihre Häufigkeit wird laut Lang (2002) auf 1:30000-1:100000 ge­schätzt. Ein ähnlicher Pathomechanismus liegt bei der Hämochromatose vor: Infolge hereditären oder erworbenen Transferrinmangels (Eisentransportproteine im Plasma) oder übermäßiger Resorption von Eisen kommt es zu Eiseneinlagerungen im Gewebe, u.a. in der Leber.

- Oxalose: Diese Krankheit wird ebenfalls autosomal rezessiv vererbt. Es han­delt sich um einen Enzymdefekt der Leber mit darauf folgender Störung des Glykokoll-Oxalsäure- Stoffwechsels. In der Folge kommt es zu Ablagerung von Calciumoxalat, vor allem in den Knochen (Spontanfrakturen) und den Nieren. Häufig wird hier eine kombinierte Leber- und Nie­rentransplantation notwendig.

- Tyrosinanämie Typ 1: Es handelt es sich um eine Störung des Tyrosinstoffwechsels mit Akkumulation der Aminosäuren Phenylalanin und Methionin. Die Erkrankung manifestiert sich in der Regel im Neugeborenenalter (Schulte & Spranger, 1988) und kann entweder zu akutem Le­berversagen oder zu einer progressiven Leberzirrhose führen. In der Folge kann sich ein hepatocelluläres Karzinom entwickeln.

- Alpha1-Antitrypsin(ATT)-Mangel: Der ATT-Mangel ist mit einer Inzidenz von 1:2000 in Mitteleuropa die am häufigsten zur LTX führende, angeborene Stoffwechselkrankheit (Kardorff, 2000). ATT wird vom endoplasmatischen Reticulum der Hepatozyten synthetisiert. Seine wichtigste Auf­gabe im Blut und anderen Körperkompartimenten liegt in der Hemmung eiweißabbauender Stoffe, z.B. Trypsin. Wird durch den Mangel an Antitrypsin zu­viel Eiweiß abgebaut, hat dies schwere Gewebeschädigungen zur Folge. Außer der Leber ist häufig die Lunge betroffen. Bei 5-10% der betroffenen Kinder entwickelt sich eine neonatale Cholestase. Eine Indikation zur Lebertransplantation besteht bei Kindern mit einer Zirrhose oder einer progressiven Dekompensation. Nach erfolgreicher Operation normalisiert sich durch die Enzymsynthese des neuen Organs die ATT- Serumkonzentration.

Eine weitere Indikation zur Transplantation können Stoffwechselerkrankungen sein, bei denen die Leber selbst nicht geschädigt ist, es aber aufgrund eines Leberenzymdefekts zur Schädigung anderer Organsysteme kommt. Ein Beispiel hierfür ist das Crigler-Najjar-Syndrom, bei welchem es durch das vollständige Fehlen der Bilirubin-Glucoronyltransferase in den Hepatozyten zu einem Kernikterus, der zentrale Degeneration von Nervenzellen infolge von Bilirubineinlagerungen, mit Zerebralschäden kommt.

1.3.3 Intrahepatische cholestatische Lebererkrankungen

- Neonatale Hepatitis : Diese cholestatische Lebererkrankung manifestiert sich im Laufe der ersten drei Lebensmonate, meistens jedoch vor der dritten Lebenswoche. Infektiöse Ursachen sind Viren, Bakte­rien, Protozoen und Pilze, die meistens von der Mutter übertragen werden. In etwa 50% der Fälle bleibt die Ätiologie jedoch ungeklärt (Schulte & Spranger, 1988). Kli­nisch zeigen sich neben einem Ikterus entfärbte Stühle, dunkler Urin und eine He­patosplenomegalie, sowie weitere gastrointestinale und neurologische Sym­ptome. Meist liegt eine inkomplette Cholestase vor. Histologisch finden sich eine gestörte Läppchenarchitektur, Leberzellnekrosen und Riesenzellen, hepatozelluläre und kanalikuläre Cholestase, portale entzündliche Infiltrationen und geringe portale Fibrose. Die Erkrankung kann Wochen bis Monate dauern und spontan ausheilen. Progrediente Verläufe, begleitet von Pruritus, Gedeihstörung und hepatischer Osteo­pathie, gehen in eine biliäre Leberzirrhose über.
- Morbus Byler: Diese Erkrankung gehört zu den familiären Cholestasen, welche autosomal rezessiv vererbt werden. Ihnen liegt eine intrahepatische Sekretionsstörung der Galle zugrunde. Leitsymptome sind eine in­komplette Cholestase und Juckreiz, chronische Gedeihstörungen, schubweiser Ver­lauf sowie normale intrahepatische Gallengänge. Beim Morbus Byler liegt wahrscheinlich eine Membranstörung der Gallen­kapillaren vor. Die Symptomatik entwickelt sich zwischen dem zweiten und neunten Lebensmo­nat mit rekurrierenden cholestatischen Episoden unter ausgeprägtem Juckreiz. Labor­chemisch fallen neben Hyperbilirubinämie stark erhöhte Gallensäuren bei einem normalem Serumcholesterinspiegel auf. Während die histologischen Veränderungen anfangs variabel und unspezifisch sind, entwickelt sich im Verlauf der Erkrankung stets eine biliäre Leberzirrhose (Schulte & Spranger, 1988).
- Intrahepatische Gallengangshypoplasie (Alagille-Syndrom ): Die Erkrankung ist durch eine verminderte Anzahl der interlobulären Gallengänge und Cholestase gekennzeichnet. Die Genese ist ungeklärt, in einem Teil der Fälle wurde ein autosomal dominanter Erbgang nachgewiesen. Außer der Gallengangs­hypoplasie besteht eine charakteristische Gesichtsdysmorphie mit breiter Stirn, weit auseinander stehenden Augen, einer langen gerade Nase und einem unterentwi­ckelten Unterkiefer. Des Weiteren finden sich kardiovaskuläre Fehlbildungen, Wir­belbogenanomalien und Anomalien der Augen (Embryotoxon). Zusätzliche Befunde können andere Augen- und Nierenfehlbildungen, Hypogonadismus, Minderwuchs und geistige Retardierung sein. Typisch ist ein frühzeitig ausgeprägter Juckreiz, während Xanthome der Haut in der Regel erst später auftreten. Die Häufigkeit der der Erkrankung wird auf 1:100000 unabhängig vom Geschlecht geschätzt (Rodeck, 2003). In 10-15% der Fälle entwickelt sich eine Fibrose oder Leber­zirrhose.

