Identität - Blicke auf ein Konstrukt am Beispiel des islamischen Kommunitarismus im Westen und aus der Perspektive der Interkulturellen Pädagogik


Seminararbeit, 2005

36 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Identität: Prozess oder Ding?

3. Islamischer Kommunitarismus im Westen
3.1 In den USA
3.2 In Großbritannien
3.3 In Frankreich

4. Interkulturelles Lernen
4.1 Das Normenproblem
4.2 Themen und Grundlagen Interkulturellen Lernens
4.3 Subjektentwicklung
4.4 Interkulturelles Lernen durch Öffnung von Schule
4.5 Religiöse Erziehung und Interreligiöser Dialog

4. Zusammenschau und Schlussfolgerungen

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In einer globalisierten Welt, die immer komplexer wird, werden multikulturelle Gesellschaften die Regel. Eine neo-liberale Ökonomie trägt dazu bei, dass der Einzelne „zu einem entorteten, ökonomisch kalkulierenden, vereinzelten und verantwortungslosen Individuum zu werden droht“1. Ein demokratischer Staat, der multikulturell und heterogen zusammengesetzt ist, dessen Bürger in sich ständig verändernden sozialen und ökonomischen Verhältnissen leben, ist mit der Identitätsbildung des Einzelnen zu einem „demokratischen Aktivbürger“2 überfordert. Auch das Bedürfnis des Einzelnen nach Sicherheit ist allein durch die Staatsbürgerschaft nicht befriedigt, ebenso kann die Familie nicht ausreichend für Identitätsbildung und Sicherheit sorgen. Identitätsbildung geschieht häufig innerhalb von Gemeinschaften zwischen Individuum und Gesellschaft, in denen soziale Werte klar sind, in denen soziale Verantwortung, Solidarität und Selbstorganisation praktiziert werden können und innerhalb derer Sicherheit und Halt erfahren werden kann. Solange es gelingt, diese Gemeinschaften zusammenzuhalten, föderal zu organisieren und damit eine Nation von unten als „Gemeinschaft von Gemeinschaften“ aufzubauen, können diese Gemeinschaften die Basis für eine demokratische Ordnung des Staates darstellen. Meistens allerdings werden Identitätsgemeinschaften anhand von Kategorien wie Rasse oder Ethnie aufgebaut und tragen eher zu Abgrenzung und zu einer Zersetzung der Nation bei.

In einer multikulturellen demokratischen Gesellschaft müssen also Erfahrungsfelder entstehen, in denen das Individuum eine Identität entwickeln kann, die nicht über die Zugehörigkeit zu einer kleinen Gemeinschaft festgelegt wird, sondern die durch verschiedene soziale Beziehungen multipel oder komplex wird. Eine Persönlichkeit sollte entwickelt werden, die es erlaubt, Konflikte in sich selbst auszubalancieren3, mit Differenz umzugehen, auf den Anderen nicht mit Abgrenzung sondern mit Anerkennung zu reagieren und mit ihm in Beziehung zu treten.

