Sprache und Begriffsbildung im Chemieunterricht am Beispiel des IPN-Lehrgangs Stoffe und Stoffumbildungen (1. Teil)


Hausarbeit, 2001

43 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Warum wurde der Lehrgang Stoffe und Stoffumbildungen geschaffen

2. Was sind die Ziele des IPN- Lehrgangs?

3. Was wird in dem IPN- Lehrgang anders gemacht?

4. Sprache und Begriffsbildung im IPN- Lehrgang

5. Konkrete Darstellung des Lehrgangs
a) Vom Beginn des Chemieunterrichts zur Grundstoffhypothese
b) Von der Grundstoffhypothese zur Atomhypothese
c) Übersicht über die Inhalte des IPN-Lehrgangs: Stoffe und Stoffumbildungen; 1.Teil Ein Weg zur Atomhypothese

6. Theorie der chemischen Unterrichtssprache

7. Theorie der Begriffsbildung

8. Vergleich des IPN- Lehrgangs mit Lehrplänen und Schulbüchern
a) Beschreibung der Inhalte des Lehrplans des Faches Chemie am Gymnasium Klasse 8 in Bremen, sowie Beschreibung der Inhalte des Fachrahmenplans an niedersächsischen Gymnasien in Klasse 8
b) Methodische Vorgehensweise im Schulbuch „elemente Chemie I“[29]

9. Quantitative Beziehungen bei chemischen Reaktionen
a) Vergleich zum IPN- Lehrgang

10. Persönliche Einschätzung des IPN- Lehrgangs

1. Warum wurde der Lehrgang Stoffe und Stoffumbildungen geschaffen

Der Chemieunterricht steht hinsichtlich seiner Methodik besonderen Problemen gegenüber, die die anderen naturwissenschaftlichen Fächer nicht in gleicher Weise haben. Chemie zählt zu einem der unbeliebtesten Schulfächer überhaupt. Nach einer Umfrage, in der Schülern 10 Unterrichtsfächer vorgelegt worden sind, die sie mit einer Schulnote bewerten sollten, schnitten die exakten naturwissenschaftlichen Fächer Mathematik, Chemie und Physik am schlechtesten ab. Chemie (3,67) liegt dabei zwischen Mathematik (3,37) und Physik (4,13); Biologie als weitere Naturwissenschaft liegt bei 2,89.[1]

Was sind die Probleme des Chemieunterrichts, die diese Ergebnisse verursachen: Bei der Deutung chemischer Phänomene versagen Vorstellungen der Mechanik, über die Schüler der Sekundarstufe I im allgemeinen mühelos verfügen. Kein einziger der chemischen Grundbegriffe kann dadurch eingeführt werden, dass man Vertreter der vom Begriff bezeichneten Klasse konkret vorstellt, und auf einer, dem Schüler mit seinen bisherigen Vorstellungen, begreiflichen Art vermittelt. Atome, Moleküle und Ionen kann man ebenso wenig vorzeigen, wie eine kovalente Bindung. Selbst Elemente und Verbindungen kann man nicht einfach demonstrieren. Zum Verstehen solcher Begriffe und die damit zusammenhängenden Phänomene, hat die Chemie die Atomhypothese und weitere Hypothesen über den submikroskopischen Bereich entwickelt. Alle makroskopisch wahrnehmbaren chemische Phänomene werden letztlich durch Annahmen über den nicht wahrnehmbaren, submikroskopischen Bereich gedeutet. Es ist zum einen die Unsichtbarkeit dieses Bereiches, die der Vorstellung Schwierigkeiten bereitet. Noch problematischer ist aber, dass man sich die Elemente dieses unsichtbaren Bereiches, also zum Beispiel die Atome oder die Atomkerne und Elektronen, nicht lediglich als besonders kleine Teilstücke der Dinge vorstellen darf. Man würde sonst sofort in Wiedersprüche verwickelt werden. Wenn man sich beispielsweise ein Kupferatom als winziges, rotes Kupferstückchen vorstellt, ist nicht zu verstehen, warum Kupferoxid oder amorphes Kupfer schwarz sind. Eine wesentliche Ursache für die methodischen Schwierigkeiten des Chemieunterrichts, und damit auch des Verstehens der Schüler, ist also darin zu suchen, dass die Vorstellungen, auf die der Unterricht hinzielt, schwer zu entwickeln sind.[2]

