Das Aufkommen sezessionistischer Tendenzen berührt im Kern immer auch ein zentrales Problem der politischen Philosophie: die moralische Rechtfertigbarkeit politischer Herrschaft. Das Infragestellen bestehender Verhältnisse der Machtverteilung und -ausübung innerhalb eines Staates impliziert stets zwei wesentliche Aspekte, der sich jede ernsthafte Theorie einer Moral politischer Herrschaft annehmen muss. Nämlich erstens, was einen beliebigen Träger politischer Macht zu dessen besonderem Status berechtigt und zweitens, ob und (wenn ja) warum man verpflichtet ist, Regeln und Gesetze zu befolgen, die dieser erlässt?
Die Geschichte hat gezeigt, dass Sezession keine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist. Weiterhin muss man konstatieren, dass trotz umfassender Dekolonisierungsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg und der Konsolidierung des internationalen Staatensystems im Rahmen der Vereinten Nationen die Neubildung von Staaten durch Sezession auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein aktuelles Thema bleibt. Es stellt sich also die Frage nach dem Warum, oder besser danach, ob mit zunehmender Umsetzung des Prinzips der Selbstbestimmung der Völker in die Neugründung souveräner Staaten in den letzten sechzig Jahren eine Entwicklung entfacht worden ist, die perspektivisch zu einer unüberschaubaren Zersplitterung der Staatenwelt und zum Bedeutungsverlust von Nationalstaaten führen könnte.
Während die Vereinten Nationen in ihrem Gründungsjahr 1945 noch aus 51 Mitgliedern bestanden, wehen heute bereits die Landesflaggen von 192 souveränen Staaten am East River in New York. Jüngstes Mitglied der UN und aktuellstes Beispiel für eine erfolgreiche Staatensezession ist die Republik Montenegro, deren Bürger sich per Referendum zum Austritt aus der Union mit Serbien entschieden haben und die UN-Generalsekretär Kofi Annan am 28. Juni 2006 offiziell im Kreise der Vereinten Nationen begrüßt hat. Die junge Eigenstaatlichkeit Montenegros bildet den konkreten Anlass, aus politisch-philosophischer Sicht anhand verschiedener Aspekte aufzuzeigen, dass Staatensezession im Allgemeinen, und das montenegrinische Beispiel im Besonderen, unter bestimmten Voraussetzungen moralisch legitim ist.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Sezessionstheorien im Überblick