In dieser Arbeit soll zuerst betrachtet werden, wie Identität verstanden werden kann und wie aus dem Bedürfnis nach stabiler Identität und Sicherheit in Zeiten sozialer, kultureller und ökonomischer Umbrüche Fundamentalismus entstehen kann. Identitätskonstruktionen gehen in diesem Fall einher mit Abgrenzung gegenüber dem Anderen und der Aufwertung des Eigenen. Ein Beispiel für eine solche Konstruktion von Identität liefert dann die Darstellung einer kommunitaristischen Gruppierung in den USA, des Islamischen Volks, anhand des Buches „Allah im Westen“ des Politologen Gilles Kepel von 1994. Auf diesem Buch basierend soll weiterhin die Entwicklung eines islamischen Kommunitarismus in Großbritannien und Frankreich untersucht werden, die ebenfalls mit der Berufung auf eine gemeinsame islamische Identität und dem Bruch mit dem Rest der Gesellschaft einhergeht. Auf die Konstruktion von Identität, bzw. das Festhalten an einer festgelegten Identität soll bei der Darstellung der Entwicklung dieser Gemeinschaften ein besonderer Fokus gelegt werden. Im nächsten Teil soll betrachtet werden, inwiefern Interkulturelles Lernen zu einer Identitätsentwicklung beitragen kann, die nicht über eine objektive Abgrenzung vonstatten geht, sondern es ermöglicht, mit Ambivalenzerfahrungen und Spannungen in einer komplexer und unübersichtlicher werdenden Gesellschaft umzugehen. Die Beziehung zum Anderen wird hier als Möglichkeit begriffen, selbst Identität zu entwickeln, zu lernen und sich zu verändern. Es geht nicht um Abgrenzung oder Vereinnahmung, sondern um gegenseitige Anerkennung. Es soll gezeigt werden, welche Ansätze, Grundlagen und Konzepte im Rahmen einer Interkulturellen Pädagogik vertreten werden, die helfen könnten, die eben beschworenen Erfahrungsfelder herzustellen, die dem Subjekt eine Identitätsbildung hin zu einem verantwortlichen, demokratischen Bürger, der in der heutigen komplexen Gesellschaft trotz aller Ambivalenzen und Veränderungen handlungsfähig bleibt oder wird, ermöglicht. Das Subjekt muss dazu Ausgangs- und Mittelpunkt der pädagogischen Bemühungen sein, so dass Subjektentwicklung in diesem Teil meiner Darstellung zentral sein wird. Als Beispiel für ein Erfahrungsfeld, das zur Entwicklung einer mündigen, handlungsfähigen Persönlichkeit beitragen kann, sollen Aspekte einer gemeinwesenorientierten, geöffneten Schule dargestellt werden. Schließlich wird ein Blick auf eine religiöse Bildung und den interreligiösen Dialog geworfen, die für ein friedliches Miteinander verschiedener Kulturen und damit auch Religionen unabdingbar sind. Im Schlussteil ist es mein Ansinnen, den ersten, politologischen Teil noch einmal mit diesem pädagogischen zu verknüpfen.

2. Identität: Prozess oder Ding?

Die Frage „Wer bin ich?“, die die Suche nach Identität zum Ausdruck bringt, ist eine, die sich jedem jeden Tag neu stellt. Identität ist nicht etwa etwas Festes, Stabiles, Dinghaftes, sondern etwas, das dynamisch und prozesshaft ist, Identität muss ich immer wieder neu finden und weiterentwickeln.4

Identität entwickle ich in Auseinandersetzung mit dem Anderen, der Erwartungen an mich

heranträgt, denen ich mich widersetze oder ihnen entspreche. Durch die Reaktion des Anderen auf mich erfahre ich etwas über mein Selbst.5

Nach Erikson befindet sich die Identität ständig in der Krise und muss so in einem lebenslangen Prozess weiterentwickelt werden. Die Ambivalenzen, die sich im Eigenen finden, müssen immer wieder verarbeitet und integriert werden, so dass es für den Einzelnen möglich wird, sich als ganzheitlichen Mensch, der trotz aller Veränderungen kontinuierlich er selbst bleibt, wahrzunehmen.6

Das Selbstbild ist dabei als konstruiertes Ganzes zu sehen, das als „Produkt neuronaler Musterbildung“7 zu begreifen ist: Unterschiedliche Wahrnehmungen und Erfahrungen werden im Gehirn verarbeitet, es wird ein Bedeutungsmuster konstruiert, das sinnstiftend ist, eine Identität wird hergestellt, ohne die weder Denken noch Begriffsbildung möglich wäre. Das Gehirn ist also ein sich selbst organisierendes System, das in ständigem Austausch mit der Außenwelt steht, aber ein Gleichgewicht erhält.8