Ein anderer Faktor, warum es Schülern schwer fällt Chemie zu begreifen ist der, dass sie bereits Vorstellungen über die stoffliche Welt mit in den Anfangsunterricht bringen. Die Schüler haben sich schon bereits etliche Jahre mit der stofflichen Welt auseinandergesetzt, bevor der Chemieunterricht eingeführt wird. Sie haben viele Erfahrungen Verarbeitet, solche die unmittelbar den Phänomenen selbst entstammen, wie auch andere, die durch verschiedene Medien vermittelt werden. Dabei haben sie ihre eigenen Erklärungen für die Phänomene in ihrer Umwelt gefunden. Die meisten den Schülern bekannten chemischen Phänomen sind so beschaffen, dass sie die Deutung, die die Chemie für sie entwickelt hat, eher verdecken als erschließen. Zum Beispiel ist es den Schülern nicht möglich, vor Beginn des Chemieunterrichts zu erfahren, dass bei Verbrennungen die Elemente oder Verbindungen nicht unwiederbringlich vernichtet werden, sondern sich wiedergewinnen lassen. Der Gedanke an eine Erhaltung von Grundstoffen oder gar von Atomen liegt außerhalb des Erfahrungsbereiches der Schüler. Er kann gar nicht aufkommen. Schüler gewinnen ihre Erfahrungen nun nicht nur von den Phänomenen selbst, sondern auch aus den Medien, von Eltern oder Freunden. Diese Erfahrungen können von den Schülern nicht den Phänomenen zugeordnet werden, und beginnen in den Köpfen ein Eigenleben zu leben, dass völlig unvereinbar mit den gültigen Vorstellungen der Chemie ist. Mit dem Heranwachsen der Kinder wandeln sich die Deutungen der Phänomene.[3] Sie werden aber nicht auf die heute gültigen Theorien gelenkt. Die Schüler kommen in den Chemieunterricht mit festgefügten und bewährten Vorstellungen, die nicht nur unfertig oder unklar und in sich nicht widersprüchlich sind. Ein ganz wesentlicher Teil der Vorstellungen ist bestechend klar und in sich konsistent, steht aber im Widerspruch mit den heutigen Theorien. Unterricht muss Schüler nicht nur von Unkenntnis zu Kenntnis führen, er muss auch vorhandene Kenntnisse durch andersartige Kenntnisse ersetzen. Schüler müssen umlernen. Und das ist schwerer als neu dazu lernen.[2]

Zusammenfassend kann man also sagen, dass der Chemieunterricht für Schüler so schwer verständlich, und damit auch unbeliebt, aus folgenden beiden Gründen ist:

1. Einerseits ist der Lehrstoff aufgrund seiner Abstraktheit und wegen der Reduzierung auf den submikroskopischen Bereich schwer verständlich
2. Zum anderen bestehen in den Köpfen der Schüler bereits feste Vorstellungen über die stoffliche Welt, die nicht den gültigen Theorien der Chemie entsprechen. Der heutige Chemieunterricht unterschätzt diese Tatsache und ignoriert diese Vorstellungen. Das führt dazu, dass diese Vorstellungen neben den gelehrten chemischen Theorien weiterexistieren.

2. Was sind die Ziele des IPN- Lehrgangs?

Es ist nach J. Dewey ein Grundsatz eines jeden Unterrichts, dass dieser bei den Vorstellungen der Schüler anzusetzen und im weitern Verlauf die Kontinuität der Erfahrungen zu wahren hat.[4] Wer nicht zu den fundamentalen Vorstellungen und Begriffen der Naturwissenschaften hingeführt wurde, der wird kaum erfahren können, worum es in den Naturwissenschaften geht.