1.3.4 Akut-fulminantes Leberversagen

Das akute Leberversagen ist definiert als Entwicklung einer massiven Leberzell­nekrose innerhalb von acht Wochen, ohne dass ein vorheriger Organschaden vor­handen war. Die Ätiologie ist vielschichtig: Virale Infektionen, metaboli­sche Erkrankungen (z.B. Galactosämie, Fructoseintoleranz, Morbus Wilson), toxi­sche Ursachen (z.B. nach Einnahme von Acetylsalicylsäure, Paracetamol, Vergif­tung durch den Knollenblätterpilz) und vasculäre Ursachen wie das Budd-Chiari-Syndrom (Verschluss der Lebervenen durch Thrombosen oder angeborene membranöse Verschlüsse). Beim Reye-Syndrom mit hepatischer Enzephalopathie und diffuser feintropfiger Verfettung der Leber ist die Ätiologie unklar.

Klinisch imponieren diese Erkrankungen durch rapide Verschlechterung der Leberfunktion mit Erbrechen, schwerer Blu­tungsneigung, Ikterus, Aszites sowie kardiovaskuläre und respiratorische und dar­über hinaus neurologische Symptome, meist gefolgt von Koma und Tod des Kin­des. Trotz maximaler medizinischer Versorgung besteht ohne Transplantation eine Mortalität von 60-80% (Christensen, Bremmelgaard, Bahnsen, Andeasen & Tygstrup ,), wobei die Prognose von der Grundkrankheit abhängt.

1.3.5 Maligne Tumore

Bei Kindern, die aufgrund eines nicht resezierbaren malignen Lebertumors transplan­tiert werden, werden kurzfristig sehr gute Überlebensraten erzielt, im weiteren Ver­lauf sterben jedoch annähernd 50% durch ein Rezidiv der malignen Erkrankung (Starzl, Iwatsuki & Shaw). Die Fünf-Jahres-Überlebensrate bei Kindern mit hepatocellulärem Karzinom liegt bei 16%, bei den übrigen malignen Tumoren sind es 62% (Jurim, Seu & Busuttil, 1995).

1.4 Lebertransplantation als Behandlungsmethode

Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten eine Auswahl der am häufigsten zu einer Transplantation führenden Erkrankungen dargestellt wurde, soll nun auf die Transplantation als Behandlungsmethode, auch in ihrer historischen Entwicklung, eingegangen werden. Abschließend wird aufgezeigt, wie sich Kinder nach der Transplantation weiter entwickeln.

1.4.1 Historische Entwicklung der Lebertransplantation bei Kindern

Die erste Lebertransplantation (LTX) überhaupt wurde 1963 an einem dreijährigen Jungen mit biliärer Atresie durchgeführt (Otte, 2002). Der Patient verstarb an einer Blutung. Drei Jahre später gelang einem Ärzteteam aus Pittsburgh die erste erfolgreiche Lebertransplantation bei einem 18 Monate alten Patienten mit hepatocellulärem Karzinom (Starzl et al., 1986). Das Kind überlebte 13 Monate und verstarb schließlich aufgrund seiner extrahepatischen Metastasen.

Trotz dieses ersten Erfolges dauerte es noch Jahrzehnte, bis sich die Lebertransplantation beim Kind etablieren konnte. Dies lag vor allem an operativ-technischen Problemen, die sich durch die geringe Größe der anatomischen Strukturen ergaben, sowie an einem Mangel an kindlichen Spenderorganen. Hinzu kam, dass die damals durchgeführte Immunotherapie (insbesondere die hoch dosierte Gabe von Cortison) derart negative Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder hatte, dass sich die Transplantation zur Verbesserung der Lebensqualität kaum rechtfertigte.

Von 1967 bis 1980 wurden nur circa 20 Kinder pro Jahr lebertransplantiert, diese fast ausschließlich in den USA (Jurim et al., 1995). Ihre Zwei-Jahres Überlebensrate lag bei 30% (Otte, 2002).

Anfang der achtziger Jahre änderte sich diese Situation durch die Einführung des Cyclosporins A, das ein durch den Pilz Tolypocladium inflatum gams produziertes Polypeptid mit selektiver immunsuppressiver Wirkung darstellt. Ausserdem führte eine wachsende Zahl von Zentren Lebertransplantationen durch. Die Ein-Jahres-Überlebensrate bei Kindern erreichte im Jahre 1986 immerhin 60% (Shaw, Wood & Kelly , 1989), womit sie jedoch immer noch deutlich unter der bei Erwachsenen (80%) lag. Erst durch die Weiterentwicklung chirurgischer Techniken, der Verbesserung der intensivmedizinischen postoperativen Betreuung und der Verkürzung der Wartezeiten auf das Transplantat stieg die Ein-Jahres-Überlebensrate auf 85-90% (Broelsch et al, 1990; Salt et al., 1992). Ein besonderes Problem für Transplantationen im Kindesalter war die Tatsache, dass die meisten Krankheiten, die eine Lebertransplantation notwendig machen, angeboren sind. Da Spenderorgane von Kindern noch seltener sind als von Erwachsenen, ergab sich daraus die höhere Wartelistenmortalität bei Kindern.