Dem menschlichen Bedürfnis, die Realität zu deuten, steht allerdings eine solche gegenüber, die sich ständig verändert, die in Zeiten der Modernisierung und Globalisierung komplex und unübersichtlich geworden ist. Je unbegreiflicher sie für den Einzelnen wird, umso eher wird sie als fremd wahrgenommen. Um Orientierung zu ermöglichen, wird Komplexität reduziert. Um Eindeutigkeit wiederherzustellen ordnet man Menschen z.B. nach ihrer Hautfarbe, Herkunft und kulturellen Zugehörigkeit. Hierdurch wird es möglich, das Eigene vom Fremden abzugrenzen und simple Deutungsmuster zu entwerfen. Die Zuschreibung von Merkmalen kann von einem Einzelnen oder einer Gruppe selbst vorgenommen werden oder durch Fremde geschehen. Bezogen auf die Konstruktion von ethnischer Zugehörigkeit spricht man dann von Selbst- oder Fremdethnisierung. Sie dienen der Abgrenzung gegenüber dem, was als anders und fremd wahrgenommen wird, die eigene Identität wird durch Abgrenzung und Betonung der Unterschiede zum Anderen definiert. Geht die Zuschreibung bestimmter Merkmale einher mit einer Aufwertung des Eigenen und einer Abwertung des Anderen, entstehen Diskriminierung und Rassismus: Die Überlegenheit der Zugehörigen zu einer bestimmten Rasse, Kultur oder Religion wird behauptet, um die anderen als minderwertig abstempeln zu können. Besonders wenn vertraute Ordnungsmuster zusammenbrechen, besteht die Gefahr der Konstruktion solcher fundamentalistischer Weltbilder, um Ordnung wiederherzustellen. Meist sind dies politisch oder religiös gefärbte Deutungsmuster, die hochverallgemeinert sind und mit einem absoluten Wahrheitsanspruch auftreten. Was jemand als Fremd wahrnimmt, erinnert ihn häufig an Ambivalenzen im Eigenen, an Ängste und Wünsche. Anstatt sich mit intrapsychischen Ambivalenzen auseinander zu setzten, wird das Fremde, das im Eigenen entdeckt wird, bekämpft und verdrängt oder der Andere mit Projektionen aufgeladen. Holzbrecher arbeitet sechs charakteristische Merkmale fundamentalistischer Weltbilder heraus, die aus dem abwehrenden Umgang mit Ambivalenzerfahrung resultieren:

1. Demokratie und Gesellschaft erscheinen als „Chaos im Sinne einer Zerstörung von Ordnung“9. Es geht darum, Ordnung wiederherzustellen und Herrschaft auszuüben. Indem man sich auf eine nationale oder religiöse Identität beruft, soll anstelle einer diffusen Gesellschaft eine stabile Gemeinschaft gebildet werden, um die Angst zu bekämpfen, die aus Spannungs- und Ambivalenzerfahrungen resultiert.
2. Um eine klare Ordnung wiederherzustellen, wird die eigene Welt als rein und homogen
vorgestellt. Dabei wird das Chaos im eigenen Unbewussten bekämpft. Das Ich geht in einer scheinbar homogenen Gemeinschaft auf, störende Fremdheitserfahrungen werden ausgeblendet. Die Vorstellung von Reinheit und Homogenität des Eigenen liegt „ethnischen Säuberungen“ zugrunde.
3. Um klare Grenzlinien zu ziehen, wird das Andere gegenüber dem Eigenen abgewertet. Die Welt bleibt also fest in unterschiedliche aber nicht gleichwertige Einheiten geteilt. Auf dem eigenen Territorium kann die eigene Identität gewahrt bleiben, solche Identitätskonstruktionen lassen das Gefühl von Sicherheit entstehen.
4. Die Ordnung wird durch eine klare Hierarchie garantiert. Wahrheits- und Allgemeingültigkeitsansprüche, oft auch die Vorstellung „auserwählt“ zu sein, garantieren die Machtstellung der Elite, während die anderen sich unterordnenden diese durch Gehorsam und Gläubigkeit sichern. Ein höheres Ziel wird konstruiert, das Angst und Aggression beider bindet. Um das innere Gefühlschaos in den Griff zu bekommen, wird häufig eine strenge Askese gefordert, die jede Art von Sinnlichkeit unterdrückt.
5. Die konstruierte gemeinsame Identität wird mithilfe eines Gründungsmythos beschworen, die eigene Vergangenheit wird verklärt.
6. Um eine klare Identität zu sichern, wird zwischen Eigenem und Fremden eine klare Grenzlinie gezogen. Ein Freund-Feind-Schema wird konstruiert, der Kontakt mit dem Anderen wird vermieden, um die Stabilität des Eigen- und Weltbildes nicht zu gefährden.10

