Beowulf - Eine sprechakttheoretische Untersuchung


Magisterarbeit, 2006

113 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltverzeichnis

Einleitung

1. Gnomik in der altenglischen Dichtung
1.1 Definitionen
1.2 Maximen und Gnomai in Abgrenzung zu Sprichwörtern
1.3 Verben: sculon und beon
1.4 Weitere Elemente
1.5 Spruchweisheiten aus kultureller Sicht
1.5.1 Wissen in der angelsächsischen Gesellschaft
1.5.2 Die Funktion von Spruchweisheiten aus kultureller Perspektive
1.5.3 Typisierung, Objektivierung, Institutionalisierung und Reifizierung
1.5.4 Zusammenfassung
1.6 Die strukturelle Funktion von Spruchweisheiten innerhalb einer Dichtung

2. Eine Theorie illokutionärer Akte
2.1. Illokutionäre Kräfte und Propositionen
2.2 Die sechs Komponenten der illokutionäre Kraft
2.2.1 Der illokutionäre Zweck Π
2.2.2 Durchsetzungmodus µ
2.2.3 Bedingung des propositionalen Gehalts θ
2.2.4 Vorbereitende Bedingungen Σ
2.2.5 Aufrichtigkeitsbedingung Ψ
2.2.6 Der Grad der Stärke der Aufrichtigkeitsbedingung (η)
2.3 Illokutionäre Stammkräfte
2.4 Einfache illokutionäre Kräfte

3. Analyse der illokutionären Kräfte von Spruchweisheiten im Beowulf
3.1 Küstenwächter. Zeilen 287b – 289
3.2 Beowulf. Zeilen 440b – 441
3.3 Beowulf. Zeile 455b
3.4 Beowulf. Zeilen 572b-573
3.5 Beowulf. Zeilen 1384b-
3.5.1 Zeilen 1384b-
3.5.2 Zeilen 1386-1387a
3.5.3 Zeilen 1387b-1388

Zusammenfassung

Anhang: Tabelle der analysierten illokutionären Akte (IA) im Beowulf

Bibliographie

Einleitung

Das Beowulf -Epos gilt als das bedeutendste Werk der altenglischen Dichtung. Es ist zugleich das älteste komplett erhaltene germanische Heldenepos. Die Forschung hat bisher die Analyse der in direkter Rede gehaltenen Passagen der epischen Dichtung des Beowulf aus sprechakttheoretischer Sicht weitgehend außer Acht gelassen. Durch den breiten Raum, den die obere Kommunikationsebene in diesem Gedicht einnimmt, bietet sich eine solche Untersuchung jedoch geradewegs an. Das dennoch geringe Interesse ist schon allein aus den unterschiedlichen Blickrichtungen der Forschung zum Beowulf auf der einen Seite und der Sprechakttheorie auf der anderen Seite erklärbar und verständlich.

Das Ziel dieser Arbeit ist die sprechakttheoretische Untersuchung von in direkter Rede geäußerten Spruchweisheiten im Beowulf. Der Fokus der Untersuchung liegt dabei auf der Seite des Sprechers, d.h. es werden die illokutionären Kräfte von in der epischen Dichtung des Beowulf geäußerter direkter Rede untersucht. Eine solche Analyse ermöglicht es dann, bestimmte Muster illokutionärer Kräfte von Spruchweisheiten herauszuarbeiten. Dabei muss man sich der Subjektivität der gefundenen Ergebnisse bewusst sein. Die Grundannahmen über den zu typisierenden Sprechakt werden zuerst außerhalb der Theorie illokutionärer Kräfte gemacht. Dazu muss unbedingt angemerkt werden, dass selten möglich ist, aus der Satzsemantik eine bestimmte illokutionäre Kraft herzuleiten. Um eine solche zu erschließen, ist eine Interpretation des Kontextes der untersuchten Äußerung notwendig. Die einzelnen Komponenten der illokutionären Kraft werden dabei zwangsläufig subjektiv bestimmt. Diese subjektive Bestimmung ist insbesondere bei indirekten Sprechakten der Fall, deren primärer Zweck allein aus der Kenntnis ihres konventionellen Gebrauchs unter Einbezug des situativen Kontextes möglich ist. Diese mehr oder weniger große Subjektivität bedeutet jedoch nicht, dass eine sprechaktheoretische Untersuchung wenig sinnvoll ist. Vielmehr ist es wichtig, sich des Interpretationsspielraums bewusst zu sein und diesen durch Einbezug des die Spruchweisheit umgebenden Kontextes, der keinesfalls nur sprachlich sein sollte, zu verringern.