1.1. Remedial Right Only Theories
1.2. Primary Right Theories
2. Politische Ordnungsversuche auf dem Balkan
2.1. Der Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens
2.2. Der Bosnienkrieg (1992-1995)
2.3. Der Kosovokrieg (1998-1999)
3. Das Referendum über die Trennung Montenegros von Serbien
3.1. Politischer Aspekt: Warum wurde abgestimmt?
3.2. Territorialer Aspekt: Worüber wurde abgestimmt?
3.3. Prozessualer Aspekt: Wie wurde abgestimmt?
4. Folgeorientierte Bedenken zur montenegrinischen Eigenstaatlichkeit
4.1. Weitere Fragmentierung der Region?
4.2. Gerechte Verteilung der Scheidungsfolgen?
Schlussbetrachtung
Literatur- und Quellenverzeichnis
Einleitung
Moderne Staatlichkeit, wonach wir Staaten heutzutage als leistungsfähige, territorial einheitliche und homogene Entitäten mit einem funktionierenden Gewaltmonopol ansehen, hat ihre Wurzeln bereits im 17. und ihre Blüte im 19. Jahrhundert. Diese Ansicht konnte sich im internationalen Maßstab rasch als normativer Standard etablieren. Geographische Einheiten, staatliche Zugehörigkeit und politische Verantwortung stehen darin gewöhnlich in klarer Beziehung zueinander. „Über und durch Staaten sollen Sicherheit und Wohlfahrt der Bevölkerung gestaltet und abgesichert werden; zugleich sind sie die Akteure der internationalen Strukturpolitik.“1
Obwohl mit der Gründung der Vereinten Nationen und der weitgehenden Durchsetzung des Völkerrechts erhebliche Fortschritte in Sachen Staatskonsolidierung sowie v. a. bei der Etablierung von Strategien zur gewaltfreien Konfliktbeilegung erzielt worden sind, scheint dieser Prozess zugleich auch eine Entwicklung in Gang gesetzt zu haben, welche die gängige Auffassung von Staatlichkeit ins Wanken bringen könnte. In der Wissenschaft kursiert dazu eine Vielzahl von Begriffen, die alle mehr oder weniger genau das Phänomen fragiler bzw. zerfallender Staaten beschreiben; Staaten also, deren Legitimität, Homogenität und Handlungsfähigkeit sowohl im Innern wie auch nach außen erheblich bedroht sind.2
Zwar soll die Debatte über solche „failed states“ keineswegs Gegenstand dieser Arbeit sein. Wohl aber ein Phänomen, dessen Ursprung durchaus in charakteristischen Merkmalen fragiler Staaten zu finden ist, wie z.B. in der Nichtahndung der Verletzung elementarer Menschenund Bürgerrechte wegen fehlender, ineffizienter oder korrupter Strafverfolgungsbehörden, in ethnischen oder religiösen Konflikten aufgrund verfehlter oder vernachlässigter Integrationspolitik oder in der Unterminierung fundamentaler demokratischer Werte durch Korruption, Amtsmissbrauch, Patronage und dergleichen mehr. Neben diesen ließen sich weitere Merkmale dysfunktionaler Staaten anführen, aus denen separatistische Strömungen innerhalb einer Gesellschaft ihre Impulse erfahren können.3
Das Aufkommen sezessionistischer Tendenzen berührt im Kern immer auch ein zentrales Problem der politischen Philosophie: die moralische Rechtfertigbarkeit politischer Herrschaft. Das Infragestellen bestehender Verhältnisse der Machtverteilung und -ausübung innerhalb eines Staates impliziert stets zwei wesentliche Aspekte, der sich jede ernsthafte Theorie einer Moral politischer Herrschaft annehmen muss. Nämlich erstens, was einen beliebigen Träger politischer Macht zu dessen besonderem Status berechtigt und zweitens, ob und (wenn ja) warum man verpflichtet ist, Regeln und Gesetze zu befolgen, die dieser erlässt?4 Die Geschichte hat gezeigt, dass Sezession keine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist. Weiterhin muss man konstatieren, dass trotz umfassender Dekolonisierungsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg und der Konsolidierung des internationalen Staatensystems im Rahmen der Vereinten Nationen die Neubildung von Staaten durch Sezession auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein aktuelles Thema bleibt. Es stellt sich also die Frage nach dem Warum, oder besser danach, ob mit zunehmender Umsetzung des Prinzips der Selbstbestimmung der Völker in die Neugründung souveräner Staaten in den letzten sechzig Jahren eine Entwicklung entfacht worden ist, die perspektivisch zu einer unüberschaubaren Zersplitterung der Staatenwelt und zum Bedeutungsverlust von Nationalstaaten führen könnte.5 Während die Vereinten Nationen in ihrem Gründungsjahr 1945 noch aus 51 Mitgliedern bestanden, wehen heute bereits die Landesflaggen von 192 souveränen Staaten am East River in New York.
Jüngstes Mitglied der UN und aktuellstes Beispiel für eine erfolgreiche Staatensezession ist die Republik Montenegro, deren Bürger sich per Referendum zum Austritt aus der Union mit Serbien entschieden haben und die UN-Generalsekretär Kofi Annan am 28. Juni 2006 offiziell im Kreise der Vereinten Nationen begrüßt hat.6 Die junge Eigenstaatlichkeit Montenegros bildet den konkreten Anlass, aus politisch-philosophischer Sicht anhand verschiedener Aspekte aufzuzeigen, dass Staatensezession im Allgemeinen, und das montenegrinische Beispiel im Besonderen, unter bestimmten Voraussetzungen moralisch legitim ist. Dies unter Rückgriff auf (a) einschlägige philosophische Texte zu Politischer Selbstbestimmung, Legitimität von Herrschaftsausübung und Sezession sowie (b) Schriften zur politischen Lage auf dem Balkan v. a. in den neunziger Jahren und (c) tagesaktuelle Medienberichte und politische Dokumente darzulegen, soll das Ziel sein.