Die Pittsburgher Gruppe berichtete noch 1986, dass 41 (24%) von 174 für eine Transplantation ausgewählten Kinder starben, während sie auf eine passende Spenderleber warteten. 1987 starben an derselben Klinik 55 (25%) von 207 Kindern, bevor ein Organ verfügbar war (Malatack et al.,1987). Selbst wenn nach längerer Wartezeit ein passendes Organ gefunden werden konnte, wurde der Erfolg einer Transplantation oftmals durch einen inzwischen verschlechterten Gesundheitszustand der Kinder negativ beeinflusst.

Ein Ausweg aus dieser Mangelsituation, der geeignet war, die Wartelistenmortalität zu senken, lag in einer alternativen Operationstechnik. Bereits 1975 war es T. E. Starzl zum ersten Mal gelungen, die Größe einer Spenderleber so zu reduzieren, dass sie einem Kind transplantiert werden konnte (Starzl & Demetris, 1990). Diese Methode war in den folgenden Jahren weiterentwickelt worden und konnte sich Mitte der Achtziger Jahre allmählich etablieren (Bismuth & Houssin, 1984; Broelsch, Neuhaus & Burdelski ,). Durch die Möglichkeit, Organe von Erwachsenen durch Reduktion auf Kinder zu transplantieren (reduced-size-liver transplant, RLT), konnten Transplantationen nun relativ unabhängig vom Größenverhältnis zwischen Spender und Empfänger durchgeführt werden. Während bisher galt, dass das Gewicht von Empfänger und Spender höchstens um 15% variieren darf, konnten nun auch Organe transplantiert werden, die von einem Spender stammten, der mehr als zehnmal soviel wog wie der kindliche Empfänger (Broelsch et al., 1988). Der Arbeitsgruppe um Edmond an der Universitätsklinik von Chicago gelang es zu zeigen, dass die Wartelistenmortalität durch RLT signifikant gesenkt werden konnte, ohne dass sich die Überlebenswahrscheinlichkeit für diese Kinder deutlich verschlechterte (77% Zwei-Jahres-Überlebensrate bei RLT gegenüber 83% Zwei-Jahres-Überlebensrate bei der herkömmlichen Methode). Dies führte zu einer wachsenden Akzeptanz der neuen Operationstechnik an immer mehr Zentren (Emond, Whitington & Thistlethwaite , 1989). Heute gilt sie in Europa, Australien und den USA als Standardtherapie besonders für kleine Kinder, bei denen die Erkrankung schnelles Handeln erfordert und kein passendes kindliches Organ gefunden wird.

Problematisch an den gestiegenen Behandlungserfolgen bei Kindern war zunächst die Tatsache, dass nicht verwendete Leberteile verworfen werden mussten. Da gleichzeitig mit der Entwicklung der RLT in Europa und den Vereinigten Staaten die Zahl der Lebertransplantationen bei Erwachsenen anstieg, ohne dass insgesamt mehr Spenderorgane zur Verfügung standen, stieg die Wartelistenmortalität bei Kindern erneut an. Am Saint Luc Hospital in Brüssel stieg die Sterblichkeit von 7,5% 1990 auf 15% 1993 (Otte, 1995).

1.4.2 Splitliver-Technik und Lebendspende

Einen Ausweg aus dieser Mangelsituation bot das in Hannover (Pichlmayr, Ringe, Gubernatis, Hauss & Bunzendahl, 1989) und unabhängig davon in Paris (Bismuth et al., 1989) entwickelte Verfahren, das die Verwendung beider Leberlappen eines Spenders möglich machte. So konnten zwei Patienten mit einem Organ versorgt werden. Diese Splitting-Technik (split-liver-transplant, SLT) bedingt einen hohen technischen Aufwand und beinhaltet dadurch ein höheres Risiko für Komplikationen. Da nur ein Leberteil den Gallenwegs- und Gefäßstamm enthalten kann, müssen die Strukturen im anderen Lappen aus Seitenästen rekonstruiert werden. Dies erhöht u.a. das Risiko für biliäre Komplikationen. Die Ergebnisse der Universitätsklinik von Chicago dokumentieren für Kinder, die den linken Leberlappen erhalten haben, eine Überlebensrate von 67% (Broelsch et al., 1990). Nach stetiger Verbesserung der chirurgischen Techniken sind die anfänglich mäßigen Erfolge der Splittingmethode inzwischen gestiegen. In Hamburg konnte durch Teilung der Leber in situ und der damit verkürzten Ischämiezeit des Organs, eine Patientenüberlebensrate von 93% und ein Transplantatüberleben von 86% nach sechs Monaten erreicht werden (Rogiers, 1996).

Der Organmangel bei pädiatrischen Patienten bleibt allerdings trotz der zunehmenden Transplantationen nach dem RLT- oder SLT-Prinzip ein großes Problem. Vor dem Hintergrund, dass der präoperative Ausgangszustand der Kinder als einer der wichtigsten prognostischen Faktoren gilt, mindert die Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes, während sie auf ein geeignetes Spendeorgan warten, die Erfolgsaussichten der Transplantation. So wurde mehrfach gezeigt, dass bei schwer mangelernährten Kindern mit einem Gewicht unter der 3er Perzentile und bei Patienten mit Bilirubinwerten über 300 μmol/l (Normbereich = <17 μmol/l) die Überlebenschancen nach der Transplantation deutlich sinken (Burdelski et al., 1992). Ursachen sind die erhöhte Infektanfälligkeit, die verminderte Toleranz von auftretenden Komplikationen und eine verzögerte Erholung nach der Operation. Aus diesen Gründen konzentrierte sich die Forschung weiterhin auf eine Verkürzung der Wartezeit.

Durch das RLT- und das SLT-Prinzip waren die technischen Voraussetzungen für Transplantationen von Lebersegmenten eines lebenden Spenders geschaffen (Rogiers, 1996). Dies gelang erstmals im Jahre 1988 Raia, Nery und Mies (1989) in Brasilien und Strong et al. (1990) in Australien. In dieser neuen Entwicklung lag die Chance, die nach wie vor hohe Wartelistenmortalität zu senken.

