Die Melancholie und ihre Auswirkungen am Beispiel Martin Luthers


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

46 Seiten


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

EINFÜHRUNG

1. INDIVIDUELLE MELANCHOLIE: Fremd- und Eigenwahrnehmung

2. KOMMUNIKATION UND TRANSFORMATION: Die neue Christenerziehung
2.1. Kommunikation: Schriften und Kirchenlieder
2.1.1. Der neue Dienst an Gott
2.1.2. Das Sakrament der Busse und die Heilserlangung
2.2. Transformation: Monolog und einsame Heilsvergewisserung

3. KOLLEKTIVE MELANCHOLIE: Trägheit und Hexenvorstellung
3.1. Der Mönch als Krankenheiler: Sünde und Teufel
3.2. Die Melancholie als Indiz für Hexerei

SCHLUSSWORT

LITERATURVERZEICHNIS

EINFÜHRUNG

„Ich saß auf einem Stein, / und schlug ein Bein über das andere. / Darauf stützte ich den Ellenbogen. Ich hatte in meine Hand geschmiegt / das Kinn und meine eine Wange. / So erwog ich in aller Eindringlichkeit, wie man auf dieser Welt zu leben habe. / Keinen Rat wußte ich zu geben, / wie man drei Dinge erwerben könne, ohne daß eines von ihnen verlorenginge. / Zwei von ihnen sind Ehre und Besitz, / die einander oft Abbruch tun; das dritte ist die Gnade Gottes, [...] / Aber zu unserm Leid kann das nicht sein, / daß Besitz und Ehre in der Welt

und dazu Gottes Gnade zusammen in ein Herz kommen [...]“[1]

Walther von der Vogelweide (1170 – 1230)

Seit den Hippokratischen Schriften (Ende 5. Jh. v. Chr.) trägt die angeblich „grundlose Traurigkeit“ den Namen der Melancholie. Die Melancholie, wörtlich Schwarzgalligkeit, bezeichnet die traurig-schwermütige Grundstimmung eines Individuums (Weltbild und Lebensvollzug). Sie besitzt drei seit dem Altertum überlieferte Ausdrucksformen: als eine Geisteskrankheit, eine Charakterveranlagung oder als Ausdruck eines vorübergehenden Seelenzustandes.[2] Der Melancholiker wiederum ist einer der vier Temperamentstypen der antiken Charakterologie.[3] Zwei Lehrtheorien können bis in die Antike zurück nachgewiesen werden: die vom „saturnischen Menschen“ und die von der „melancholisch geprägten Persönlichkeit“. Eine erste positive Deutung der Melancholie bzw. des Melancholikers wurde von dem Aristotelesschüler Theophrast (372-287) überliefert, der vermutlich eine erste Abhandlung über die Schwermut geschrieben hat.[4] Seine Überzeugung, dass alle herausragenden Persönlichkeiten Melancholiker seien, fand während der Renaissance in Italien bei dem Florentiner Philosophen und Arzt Marsilio Ficino (1433-1499), der das melancholische Temperament den Denkern und Dichtern zuordnete, ihre Fortsetzung.[5] Obwohl der Begriff der Melancholie als auch der des Melancholikers in enger Beziehung zueinander stehen, besitzen sie nicht den gleichen ideengeschichtlichen Ursprung. Dieser Umstand ist vermutlich auch dafür verantwortlich, dass die Schwermut in ihrer Beurteilung einer geschlechtsspezifischen Unterscheidung unterworfen wurde.

In den Quellen wird das männliche Geschlecht durchwegs als „Melancholiker“ (Charakter!), das Weibliche jedoch einzig als „melancholisch“ (resp. als krank) beschrieben.[6]

Die Gemütsstimmung, die sowohl individuell als auch im Kollektiv erlebt werden kann, ist bis heute ein Phänomen geblieben. Beschrieben als eine Lebenswelt zwischen Genie und Wahnsinn, besitzt sie auch zwei – völlig gegensätzliche – Hauptausdrucksformen: die Manie und die Depression.[7] Im Gegensatz zur Depression jedoch wurde die Manie während der Antike keiner näheren Untersuchung unterzogen bzw. es kam zu keiner einheitlichen Auffassung.[8] Auch nach über zweitausendjähriger Melancholieforschung wird das Dilemma, diese Gemütsregung definieren zu wollen, offenbar. Der Literaturwissenschaftler László F. Földényi brachte das Problem auf den Punkt: „Es gibt keine eindeutige und genau treffende Bestimmung der Melancholie. Die Geschichte der Melancholie ist auch die Geschichte einer nie zum Abschluß kommenden Präzisierung der Begriffsprägung, und gerade daraus ergibt sich der Zweifel: sprechen wir über die Melancholie, so ist sie gar nicht Gegenstand unseres Sprechens, es handelt sich vielmehr um einen Versuch, mit den über sie geprägten Begriffen unsere eigene Lage zu erkennen.“[9]