Eine Darstellung der wichtigsten Sezessionstheorien wird den Hauptteil einleiten und die theoretische Folie für alles Weitere bilden. Als realpolitisches Pendant dazu dienen die folgenden Ausführungen zu den jüngeren politischen Ordnungsversuchen auf dem Balkan, die selten von Dauer und ihrerseits häufig Ursache neuer Konflikte waren. Ende des 20. Jahrhunderts befand sich der Balkan in einem Zustand, „wie er ihn verheerender in seiner ganzen Geschichte nicht erlebt hat. Noch nie haben sich seine Völker mit einem solchen Hass und mit einer solchen Zerstörungswut bekämpft wie in den innerjugoslawischen Kriegen.“7 Die Kriege in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo sollen dahingehend näher erläutert werden. Im Anschluss daran wird das Referendum über die Unabhängigkeit Montenegros behandelt und die Legitimität von dessen Ausgang anhand von drei Aspekten hinterfragt, die bedeutend erscheinen. Erstens, weshalb überhaupt abgestimmt worden ist, ob sich also ein vernünftig nachvollziehbarer Grund für das Votum finden lässt? Zweitens die Frage nach der moralischen Vertretbarkeit der territorialen Veränderung und drittens nach dem rechtlichen Rahmen des Abstimmungsprocedere und dessen moralischer Akzeptabilität. Die Diskussion zweier in der Literatur häufig wiederkehrender Bedenken bezüglich der Folgen einer allzu liberalen Ausübung des Rechts auf Sezession schließt den Hauptteil ab, auf den eine umfassende Schlussbetrachtung folgt.
1. Sezessionstheorien im Überblick
In der philosophischen Auseinandersetzung mit der Frage, ob es grundsätzlich ein Recht auf Sezession geben kann - abgesehen von eventuellen konstitutionellen Sezessionsrechten - haben sich zwei Richtungen normativer Theorien entwickelt, die Remedial Right Only Theories (RRO) und die Primary Right Theories (PR).8 Erstere gehen davon aus, dass Sezession ausschließlich in Fällen gerechtfertigt ist, in denen der sezessionswilligen Gruppe zuvor ein elementares Unrecht widerfahren ist, wofür Sezession als einzig probate Lösung erscheint. Sezession ist in diesem Kontext ausschließlich gegen Staaten legitim, die im neutralen und nicht-kontroversen Sinne als ungerecht bezeichnet werden können. Letztere hingegen gewähren auch gegen gerechte Staaten (Demokratien) ein grundsätzliches Recht auf Sezession, für dessen Wahrnehmung zwar ebenfalls bestimmte Voraussetzungen gegeben sein müssen, die jedoch andere sein können, als das Erleiden eines gravierenden Unrechts.9
1.1. Remedial Right Only Theories
Geht man näher auf die RRO-Theorien ein, stellt sich zunächst die Frage, welche Art Unrecht einer Gruppe zugefügt werden muss, damit das Mittel der Sezession als Ausweg gerechtfertigt ist? Stellvertretend heißt es dazu bei Buchanan:
[…] a group has the right to secede (in the absence of any negotiations or constitutional provisions that establish a right) only as a remedy of last resort to escape serious injustices. […] injustices capable of generating a right to secede consist of persistent violations of human rights, including the right of participating in democratic governance, and the unjust taking of the territory in question, if the territory previously was a legitimate state or a portion of one (in which case secession is simply the taking back of what was unjustly taken). (BUCHANAN, Allen: Democracy and Secession. In: MOORE, Margaret (Hg.): National Self-Determination and Secession. Oxford University Press, Oxford 1998, S. 14-33, hier S. 25.)10
Neben dauerhaften Verletzungen der Menschen- und Bürgerrechte legitimieren also das bewusste Vorenthalten gerechtfertigter Selbstbestimmungsrechte und demokratischer Institutionen sowie die Annexion eines Territoriums, welches zuvor ein legitimer Staat (oder Teil dessen) war, das Mittel der Sezession durch die direkt betroffene Bevölkerung.11 Diesem Verständnis nach müssten demokratische Staaten gegen sezessionistische Tendenzen immun sein, da sie sowohl im Innern wie auch nach außen anerkannte demokratische Grundregeln befolgen, mithin also als gerecht zu betrachten sind. Nach Rawls dürften solche Tendenzen in gerechten Staaten v. a. deshalb nicht aufkommen, da deren Bürger eine „natürliche Pflicht“ zum Gehorsam gegenüber gerechten Institutionen haben, Sezession ohne nachvollziehbaren Grund also illegal wäre.12