Anstatt Identitätsfindung als lebenslangen Prozess zu sehen, wird Identität hier verdinglicht, sie ist etwas Klares und Feststehendes, das durch das Fremde gefährdet wird. Sie dient so der Abgrenzung und der Ausschließung des Anderen.11

Beleuchtet werden soll nun die Konstruktion einer solchen verdinglichten Identität unter Berücksichtigung der dargelegten Merkmale am Beispiel des islamischen Kommunitarismus in den USA, wie sie Gilles Kepel in seinem Buch „Allah im Westen“ darstellt.

3. Islamischer Kommunitarismus im Westen

3.1 In den USA

Mit dem Fall der Mauer 1989 und dem Untergang der Sowjetunion lässt sich die Welt nicht mehr in den Gegensatz von Ost und West einteilen. Stattdessen ergibt sich eine neue Spaltung: Der Islam wird als das Reich des Bösen ausgemacht. Jetzt wird versucht, die „westliche zivilisierte Identität“ in Abgrenzung zu diesem „barbarischen Anderen“ zu klären. Kepel untersucht in seinem Buch „Allah im Westen“ von 1994 jenseits von dieser Spaltung Gemeinschaften im Westen, die sich auf eine gemeinsame islamische Identität berufen und einen bewussten kulturellen Bruch mit den Werten der Länder vollziehen, deren Bürger die Mitglieder dieser Gemeinschaft sind.

Am Beispiel von Gemeinschaften Schwarzer in den USA, Indopakistanies in England und Maghrebinern in Frankreich untersucht Kepel idealtypische Entwicklungen in der postindustriellen Gesellschaft, analysiert die sozialen Widersprüche, die diese Gruppen betonen und ihre Auffassung über die postindustrielle Gesellschaft. Untersucht werden Gemeinschaften, die (noch) Minderheiten und damit nicht repräsentativ für das Verhalten von Muslimen im Westen sind.12

Die Konstruktion einer gemeinsamen islamischen Identität13 ist besonders bei den Black Muslims in den USA aufschlussreich, weil sie sich frei für den Islam entscheiden, ohne dass sie ererbte oder geschichtliche Bezüge zum Islam haben. Stattdessen erfindet einer der Gründer der Bewegung eine gemeinsame Genealogie, einen Mythos, auf den sie sich berufen kann, um ihre Geschichte zu verklären. Im Gegensatz zu der Realität der Schwarzen, die durch ihre Geschichte der Versklavung und durch fortdauernde Ausbeutung und Diskriminierung geprägt ist, wird eine Abstammungsgeschichte erfunden, die ihnen Würde verleiht. Die Erfahrung des Rassismus wird umgedreht, indem nun die Weißen verteufelt werden, der Kommunitarismus erreicht seinen Höhepunkt in der separatistischen Forderung nach einem eigenen Staat.14

Die Entwicklung dieser Gemeinschaft, die sich auf den Islam beruft, soll hier detaillierter gezeichnet werden:

1930, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, leben viele Schwarze, die aus den Südstaaten eingewandert sind, in Elendsvierteln in Detroit und sind häufig als billige Arbeitskräfte in der Autoindustrie beschäftigt.