Die Einführung von medizinischen Begriffen in Kunst und Dichtung hat traditionelle Wurzeln und wirkt bis heute fort.[10] In der Literatur fand die Melancholie als Beschreibung einer Gemütserregung – als Ausdruck für Zorn, Verrücktheit oder ein gestörtes Urteilsvermögen – bereits in Homers Ilias Eingang (ca. 8. Jh. v. Chr.).[11] Der Komödiendichter Aristophanes (445-385), der gerne die neuesten medizinischen Fachausdrücke seiner Zeit für seine Theaterstücke benutze, erwähnte sie in seinem Werk die Wolken. Sehr viel später verwendete auch der Arzt und französische Dichter François Rabelais (1483-1553) diverse medizinische Bezeichnungen für seine Romane.[12] Es erstaunt nicht, dass mit dieser Vereinnahmung durch die Literaten eine Verfremdung sowohl des philosophisch resp. religiösen als auch medizinischen Melancholiebegriffs stattfand. Bereits der Philosoph Robert Burton (1577-1640) unternahm in seiner Enzyklopädie (1621) den vergeblichen Versuch, den Begriff der Melancholie nicht zu einem Sammelbegriff verkommen zu lassen.[13] Trotz seiner Bemühungen wurde sie im 20. Jahrhundert durch die Psychopathologie kurzerhand in den einseitigen Begriff der (endogenen) Depression umbenannt, womit nicht nur das – nicht mehr dem antiken Verständnis entsprechende – medizinische Krankheitsbild, sondern auch eine einseitige Betrachtungsweise Eingang in die Moderne fand.[14] Erklärbar ist diese Einseitigkeit damit, dass der depressive – im Gegensatz zum manischen – Mensch durch seine traurige Gemütshaltung in seiner Arbeits- und Freizeitbeschäftigung bzw. in seinem Sozialleben eher (negativ) auffällt.[15]

In seiner Schrift Warnung an seine lieben Deutschen ernannte sich Martin Luther im Jahre 1531 selbst zum „Deudschen Prophet“[16]. Als im Einigungsjahr 1871 das Alte Reich, das seit Jahrhunderten von katholischen Herrschern regiert worden war, zerfiel und die lutherisch-evangelische Kirche Einzug hielt, nahm seine Selbsternennung auch nach aussen Realität an. Der Reformator und Professor aus Wittenberg ging nicht nur als deutscher Nationalheld und Freiheitskämpfer, als Bibelübersetzer, Begründer einer einheitlichen Sprache und der protestantischen Ethik in die Geschichte ein, sondern auch als ein überaus frommer und melancholischer Augustinermönch, der „die tiefe Schwermut nicht verdecken“ konnte.[17] Sein Name darf als ein Synonym für die Zeit der Reformationsbewegungen bezeichnet werden, ist doch sein Leben, seine Lehre und die epochale Zäsur nicht zu trennen. Luthers Sola-Theologie[18], die Glaubensbasis seiner Lehre, war eine Absage an die katholischen Kirchengrundsätze und damit an die katholische Lehre von den guten Werken (Werkgerechtigkeit)[19], an die Sakramente der Busse und somit an den gesamten geistlichen bzw. verfassungsmässigen Kirchenaufbau.[20]

Parallel zur Umgestaltung der Kirche brachte das 16. Jahrhundert auch ein städtisches Ereignis mit sich. Die Städtebildung resultiert aus dem menschlichen Bedürfnis sich zwecks Angstabwehr zum Kollektiv bzw. zur Heilsgemeinschaft zusammenzufinden. Die Gewissheit des Stadtheils bzw. die Heilsfrage war sodann „die zentrale Frage des Zeitalters“ (Moeller) und die städtische Formation wurde durch sie beherrscht.[21] Jede Gesellschafts- und Nationenbildung produziert dementsprechend Feindbilder, die es dann nötigenfalls als Demonstration der Geschlossenheit zu bekämpfen gilt. Das 16./17. Jh. zeigt mit seinen vielen Hexenprozesse einen gemeinschaftlichen Kampf gegen die Sünde und den Teufel auf. Das andersartige Erscheinungsbild und Verhalten eines Menschen, bzw. sein Verstoss gegen Moral- und Sittennormen führte allzu oft zur Verurteilung und Hinrichtung. Die Städtegründung der frühen Neuzeit und das Phänomen der Hexenprozesse im Alten Reich bzw. das Aufkommen eines neuen Freiheitsbegriffs und einer neuen Religions- und Moralvorstellung sind bezeichnend für die Epoche der Reformation sowie für das konfessionelle Zeitalter. Luther beeinflusste dieses Städteverständnis durch die wichtigsten Elemente der Gesellschaftsbildung überhaupt: die Sprache (Kommunikation) und die sozialen Sitten- und Moralvorstellungen. Gleichzeitig verordnete der geistig geplagte Mönch mit seiner Rechtfertigungs- bzw. Heilslehre (Gnade und Glaube) sich und den Stadtbürgern das Rezept eines gottgefälligen Lebens, d.h. das fleissige Arbeiten.