Der theoretische Teil dieser Arbeit unterteilt sich in zwei Gebiete, die aus ihrer wissenschaftlichen Entstehungsgeschichte heraus und in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand selbst kaum Berührungspunkte haben. So ist der Untersuchungsgegenstand der von John L. Austin in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts begründeten und ein Jahrzehnt später von John R. Searle weiterentwickelten Theorie der Sprechakte die direkte Rede von Personen des 20. bzw. 21. Jahrhunderts.[1] Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Theorie der Sprechakte nicht auch auf die direkte Rede von uns vorliegenden Manuskripten anderer (früherer) Epochen anwendbar ist. Eine Äußerung beinhaltet immer einen Zweck und eine diesen Zweck sprecherseitig umsetzende Kraft. Diese Zweiteilung ist allzeit gültig, d.h. eine Universalie.

Ein besonderes Augenmerk bei der Untersuchung von Texten einer anderen Kultur, also nicht nur der frühmittelalterlichen angelsächsischen Kultur, muss auf das Verstehen des Denkens der damaligen Zeit gelegt werden. Wird dies vernachlässigt und werden lediglich unsere heutigen Maßstäbe angelegt, wird das Ergebnis einer Analyse der illokutionären Kräfte nicht zufrieden stellen oder gar falsch sein.

Das erste Kapitel dieser Arbeit widmet sich deshalb neben der Untersuchung von Spruchweisheiten per se ausführlich deren Funktion innerhalb der frühmittelalterlichen angelsächsischen Kultur vor dem Hintergrund des damaligen Weltbildes. Die Theorien des ersten Kapitels werden lediglich soweit ausgeführt wie es für die Analyse der untersuchten Spruchweisheiten notwendig ist. So wird beispielsweise nicht auf Formeln und Formelhaftigkeit in der altenglischen Dichtung eingegangen, obwohl die Spruchweisheiten im Beowulf Formeln enthalten. Zweifellos ist dies in den Zeilen 183b-188 in den mit wa bzw. wel eingeleiteten Maximen oder in Zeile 573b der Fall.[2] Spruchweisheiten ordnen das Spezielle, also ein vom Sänger vorgetragenes Ereignis, unter das Allgemeine, beispielsweise eine gesellschaftlich anerkannte moralische Verhaltensregel. Formeln erleichtern dabei die Rezeption, weil sie das so Geäußerte als traditionell und damit tradierwürdig und glaubwürdig markieren (vgl. Schaefer 1992: 84). Sie sind Zeichen gemeinsamer Identität.[3] Insofern können Formeln durchaus einen Einfluss auf die illokutionäre Kraft einer Äußerung haben. Meiner Ansicht nach führt dieser Einfluss nicht zu einer Änderung der illokutionären Kraft eines Sprechaktes, denn der Schwerpunkt des Einflusses auf die genaue Ausprägung eines solchen Aktes liegt in der besonderen Aussagekraft einer Spruchweisheit selbst, die durch Formeln allerdings verstärkt werden kann.

Im zweiten Kapitel wird die auf die Spruchweisheiten angewandte Theorie illokutionärer Akte vorgestellt. Diese beruht auf den Monographien Foundations of illokutionary Logic John R.Searles und Daniel Vandervekens (1985) sowie Eckard Rolfs Illokutionäre Kräfte. Grundbegriffe der Illokutionslogik (1997). Die Theorie illokutionärer Kräfte wird lediglich in dem Umfang erläutert, wie es mir für diese Arbeit in Bezug auf die Untersuchung der Sprechakte im Beowulf als notwendig und sinnvoll erscheint. So wird auf die Erklärung der grundsätzlichen logischen Operationen, genauer die Addition, der Komponenten illokutionärer Kräfte verzichtet.[4]