Zwischen 1930 und 1934 tritt dort ein Seidenhändler namens Wallace Fard als Prophet und Reinkarnation Allahs auf. Er erinnert die Schwarzen an ihre gemeinsame afrikanische Abstammung und die Verschleppung durch weiße Sklavenhändler. Fard fordert sie auf, die vergifteten Lebensmittel zu meiden, die der Weiße sie zu essen nötige. „Das Verbot bestimmter Nahrungsmittel scheint das erste Anzeichen für den Bruch mit den Sitten und Gebräuchen der anomischen und regellosen Gesellschaft zu sein, der erste Schritt auf dem Weg zu einer Gemeinschaft und Treuepflicht gegenüber Fard.“15 Fard kann etwa 8000 Anhänger um sich sammeln. Dieser Kult will den Schwarzen ihre wahre Identität wiedergeben, die die Weißen ihnen geraubt hätten. Zu diesem Zweck wird eine Namensänderung unternommen: Der „Sklavenname“ wird abgelegt, Fard gibt seinen Anhängern gegen Bezahlung einen muslimischen Namen. Die amerikanische Nationalität wird geleugnet und stattdessen eine Halbmondflagge für die Gemeinschaft entworfen. Zu bedenken ist dabei, dass die Schwarzen in den USA bis 1965 ihre Staatsbürgerrechte aufgrund der Rassentrennung und der Lynchjustiz in den Südstaaten nicht ausüben konnten, politisches Engagement war nur im Rahmen der Kirchen möglich, so dass sich die Bewegungen der Schwarzen der ihnen vertrauten religiösen Sprache bedienten. Die entwurzelten Schwarzen in Detroit und Umgebung suchten nach einer Orientierung und einer Religion. Das Christentum erschien ihnen als die Religion der Unterdrücker, die erlebte Ungerechtigkeit als eine, die im Namen des Gottes der Weißen vonstatten ging. Die Berufung auf den Islam erlaubt den Schwarzen anzunehmen, dass ihre Identität anders ist als die der Weißen, die Berufung auf Allah sichert also die Abgrenzung gegenüber dem Gott der Weißen und soll den Schwarzen die verlorene Würde wiedergeben.16

1934 übernimmt Elijah Muhammad die Kontrolle über die Bewegung des „Islamischen Volks“. 1942 wird er inhaftiert und bekehrt in seiner Zeit im Gefängnis bis 1946 zahlreiche Häftlinge. Gefängnisse avancieren zu einem der wichtigsten Betätigungsfelder der Black Muslims. Muhammad fasst in seinem Buch „Message to the Black Man in America“ die wichtigsten Lehren Fards zusammen, handelt religiöse Themen ab und entwirft soziale und wirtschaftliche Aktionsprogramme sowie einen Plan zur Errichtung eines separaten Schwarzenstaates.

In diesem Buch findet sich eine Kosmogonie, nach der die Schwarzen Nachfahren der Shabbaz, des ersten Stammes des Menschengeschlechts, seien. Diese Schwarzen hätten Mekka zuerst entdeckt. Im Verlauf dieses Mythos wird die weitere Geschichte so dargestellt, dass schließlich ein böser Gott namens Jakob die Weißen züchtet, die bösartig sind und sich anschicken, jedes Lebewesen zu unterwerfen. Der Sklavenhandel markiert den Höhepunkt ihrer Schandtaten. Gott nimmt sich schließlich in der Gestalt Fards der ursprünglichen Menschen in Amerika an und erkennt sie als islamisches Volk. Um die Befreiung von den Weißen zu erreichen, muss man sich in allen Bereichen des Lebens von ihnen abwenden. Wenn ein Schwarzenstaat errichtet ist, wird Allah die große Endschlacht gegen die Weißen führen.