Die Universität von Chicago startete 1989 erstmals eine kontrollierte Studie über Lebertransplantationen von lebenden Spendern[1]. Innerhalb der folgenden 14 Monate wurden 21 Kinder mit Transplantaten von Lebenden versorgt (Heffron & Emond, 1992). Die Ein-Jahres-Überlebensrate der Kinder betrug 85%, die des Transplantates 75%. Zwischen April 1991 und April 1992 erhielten 19 Kinder an derselben Klinik ein Transplantat von einem lebenden Spender (Broelsch et al., 1991). In dieser Gruppe überlebten 18 Kinder (95%) die Nachbeobachtungszeit (15-24 Monate post OP).

Ein großer Vorteil der Lebendspende liegt in der Planbarkeit der Transplantation (Sterneck et al., 1996; Talbot, Buckels & Mayer, 1996). Die Kinder sind zum Transplantationszeitpunkt in einem besseren Gesundheitszustand als bei der Transplantation einer Kadaverleber, da die Operation unter selektiven Bedingungen stattfindet. Im Folgenden wird der Ausdruck Fremdspende synonym mit Kadaverorgan verwendet. Der Erfolg der Transplantation wird durch die zeitgleich stattfindenden Spender- und Empfängeroperationen zusätzlich positiv beeinflusst (Talbot et al., 1996). Die Inzidenz und die Schwere der Abstoßungsreaktionen bei den Kindern, die eine Lebendspende erhielten, unterscheiden sich allerdings entgegen anfänglichen Annahmen nicht von denen bei Patienten, die ein Fremdorgan erhielten (Allen, Lynch & Strong, 1997; Talbot et al., 1996). Insgesamt hat sich die Methode der Leberlebendspende bis heute zu einem gängigen und häufig angewandten Verfahren entwickelt (Roberts, Hulbert-Shearon, Merion, Wolfe & Port , 2004).

Für den Spender scheint die partielle Hepatektomie keinen negativen Einfluss auf die Funktion des Organs zu haben. Die Leberleistung bleibt selbst bei Entnahme von 50% des Organs stabil, das Organ regeneriert sich innerhalb weniger Wochen vollständig (Broelsch & Lloyd, 1993). Das Risiko für schwerwiegende chirurgische Komplikation beträgt laut H effron & Emond (1995) unter 1%, für geringfügigere Komplikationen 7%. In der zitierten Studie der Universität Chicago betrug die Überlebensrate der Spender 5-32 Monate nach der Operation 100%, ohne dass Langzeitkomplikationen auftraten.

Ethisch umstritten war und ist die Gefährdung eines gesunden Spenders durch die Entnahme von Leberteilen und die damit verbundenen Risiken einer Operation. Der Spender setzt sich einem Risiko aus, dem kein persönlicher gesundheitlicher Nutzen entgegengesetzt werden kann. Entscheidend ist eine sorgfältige Auswahl der in Frage kommenden Spender und eine umfassende Aufklärung über die Risiken der Operation und die weitestmögliche Versicherung der Freiwilligkeit des Spenders.

Eigler (1997) sieht die Gefahr, dass in der Öffentlichkeit der falsche Eindruck entsteht, durch die Option der Lebendspende wären keine Spendeorgane mehr notwendig. Diese Entwicklung könnte, gerade bei der ohnehin schon zurückgehenden Organspendebereitschaft in der Bevölkerung, für die Transplantationsmedizin negative Folgen haben. Ursprünglich geboren aus der Not der mangelnden Organverfügbarkeit und mit dem Ziel, die Wartelistenmortalität zu senken, könnte die Lebendspende nach dieser Argumentation so genau das Gegenteil erreichen.

1.4.3 Überleben und Wachstum von Kindern nach LTX

Seit den Anfängen der Lebertransplantation hat sich die Überlebensrate der Kinder enorm gesteigert. Während in Großbritannien von sieben bis 1983 transplantierten Kindern keines länger als sieben Wochen überlebte, betrug die Ein-Jahres Überlebensrate 1991 schon 60% (Van Mourik et al., 2000) geben eine Fünf-Jahres Überlebensrate mit 80% bis 85% an. Kogan-Liberman, Emre und Shneider berichten 2002 eine Ein- Jahres Überlebensrate von 85% bis 95%. Atkinson et al. (2002) bestätigen diese Zahlen für zwischen 1994 und 1999 transplantierte Kinder. Evrad et al. (2004) finden in einer retrospektiven Studie an 500 zwischen 1984 und 2000 transplantierten Kindern eine Fünf-Jahres Überlebensrate von 81%, eine Zehn-Jahres Überlebensrate von 79%.

Für unter elektiven Bedingungen transplantierte Kinder betragen die Überlebensraten bis zu 90% (Sokal, 1995). Lopez-Santamaria et al. (2003) geben in einer aktuellen Untersuchung sogar eine Fünf-Jahres-Überlebensrate von 96% nach Lebendspende an. Talbot et al. (1996) berichten, dass seit der Einführung der Lebendspende die Zahl der Lebertransplantationen beim Kind deutlich gestiegen ist. Alleine in den USA waren es 520 Kinder, die 1999 ein neues Organ erhielten (Bucuvalas & Ryckman, 2002).

Nach LTX liegt die Überlebensrate der Kinder sowohl kurzfristig wie auch auf lange Sicht 10-15% über der Erwachsenenrate (Jurim et al., 1995). Sie ist unabhängig vom Alter des Kindes, d.h., es spielt keine Rolle, ob es sich um einen Säugling oder ein Schulkind handelt. Deutliche Unterschiede werden hingegen in der Überlebenschance in Bezug auf den präoperativen Ernährungszustand berichtet (Chin et al., 1991). 95% der Kinder mit einer vor der Transplantation weniger schweren Mangelernährung überlebten postoperativ drei Jahre, wohingegen nur noch 56% der Kinder lebten, die präoperativ wegen ihres Krankheitsverlaufs stark unterernährt waren. Van Mourik et al. (2000) berichten, dass die in ihrer Studie post LTX verstorbenen Kinder vor der Transplantation den schlechtesten Ernährungszustand hatten, während sich der Ernährungszustand der übrigen Kinder nach 12 bis 24 Monaten normalisierte.