Wenn wenigstens einer der o. g. Gründe gegeben ist, kann die Abspaltung einer Gruppe von einem Staat also durchaus moralisch vertretbar sein, gleichwohl der konkrete Vollzug einer Sezession wiederum an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. Eine wesentliche und sowohl von RRO- als auch von PR-Theoretikern geäußerte Bedingung ist die, dass eine Sezession nur dann gerechtfertigt werden kann, wenn sie niemandem Schaden zufügt, v. a. nicht jenen, die innerhalb des sezessionswilligen Territoriums leben, der Abspaltung jedoch nicht zugestimmt haben. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Annahme, dass nur demokratische Staaten legitime Staaten sind, wird weiterhin die Bedingung gestellt, dass sich der neu entstehende Staat seinerseits keine der o. g. injustices zuschulden kommen lassen darf. Jedoch gehen die Meinungen darüber, ob es moralisch von Belang ist, dass manche gegen ihren Willen plötzlich einem neuen Staat angehören, und inwiefern dies wiederum deren (Rück-)Sezession zum verbleibenden Teil des „Mutterstaates“ rechtfertigen würde, in der Literatur auseinander.13
1.2. Primary Right Theories
Im Gegensatz zu den RRO-Theorien begründen PR-Theoretiker ein Recht auf Sezession in ihren zentralen Argumentationen mit dem nationalen Selbstbestimmungsrecht, und zwar unter der liberalen Prämisse, dass jede Nation das Recht hat, sich selbst in einem eigenen Nationalstaat zu regieren, insofern ihre Mitglieder dies tatsächlich wünschen und es sowohl moralisch als auch praktisch möglich ist. Der demokratische Staat wird im Liberalismus als freiwillige Vereinigung von Individuen und als bestmöglicher Garant zur Gewährung individueller Freiheiten verstanden. Insofern diese Vereinigung jedoch nur durch den freiwilligen Konsens ihrer Mitglieder zustande gekommen ist, besteht kein gerechtfertigter Anlass, deren teilweise oder vollständige Auflösung zu verbieten, wo sie möglich wäre.14
Unklar bei der Betrachtung von PR-Theorien ist jedoch, wer der Träger des Rechts auf Selbstbestimmung ist, wer also de facto zur Durchsetzung einer Sezession unter Berufung auf dieses Recht moralisch legitimiert sein kann? Diese Unklarheit hat zur Ausprägung einer nationalen und einer individuellen Variante der PR-Theorien geführt.15 Die individuelle Variante wird v. a. von Beran vertreten, in dessen Theorie eine sezessionswillige Gruppe nur hinreichend groß und in der Lage sein muss, die elementare Funktionstüchtigkeit des neuen Staates garantieren zu können. Unter Berufung auf die Freiwilligkeit individueller und souveräner politischer Entscheidungen des Einzelnen, spielt es für die Rechtfertigung sezessionistischer Ambitionen in dieser Theorie keine Rolle, ob die Mitglieder der Gruppe irgendetwas mehr als der gemeinsame Wunsch nach einem unabhängigen Staat verbindet. Solange diesem Wunsch eine demokratische Mehrheitsentscheidung im betreffenden Gebiet zugrunde liegt, die von allen als souveräne Willensbekundung akzeptiert ist, und solange die Sezession nicht die Funktionstüchtigkeit des verbleibenden Staatsteils als liberale Demokratie beeinträchtigt, besteht für Beran kein nachvollziehbarer Grund, dem nicht zu entsprechen. Um jedoch einer eventuell drohenden „Tyrannei der Mehrheit“ zuvorzukommen, plädiert er für eine rekursive Anwendung der Mehrheitsregel und merkt an, „[…] there is little reason to assume that such an attitude would lead to many unviably-sized political entities. For people do not disrupt the unity of an existing state lightly, […] the fear of balkanization may be largely illusory.