Im dritten Kapitel erfolgt die sprechaktheoretische Analyse der ersten fünf von insgesamt elf in direkter Rede geäußerten gnomischen Passagen des Beowulf. Die im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Sprechakte des Beowulf thematisieren zum einen das Wirken transzendenter Kräfte. Dabei scheinen sich die Aussagen an verschiedenen Textstellen in Bezug auf die Möglichkeit des menschlichen Einflusses zu widersprechen. Zum anderen beinhalten sie typische moralische Wertvorstellungen wie Blutrache oder die Frage des Nachruhmes. Die Analyse der Spruchweisheit des Küstenwächters erfolgt unter besonderer Berücksichtigung der Rezeptionsgeschichte. So sehen Friedrich Klaeber (1950: 139) und Johannes Hoops (1932: 53) in den Worten des Küstenwächters eine Entschuldigung gegenüber Beowulf. Wie gezeigt wird, kann eine solche mit der Theorie illokutionärer Akte auch nachgewiesen werden.

1. Gnomik in der altenglischen Dichtung

1.1 Definitionen

Tom A. Shippey macht in seiner Einführung zu den Spruchweisheiten des Exeter-Buches (Maxim I) und des MS. Cotton Tiberius B.i (Maxims II) die Schwierigkeiten einer weiteren Klassifizierung von Sprüchen in Gnomai, Maximen und Sprichwörter deutlich (1976: 12f.). Als Beispiel führt er unter anderen feorhcynna fela fæþmeþ wide/ eglond monig (Mxm I 14-15b; ‘viele Inseln nah und fern besitzen viele Lebensformen’) an und untersucht, ob es sich hierbei einfach um eine Aussage, eine Maxime oder ein Sprichwort handelt. T.A.Shippey sieht den Unterschied zwischen Maximen und Sprichwörtern in der wortwörtlichen Bedeutung der Ersteren und der übertragenen Bedeutung (Metapher) der Letzteren. Im genannten Beispiel sei es jedoch möglich, sowohl die wortwörtliche als auch die übertragene Bedeutung “it takes all sorts to make a world“ (1976: 13) zu sehen. Den Zeilen der Maxims I könnte in diesem Fall zumindest ein sprichwörtlicher Charakter zugeschrieben werden. Wichtig sei in diesem Zusammenhang der Kontext der, wenn verloren gegangen, den eigentlichen Sinn der Aussage im Dunkeln lasse (ebd.). Manche Zeilen der Maxims müssten sogar eine metaphorische Bedeutung haben, um ihnen überhaupt eine sinnvolle Aussage zuschreiben zu können, da diese aus der wortwörtlichen Bedeutung nicht herauszulesen sei. T.A.Shippey macht dies an Zeile 158 der Maxims I, licgende beam læsest groweð (‘ein liegender Baum wächst am wenigsten’) deutlich. Das Fehlen einer “proverbial implication“ (ebd.), also eines metaphorischen Gehalts, würde hier zum eben beschriebenen Ergebnis führen. Wie weiter unten noch gezeigt werden wird, sieht Paul Cavill diese Leere in der Bedeutung keineswegs, sondern erkennt in solchen scheinbar banalen Zeilen vielmehr eine Aussage über die gesellschaftliche Ordnung der frühmittelalterlichen angelsächsischen Gesellschaft.[5]