Die Wissenschaften der Naturphilosophie, der Medizin, der Religion und Kunst haben versucht der Melancholie bzw. dem Melancholiker auf den Grund zu gehen und sie/ihn zu beschreiben. So wie das „Individuum“ erhält auch die Melancholie nur durch die gesellschaftliche resp. kulturelle Beurteilung ihre Existenzerklärung, d.h. die Melancholie­vorstellung einer Bevölkerung wird stets vom gerade herrschenden soziokulturellen Wertsystem bestimmt.[22] Während der Reformationsbewegung im Alten Reich wurde besonders der Aspekt der Krankheit durch die Sünde betont. Angesichts seiner Rechtfertigungslehre erklärte Martin Luther die aus der Melancholie resultierende Trägheit zur besonderen Todsünde. Die These, wonach Luthers Lehre ein Vereinen von Selbsterfahrung und Disziplin sowie theologischer Rechenschaft und Exegese darstellt (Ebeling), hört sich plausibel an, wirft aber gleichzeitig eine Frage auf.[23] Einerseits bilden Luthers Leben und Lehre eine Einheit, andererseits ging der Reformator selber als schwermütiger Mönch in die Geschichte ein.[24] Ist also seine Lehre als das Produkt seiner melancholischen Grundstimmung zu bezeichnen? Der Historiker Wolfgang Behringer sieht in den Phantasien der Melancholiker bzw. in der Melancholie die Ursache für die Hexenprozesse im Alten Reich begründet.[25] Führte sodann die Verbreitung Luthers Vorstellungswelten zu einer melancholischen Stimmung unter der Bevölkerung, die sich am Ende auch in den Hexenprozessen äusserte?

Im ersten Kapitel der Arbeit wird auf Martin Luthers Leben und Lehre eingegangen. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob Luther tatsächlich ein Melancholiker war resp. unter einer schwermütigen Gemütsstimmung litt.[26] Im zweiten Kapitel wird der Versuch unternommen, die Kommunikation zwischen Luther und den Christgläubigen näher zu beleuchten. Denn das Ausbleiben von Kommunikation oder das veränderte Rezeptionsverhalten eines Volkes sollte genauso deutlich eine allgemein stark ausgeprägte Melancholiestimmung zum Ausdruck bringen.[27] Der Historiker P. Schiera bezeichnet die Erscheinungsform der Melancholie als eine politisch-sozialphilosophische Abweichung.[28] Der Wirkungszusammenhang von Melancholie, Disziplin, Gesellschaft und Leistung steht dabei ihm Mittelpunkt. In dieser politischen Deutung wird besonders auf die Verbindung von Isolation und fehlender Kommunikation aufmerksam gemacht, und die daraus resultierende Schwermut selbst als eine „kollektive Krankheit“ bezeichnet. Ob tatsächlich von einer “individuell“ erlebten Schwermut Luthers gesprochen werden kann, die mittels schriftlicher und mündlicher Übertragung schliesslich zur “kollektiv“ erlebten Melancholie bzw. zur melancholie-geprägten Weltanschauung unter den Christgläubigen geführt hat, soll im dritten Kapitel untersucht werden.