In dieser Kosmogonie Fards und Muhammads werden herrschende rassistische Klischees umgekehrt, die Weißen werden als minderwertig und bösartig dargestellt. Vermischung mit den Weißen und Integration gelten als Verrat oder Gehirnwäsche.17 „Die Kosmogonie der Black Muslims ist eine Sakralisierung des Kommunitarismus und des Separatismus.“18 Außerdem erscheinen hier prächiliastische Vorstellungen, nach denen sich die Schwarzen nur als Volk der Erwählten zusammenschließen können, politisches Engagement aber nicht gefragt ist, da nur der Erlöser dafür sorgen kann, dass sich die bestehende Ordnung ändert. So ist also politische Aktivität der Mitglieder des Islamischen Volkes von Seiten der Führer nicht erwünscht.19

Allein das Prophetentum Muhammads und erst recht die Annahme der Reinkarnation Gottes in Gestalt Fards ist für einen traditionellen Muslim inakzeptabel.20 Allerdings gab es in den dreißiger Jahren in Detroit niemanden, der Muhammads und Fards Lehren als Irrlehren hätte entlarven können.21

Fard und Muhammad haben den Grundstein für eine Bewegung gelegt, die einen radikalen Bruch mit der gottlosen Umwelt vollziehen will und eine Resozialisierung in den Schwarzenghettos auf kommunitaristischer, also gemeinschaftsbezogener Basis anstrebt. Diese radikale Abgrenzung und Exklusivität konkretisiert sich vor allem in den strengen Geboten und Verboten des Islam, die gelegentlich ausgeweitet und abgeändert wurden. Die erste wesentliche Vorschrift sind die Nahrungsvorschriften, wie das Verbot von Alkohol und Schweinefleisch. Wer diese Vorschrift einhält, zeigt, dass er ein neuer Schwarzer ist, der seiner Zugehörigkeit zum Islamischen Volk bewusst ist und mit traditionellen Essgewohnheiten bricht. Die strengen Speisevorschriften gehen auch auf die richtige Analyse zurück, dass die Ernährung der Schwarzen in den Ghettos oftmals sehr schlecht und ungesund ist. Über die Ernährung kann eine neue Gruppenidentität gestiftet werden. Allerdings setzt hier auch das Moment der strengen Kontrolle über die Mitglieder des Islamischen Volks und die Einschränkung ihrer Freiheit ein: Aktivisten dürfen nicht fettleibig sein.

Die spezielle Diät bedingt den Bedarf entsprechender Geschäfte und Restaurants, so dass sich ein spezifischer Markt entwickelt, durch den die Mitglieder des Islamischen Volkes vom Markt der Weißen abgezogen werden und die Grundlage für den zukünftigen eigenen Staat gelegt wird. Muhammad etabliert sogar eine eigene Bank und baut ein Finanzimperium auf.22 Die strenge Disziplin, die von den Zugehörigen der Gemeinschaft gefordert wurde, die Überwachung des Einzelnen, das Tragen einer Art Uniform, die Gründung einer paramilitärischen Gruppe namens Fruit of Islam (FOI) und einer Organisation muslimischer Mädchen war eine Reaktion auf den Sittenverfall im Ghetto.23 Dies ermöglichte eine Resozialisierung auch für viele, die im Gefängnis angeworben wurden und eine Vergangenheit in der Welt der Drogen und Zuhälterei hinter sich hatten. Das Islamische Volk bot den Schwarzen einen klaren Identifikationsraum an und viele Anhänger schafften einen sozialen Aufstieg und fanden Arbeit in der Automobilindustrie.

Exemplarisch für einen solchen Aufstieg aus dem Drogenhandel und der Zuhälterei mit Hilfe des Islamischen Volks ist der Werdegang des Malcolm Little24, der im Gefängnis vom Islamischen Volk hört und schließlich konvertiert.

Nach seiner Entlassung 1952 wird er Vertrauter Elijah Muhammads. Seinen Nachnamen ersetzt er durch ein X, um sich seines Sklavennamens zu entledigen und die Anonymität der von Weißen ausgebeuteten Schwarzen in den Ghettos anzuprangern.