“16 Insofern die freiwillig getroffene Übereinkunft unter den Gruppenmitgliedern für Beran eine ganz entscheidende Rolle spielt, kann man seine PR- Theorie als individuelle Variante mit vertragstheoretischer Begründung präzisieren. „[Sie] deutet das Selbstbestimmungsrecht eines Kollektivs nicht als ein Kollektivrecht sui generis, sondern als ein Derivat des Selbstbestimmungsrechts individueller Personen.“17 So verstanden ist Sezession gewissermaßen die Aufkündigung eines bestehenden Vertrags, wofür sich die einzelnen Mitglieder der sezessionswilligen Gruppe freiwillig per Mehrheitsentscheid erklärt hat.18 Einen ähnlichen Ansatz, wenngleich mit erheblich eingeschränkter Bedeutung des Konsenses, vertritt auch Wellman. Für ihn müssen zwei entscheidende Bedingungen erfüllt sein, damit eine Sezession gerechtfertigt werden kann. Zum einen ist dies die Legitimität des Anspruchs der sezessionswilligen Gruppe auf ein bestimmtes Territorium und zum zweiten die Garantie, dass die Existenzbedingungen für den verbleibenden Landesteil nach der Trennung nicht unverhältnismäßig schwierig sind.19
Im Gegensatz zu den individuellen Varianten der PR-Theorien räumen Vertreter der nationalen Varianten nur solchen Gruppen ein grundsätzliches Recht auf Sezession ein, deren Mitglieder sich durch ethnische, sprachliche, religiöse, historische oder andere Gründe insofern zusammengehörig fühlen, dass man gemeinhin von einer Nation, einem Volk oder einer Kultur reden kann. Ob diese Gruppe territorial geschlossen oder zersplittert lebt, ist dabei ebenso sekundär, wie der Grad ihrer politischen Organisation. Stellvertretend für diese theoretische Variante, leiten Margalit und Raz das Recht auf Selbstbestimmung aus dem intrinsischen Wert ab, den einerseits die Zugehörigkeit zu solchen „encompassing groups“ für den Einzelnen besitzt, und den andererseits die Prosperität und die Anerkennung solcher Gruppen für das Wohlergehen ihrer Mitglieder bedeuten. Folglich kann das Recht auch nur der Gruppe als Ganzes gewährt werden und ist an konkrete Bedingungen geknüpft.20
That importance makes it reasonable to let the encompassing group that forms a substantial majority in a territory have the right to determine whether that territory shall form an independent state in order to protect the culture and self-respect of the group, provided that the new state is likely to respect the fundamental interests of its inhabitants, and provided that measures are adopted to prevent its creation from gravely damaging the just interests of other countries. (MARGALIT, Avishai/RAZ, Joseph: National Self- Determination. In: The Journal of Philosophy 87, The Journal of Philosophy Inc., New York 1990, S. 439-461, hier S. 457.)
Eine gerechtfertigte Sezession nach Margalit und Raz darf nicht ihrerseits wiederum zu einem „large-scale new minority problem“ innerhalb des sich abspaltenden Gebietes führen.21 Analog dazu schränkt auch Miller ein, dass Sezessionen, die nationale oder ethnische Identitäten sowohl im sich abspaltenden wie auch im verbleibenden Landesteil ernsthaft in Gefahr bringen, nicht zu rechtfertigen sind.22 Auch Moore lehnt Sezessionen, die neuerliche Minderheitsprobleme von relativer Bedeutung hervorbringen, ab. Stattdessen plädiert sie für ein Konzept der gleichrangigen Würdigung nationaler Identitäten im innerstaatlichen ebenso wie im zwischenstaatlichen Kontext, wobei die Größe einer Gruppe ebenso wenig relevant für die Ablehnung separatistischer Ambitionen sein darf wie das Argument, die staatliche Stabilität müsse gewahrt bleiben.
[This argument] needs to be weighed against the problem of states ruling without the consent of the people, and denying legitimate feelings of communal identity. There is an important moral distinction between insisting on the inviolability of territorial boundaries against external aggression and insisting on them against the people themselves. (MOORE, Margaret: On National Self-determination. In: Political Studies 45, Blackwell, Oxford 1997, S. 900-913, hier S. 909.)