1. INDIVIDUELLE MELANCHOLIE: Fremd- und Eigenwahrnehmung

„Wie offt melancoley [...] Manch mensch so hart thut plagen, [...] Das er hernach muß lachen ,/

Wenn er sich hindter-dencket, / Wie er sich selb hab krencket“[29]

Hans Sachs (1494-1576)

Martin Luther wurde am 10.11.1483 (Martinstag) als zweiter Sohn des Hans Luder und der Margaretha (geb. Lindemann) in Eisleben in Thüringen geboren.[30] Sein Vater war durch Kapitalinvestitionen (Berg- und Hüttenwesen) zu beachtlichem Wohlstand gekommen; seine Mutter wiederum kam aus einer angesehenen “bürgerlichen“ Familie. Die Eltern sahen für ihren Sohn ein Jurastudium vor, das ihm zukünftig gesellschaftliches Ansehen einbringen sollte. Dem elterlichen Wunsch entsprechend immatrikulierte Luther 1501 an der Erfurter Universität, absolvierte bis 1505 sein Grundstudium an der Philosophischen Fakultät (Magistergrad) und begann noch im gleichen Jahr mit dem Jurastudium. Am 2. Juli 1505, nach einem Besuch bei seinen Eltern, geriet er bei Stotternheim (Mansfeld) in ein Gewitter. Ein Blitzeinschlag versetzte ihn derart in Todesangst, dass er schwor, ein Mönch zu werden, würde er den Sturm überleben.[31] Keine zwei Wochen darauf (17.7.) trat der damals 22jährige in den strengen Bettlerorden der Augustinereremiten (Erfurt) ein. Es folgte das Ordensgelübde (1506) und die Priesterweihe am 3. April 1507. Noch im gleichen Jahr begann Luther sein Theologiestudium an der Wittenberger Universität, welches er nach fünf Jahren mit dem theologischen Doktorgrad abschloss. Gleich nach seinem Abschluss übernahm er die Nachfolge seines Beichtvaters und Generalvikar des Ordens, Johann v. Staupitz (1469?-1524) sowie den Lehrstuhl für biblische Theologie, dessen Inhaber er bis zu seinem Todesjahr war.[32] Mit der akademischen Aufgabe übernahm Luther auch die Pflicht der Predigt und der Seelsorge an der Wittenberger Stadtkirche.

Am 31. Oktober 1517 sandte Luther ein Schreiben an den Erzbischof Albrecht von Mainz (1490-1545) und bat um die Korrektur seiner Ablasspraxis, womit er eine akademische Disputation auslöste.[33] Auf deren Grundlage verfasste er die berühmten 95 Thesen, in welchen er die kirchliche Ordnung in Frage stellte. Im Juni 1518 folgte daraufhin die förmliche Eröffnung eines Ketzerprozesses gegen Luther, der besonders von seinem schärfsten Gegner, dem Orden der Dominikaner, vorangetrieben wurde. Im August wurde Luther vom päpstlichen Legaten und Dominikaner Cajetan (1469-1534) mittels einer Vorladung nach Rom zitiert. Luthers Landesherr, Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen (1463-1525), wollte das ungewöhnliche Verfahren nicht akzeptieren, befürwortete aber ein Verhör in Augsburg. Die Begegnung von Luther und Kardinal Cajetan auf dem Augsburger Reichstag fand im Oktober des Jahres 1518 statt und brachte keine Einigung zwischen den zerstrittenen Fronten. Nach seiner Rückkehr liess Luther sogar öffentlich verlauten, dass die Autorität des Papstes in Glaubensfragen derjenigen eines Konzils unterzuordnen sei. Da der Ketzerprozess gegen Luther als Randproblem betrachtet wurde (die Kaiserwahl stand zu diesem Zeitpunkt im Vordergrund), folgte eine Zeit der Ruhe. Erst nach der Kaiserkrönung Karls V. am 28. Juni 1519 lebte der Prozess wieder auf. Einen Monat nach der Krönung des spanischen Königs folgte im Juli eine weitere Disputation, diesmal aber in Leipzig und mit dem Ingoldstädter Theologieprofessor Johann Eck (1486-1543). Während der theologischen Auseinandersetzung bekundete Luther zum ersten Mal öffentlich seinen bis dahin gefestigten Standpunkt, dass nicht nur der Papst, sondern auch Konzilien irren könnten. Beinahe ein Jahr später (15. Juni 1520) wurde gegen den Augustinermönch die Bannandrohungsbulle verhängt, die schliesslich seit Juli 1520 im Reich verkündet wurde. Das Problem Luther spitzte sich endlich im Januar 1521 zu, als ein Reichstag nach Worms einberufen wurde, auf dem alle politischen Fragen aus der Welt geschafft werden sollten. Auch Luther wurde nach Worms berufen, um sich einem weiteren Verhör zu stellen und zum verlangten Widerspruch Stellung zu beziehen. Luthers verzweifeltes Ringen mit sich selbst wird in seiner Bitte um Vertagung des Verhörs – um seine Gedanken zu ordnen – am Tag seiner Vernehmung offenbar. Am nächsten Tag erklärte er sein Verhalten mit folgenden Worten: „denn nicht an Höfen, sondern in Mönchswinkeln habe ich mein Leben zugebracht und kann mir nichts bezeugen, als daß ich bisher in Einfalt des Gemütes allein dazu gelehrt und geschrieben habe, Gott zu preisen und die Christgläubigen wahrhaftig zu unterweisen“[34]. Ohne dem Wunsch des Kaisers zu entsprechen, erklärte er am Ende, dass sein „Gewissen im Gotteswort gefangen“ sei, und er nicht „gegen das Gewissen“ handeln könne.[35] Nach seiner Verweigerung zu widerrufen, wurde der Bann gegen Luther bekräftigt und am 19. April die Reichsacht gegen ihn verhängt. Das folgende Wormser Edikt bedeutete zwar eine Ächtung des Mönches – und damit auch seiner Anhänger – konnte jedoch nur in den wenigsten Reichsterritorien durchgesetzt werden. Als Luther am 26. April – für vogelfrei erklärt – die Reichsstadt Worms verliess, wurde er zu seinem eigenen Schutz durch seinen Landesherrn entführt und auf der Wartburg – unter dem Namen Junker Jörg – versteckt.[36] Damit war Luther zwar seit 1521 zum Tode verurteilt, aber eine Exekution blieb aus politischen Gründen aus.[37] Bereits ein Jahr später (1522), als die radikalen Reformationsbewegungen (u.a. Bildersturm) überhand gewannen, kehrte Luther nach Wittenberg zurück.