[...]


1 Lutz Niethammer, Kollektive Identität, S. 513.

2 Ebd.

3 Ebd., S. 513f.

4 Vgl. Peter Graf, Die Frage der Identität als Schule der Wahrnehmung, in: Dialog zwischen den Kulturen in Zeiten des Konflikts, S. 104 und 115.

5 Vgl. George Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt 1934, hier nach Holzbrecher: Wahrnehmung des Anderen. Zur Didaktik interkulturellen Lernens, S. 108ff.

6 Vgl. Alfred Holzbrecher, Wahrnehmung des Anderen. Zur Didaktik interkulturellen Lernens, S. 107-114 und Peter Graf, Die Frage der Identität als Schule der Wahrnehmung, in: Dialog zwischen den Kulturen in Zeiten des Konflikts, S. 99-117.

7 Alfred Holzbrecher, a.a.O., S. 115.

8 Vgl. ebd.

9 Alfred Holzbrecher, Interkulturelle Pädagogik, S. 19.

10 Vgl. Alfred Holzbrecher, Interkulturelle Pädagogik, S. 18-21.

11 Siehe auch Peter Graf, Die Frage der Identität als Schule der Wahrnehmung, S. 102-104.

12 Vgl. Gilles Kepel, Allah im Westen, S. 11-14.

13 Zwar ist im Folgenden in Anlehnung an Kepel weiterhin die Rede von gemeinsamer Identität, es wäre aber zu

überlegen, ob sich der Begriff „Ethnizität“ nicht besser eignete, zumal es sich hier um ein Konstrukt handelt, mit dem sich eine Gruppe durch den Glauben an und die Berufung auf bestimmte geteilte Besonderheiten wie Religion, gemeinsame Abstammung, etc. von anderen abgrenzt. Vgl. Hartmut Esser, Mobilisierung ethnischer Konflikte, in: Bade, Klaus, Migration - Ethnizität - Konflikt, S. 65. Eine andere Frage ist, ob Identität überhaupt kollektiv sein kann,...Siehe dazu Lutz Niethammer, Kollektive Identität, S. 19f..

14 Vgl. Kepel, S. 14f..

15 Gilles Kepel: Allah im Westen, S. 30.

16 Vgl. Kepel, S. 27-37.

17 Vgl Kepel, S. 40-47.

18 Kepel, S. 47.

19 Vgl. a.a.O. S. 45.

20 Nach der orthodoxen Lehre des Islam kann es nach Mohammed keinen weiteren Propheten geben. Die reine Transzendenz Gottes im Islam schließt eine Reinkarnation aus. Vgl. Kepel, S. 49f.

21 Vgl. Kepel, S. 49f.

22 Vgl. Kepel, S. 50-55.

23 Vgl. a.a.O., S. 59f.

24 Vgl. Kepel, S. 56ff.

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Identität - Blicke auf ein Konstrukt am Beispiel des islamischen Kommunitarismus im Westen und aus der Perspektive der Interkulturellen Pädagogik
Hochschule
Universität Osnabrück
Veranstaltung
Kulturelle Identität und Ethnizität als Leitkonzepte der Interkulturellen Pädagogik
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
36
Katalognummer
V85848
ISBN (eBook)
9783638043380
ISBN (Buch)
9783656057840
Dateigröße
758 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Identität, Blicke, Konstrukt, Beispiel, Kommunitarismus, Westen, Perspektive, Interkulturellen, Pädagogik, Kulturelle, Identität, Ethnizität, Leitkonzepte, Interkulturellen, Pädagogik
Arbeit zitieren
Judith Overbecke (Autor:in), 2005, Identität - Blicke auf ein Konstrukt am Beispiel des islamischen Kommunitarismus im Westen und aus der Perspektive der Interkulturellen Pädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85848

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