Paul Cavill definiert Maxime als “sententious generalisations“ (1999: 50), während Gnomai einem Gegenstand charakterisieren (ebd.). H.Munro Chadwick und N.Kershaw Chadwick schlagen eine ähnliche Unterscheidung vor. Ihr Typ I der Gnomai umfasst solche Bereiche des Lebens, die von Menschen in irgendeiner Art kontrolliert werden können (1932/86: 377). Dazu gehören beispielsweise Einschätzungen des Verhaltens wie s wa sceal man don/ þonne he æt guðe gegan þenceð/ longsumme lof na ymb his lif cearað (Bwf 1534b-36; ‘So handle ein Mann, wenn im Waffengang gewinnen will langdauerndes Lob; um sein Leben sorge er sich nicht’). Der Typ II dagegen umfasst typische Eigenschaften von Menschen und Gegenständen, bleibt also im Bereich der Beschreibung (ebd.: 377-378). Er unterteilt sich in drei weitere Subtypen. Subtyp (a) kategorisiert den Bereich der menschlichen Erfahrung, der zwar den Menschen in die Ereignisse seiner Umwelt involviert, in dem der Mensch jedoch keine Möglichkeit hat den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Ein Beispiel für diesen Subtyp ist forst sceal freosan (‘Frost gefriert’) aus den Maxims I, Z.71. Obwohl das Hilfsverb sceal ein dem menschlichen Einfluss unterliegendes physikalisches Gesetz zu suggerieren scheint, ist dies sicherlich nicht der Fall. Es handelt sich deshalb nur um eine Deskription von durch den Menschen unbeeinflussbaren und damit hinzunehmenden Tatsachen. Die Typisierung der Chadwicks hilft hier zudem eine der Bedeutungen des Verbs sceal, und zwar die deskriptive im Sinne der dritten Person Singular biþ des Verbs beon (sein), zu erfassen. Eine intensivere Auseinandersetzung mit den verschiedenen Bedeutungen des Verbs sceal erfolgt weiter unten in Kapitel 1.3. Subtyp (b) umfasst das Wirken übernatürlicher Kräfte wie des Schicksals oder Gottes. Beowulf’s gæð a wyrd swa hio scel (Bwf 455b; ‘Wyrd, das Schicksal, geht stets seinen Lauf’) soll hier zur Veranschaulichung diese Subtyps dienen. Subtyp (c) schließlich umfasst den Bereich der nicht-menschlichen Lebewesen und deren Charakteristik. Paul Cavill sieht eine Übereinstimmung zwischen seiner Definition der Maximen und dem Typ I der Chadwicks auf der einen Seite und seiner Definition der Gnomai und dem Typ II auf der anderen Seite (1999: 43).

So hilfreich eine Typisierung auch sein mag, sie kann lediglich ein Hilfsmittel sein, die verschiedenen Formen von Spruchweisheiten auf einem Kontinuum zu verorten, an dessen beiden Enden sich die von den Chadwicks bzw. Paul Cavill aufgestellten Definitionen befinden. Letzterer trifft in diesem Zusammenhang folgende Aussage, die die von Ursula Schaefer (1992: 181f) gesehene Problematik der Klassifizierung aufgreift:

[…] one of the reasons for seeing gnomes and maxims as part of the same continuum is that the ethical type of maxim is presented as an objective fact, a simple observation, in the same kind of fashion as the gnomes. The particular distinction made by the Chadwicks between the advisable and the observable is one which was not perhaps so important to the Anglo-Saxons as to those concerned with definitions (1999: 43).[6]

Von Menschen ins Leben gerufene Institutionen werden nicht länger als von diesen selbst erschaffen angesehen, sondern sie werden, so Peter L. Berger und Thomas Luckmann, objektiviert und reifiziert, d.h. verdinglicht (1966: 106).[7] Hier wird das Problem der Definition der Chadwicks deutlich. Erstens ist eine Typisierung genau dann schwierig, wenn sich die Spruchweisheit inhaltlich auf dem Gebiet der Reifizierung, d.h. der Verdinglichung, befindet. In den Maxims I des Exeter-Buches heißt es: Cyning sceal mid ceape cwene gebicgan/ bunum ond beagum bu sceolon ærest/ geofum god wesan (Mxm I 81-83a; ‘Ein König soll mit Besitz eine Königin kaufen, mit Bechern und Ringen; beide sollen freigiebig zuerst mit Geschenken sein’). Auf den ersten Blick handelt es sich hier um ein Gnomon des Typs I. Begreift man dieses jedoch als eine Aussage über eine reifizierte Institution, das Verteilen von Gaben als quasi naturgegebenem Teil der Beziehung zwischen dem Stammesfürsten und seinen Untergebenen innerhalb der militärisch-aristokratischen Schicht, so ist auch eine Interpretation im Sinne des Typs II a möglich. Ein weiteres Beispiel, das sich aus dieser Sichtweise einer eindeutigen Einordnung entzieht, ist ellen sceal on eorla (Mxm II 16a; ‘Ein nobler Krieger soll mutig sein’. Zweitens ergibt sich aus sprechakttheoretischer Sicht die Möglichkeit der Zuordnung ein und derselben Spruchweisheit in die beiden Typen. In Andreas ermutigt der gleichnamige Protagonist seine Kameraden während der Schiffsreise nach Mermedonien auf Gott zu vertrauen:

forþan ic eow to soðe secgan wille,

þæt næfre e forlæteð lifgende god

eorl on eorðan, gif his ellen deah.