Die Melancholie wird als ein Zustand der Angst bezeichnet.[38] Sie ist zwar nicht auf ein physisches Leiden zurückzuführen, kann ein solches aber herbeiführen. Denn die Melancholie kann auf längere Zeit auf den Zustand des Körpers/der Organe Einfluss nehmen und das äusserliche Bild einer Erkrankung annehmen.[39] Professor Petrus Mosellanus (1493-1523) hielt die Eröffnungsrede an der Disputation zu Leipzig. In einem Brief an den Bischof von Naumburg vom 6.12.1519 beschrieb er das äussere Erscheinungsbild des damals 36jährigen Luther: „Martinus ist von mittlerer Statur, magern Leibes und von Sorgen und Studium so mitgenommen, daß man, wenn man ihn in der Nähe sieht, fast alle Knochen zählen kann. Er ist im rechten Mannesalter und hat eine helle, durchdringende Stimme. Seine Gelehrsamkeit und seine Schriftkenntnis sind bewunderungswürdig [...]. Am Stoff der Rede fehlt es ihm nicht [...]. Ziemlich allgemein legt man ihm aber übel aus, daß er in seinem Tadel gegen andere etwas allzu rücksichtslos und bissiger sei, als es jemand, der in der Theologie etwas Neues vorbringt, wagen darf oder als einem Theologen wohl ansteht.“[40] Philippe Melanchthon (1497-1560) wiederum beschrieb in seiner Trauerrede Luthers Verhaltens­formen: „Fast täglich [...] verwendete er eine gewisse Zeit zum Hersagen der Psalmen, die er klagend und weinend in seine Fürbitte einflocht“[41]. Und Cajetan soll über ihn gesagt haben, dass er „seltsame Phantasien im Kopf“[42] habe.

Die Forschung macht immer wieder auf die besondere Frömmigkeit zu Beginn der Reformation aufmerksam und betont nicht nur, dass Luther ungemein fromm, sondern auch sein Mönchsgelübde bereits voraussehbar gewesen wäre.[43] Tatsächlich war zu dieser Zeit der herrschenden Primogenitur (Recht des Erstgeborenen) der Gang ins Kloster für den Zweitgeborenen nichts Aussergewöhnliches. Interessanterweise stammen sogar die meisten Reformatoren aus Aufsteigerfamilien, die in der frühen Neuzeit durch Handel und Gewerbe zu Wohlstand gekommen waren und in den Städten ihre Machtposition etablieren konnten.[44] Das Alte Reich war um 1500 eines der wohlhabendsten Länder des Kontinents, das besonders durch seine neuentdeckten Landesressourcen (bes. im Bergbau) zu Reichtum gekommen war.[45] Der Mönch, der zeitlebens im städtischen Kontext gelebt hat und in guten Verhältnissen aufgewachsen war, betonte nichtsdestotrotz gerne seine bäuerliche Herkunft.[46] Er pries die Armut und bezeichnete den Reichtum als das „allergeringste Ding auf Erden“.[47]