Der Chemieunterricht an unseren Schulen gleicht stark einem verkürzten Universitätsstudium. Beispiel dafür mag sein, dass im Chemieunterricht die Schüler schon relativ früh mit dem äußerst schwer vorstellbaren Kern- Elektronen- Modell des Atoms konfrontiert werden. Es ist bisher methodisch nicht gelungen, den Chemieunterricht für Schüler so gangbar zu machen, dass die Chemie für die Schüler voll einsichtig wird. An dieser Stelle haben die Autoren des IPN- Lehrgangs, „Stoffe und Stoffumbildungen“, angesetzt. Es wurde versucht, methodische Grundsätze, die in den 80er Jahren weitgehend anerkannt waren, stärker in den Chemieunterricht einzubringen, um auf diese Weise Unterrichtsziele, die auch schon früher verfolgt wurden, besser zu erreichen. Dies ist nötig, weil das, was die Schüler bisher im Chemieunterricht lernen, für eine Auseinandersetzung mit der stofflichen Welt nur wenig hilfreich ist. Es hat zu wenig Bezug zu dieser und ist daher oft ein Fremdkörper in der Vorstellungswelt der Schüler. Als solcher wird er nach der Schulzeit rasch abgestoßen. Das chemische Unverständnis, und die geringe Wertschätzung des Chemieunterrichts bei Erwachsenen, legen hiervon ein Zeugnis ab.[2]

Der Unterricht der in diesem Curriculum vorgestellt wird, versucht sich stark an den Schülern zu orientieren. Ein solcher Unterricht verläuft oft anders als in den Richtlinien und Lehrplänen vorgegeben ist, und erfordert dafür mehr Zeit, als in den Stundentafeln bewilligt ist. Es soll mit diesem Lehrgang nicht etwas geschaffen werden, was sich an die bisherigen Vorgaben hält, die offenbar nicht ausreichen, den Schülern Chemie verständlich zu machen. Mit ihrem Vorschlag wollen die Autoren mittels ihres Lehrgangs Anregungen geben, wie die Lehrpläne geändert werden müssen, um die Schüler sinnvoll mit der Chemie vertraut zu machen.

3. Was wird in dem IPN- Lehrgang anders gemacht?

Wie im Abschnitt 1 dargelegt wurde, sind es zwei Probleme, die den Chemieunterreicht für Schüler schwer verständlich machen. Das erste Problem ist die Thematik des Unterrichts, der im Vergleich zu anderen Unterrichtsfächern, auch zur Physik sehr abstrakt ist. Diesem Problem ist kaum zu begegnen, weil Chemieunterricht den Anspruch haben sollte, die abstrakten Theorien den Schülern auch tatsächlich vorzustellen. Die allgemeinen Lernziele des Chemieunterrichts sind doch relativ abstrakt gehalten: Fachsprache und Fachsymbolik, Modelldenken, Phänomene und Teilchenorientierung usw.. [5] Zwar gibt es neuerdings Ansätze diesem zu begegnen und einen Unterricht zu schaffen, der alltagsorientiert ist und damit für die Schüler besser verständlich, [10] aber dass Grundproblem bleibt, nämlich die Atomtheorie usw.

Den Schülern sollen die Voraussetzungen gegeben werden, Kenntnisse über Chemie und chemische Technik zu erfassen. Dabei soll der Chemieunterricht den Schülern die Gesetzmäßigkeiten, die den Aufbau und die Umbildung der Stoffe beherrschen, in ihren Grundzügen verstehbar zu machen. Auch soll die Entwicklung einer tragfähigen Vorstellung von der Diskontinuität im Aufbau der Stoffe, und von etwas Unverwandelbarem im Wandel der Erscheinungen, dass heißt von etwas Unveränderlichem bei Stoffumbildungen, gezeigt werden. Diese weitreichenden Ziele des Chemieunterrichts lassen es nach J. Weninger und H . Pfundt nicht zu, zugunsten einer größeren Fachbeliebtheit, bzw. eines höherem Verständlichkeitsgrades, die Inhalte zu reduzieren und weniger abstrakt im submikroskopischen Bereich zu agieren.