Aufgrund der präoperativen Lebererkrankung, postoperativen Komplikationen und der Immunosuppressionstherapie kann die Körpergröße bei Kindern nach einer Transplantation vermindert sein. Sokal (1995) berichtet über den postoperativen Wachstumsverlauf von 55 Kindern, die eine LTX bei Gallengangsatresie erhielten. Das Wachstum der präoperativ minderwüchsigen Kinder nahm zwar zu Beginn der postoperativen Phase weiter ab, stieg jedoch im zweiten und dritten postoperativen Jahr so stark an, dass 75% der Kinder nach drei Jahren mit ihrer Größe über der 3. Perzentile lagen. Van Mourik et al. (2000) bestätigen dieses Ergebnis für Kinder, die prä LTX ein stark unterentwickeltes Wachstum gezeigt hatten. Spolidero et al. (1998) dokumentiert für 16 von 19 Kindern ein postoperativ beschleunigtes oder normales Wachstum. Drei Kinder zeigten ein vermindertes Wachstum, wobei die Autoren darauf verweisen, dass diese Patienten wegen wiederholter Abstoßungen höhere Steroiddosen erhielten. Atkinson et al. (2002) berichten von 87% ihrer untersuchten Stichprobe nach LTX normales Wachstum.

2. Selbstwert und Selbstwirksamkeit

Bevor in Kapitel 3 ein Forschungsüberblick zum Selbstwert und zur Selbstwirksamkeit bei Kindern und Jugendlichen nach Lebertransplantationen gegeben wird, soll zunächst der Untersuchungsgegenstand allgemein eingeführt werden. Dazu wird in Kapitel 2.1 zunächst das zugrunde liegende Selbstkonzept beleuchtet. Für das Verständnis der verwendeten Konstrukte werden in den Kapiteln 2.2 und 2.3 die relevanten Theorien dargestellt. Anschließend werden diese in Kapitel 2.4 aufeinander bezogen.

2.1 Selbstkonzept

Das Selbst ist als Thema mit reichhaltigen und vielfältigen Forschungsfragen assoziiert. Der frühere Zustand eines „ theoretischen Vakuums“, den Filipp noch 1980 (S. 106) feststellen musste, ist inzwischen überwunden. Das Konzept des Selbst hat im Laufe der Jahre unter anderem in Subdisziplinen der Psychologie wie der Persönlichkeitspsychologie, der kognitiven Psychologie, der klinischen Psychologie, der medizinischen Psychologie und insbesondere der Sozialpsychologie und in der Entwicklungspsychologie an theoretischer Basis gewonnen. Dieser Fortschritt bringt auch negative Aspekte mit sich. Aufgrund zahlreicher vorhandener Konzeptionen des Selbst, die sich nicht immer vollständig decken und zum Teil widersprechen, wird das Selbst in verschiedenen Kontexten eingesetzt und darüber hinaus meistens fälschlicherweise auch mit dem Konzept der Identität gleichgesetzt. Das Selbst entspricht aber lediglich einer Komponente des Konstruktes der Identität, nämlich der Selbsterkenntnis und der Vorstellung eines Individuums darüber, „was man ist“. Darüber hinaus beinhaltet das Konzept der Identität noch zwei weitere Aspekte: das Vorherrschen von interindividuellen Unterschieden, die aufgrund von einzigartigen charakteristischen Zügen eines jeden Individuums zustande kommen, und das Persönlichkeitsbild, das andere von einem selbst haben (Oerter & Montada, 2002).

Im Hinblick auf die theoretische Konzeption des Selbst lassen sich zwei Forschungsansätze identifizieren. In einigen Untersuchungen zum Selbstkonzept und Selbstbild wird das Selbst überwiegend als „facettenreiche dynamische Struktur von relativ überdauernden Selbstkonzeptionen oder Selbstschemata“ (Staudinger & Greve, 1997, S. 4) beschrieben. Demzufolge beinhaltet das Selbstkonzept mehrere Komponenten, die je nach Kontext aktiviert werden und somit die dynamische Eigenschaft des Selbstkonzeptes widerspiegeln, wobei seine globale Ebene als konstant angesehen wird. Als Erweiterung dazu befassen sich andere Studien mit den selbstregulativen Prozessen wie Selbstbewertung, Bewältigungsstrategien und Handlungskontrollüberzeugung des Individuums. Damit sind Fähigkeiten und Fertigkeiten gemeint, die zur Überwachung und Koordination des Erlebens und Verhaltens dienen. Das Ziel dieses Systems besteht in der Wiederherstellung und Erhaltung des persönlichen Wohlbefindens. Die zum Teil unbewussten inneren Prozesse eines Individuums bezüglich seiner Zielauswahl, seiner Bewältigung vorhandener Umweltanforderungen und der Verbesserung bzw. Aufrechterhaltung seines Selbstwertgefühls gehen über die bloße Vorstellung des Individuums und somit dem erstgenanten Forschungsansatz hinaus.

Aufgrund der Relevanz und des beträchtlichen Beitrages der Sozialpsychologie und Entwicklungspsychologie in der Selbstkonzeptforschung werden diese im Folgenden fokussiert. In den ersten psychologischen Diskussionen des Selbst hat James (1891) mit seiner Annahme, dass das Selbst nur im sozialen Kontext denkbar wäre, die Vorreiterrolle in der Sozialpsychologie eingenommen. Später kam es zu den weiteren theoretischen Konstruktionen wie dem symbolischen Interaktionismus von Mead (1934). In der Entwicklungspsychologie gab es diesbezüglich die ersten Ansätze bei Bühler (1933) und Jung (1928), die die Realisierung des Selbst als Ziel der Entwicklung betrachtet haben.