Obwohl die Eltern für ihren Sohn Martin die Laufbahn eines Advokaten vorgesehen hatten, entschied sich dieser am Ende für das geistliche Leben. War dies die Reaktion eines eigenwilligen Sohnes, die Erkenntnis eines Frommen oder doch die Flucht eines Verzweifelten? Sein Vater war gegen das Mönchsgelübde gewesen.[48] Im Nachhinein bekannte auch Luther: „Ich bin nicht gerne ein Mönch geworden“[49]. Sein Gelübde sei ihm allzu schnell über die Lippen gekommen.[50] Mit seiner selbsterwählten Absonderung vom “bürgerlichen“ Sozialleben sowie seiner darauf folgenden Namensänderung zeigt Luther den Wunsch auf, sich neu definieren zu wollen. Er hatte auch eine genaue Begründung dafür, warum jemand zum Mönch werden würde: „Zwei Ursachen machen einen Mönch: Ungeduld und Verzweiflung. Sie sehen nämlich irgendeinen Irrtum in der Welt, von dem sie glauben, er könne behoben werden. Dagegen verzweifeln sie daran, jene äußerste Bosheit der Welt aufheben zu können. Darum fliehen sie die Welt und sprechen: Die Welt ist zu böse“[51].

[...]


[1] Walther von der Vogelweide: Ich saz ûf eime steine. Zit. aus: Komm, heilige Melancholie. S. 285.

[2] In den Hippokratischen Schriften wird die „Melancholie“ behandelt, der „Melancholiker“ aber nicht erwähnt. Im 3. Epidemienbuch wird nur der Ausdruck des „melancholischen Typs bzw. Gallentyp“ (Charakterlehre) genannt.

[3] Jehl/ Weber: Melancholie. S. 10-11. Die Vier-Temperamente sind nach Hippokrates: sanguinisch, cholerisch, phlegmatisch und melancholisch.

[4] Ob Aristoteles oder Theophrast die Schrift Problemata XXX, ı (in welcher die Melancholie bzw. der Melancholiker behandelt wurde) verfasst hat, ist umstritten. Klibansky: Saturn. S. 18, 60.

[5] Müri: Schwarze Galle. S. 165.

[6] Sehr knapp beschrieb einst Alexander Pope in seinem Gedicht die damals vorherrschende männliche Meinung über die Ursachen der Melancholie: „Zeugerin des Mutterwehs oder auch der Dichterwehen, [...] Daß die eine Pillen schlucket, und die andre Verse schreibt“. Pope: The Rape. Zit. aus: Komm, heilige Melancholie. S. 351.

[7] Während der Antike wurde des weiteren zwischen „natürlicher“ und „krankhafter“ Melancholie unterschieden. Im Mittelalter fand die Vorstellung der Melancholie hauptsächlich als eine Krankheit bzw. als Geisteskrankheit Eingang in die Überlieferungen. Klibansky: Saturn. S. 26, 53-54.

[8] Flashar: Melancholie. S. 135-136.

[9] Zit. nach Földényi: Melancholie. S. 13. Tatsächlich fand die Melancholie nur aus Gründen eines Systematisierungsproblems (4-Säfte- bzw. Temperamentlehre) Eingang in die philosophischen und medizinischen Theorien. Sie wurde auch immer als ein Sonderfall betrachtet, da sie sowohl eine Krankheit als auch einen Charaktertyp bezeichnete. Flashar: Melancholie. S. 13-14 bzw. 134. Zur Systematisierung siehe auch: Klibansky: Saturn. S. 51-53; Müri: Schwarze Galle. S. 176, 180-181.

[10] Vgl. Flashar: Melancholie. S. 138.

[11] Ebd. S. 37-38; Müri: Schwarze Galle. S. 183, 185-187.

[12] Schadewaldt: Kranker Mensch. S. 18.

[13] Lederer: Geisteskrankheiten. S. 26.

[14] Flashar: Melancholiker. S. 12.

[15] Strian: Angstkrankheiten. S. 66.

[16] Zit. nach Ebeling: Luthers Theologie. S. 14 (Anmerkung 21).

[17] Zit. aus Brockhaus. S. 391. Eine weitere Beschreibung (Herausgeber): „In Schwermut sass Luther da [...]“. Zit. aus: Luther: Tischreden. S. 129.

[18] Basis des Glaubensbekenntnis (Rechtfertigungslehre): sola scriptura (allein durch die Schrift), sola gratia (allein durch die Gnade) und sola fide (allein durch den Glauben). Ebeling: Luthers Theologie. S. 12.