Den Autoren nach muss anders vorgegangen werden auf dem Weg zu mehr Verständnis seitens der Schüler von Chemie. Das zweite Problem, das die Autoren ansprechen, sind die bereits vorhandenen oft nicht mit den gültigen Theorien der Chemie vergleichbaren Vorstellungen, die sich im Laufe des Lebens in den Schülerköpfen festgesetzt haben. An dieser Stelle setzt der IPN- Lehrgang an. Der Lehrgang versucht dem Lehrer einen Weg zu weisen, den er mit den Schülern gehen kann, damit sie von ihren bisherigen Vorstellungen zu jenen der heutigen Chemie gelangen. Dabei wird sehr viel Zeit darauf verwendet, die Schüler mit chemischen Denken vertraut zu machen, und keine Vorgaben zu machen, sondern im Gegenteil, die Schüler über Phänomene bei Versuchen anzuhalten, ihre Vorstellungen als falsch anzusehen und durch die neuen zu ersetzen. Die Schüler entwickeln die gültigen Theorien selbst.

Dabei bilden sie zeitweise Übergangstheorien, die später durch neue noch tragbarere Theorien ersetzt werden.. Es ist das besondere Charakteristikum des Lehrgangs, dies im gesamten Lehrgang durchzuhalten, und zeichnet diesen dadurch aus.

Schüler kommen mit der konkreten Vorstellung in den Chemieunterricht, dass Stoffe, die verbrennen, beispielsweise Holz im Kamin, oder Häuser die abbrennen, unwiederbringlich vernichtet sind. Dies wird in dem Lehrgang widerlegt, indem zunächst dargestellt wird, wie Metalle aus ihren Erzen gewonnen werden; einige Schulstunden später werden Metalle durch Hitze umgebildet und es wird festgestellt, dass die Metalloxide den Erzen stark ähneln. Durch Reduktion mit Holzkohlekoks wird den Schülern dargestellt, dass in dem durch Hitze umgebildeten Metall etwas von diesem erhalten geblieben sein muss. Die Schüler können ihre Vorstellung nicht halten. Sie müssen sie durch neue Vorstellungen ersetzen, die aber noch keineswegs die Endgültigen sind, denn in diesem Abschnitt des Lehrgangs wurden Atome noch nicht erwähnt. Diesen Bewusstwerdungsprozess müssen die Schüler selbst vollziehen. Der Lehrer hat ihnen nur Ideen und Anstöße gegeben, die Phänomene enthielten. die Phänomene mussten die Schüler dazu bringen umzudenken. Allerdings hat dieses Vorgehen einen Nachteil. In dem Lehrgang ist für die Feststellung, dass aus Metallerzen Metalle gewonnen werden können, eine Unterrichtseinheit vorgeschlagen, die 11 Schulstunden umfasst. Alleine die Feststellung, dass sich die Metalle zurückgewinnen lassen, bedarf 3 Unterrichtsstunden, wobei hierbei noch nicht klar ist, dass Sauerstoff an dieser Reaktion beteiligt ist. In diesem Schema ist der Lehrgang komplett aufgebaut: Langsames Vorgehen, wobei die Schüler die Vorstellungen über Experimente selbst entwickeln und dabei eine menge Stoffchemie als Randerscheinung dargeboten bekommen. Besonderen Wert wird in diesem Lehrgang auf die Ausbildung einer korrekten, aber auch von den Schülern bewusstgemachten Fachsprache gelegt. Diese wird genauso wie die Phänomendeutungen dort begonnen, wo die Schüler beim Eintritt in den Chemieunterricht stehen. Sie wird sehr langsam von der Alltagssprache aus entwickelt, und die sachliche, begriffliche und terminologische Klärung sollte immer Hand in Hand gehen.