(And 458-60)

[Deshalb will ich euch als Wahrheit sagen,

dass der lebendige Gott niemals verlässt

einen noblen Krieger auf Erden, wenn seine Tapferkeit taugt]

Handelt es sich dabei um eine Aufforderung, d.h. um einen direktiven Sprechakt ohne bindenden Durchsetzungsmodus, oder ist nicht auch eine Interpretation als assertiver Sprechakt möglich? Im ersten Fall liegt eine Spruchweisheit vom Typ I vor, denn das Thema ist menschliches Handeln und die Kontrolle dieses Handelns in Bezug auf die Courage. Die letztendliche Entscheidung liegt dabei in der Hand des christlichen Gottes, wobei aus Sicht der Logik betrachtet, dem couragierten Krieger automatisch Hilfe zuteil wird. Geht man von einem assertiven Sprechakt aus, handelt es sich um die Beschreibung einer Situation, deren Ausgang letztendlich der menschlichen Kontrolle entzogen ist. Die Zeilen 458-460 von Andreas wären dann als Spruchweisheit vom Typ II einzuordnen. In diesem Zusammenhang stellt sich zudem die Frage nach der Zuordnung zu Subtyp II a oder II b, die hier jedoch nicht beantwortet werden soll. Häufig wechseln sich in den Kataloggedichten Maximen von Typ I und Typ II ab, oder anders ausgedrückt, sie ergänzen sich dahingehend, dass beide Typen Realitäten beschreiben. Die festgefügte soziale Ordnung findet dabei ihren Ausdruck im gemeinsamen Auftreten von Gnomai des Typs I, die den Maximen Paul Cavills entsprechen, mit Gnomai des Typs II, in etwa die Gnomai bei Paul Cavill. Genauso wenig wie man etwas an physikalischen Gegebenheiten, am Schicksal oder an Gottes unergründlichen Entscheidungen ändern kann, so wenig sind soziokulturelle Tatsachen veränderbar. Sie sind für den Einzelnen quasi Naturgesetze. Natürlich kann dagegen der Einwand erhoben werden, dass das Schicksal und Entscheidungen Gottes auch vom einzelnen Individuum beeinflussbar sind. So geht couragiertes Auftreten im Kampf gegen Feinde und feindliche Naturgewalten mit der Unterstützung Gottes oder des Schicksals einher. Dies wird explizit in der Aussage Beowulfs wyrd oft nereð/ unfægne eorl þonne his ellen deah (Bwf 572b-573; ’Wyrd, das Schicksal, errettet oft den noch nicht zum Tod bestimmten Krieger, wenn seine Tapferkeit taugt’), deren Inhalt sehr stark mit der oben erwähnten Spruchweisheit aus der christlichen Dichtung Andreas hat. Es liegt jedoch letztendlich in der Hand der übernatürlichen Mächte, über den einzelnen Menschen zu entscheiden. Das Individuum ist hier als solches nicht frei, sondern abhängig, auch wenn ihm die Option zur Verbesserung seiner Lage gegeben wird.

Hildegard Tristram und Herbert Pilch unterscheiden zwischen “Sinnsprüchen“ und “Maximen und Sprichwörtern“ (1979: 35ff.). Ein Sinnspruch ist dabei eine allgemein anerkannte Weisheit (ebd.: 36). Diese Weisheit wird zur Maxime, wenn sie auf eine sittliche Norm dringt (ebd.: 38). “Maximen werden zu Sprichwörtern, wenn sie sich nicht nur an einen Einzelnen richten, sondern an alle Menschen und wenn die Gesellschaft sie allgemein für richtig hält“ (ebd.). Beide Autoren unterscheiden sich dabei nicht grundsätzlich von den bisherigen Definitionen.