Zudem setzt Moore voraus, dass legitime Sezessionen einzig durch plebiszitären demokratischen Konsens erreicht werden können und dass neu entstandene Staaten (analog zu Margalit, Raz und Miller) keine geographisch konzentrierten Minderheiten enthalten dürfen, die der Sezession ablehnend gegenüber stehen. Wo letzteres nicht möglich und Sezession somit keine adäquate Lösung ist, schlägt Moore ein föderales Modell vor, in dem sie die weitgehende Souveränität nationaler Identitäten gewahrt sieht.23
2. Politische Ordnungsversuche auf dem Balkan
Auf der Balkanhalbinsel verdichtet sich wie kaum anderswo eine unüberschaubare Vielzahl nationaler Identitäten auf engstem Raum. Tief verwurzelte Ressentiments, religiöse Spaltungen und offene historische Rechnungen halten ethnisch motivierte Nationalismen am Leben, deren Sprengkraft bis dato keine politische Ordnung wirklich entschärfen konnte.24 So sind Rassismus, Verfolgung, Vertreibung und Mord in den vergangenen Jahrhunderten stets aufs Neue Ventile der Konflikte gewesen. Massaker wie jenes von Srebrenica 1996, Zehntausende von Flüchtlingen und die Tatsache, dass die internationalen KFOR-Truppen seit rund sieben Jahren der einzige Garant eines halbwegs stabilen Kosovo sind, führen mehr als deutlich vor Augen, dass der Balkan nach wie vor jenes „Pulverfass Europas“ ist, dem bereits Bismarck nicht die Knochen eines einzigen preußischen Grenadiers wert waren.25
Während die Ursprünge der Spaltung des Balkans bereits in der Spätantike liegen, ließ die Moderne sie immer drastischere Formen annehmen. Dem Holocaust in Jugoslawien fielen während des Zweiten Weltkriegs zwischen 1941 und 1945 schätzungsweise 1,7 Millionen Menschen zum Opfer - auch dies eine Ursache der jüngsten Balkankriege.26 Die Etablierung marxistisch-leninistischer Regime (außer in Griechenland und der Türkei) im Zuge des Kalten Krieges brachte nach 1945 auch auf dem Balkan ein im Umgang mit verschiedenen Nationalitäten erprobtes Sowjetmodell zur Anwendung, „which emphasized the right of nations to self determination, interethnic equalization, and territorial autonomy and federalism.“27 Dementsprechend gewährte auch die unter Tito verabschiedete Verfassung der Sozialistischen Föderalistischen Republik (SFR) Jugoslawien von 1974 ihren sechs Teilrepubliken Slowenien, Serbien, Kroatien, Montenegro, Mazedonien und Bosnien- Herzegowina weitgehende Autonomien. Was der Region nach außen eine bis dato unerreichte Stabilität zu bringen schien und selbst westlichen Beobachtern Anerkennung abverlangte, konnte im Innern aber nicht verhindern, dass unter der Oberfläche weiterhin enttäuschte Erwartungen und wachsende Ressentiments gärten.28
Während allein Titos Autorität verhinderte, dass latente Konflikte (v. a. in Serbien und im Kosovo) offen zum Ausbruch kamen, war dessen Tod 1980 der Anfang vom Ende des Vielvölkerstaats. Neben wirtschaftlichen Schwierigkeiten zersetzten zahlreiche Machtkämpfe um Titos Nachfolge das Land. Das konstitutionell verankerte Rotationsprinzip an der Staatsspitze, demzufolge die Präsidentschaft im jährlichen Wechsel Politikern der sechs Teilrepubliken und zwei autonomer Provinzen zukam, vertiefte die Gräben und goss weiteres Öl in nationalistische Feuer. „Yugoslavia was a potential melting pot that never quite melted - despite efforts by royal and communist governments to facilitate the melting process.“29 Der Kollaps Jugoslawiens dauerte letztlich zwar ein Jahrzehnt, war aber aufgrund unauflösbarer Antagonismen und einer hyperinflationären Ökonomie Ende der 1980er Jahre unumkehrbar.30
2.1. Der Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens
Nachdem die Europäische Gemeinschaft im November 1991 offiziell den Prozess der Auflösung Jugoslawiens festgestellt hatte, wurden alle Teilrepubliken aufgefordert, zu erklären, ob sie fortan als unabhängige Staaten betrachtet werden wollen.31 Als erste hatte die slowenische Regierung bereits am 24. Juni 1991 ihre Unabhängigkeit erklärt, nachdem die Bevölkerung ein entsprechendes Referendum zuvor mit 88,4 Prozent der Stimmen befürwortet hatte. Im Dezember des Jahres verabschiedete das slowenische Parlament eine neue Verfassung nach dem Vorbild westlicher Demokratien.32 In Anlehnung daran erfolgte auch in Kroatien ein entsprechendes Referendum, in dem jedoch nur die kroatische Bevölkerung stimmberechtigt war und das die Eigenstaatlichkeit mit 93 Prozent der Stimmen bejahte. Nur einen Tag später, am 25. Juni 1991, erklärte auch Zagreb seine Unabhängigkeit, die zusammen mit der slowenischen Souveränität am 15. Juni 1992 seitens der EG, und im April seitens der USA diplomatisch anerkannt worden ist. Gestützt durch die Position der EG, die nur den sechs offiziellen jugoslawischen Teilrepubliken die Eigenstaatlichkeit als Option einräumte, beantwortete Zagreb eine Abspaltung der serbischen Minderheit in Kroatien Ende 1991 (Republik Serbische Krajina) mit der Wiederinbesitznahme der Krajina.33 Aufgrund innen- und außenpolitischer Verfehlungen sollte sich das kroatische Regime unter Franjo Tudjman jedoch in den Folgejahren immer weiter in internationale Isolation manövrieren.34
[...]