4. Sprache und Begriffsbildung im IPN- Lehrgang

In dem IPN- Lehrgang „Stoffe und Stoffumbildungen“ wird besonders großen Wert auf eine korrekte Erarbeitung der Fachsprache gelegt. Im Chemieunterricht sind mindestens drei Sprachebenen wichtig:

- Die Fachsprache der Chemie
- Die Umgangssprache der Schüler ( Muttersprache)
- Die Lehrer- (Unterrichts-) sprache

Die sprachlichen Fähigkeiten der Schüler, etwa Wortschatz, Syntax, Verwendung von Oberbegriffen, sind von kognitiven Entwicklung und von Sozialisationseinflüssen geprägt.[6] Nach vorliegenden Ergebnissen beeinflusst das Sprachvermögen auch das Lernen von Chemie.[5] Schüler müssen im Chemieunterricht Versuchsaufbauten beschreiben, Beobachtungen, Ergebnisse und Folgerungen formulieren und unterscheiden, Fragen bzw. Hypothesen formulieren, Schulbuchtexte verstehen, usw. [5] Die Umgangssprache ist überwiegend an sinnliche, dem Alltag entnommene Phänomenen gebunden, deren Wiedergabe und Erfassung sie ermöglicht. Sie stellt aber kaum abstrakte Begriffe bereit. So wird vor allem im Anfangsunterricht das Verständnis von jenen fachwissenschaftlichen Begriffen erschwert, die zwar aus Phänomenen abgeleitet sind, aber fachwissenschaftlich keinen konkreten Bezug besitzen, und möglicherweise in der Umgangssprache andere Vorstellungen assoziieren. Das Wort Bindung beispielweise kennen die Schüler aus der Alltagssprache als Verknüpfung von zwischenmenschlichem, oder von Werkstoffen. Die Schüler müssen aber erkennen, dass in der Chemie damit etwas anderes gemeint ist, nämlich im submikroskopischen Bereich die Reaktion von Stoffen zu Verbindungen. Damit wird gleichzeitig das Verstehen fachwissenschaftlicher Vorstellungen blockiert.

In der Unterrichtssprache vermischen sich oft Umgangs- und Fachsprache. Dabei kann die unreflektierte Anwendung beider Sprachebenen das Nicht-Verstehen-Können chemischer Begriffe und Zusammenhänge verursachen.[7] Fachbegriffe bleiben dann bestenfalls als auswendig gelernte Worthülsen haften. Sie bringen die Sache den Schülern nicht nahe, wenn Schüler keine Gelegenheit hatten, sich zunächst muttersprachlich ein chemisches Phänomen zu erschließen.[5] Die Muttersprache ist die Sprache des Verstehens, die Fachsprache ist die Sprache des Verstandenen.[2]

Genau an dieser Stelle setzt der IPN- Lehrgang an. Lernende müssen den Begriff in Bezug auf eine Klasse konkreter Situationen, die durch Phänomene entstehen, kennen lernen. Hier liegt die fundamentale Begründung für die praktische Labortätigkeit im naturwissenschaftlichen Unterricht. Um passende Werkzeuge für das Nachdenken über, und die Auseinandersetzung mit der realen Welt abzugeben, müssen Begriffe auf aktuelle Erfahrungen rückführbar sein. Diese liefern ihnen eine operationale Bedeutung, die auf keine andere Weise zu gewinnen ist.[8] Man denke dabei an das Wort Reaktion. Man könnte einem Schüler viel von Reaktionen erzählen, ihm Beispiele vorlegen was Reaktionen sind, warum sie ablaufen und warum nicht. Aber dieser Schüler könnte sich keine reale Vorstellung davon machen, wie eine Reaktion aussieht, wenn er noch nie einige Reaktionen gesehen hätte. H. Stork gibt dazu ein Beispiel: Einem Lernenden soll vermittelt werden, was ein Kante ist. Dazu demonstriert der Lehrer einige Kanten (etwa die Tischkante, die Tafelkante, die Kante eines Würfels); und die Lernenden benennen diese Kanten als solche. Nun gilt es, zwischen den Kanten und einer Vielzahl von Wahrnehmungen, die keine Kanten sind, zu unterscheiden. Die Tafeloberfläche, die Türecke oder die runde Zuleitung zum Wasserhahn sind keine Kanten. Bei diesem Diskriminationslernen muss man darauf achten, den zu erlernenden Begriff breit genug zu repräsentieren. Ist eine breite Repräsentation gegeben worden, so kann das eigentliche Begriffslernen vollzogen werden.[8]