Aus den beiden voneinander unabhängigen Forschungsansätzen bzw. Subdisziplinen haben sich drei einflussreichste Theorien in der Erforschung des Selbst herauskristallisiert:

- Die Theorie selbstbezogener Inhalte und Prozesse stellt das Konzept der Entwicklungsaufgabe dar. Zum einen verarbeitet das Selbst die Veränderungen im Laufe des Lebenslaufes, wobei es ebenfalls von diesen geprägt wird. Zum anderen löst das Selbst die Veränderungen teilweise auch aus und kann diese somit beeinflussen und steuern. Es findet eine Interaktion zwischen dem Selbst und der Umwelt statt (Cantor & Fleeson, 1994);
- In Anlehnung an die theoretischen Konstruktionen des Selbst von Vygotsky, Mead und Schütz wird in der letzten Zeit versucht, die eben geschilderte Annahme einer Interaktion zwischen Selbst und Kontext als sozial-interaktive Parad igmen in die Selbstkonzeptforschung zu integrieren (Baltes & Staudinger, 1996);
- Schließlich gibt es viele Untersuchungen, die die Handlungstheorie als theoretischen Hintergrund benutzen. Diese beschreibt selbstbezogene Anpassungs- und Entwicklungsprozesse (Gollwitzer & Bargh, 1996).

Im Hinblick auf die innere Struktur des Selbst hat sich folgende Vorstellung durchgesetzt. Laut Greve (2000) besteht das Selbst aus 12 Strukturfacetten, die aufgrund der folgenden drei Dimensionen zustande kommen. Es existiert einmal eine Zeitdimension, die in retrospektive, aktuelle und prospektive differenziert werden kann. Danach folgt auf der zweiten Ebene die Differenzierung zwischen dem realen und möglichen Selbst. Die letzte Dimension beinhaltet die kongnitiv-beschreibende und emotional-bewertende Sicht der eigenen Person. Das damit verbundene Fähigkeitskonzept als kognitive Repräsentation der eigenen Kompetenz kann der ersten und das Selbstwertgefühl als affektive Bewertung der eigenen Person dem letzterem Aspekt der dritten Dimension zugeordnet werden. Die Selbstwirksamkeit entspringt als Kompetenzerwartung dem Fähigkeitskonzept. Die bereits erwähnte dynamische Eigenschaft des Selbst spiegelt sich in der Variationsbreite des Selbstwertes und der Wirksamkeitsüberzeugung, wobei das allgemeine Selbstkonzept eher als stabil betrachtet wird, wider.

2.2 Selbstwirksamkeit

Ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen besteht darin, die Ereignisse in der Umwelt beeinflussen und kontrollieren zu wollen. Dies wird von dem Wunsch geleitet, das erwünschte Ergebnis erzielen zu können und dabei möglichst keine unvorhergesehenen Situationen erleben zu müssen. Bereits im Kindesalter kommt es zu Wunschempfindungen, anhand des eigenen Verhaltens in die Umwelt einzuwirken. Im ersten Lebensjahr zählt die Freude am Effekt zu diesem Bedürfnis (effectance motivation). Danach folgt im zweiten und dritten Jahr die Tendenz, etwas selbst machen zu wollen. Mit der Einschulung zeigt sich die enge Verbindung mit der Leistung. Der Glaube an eigener Einflussmöglichkeit auf die Umwelt stellt hier einen der besten Prädiktoren schulischer Leistung dar (Oerter & Montada, 2002).

Der zugrundeliegende Mechanismus wird unter anderem als wahrgenommene Selbstwirksamkeit (perceived self-efficacy) bezeichnet und spielt eine zentrale Rolle in der weit verbreiteten und empirisch mehrfach gesicherten Sozial-Kognitiven Theorie von Bandura (1997). Das Konstrukt der Selbstwirksamkeit wurde von Bandura als wichtiger Bestandteil von Handlungsprozessen beschrieben. Folgendes Zitat verdeutlicht seine Vorstellungen: „Perceived self-efficacy refers to beliefs in one`s capabilities to organize and execute the courses of action required to produce given attainments” (Bandura, 1997, S. 3). Demnach spiegelt diese „Ich kann“ – Kognition bei einem Individuum das Gefühl der Kontrolle über die Umwelt wider.

Es existieren in diesem Zusammenhang zwei Arten von konstruktiven Überzeugungen: Ergebniserwartung (outcome expectancy) und Selbstwirksamkeit (self efficacy). Erstens muss die Person davon überzeugt sein, dass es Handlungen gibt, die zum erwünschten Ziel führen können. Ausserdem ist damit die Vorstellung möglicher Konsequenzen der Handlung verbunden. Dazu stellt sie sich folgende Leitfragen: Welchen Einsatz muss ich aufbringen, um das Ziel zu erreichen? Wie sicher ist es, mit der ausgewählten Handlung das Ziel zu erreichen? Welche Auswirkungen könnte die Ausführung der Handlung haben? Zweitens muss die Person selbst in der Lage sein, die notwendige Handlung ausführen zu können. Folgende Fragen werden dann gestellt: Welches Potential besitze ich? Reicht dieses Potenzial auch aus, damit ich zumindest teilweise erfolgreich sein kann? Bandura (1992) sammelte zahlreiche Befunde, wonach sich lediglich die Selbstwirksamkeit als zentraler Motivationsfaktor erwiesen hat. Je höher die Selbstwirksamkeit eingeschätzt wird, desto leichter fällt die Alltagsbewältigung, weil man in dem Fall genügend motiviert ist, diese Überzeugung in aktives angemessenes Handeln umzusetzen. Hier wird deren große Nähe zu konkreten Handlungsoperationen deutlich. Auch Schwarzer (1994) ist der Ansicht, dass man die generalisierte Ergebniserwartung, die die Grundlage des „dispositionalen Optimismus“ (Scheier & Carver, 1992) bildet, von der Kompetenzerwartung abgrenzen sollte. Denn Optimismus bedeutet lediglich die Zuversicht, dass die Geschehnisse sich von allein und ohne eigenen Beitrag gut entwickeln werden. Nichtsdestotrotz ist Optimismus ein notwendiger Bestandteil der Selbstwirksamkeit (Bandura, 1977). Als „funktionaler Optimismus“ nämlich repräsentiert dieser den Glauben an eigene positive handlungsrelevante Ressourcen (optimistic self-beliefs), aufgrund deren das Individuum zu den Herausforderungen angeregt wird.