Ursula Schaefer sieht die Klassifizierung von Spruchweisheiten in Gnomai, Maximen und Sprichwörter als problematisch, weil eine genaue Zuordnung einer Spruchweisheit in eine der drei Klassen oft problematisch ist:

hat man eine Klasse aufgemacht, ist man sofort doch einzuräumen gezwungen, daß bestimmte, in unseren Gedichten faktisch vorkommende, Elemente dieser einen auch einer anderen Klasse angehören könnten. Dies heißt nichts anderes, als daß es sich bei der Gruppe der zu klassifizierenden Elemente um ein Kontinuum von Merkmalsbündeln handelt, deren einzelne Merkmale mehr oder weniger signifikant erscheinen. Ich meine, dass dieser Befund sprachliche Sinnstrukturen der Oralität und auch der Vokalität widerspiegelt, die völlig diskrete Diskurse – in sich kohärent und nur durch Sprachliches zu unterscheiden – gar nicht produziert“. (1992: 181f.)

Infolge dieser Einschätzung schlägt sie vor, von einer ‘Feineinteilung’ abzusehen und übernimmt die Ansicht Blanche Williams’ den Fokus auf die Generalisierung und das Generalisierte zu legen (ebd.: 182).

Alle Spruchweisheiten ist die Universalität der Aussage gemeinsam. Paul Cavill nennt drei Merkmale, “recognition signals” (1999: 51), als Richtlinie für das Erkennen von Spruchweisheiten. Erstens das Auftreten des inhaltlich im Vordergrund stehenden Modalverbs oder lexikalischen Verbs im Präsens. Zweitens das Nichtvorhandensein einer Referenz auf ein bestimmtes Individuum. Vielmehr sind die Referenten übernatürliche Mächte, Naturerscheinungen oder menschliche Gruppen, und drittens das Fehlen einer deiktischen Referenz auf eine bestimmte Situation (ebd.: 51).

Grundsätzlich ist der Versuch einer Klassifizierung von Spruchweisheiten schon allein deshalb sinnvoll, weil es einen Unterschied gibt zwischen einer Äußerung, die auf eine sittliche Norm drängt und einer solchen, die einen Zustand lediglich beschreibt. Das Problem liegt dabei weniger auf der theoretischen Ebene. Die induktiv durch die Analyse von empirisch vorliegenden Spruchweisheiten gewonnenen Klassen Maxime und Gnomon können anhand bestimmter Merkmale, beispielsweise deskriptiv vs. präskriptiv, moralisierend, festgelegt und unterschieden werden. Das Problem der Klassifizierung liegt eher bei der Zuordnung vorhandener Spruchweisheiten in diese Klassen. Hier ist dann eine Einteilung oft eine Frage der Interpretation. Daraus ergibt sich folglich die Notwendigkeit, die gewonnenen Klassen als Idealtypen eines praktisch vorhandenen Kontinuums zu sehen.[8]

In Kapitel 3 werde ich bei der Untersuchung der Spruchweisheiten im Beowulf versuchen, diese in die Klassen Maxime und Gnomon einzuordnen. Dabei wird aufgezeigt werden, dass einige Spruchweisheiten, die oft als Maximen bezeichnet werden, eher der Definition eines Gnomon entsprechen. Auch wenn es, wie oben im Zusammenhang mit den Definitionen der Chadwicks erwähnt, durchaus möglich ist, Maximen als Gnomai zu begreifen, da Erstere sich auf objektiv vorhandene Verhältnisse stützen, denen quasi der Status von Naturgesetzen zugeschrieben werden kann, soll die Trennung hier dennoch aufrechterhalten werden. Würde diese nicht stattfinden, vernachlässigte man die Tatsache, dass jede soziale Objektivierung im Gegensatz zu Naturgesetzen menschlichen Ursprungs ist und, wenn auch aus ihrem Charakter heraus tendenziell langsamen, Veränderungen unterworfen ist. Die Begriffe Maxime und Gnomon werden dabei im Sinne der Ansichten Paul Cavills verwendet, die sich nach meinem Verständnis kaum von denen Herbert Pilchs und Hildegard Tristrams unterscheiden. Ist von Spruchweisheiten die Rede, so umfasst dieser Begriff sowohl Maximen als auch Gnomai.