Im IPN- Curriculum werden Fachbegriffe „erlebt“. Erleben meint hier die kritische Auseinandersetzung mit den Begriffen. Diese Auseinandersetzung folgt daraus, indem die Begriffe vor allem in Form von Experimenten, aber auch durch Kennenlernen von Stoffen und Phänomenen während des Unterrichts, veranschaulicht werden. Es geht den Autoren vor allem darum, Schüler nicht mit Scheinwissen zu beladen. Jeder Fachbegriff, soll aus der Muttersprache entwickelt werden, und erst nachdem ein Phänomen, das den jeweiligen Zustand beschreibt, „erlebt“ wurde, mit dem Fachwort belegt werden, das dem Kenntnisstand der Schüler angemessen ist.

Ein Beispiel hierfür ist die Entwicklung des Begriffes Kohlenstoffdioxid. Bereits in der zweiten Unterrichtseinheit, nach der 8 Unterrichtsstunde, nach Einführen der Chemie als Schulfach und nachdem Kalk gebrannt wurde, wird das entstehende Gas nachgewiesen. Von den Schülern wird es, ihrem Kenntnisstand entsprechend, als Kalkgas bezeichnet, weil es sich um ein Gas handelt, das aus Kalk entweicht. Der Lehrer könnte das Gas natürlich an dieser Stelle als Kohlenstoffdioxid definieren, aber die Schüler müssten bei kritischer Betrachtung feststellen, dass sie nicht wissen, was sie mit diesem Namen aussagen. Denn sie haben an dieser Stelle weder Kohlenstoff kennen gelernt, noch wissen sie, was ein Oxid ist, und sie wissen dazu noch nichts mit der Silbe „di“ anzufangen. Erst am Ende der vierten Unterrichtseinheit, nach 32 Unterrichtsstunden (entspricht bei zwei Stunden Chemieunterricht in der Woche nach 16 Wochen), erfahren die Schüler, dass Kohlenstoff, der in einer Sauerstoffatmosphäre verbrannt wird, dasselbe Gas bildet, wie es beim Kalkbrennen in Erscheinung getreten ist. Der Lehrer gibt in diesem Zusammenhang den Hinweis, dass Stoffe, die in Sauerstoff verbrannt werden, also in Oxygenium, Oxide genannt werden. Es handelt sich hierbei also um das Oxid des Kohlenstoffs, um Kohlenstoffoxid. Diese Benennung entspricht dann dem derzeitigen Kenntnisstand der Schüler, die gerade erfahren haben, dass Verbrennungsprodukte unter Sauerstoff Oxide sind. Als nächstes lernen die Schüler das brennbare Kohlenstoffoxid kennen, indem Zinkoxid mit Kohlenstoff zur Reaktion gebracht wird und das entstehende Gas aufgefangen und entzündet wird. Dass es sich um ein Kohlenstoffoxid handelt, ist darin begründet, dass das Zinkoxid zu Zink wird, während der Kohlenstoff mit dem Sauerstoff aus dem Zinkoxid reagiert haben muss. Der dann resultierende Kenntnisstand der Schüler ist der, dass ein brennbares und ein nicht brennbares Kohlenstoffoxid existiert. Dieses erfahren sie bereits zwei Stunden später, nachdem sie das Kohlenstoffoxid kennen gelernt haben. Innerhalb des 1.Teils des IPN- Lehrgangs „Stoffe und Stoffumbildungen“, bleiben die Schüler bei diesen Namen für die Kohlenstoffoxide. Erst im zweiten Teil nachdem die Schüler zur Atomhypothese erlebend hingeführt wurden und ihnen diese plausibel ist, haben, können die Silben „di“ und „mono“ eingeführt werden. Die Schüler müssen verstanden haben, das Stoffe nicht kontinuierlich aufgebaut sind, sondern aus Atomen bestehen, die wiederum Moleküle bilden, und das diese Moleküle aus einem Kohlenstoffatom, und je nach Gas aus einem oder zwei Sauerstoffatomen bestehen. Dieses Beispiel soll das Prinzip, mit dem der Lehrgang aufgebaut ist, verdeutlichen. Dies ist nur ein Beispiel von vielen, wie sich Fachbegriffe aus der Muttersprache der Schüler entwickeln. Ein weiteres Beispiel ist die Definition für die Metalloxide in den Anfangsstunden. Die Erfahrung hat gezeigt, dass viele Schüler die Verbrennungsprodukte von Metallen als Aschen bezeichnen. Dieser Name, der der Muttersprache der Schüler entspringt, wird im Lehrgang aufgegriffen, und in einer klaren Bedeutung umrissen: Aschen sind feste Verbrennungs- und Verglühungsprodukte. Später, wenn die Schüler erleben, dass Sauerstoff an dem Verbrennungsvorgang beteiligt ist, und dass es sich bei Sauerstoffverbrennungen um Oxide handelt, wird erst der Name Metalloxid eingeführt.