1 KLEMP, Ludgera/POESCHKE, Roman: Good Governance gegen Armut und Staatsversagen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 28-29/2005, hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2005, S. 18-25, hier S. 22.
2 Vgl. Ebd., S. 23.
3 Vgl. DEBIEL, Tobias: Fragile Staaten als Problem der Entwicklungspolitik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 28-29/2005, hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2005, S. 12-18.
4 „In other words, a satisfactory account of the morality of political power must provide an answer to two distinct particularity problems: (a) what makes any particular wielder of political power justified in doing so and (b) why should we comply with the rules imposed by the particular coercive power that happens to be the government of our state?“ (BUCHANAN, Allen: Political Legitimacy and Democracy. In: Ethics 112, University of Chicago Press, Chicago 2002, S. 689-719, hier S. 714f.)
5 Vgl. dazu die wissenschaftliche Globalisierungsdebatte, z.B. bei MENZEL, Ulrich: Globalisierung versus Fragmentierung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998, der vom Konflikt zwischen „McWorld und Jihad“ spricht. Vgl. auch MOORE, Margaret: The Ethics of Nationalism. Oxford University Press, Oxford 2001, S. 231.
6 Vgl. http://www.unric.org, Annan, General Assembly welcome Montenegro as 192nd UN Member State. United Nations Regional Information Centre, Mitteilung vom 28. Juni 2006.
7 LIBAL, Wolfgang/VON KOHL, Christine: Der Balkan. Stabilität oder Chaos in Europa. Europa Verlag, Hamburg/Wien 2000, S. 8.
8 An dieser Stelle können nur wesentliche Grundzüge dargestellt werden. Vgl. für eine ausführlichere Darstellung BUCHANAN, Allen: Theories of Secession. In: Philosophy & Public Affairs 26, Blackwell, Oxford/Malden 1997, S. 31-61.
9 „[...] a perfectly just state here is one that does not violate relatively uncontroversial individual moral rights, including above all human rights, and which does not engage in uncontroversially discriminatory policies toward minorities.” (Ebd., S. 40.)
10 Vgl. analog zu Buchanan BIRCH, Anthony Harold: Another liberal theory of secession. In: Political Studies 32, Blackwell, Oxford 1984, S. 596-602.
11 In diesem Sinne knüpfen manche Vertreter der RRO-Theorien das Recht auf Sezession an die Lockesche Revolutionstheorie an, wenngleich dies nicht ganz unproblematisch ist. (Vgl. BUCHANAN (1997), S. 35f.)
12 „Ist also die Grundstruktur der Gesellschaft gerecht oder jedenfalls so gerecht, wie man vernünftigerweise unter den gegebenen Umständen erwarten kann, so hat jedermann die natürliche Pflicht, zu tun, was von ihm verlangt wird, und zwar unabhängig von seinen freiwilligen Handlungen, performativen und anderen.“ (RAWLS, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. 7. Aufl., Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993, S. 369.)
13 Vgl. PAVKOVIĆ, Aleksandar: Recursive Secessions in Former Yugoslavia: too Hard a Case for Theories of Secession? In: Political Studies 48, Blackwell, Oxford 2000, S. 485-502, hier S. 486f.
14 „[T]he claim is this: liberal political philosophy requires that secession be permitted if it is effectively desired by a territorially concentrated group within a state and is morally and practically possible. [...] Yet it seems that a commitment to the freedom of self-governing choosers to live in societies that approach as closely as possible to voluntary schemes, requires that the unity of the state itself be voluntary and, therefore, that secession by part of the state be permitted where it is possible.” (BERAN, Harry: A Liberal Theory of Secession. In: Political Studies 32, Blackwell, Oxford 1984, S. 21-31, hier S. 23-25.) PAVKOVIĆ (2000), S. 486 nennt die PR-Theorien wegen der Bedeutung des Konsenses zur liberalen Legitimisierung des Staates auch withdrawal of consent theories.