Die Einschätzung der eigenen Selbstwirksamkeit beeinflusst viele andere handlungsrelevante intrapersonelle Prozesse wie Motivation, Gedanken und Emotionen. Dementsprechend geht man von ihren zahlreichen Effekten auf das Verhalten aus. Der Umgang mit schwierigen und konfliktbehafteten Situationen wird besonders von Bandura (1997) in seiner Theorie fokussiert. Das Wirksamkeitsgefühl bestimmt, ob und welche Art der Bewältigungsstrategien angewandt wird, mit welcher Ausdauer man die Handlung ausführt, das Ausmaß der Anstrengung, wie lange man angesichts der Schwierigkeiten auf der Ausführung der Handlung beharrt, die Höhe der Widerstandsfähigkeit, die Interpretation der aufgetretenen Problemen, mit welchen Kosten die Bewältigung unerwünschter Ereignisse einhergeht. Die Personen mit positivem Fähigkeitskonzept erholen sich schneller von Rückschlägen und tendieren zur Exploration der Umwelt (Bandura, 1991). Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Wirksamkeitsglaube sich je nach Ausrichtung entweder als selbsthemmend (Barriere) oder als selbstförderlich (Herausforderung) auswirkt. Denn dieser bestimmt letztendlich das Ausmaß der erbrachten Leistung und somit auch zum Teil das Handlungsergebnis. Die Selbstregulierung spielt in diesem Zusammenhang ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle. Unter Selbstregulierung wird hier die Art und Weise verstanden, wie sich die Person eigene Ziele setzt, die dazu beitragen, dass sie motiviert ist und eher zu einem guten Ergebnis kommt, als wenn sie sich keine inneren Standards, die sie erfüllen möchte, gesetzt hätte. Somit reguliert sie ihren Erfolg in einem gewissen Maß selbst (Bandura, 1997).

Ein gutes Beispiel für Selbstregulierung und Selbstwirksamkeit liefert ein Experiment, das Bandura und Cervone im Jahre 1983 durchführten (Pervin, 2000). Die Versuchspersonen nahmen an einem Wettkampf teil, bei dem sie mit jeweils einem Gegner antraten. Man wollte den Einfluss der Selbstwirksamkeit auf die tatsächliche Leistung messen und manipulierte daher die Einstellung der Versuchspersonen zum Wettkampf im Voraus, indem man ihnen erzählte, sie würden a) gegen jemanden mit einer Knieverletzung oder b) gegen den Läufer einer Schulmannschaft antreten. Die erbrachte Leistung wurde als angewandte Kraft der Beinmuskulatur, die mit Hilfe eines Ergometers gemessen wurde, operationalisiert. Man ging davon aus, dass die Versuchspersonen, welche gegen den verletzen Gegner antreten würden, ihre Selbstwirksamkeit höher einschätzen und dementsprechend eine höhere Leistung erbringen würden als die Versuchspersonen, welche gegen den trainierten Läufer antreten sollten. Diese Hypothese wurde bestätigt. Die Versuchspersonen mit hoher Selbstwirksamkeit (die gegen einen verletzten Gegner angetreten sind) schnitten in dem Experiment deutlich besser ab als jene mit niedriger Selbstwirksamkeit (die gegen einen trainierten Gegner angetreten sind). Dieses Beispiel schildert eindrucksvoll, wie stark die Beurteilung der Selbstwirksamkeit den Erfolg einer Person beeinflussen kann.

Des Weiteren beinhaltet die Sozial-Kognitive Theorie die Annahme, dass das Selbst nicht in den Erlebenden (object) und den Handelnden (agent) aufgeteilt werden kann, sondern dass das Individuum gleichzeitig über beide Rollen verfügt. Es ist ein und dieselbe Person, die einerseits das eigene Verhalten reflektiert, das Ausmaß eigener Fähigkeiten und Fertigkeiten aufgrund von Erfahrungen in der Umwelt evaluiert, und andererseits selbst auch solche auslöst. Das heißt, dass der Mensch als Produzent und Produkt des sozialen Systems betrachtet werden kann. In diesem Zusammenhang spricht Bandura (1986) von einem triadischen reziproken Determinismus (triadic reciprocal causation). Demnach hat Bandura drei wichtige Determinanten, die in einer interdependenten kausalen Beziehung zueinander stehen, identifiziert. Es handelt sich um interne personale Faktoren wie Kognition, Affekt und biologische Ausstattung; Verhalten; und Umweltereignisse. Die Interaktion zwischen den drei Faktoren verläuft in Form eines bidirektionalen Einflusses zwischen jeweils zwei Faktoren. Die Art und Stärke dieser Wechselwirkungen variiert jedoch unter verschiedenen Bedingungen. Die Struktur des entsprechenden Mechanismus ist in der Abbildung 1 dargestellt.

Person

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Verhalten Umwelt

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Triadischer reziproker Determinismus der Sozial-Kognitiven Theorie von Bandura

Da die wahrgenommene Selbstwirksamkeit dem Faktor „Person“ zugeordnet ist, ist diese zusammen mit diesem Faktor ein Bestandteil des triadischen Netzwerkes. Dieses Netzwerk steuert im weitesten Sinne das Management von Umwelteinwirkungen. Die innerpsychischen Prozesse eines Individuums bestimmen das Verhalten, das einerseits auf die Umwelt einwirkt und andererseits sich mittels Selbstreflexion umgekehrt auf die Person auswirkt. Die Kompetenzerwartung kann demnach von dem wahrgenommenen ausgeführten Verhalten beeinflusst werden. Der zusätzliche Einfluss erfolgt direkt vom sozialen System. Die Ereignisse in der Umwelt und das Resultat der ausgeführten Handlung ermöglichen als Rückmeldung eine Revision der Einschätzung der eigenen Kompetenz.