Eine weitere Reform des Lehrgangs ist die, dass gefordert wird, Fachwörter eindeutig und präzise zu belegen, damit es bei den Lernenden nicht zu Verwirrungen kommt. Dabei sollen einige Wörter, die nach der DIN zwar normativ festgelegt sind, die der Chemiker auch verwendet, durch andere, für die Schüler besser geeignete Namen, ersetzt werden. Viele Chemiker, aber auch Lehrer, verwenden statt des Wortes Kohlenstoffdioxid, das Wort Kohlendioxid. Nach dem didaktischen Konzept des Lehrgangs muss ein Schüler bei genauem Reflektieren über das Wort Kohlendioxid zu dem Entschluss kommen, dass es sich hierbei um ein Oxid der Kohle handelt, oder dass Kohle und Kohlenstoff identisch seien, und deshalb das Wort „stoff“ vernachlässigt werden kann. Dasselbe Prinzip gilt bei dem Namen Kalkwasser. Kalk umfasst die Begriffe Löschkalk, also Ca(OH)2 und Branntkalk, also CaO. Für die Schüler ist es ein Problem, zu wissen, welcher Kalk gemeint ist. Es ist daher besser den Namen Kalkwasser, durch den Namen Löschkalklösung zu ersetzen. Ein drittes Beispiel, bei dem es um die Eindeutigkeit von Fachsprache geht, ist der Name Gleichung. Auch dieser ist für die Schüler hochproblematisch. Eine Gleichung ist aus der Mathematik dafür bekannt, dass auf beiden Seiten des Gleichheitssymbols gleiche Anteile von Mengen sind. In der Chemie ist es gerade oft nicht so, dass auf den beiden Seiten der Gleichung gleiche Mengen an Stoffen stehen. Bei der Reaktion von Kupfer mit Schwefel entsteht Kupfersulfid. Auf der Eduktseite stehen zwei Stoffe, auf der Produktseite nur noch einer. Schüler im Anfangsunterricht sollten darauf aufmerksam werden, dass es sich dabei nicht um eine Gleichung handeln kann. In dem IPN- Lehrgang wird statt des Wortes Gleichung von Umbildungssymbol gesprochen. In der heutigen Fachdidaktik ist das Wort Reaktionsschema gängig.