Selbst wenn man Aussagen wie die Beowulfs in Zz.1384bf. selre bið æghwæm/ þæt he his freond wrece þonne he fela murne (‘Für jeden Krieger ist es besser, daß er seinen Freund räche, als daß er viel trauere’) als deskriptiv, sprechaktheoretisch als Assertiv, klassifiziert, enthalten sie doch zumindest ein moralisches, präskriptives Element, das sie von den Gnomai unterscheidet. Diese Unterscheidung ist besonders für die Analyse der illokutionären Kräfte der zu untersuchenden Sprechakte von Bedeutung, so dass sie in dieser Arbeit gemacht werden muss, um eine sinnvolle Untersuchung durchzuführen.

1.1 Maximen und Gnomai in Abgrenzung zu Sprichwörtern

Sprichwörter können eine metaphorische Ebene enthalten, so dass deren Rezipient ‘Übersetzungsarbeit’ für die verwendeten Bilder leisten muss, um den Kern der Aussage zu entschlüsseln. T.A.Shippey sieht diese metaphorische Ebene als ein wichtiges Merkmal von Sprichwörtern an (1976: 12f.). Allerdings lassen sich leicht Beispiele für Sprichwörter finden, bei denen keine Notwendigkeit einer ‘Übersetzung’ des metaphorischen Gehalts besteht. Infolgedessen kann man auf eine nicht vorhandene metaphorische Ebene im untersuchten Gegenstand schließen. Unter dem Lexem Proverb wird im Pons Cobuild English Learner’s Dictionary folgendes Beispiel angeführt: ‘ A man is not a man until he has a son ’ (1989: 781).[9] Abgesehen von der logischen Inkonsistenz des Satzes, woraus jedoch paradoxerweise eine besondere Klarheit der Aussage entsteht, gibt es hier keine zu interpretierende Metaphorik. Interpretationsbedarf kann vielmehr aus der Frage entstehen, was ein erwachsenes, männliches menschliches Wesen ohne Kind denn sei, sowie aus dem bereits erwähnten Problem der Logik. Die Bedeutung des Sprichwortes ‘Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen’ ist ebenfalls direkt verständlich. Anders liegt der Fall bei ‘Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm’. Zwar ist die Bedeutung auch hier wiederum direkt erschließbar, zum Kern der Aussage, d.h. dem primär Gemeinten, gelangt man jedoch nur durch die Interpretation des metaphorischen Gehalts. T.A.Shippey ist im Zusammenhang mit den Spruchweisheiten der Maxims I und II der Ansicht, dass ein vermeintliches Nichtvorhandensein des metaphorischen Gehalts in den Maximen sie ihres Sinnes entledigen würde (1976: 12f.). Feststellungen wie wyrd biþ swiðost winter byð cealdost (Mxm II 5; ’das Schicksal ist am mächtigsten, der Winter am kältesten’) oder s tream sceal on yðum/ mencgan mereflode (Mxm II 23b-24a; ‘der Strom vermischt sich in den Wellen mit der Meeresflut’) wären somit lediglich unter der Annahme des Vorhandenseins eines metaphorischen Gehalts sinnvolle Aussagen. Weiter unten in den Kapiteln 1.6.2 und 1.6.3 wird auf den Zweck der Maximen näher eingegangen, der darin besteht, Fixpunkte für eine von Gott erschaffene Ordnung an Hand von Beispielen festzulegen, die es dann ermöglichen, Ereignisse mit diesen Fixpunkten zu vergleichen und damit zu evaluieren. Die Beschreibung der von göttlicher Hand an ihren vorgegebenen Platz gesetzten Menschen, Lebewesen und Elemente wird somit zum eigentlichen Sinn von Spruchweisheiten. Dies kann als die eigentliche Metapher der Maxime gedeutet werden. Diese Interpretation entspricht allerdings nicht der von T.A.Shippey intendierten. Weiterhin hätten dadurch alle Spruchweisheiten den gleichen metaphorischen Gehalt, was keinesfalls als sinnvoll erscheint.