Der genaue Prozess der Modifikation der Selbstwirksamkeit wird in der Forschung weitestgehend homogen betrachtet. Dazu hat Bandura (1997) vier wichtige Quellen genannt:

- Die erste Einflussquelle stellt eine selbst ausgeführte Handlung (personal accomplishment) dar, vorausgesetzt diese kann wiederholt werden und das Ergebnis wird internal attribuiert (eigene Fähigkeiten als Ursache angesehen);
- Die stellvertretende Erfahrung (vicarious experience) wird als zweite Einflussquelle betrachtet. Angelehnt an das Phänomen des Modellernens besteht die Möglichkeit, durch das bloße Beobachten einer Person beim (erfolgreichen) Bewältigen schwieriger Aufgaben, den eigenen Wirksamkeitsglauben bezüglich dieser Situation verstärken zu können;
- Falls man von anderen hinsichtlich der eigenen Kompetenz überzeugt wird, dann handelt es sich um eine symbolische Erfahrung (symbolic experience), die ebenfalls ein Modifizierungspotential besitzt;
- Zuletzt kann die emotionale Erregung (emotional arousal) angesichts bedrohlicher Umweltreize in Form von Angst zum Unfähigkeitsgefühl führen. Die vier Einflussquellen der Selbstwirksamkeit können in ihrem Ausmaß und in ihrer Wichtigkeit für das Individuum variieren.

2.3 Selbstwert

In den letzten 50 Jahren hat das Konzept des Selbstwertes (self-esteem) einen wichtigen Platz insbesondere in Sozialpsychologie eingenommen. Die Forschungsansätze beziehen sich sowohl auf den globalen Selbstwert, der die Einstellung des Individuums zu sich selbst als eine Einheit darstellt, als auch auf den spezifischen Selbstwert.

Gegenwärtig tendiert man dazu, die beiden Forschungsansätze aufeinander zu beziehen. Diesen Versuch hat auch Marsh (1990) unternommen, in dem er betonte, dass der Mensch sowohl über eine allgemeine Einstellung gegenüber einem Objekt als auch gegenüber seinen einzelnen Facetten verfügen kann. Zum Beispiel kann ein Bürger zu seiner Herkunftsstadt im Allgemeinen positiv eingestellt sein, gleichzeitig aber eher eine negative Einstellung gegenüber dem wirtschaftlichen Zustand, der Infrastruktur und den mangelnden Freizeitmöglichkeiten in dieser Stadt empfinden. Dementsprechend kann die Einstellung eines Menschen zu sich selbst sowohl positive als auch negative Komponente beinhalten. Es handelt sich also um zwei nicht äquivalente Phänomene, die sich aber nicht zwingend ausschließen. Dies wurde empirisch bestätigt. Marsh (1986) hat die statistische Beziehung zwischen dem globalen und spezifischen Selbstwert untersucht. Dafür wurden Zusammenhänge zwischen 12 Facetten des Selbst und dem globalen Selbstwert mittels Selbstbeschreibungen ermittelt. Die resultierenden Korrelationen variierten zwischen r=.06 und r= .60, was die vorherige Vorstellung bestätigt, nämlich dass die beiden Konzepte zwar Überlappungen aufweisen (mittlere Korrelation vorhanden), sich aber gegenseitig trotzdem nicht völlig ersetzen können (zu geringe Übereinstimmung).

Es wurde mehrmals ein Versuch unternommen, die Diskrepanz zwischen den beiden Phänomenen bzw. den verschiedenen zugrunde liegenden Mechanismen zu untersuchen. Die folgende Hypothese ist diesbezüglich eine der wichtigsten Annahmen. Diese besagt, dass der spezifische Selbstwert stärker das Verhalten determiniert, während der globale Selbstwert sich stärker auf psychologisches Wohlbefinden eines Menschen auswirkt. Fishbein und Azjen (1975) waren der Ansicht, dass die hohe Vorhersagekraft des spezifischen Selbstwertes hinsichtlich des Verhaltens durch die gemeinsame enge Beziehung erklärbar ist. Denn je spezifischer die Einstellung, desto näher befindet sich diese an der spezifischen Aktivität und desto besser kann diese das entsprechende Verhalten determinieren bzw. vorhersagen. An dieser Stelle wird die Parallele zum Konzept der eingeschätzten Selbstwirksamkeit von Bandura (1997) deutlich. Die situationsspezifischen Selbstwirksamkeitserwartungen wirken sich ebenfalls unterschiedlich auf verschiedene Verhaltensweisen aus. Aufgrund der funktionalen engen Beziehung zum Verhalten und der Ähnlichkeit mit dem Mechanismus der Selbstwirksamkeit, die selbst eine Kognition (die Vorstellung eigener Fähigkeiten) darstellt, scheint der spezifische Selbstwert kognitiven Charakter aufzuweisen.

[...]


[1] In Deutschland sind nur genetisch und emotional Verwandte gesetzlich akzeptiert.

Ende der Leseprobe aus 113 Seiten

Details

Titel
Selbstwert und Selbstwirksamkeit lebertransplantierter Kinder und Jugendlicher
Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig
Note
1
Autor
Jahr
2007
Seiten
113
Katalognummer
V85189
ISBN (eBook)
9783638892278
ISBN (Buch)
9783656205548
Dateigröße
1453 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Selbstwert, Selbstwirksamkeit, Kinder, Jugendlicher
Arbeit zitieren
Elvira Lorenz (Autor:in), 2007, Selbstwert und Selbstwirksamkeit lebertransplantierter Kinder und Jugendlicher, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85189

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