[19] Im mittelalterlichen Christentum wurde eine Theorie von Freiheit entwickelt, die dem Menschen freie Wahl liess, den Weg des Guten oder den des Sünders zu gehen. Der Wert des Individuums wurde dabei nicht – wie es schliesslich in der protestantischen Tradition üblich wurde – nach seiner Begabung und Leistung, sondern durch seine Tugenden beurteilt. Gurjewitsch: Weltbild. S. 153 und 229; Klibansky: Saturn. S. 125.

[20] Vgl. Schorn-Schütte: Reformation. S. 30.

[21] Moeller: Reformation in Deutschland. S. 278.

[22] Weber: Moderne. S. 135-136.

[23] Ebeling: Luthers Theologie. S. 12.

[24] Melanchthon bezeichnete den Maler Albrecht Dürer (1471-1528) als einen Melancholiker. Dürer selbst wiederum war ein treuer Anhänger Luthers Lehre. Vgl. Klibansky: Saturn. S. 26 und 28.

[25] Vgl. Behringer: Melancholie. S. 44.

[26] Gleich einem kleinen Exkurs werden in jedem Kapitel dieser Arbeit Beispiele aus der zeitgenössischen Melancholieliteratur bzw. aus Ludwig Völkers Anthologie deutscher Melancholie-Gedichte zum Vergleich herangezogen. Die Melancholiestimmung selbst wird u.a. mit den Worten „verzweifelt, betrübt, traurig, kleinmütig oder ängstlich (sein)“, „sich fürchten oder erschrecken“ in den Texten angedeutet.

[27] Natürlich würde sich ein derartiger Stimmungswechsel auch in der Melancholieliteratur bemerkbar machen.

[28] Schiera: Politische Melancholie. S. 46-47 bzw. 50-52.

[29] Sachs: Gesprech der Philosophia mit eynem melancolischen, betrübten jünglin. Zit. aus: Komm, heilige Melancholie. S. 293.

[30] Schorn-Schütte: Reformation. S. 27-29; Ebeling: Luthers Theologie. S. 10.

[31] Sehr wahrscheinlich handelt es sich bei dieser Erzählung vielmehr um eine Legendenbildung. Der Versuch des Dichters Nikolaj Alekseevič Nekrasov seine Melancholievorstellung zu versinnbildlichen zeigt nichtsdestotrotz eine ungewöhnliche Übereinstimmung mit Luthers Erlebnis bei Stotternheim auf: „Schwermut ist in meiner müden Seele, Schwermut – wohin ich auch schaue. Es hat angefangen zu regnen, und der Donner wird bald erdröhnen. Die Schnitter laufen eilig unter die Zelte, ich aber rette mich durch den Regen vor der Schwermut [...] ich gehe heim, voller Sehnsucht und innerer Erregung, ich ergreife die Feder, der Gewohnheit gehorchend, ich schreibe Verse“. Nekrasov: Unynie. Zit. aus: Komm, heilige Melancholie. S. 421.

[32] Luther hielt vor seinem Auftreten in der Öffentlichkeit an der Universität Vorlesungen über die Psalmen (1514/15), den Römerbrief (1515/16), den Galaterbrief (15/16) und den Hebräerbrief (1517/18). Martin Luther als Mönch. 10.03.2005.

[33] Der Konflikt mit Kirche und Papsttum entzündete sich am Problem des Ablasshandels bzw. war ein politischer Konkurrenzkampf zwischen den Kurfürstenhäusern Sachsen und Brandenburg. Albrecht von Brandenburg (1490-1545) wollte zum Erzbischof von Mainz (und damit Primas der deutschen Kirche und Erzkanzler des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation) gewählt werden. Die Wahl musste durch den Papst bestätigt bzw. erkauft werden. Als Unterstützung machte Rom ihm das Angebot, u.a. den sogenannten Petersablass über acht Jahre lang in seinen Territorien verkündigen zu lassen. Luther und seine Zeitgenossen sahen dies als einen Skandal an und der Mönch fühlte sich zum Handeln verpflichtet. Innerhalb weniger Wochen waren zahllose Drucke der 95 Thesen im Umlauf. Die im Frühjahr 1518 veröffentlichte knappe Predigt Sermon von Ablass und Gnade hat den Bekanntheitsgrad der Thesen noch übertroffen. Mit der Kommentierung rückte die Frage der kirchlichen Autorität in das Zentrum Luthers Schriften. Schorn-Schütte: Reformation. S. 31-39.

[34] Rede Martin Luthers vor Kaiser Karl und den Fürsten (Luther auf dem Reichstag zu Worms): Zit. aus: Guggenbühl: Quellen. S. 67.

[35] Zit. aus Ebd. S. 70.

[36] Luther auf der Wartburg. 10.03.2005.