15 BUCHANAN (1997), S. 37f. nennt die individuelle Variante Associative Group Theories und die nationale Variante Ascriptive Group Theories.
16 BERAN (1984), S. 30; Vgl. auch PAVKOVIĆ (2000), S. 487 und BUCHANAN (1997), S. 38f.
17 SCHMÜCKER, Reinhold: Wiedergutmachung und Sezession. Zur historischen Gerechtigkeit zwischen Nationen. In: SCHMÜCKER, Reinhold/STEINVORTH, Ulrich (Hg.): Gerechtigkeit und Politik. Philosophische Perspektiven. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 3, Akademie Verlag, Berlin 2002, S. 233-252, hier S. 234.
18 „Nor, pace Locke, should membership in a state, once voluntarily accepted, be irrevocable. For liberalism recognizes that persons cannot predict with certainty what is in their long-term interest.” (BERAN (1984), S. 25.)
19 WELLMAN, Christopher H.: A Defense of Secession and Political Self-Determination. In: Philsophy & Public Affairs 24, Blackwell, Oxford/Malden 1995, S. 142-171, bes. S. 164.
20 SCHMÜCKER (2002), S. 234f. nennt dies eine kommunitaristische Sezessionsrechtfertigung, im Gegensatz zur majoritaristischen von Beran. RRO-Theorien treten dort als emanzipatorische Sezessionsrechtfertigungen auf. Zudem wird eigens zur Rechtfertigung von Sezessionen, die historisches Unrecht beheben sollen (v. a. Dekolonisierung), der Terminus restitutionalistisch eingeführt.
21 MARGALIT/RAZ (1990), S. 458; Vgl. auch NIELSEN, Kai: Secession: The Case of Quebec. In: Journal of Applied Philosophy 10, Blackwell, Oxford 1993, S. 29-43, hier S. 34ff.
22 MILLER, David: Secession and the Principle of Nationality. In: MOORE, Margaret (Hg.): National Self- Determination and Secession. Oxford University Press, Oxford 1998, S. 62-77; Vgl. PAVKOVIĆ (2000), S. 488.
23 Vgl. MOORE (1997), S. 912.
24 MENZEL (1998), S. 52 sieht im Ethnonationalismus auch „[…] das Resultat gescheiterter, abgebrochener oder nie wirklich in Gang gekommener Modernisierungsprojekte.“ Vgl. v. a. zur Bedeutung ethnonationalistischer Bewegungen HELMERICH, Antje: Ethnonationalismus und das politische Potenzial nationalistischer Bewegungen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 39/2004, hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2004, S. 19-24.
25 Vgl. TREADWAY, John D.: Of Shatter Belts and Powder Kegs: A Brief Survey of Yugoslav History. In: DANOPOULOS, Constantine P./MESSAS, Kostas G. (Hg.): Crises in the Balkans. Views from the Participants. Westview Press, Boulder/Oxford 1997, S. 19-46, hier S. 19.
26 Vgl. Ebd., S. 29f.
27 DANOPOULOS, Constantine P./MESSAS, Kostas G.: Ethnonationalism, Security and Conflict in the Balkans. In: DIES. (Hg.): Crises in the Balkans. Views from the Participants. Westview Press, Boulder/Oxford 1997, S. 1-18, hier S. 9.
28 Vgl. Ebd., S. 10f.; differenzierter bei LIBAL/VON KOHL (2002), S. 13f.
29 TREADWAY (1997), S. 32.
30 Ebd., S. 34.
31 Vgl. PAVKOVIĆ (2000), S. 485. Alle folgenden Prozentangaben, Ebd., S. 489ff.
32 Vgl. SCHWEIGER, Michael: Entwicklung der Zivilgesellschaften in den Nachfolgestaaten der zerstörten SFRJugoslawien. Schriften der Johannes-Kepler-Universität Linz, Reihe B: Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 97, Trauner Verlag, Linz 2005, S. 70f.
33 Vgl. PAVKOVIĆ (2000), S. 490f.; TREADWAY (1997), S. 35.
34 Vgl. SCHWEIGER (2005), S. 79.
- Arbeit zitieren
- Peter Fobe (Autor:in), 2006, Das Ende von "Solania" - Eine Rechtfertigung der Trennung Montenegros von Serbien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85245
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