Innerhalb des Lehrgangs wird auch großer Wert auf die Eindeutigkeit von Fachwörtern und Symbolen gelegt. So fällt auch das Pluszeichen (+) innerhalb von Gleichungen unter die von den Autoren als kritisch eingestuften Symbole. Im Mathematikunterricht wird dieses Zeichen zum Addieren von gleichartigen Mengen verwendet. Da in der Chemie in Umbildungssymbolen Stoffportionen miteinander reagieren, darf das Pluszeichen nicht verwendet werden, weil es zu Verwirrungen der Schüler führen kann. Hier wird vorgeschlagen, das allgemeine Verknüpfungszeichen (◦) einzuführen. Es hat eine aufzählende und zusammenfassende Bedeutung: Die Stoffe werden nur aufgezählt, nicht addiert; und sie werden zusammen aufgezählt. Besonders verwirrend für die Schüler kann die Vieldeutigkeit von Symbolen werde, die den Atomen vorbehalten sein sollen. Symbole wie H, O oder Cu können folgendes bedeuten:[9]

[...]


[1] V. Woest, Der ungeliebte Chemieunterricht. MNU 5/1, 1997

[2] J. Weninger und H. Pfundt, Stoffe und Stoffumbildungen 1. Teil: Ein Weg zur

Atomhypothese. IPN- Lehrgang 1979

[3] J. Piaget und B. Inhelder, Die Psychologie des Kindes. Olten und Freiburg: Walter, 1972

[4] J. Dewey, O. Handlin und W. Correll. Reform des Erziehungsdenkens. Weinheim: Beltz

1966

[5] H.-J. Becker, W.Glöckner, F. Hoffmann und G. Jüngel, Fachdidaktik Chemie. Aulis

Verlag Deubner & CO KG, Köln 1992 und dort zitierter Literatur

[6] B. B. Bernstein, Soziale Schicht, Sprache und Sozialisation. In: G. Hartfiel und K. Holm

(Hrsg.), Bildung und Erziehung in der Industriegesellschaft. Opladen 1973, S.233

[7] H. ten Voorde, die Kluft des Nicht-Verstehen-Könnens: Ein Problem des Unterrichts.

chem. Did. 9, S138 (1983b)

[8] H. Stork: Sprache im naturwissenschaftlichen Unterricht.

[9] J. Wehninger: Chemie ein unentbehrliches Bildungsfach. In: MNU 13, 1960/61, 385-393

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Sprache und Begriffsbildung im Chemieunterricht am Beispiel des IPN-Lehrgangs Stoffe und Stoffumbildungen (1. Teil)
Hochschule
Universität Bremen  (Chemiedidaktik Uni Bremen)
Veranstaltung
Alte und neue Anforderungen an den Chemieunterricht und welche Qualifikationen benötigen Chemielehrer
Note
1,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
43
Katalognummer
V8590
ISBN (eBook)
9783638155236
Dateigröße
553 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Erstaunliche Erkenntnisse über die Wahl der Sprache im Chemieunterricht. Die Fachsprache ist an den Schülervorstellungen festzumachen. Was ist aigentlich Fachsprache, Unterrichtssprache und Alltagssprache? Der IPN-Lehrgang Stoffe und Stoffumbildungen als eines der wenigen ganzheitlichen Curricula wird unter die Lupe genommen, allerdings nur des erste von drei Teilen. 268 KB
Schlagworte
Alltagssprache, Fachsprache, Unterrichtssprache, IPN- Lehrgang, Stoffe und Stoffumbildungen, Begriffsbildung, Schülervorstellungen
Arbeit zitieren
Robert Kirchner (Autor:in), 2001, Sprache und Begriffsbildung im Chemieunterricht am Beispiel des IPN-Lehrgangs Stoffe und Stoffumbildungen (1. Teil), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/8590

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