[37] Der politische Einfluss von Kurfürst Friedrich von Sachsen war zu wichtig, als dass sich der Papst hätte gegen ihn wenden können. Wäre Luther im Jahre 1546 nicht eines natürlichen Todes gestorben, hätte man ihn vermutlich noch hingerichtet. Vgl. Ebeling: Luthers Theologie. S. 9.

[38] Klibansky: Saturn. S. 37. In der kognitiven Psychologie wird die Angst als Ausdruck der Hilflosigkeit (Belastungen oder Konflikte) betrachtet. Die Depression bestätigt darüber hinaus die Sinnlosigkeit aller Bemühungen, gegen diese anzugehen. Bei der Angst erscheint vor allem die Zukunft, bei der Depression aber Vergangenheit wie auch Zukunft düster und ohne Perspektive. Strian: Angstkrankheiten. S. 66.

[39] Doucet: Psychoanalytische Begriffe. S. 105. In der modernen Psychologie versteht man die melancholische Stimmung als Ursache einer äusseren (exogenen) Einwirkung (Erfahrungen bzw. Verletzungen) oder aber als einen inneren (endogenen) Prozess (psychisch, biochemisch). Wird die Schwermut derart intensiv, dass die Lebensqualität eingeschränkt wird, wird sie als pathologisch bezeichnet. Flashar: Melancholie. S. 21-23; Müri: Schwarze Galle. S. 165; Klibansky: Saturn. S. 37.

[40] Zit. aus einem Brief von Petrus Mosellanus (Disputation zu Leipzig). In: Guggenbühl: Quellen. S. 55-56.

[41] Zit. aus Melanchthons Trauerrede auf Luther. In: Ebd. S. 96.

[42] Zit. aus Luther: Tischreden. S. 44.

[43] Vgl. Schorn-Schütte: Reformation. S. 12 bzw. 28; Legenden um Luther: Der Blitz 10.03.2005.

[44] Vgl. Schorn-Schütte: Reformation. S. 27-28.

[45] Der Kapitalfluss belebte damals Gewerbe und Handel, Bildung und Kunst, die geistige und politisch-soziale Kultur. Moeller: Wirkung Luthers. S. 265-266.

[46] Seine Beziehung zu den Bauern ist zeitlebens zwiespältig. Einmal hat er „[...] keinen andern Wunsch als Bauer zu sein“, dann wieder ist er „allen Bauern überaus feind“. Luther: Tischreden. S. 201. Vgl. Moeller: Reichsstadt. S. 89; Schorn-Schütte: Reformation. S. 27. Luther über seine bäuerlichen Ursprünge in: Luther: Tischreden. S. 11-12.

[47] Zit. aus Luther: Tischreden. S. 206-207. Bereits in der antiken als auch in der zeitgenössischen Melancholieliteratur wird der Reichtum als ein Auslöser der Schwermut – oder doch zumindest als ein Zustand, der den Menschen in eine melancholische Stimmung versetzen kann – bezeichnet. Daher wird – nicht nur von Luther – in der Literatur besonders die Armut als Heilmittel gegen schwermütige Verstimmung gepriesen. U.a. bei Greiffenberg (Erholete Schwermütigkeit). S. 310; Pindemonte (Melanconia). S. 385; Von Lohenstein (Umbschrifft eines Sarches). S. 310-311; Assmann von Abschatz (Ich kann nicht lustig seyn). S. 312. Alle Zit. in: Komm, heilige Melancholie.

[48] Luther: Tischreden. S. 19.

[49] Zit. aus Luther: Tischreden. S. 19.

[50] Luther über sein Gelübdeversprechen: „Hilf du, hl. Anna, ich will ein Mönch werden!“ – Aber Gott hat damals mein Gelübde hebräisch verstanden: Anna, d.h. unter der Gnade, nicht unter dem Gesetz. Nachher reute mich das Gelübde, und viele rieten mir ab. Ich aber beharrte dabei [...]“. Zit. aus Ebd. S. 18.

[51] Ebd. S. 93.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Die Melancholie und ihre Auswirkungen am Beispiel Martin Luthers
Hochschule
Université de Fribourg - Universität Freiburg (Schweiz)  (Philosophische Fakultät)
Autor
Jahr
2005
Seiten
46
Katalognummer
V85303
ISBN (eBook)
9783638020282
ISBN (Buch)
9783638923026
Dateigröße
641 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Melancholie, Auswirkungen, Beispiel, Martin, Luthers
Arbeit zitieren
lic.phil. Nicole J. Bettlé (Autor:in), 2005, Die Melancholie und ihre Auswirkungen am Beispiel Martin Luthers, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85303

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