Die geographische und literarische Verbreitung als ein weiteres Merkmal von Sprichwörtern kann nicht als Unterscheidungskriterium im Vergleich zu Gnomai und Maximen dienen, da Letztere auch sehr weit verbreitet sein können, wie Paul Cavill anhand der Formel god ana wat (‘Gott allein weiß’) deutlich macht (1999: 61). Im Zusammenhang mit der Verbreitung von Sprüchen und Spruchweisheiten spricht T.A.Shippey von “proverbiousness“ (1994: 149). Wenn man die Distribution bestimmter Formen, erkennbar in der Verwendung in unterschiedlichen Gedichten, als ein Merkmal von Sprichwörtern ansieht, dann haben die Maximen natürlich sprichwortartigen Charakter. Die Verbreitung von Formeln wie der eben erwähnten verhilft einer Maxime somit zu deren sprichwortartigem Charakter, ohne dass sie selbst ein Sprichwort ist. Obwohl die Häufigkeit des Vorkommens nicht als Unterscheidung zwischen Sprichwörtern auf der einen Seite und Maximen und Gnomai auf der anderen Seite dienen kann, so ist sie dennoch ein notwendiges Merkmal von Sprichwörtern.

Als ein weiteres Merkmal von Sprichwörtern sieht Paul Cavill Alan Dundes’ Beschreibung von deren Struktur an (Cavill 1999: 62f.). Ein Sprichwort besteht danach aus einem Thema, mindestens einem Element und einem Kommentar. Zwei oder mehr Elemente können kontrastiv, also in Opposition zueinander stehend, gebraucht werden (Dundes 1975: 115). Dies trifft beispielsweise für das Sprichwort ‘Was des einen Freud, ist des anderen Leid’ zu. Die Elemente Freud und Leid stehen sich hier kontrastiv gegenüber. Der Kommentar, die Evaluation, besteht in der verkürzten Darstellung von Beobachtungen aus dem Bereich des sozialen menschlichen Lebens. ‘Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm’ enthält dagegen keine sich in Opposition gegenüberstehenden Elemente. Sprichwörter enthalten bestimmte Muster, Paul Cavill spricht von Parallelismus (1999: 76f.). Das oben erwähnte deutsche Sprichwort ‘Was des einen Freud ist des anderen Leid’ hat das Muster, den Parallelismus: Element A (Freud) beinhaltet das Gegenteil von B (Leid). Parallelismus, ob in der eben vorgestellten Form oder nicht, ist jedoch nicht immer ein Merkmal von Sprichwörtern, wofür das zweite oben angeführte deutsche Sprichwort ein Beispiel ist. Generell gibt es jedoch bei Sprichwörtern eine Tendenz zur parallelen Struktur. Solch eine Struktur ist, so Paul Cavill, bei den altenglischen Maximen nicht vorhanden, so wie bei diesen grundsätzlich eine vergleichsweise schwächere Strukturierung vorliegt (ebd: 77).

Obwohl Sprichwörter unterschiedliche Muster haben, sind diese quantitativ sehr begrenzt. Auf lexikalischer und syntaktischer Ebene muss ein weiteres Merkmal von Sprichwörtern beachtet werden. Ein einmal vorhandenes Sprichwort ist als solches nicht mehr veränderbar. Ein Austausch der Elemente, eine Veränderung des Musters oder das Hinzufügen zusätzlicher Elemente würde fast immer den Sinn der Aussage verändern, oder aber, sollte dies nicht der Fall sein, Verständnisschwierigkeiten erzeugen und wahrscheinlich einen Hinweis des Rezipienten über die Verletzung der konventionellen Form nach sich ziehen. Tauscht man im entsprechenden Sprichwort den Apfel gegen eine andere Frucht, dann ist der metaphorische Gehalt der Aussage zwar nicht verändert, jedoch wird die Konvention gebrochen und folglich der kommunikative Aufwand erhöht. Nach Paul Cavill zeichnen sich Maximen im Gegensatz dazu durch Flexibilität aus, denn sie besitzen größtenteils eine relativ freie Kombination von Formeln (1999: 81). Diese Festgefügtheit von Sprichwörtern ist damit als Unterscheidungskriterium zu Maximen und Gnomai geeignet.

Den Unterschied zwischen Maximen und Sprichwörtern zusammenfassend, kommt Paul Cavill zu dem Schluss:

[Maxims] do not generally develop the structural parallelism, and they do not show the paradigmatic transferability that we find in proverbs. […] Some Old English maxims became relatively fixed expressions. This suggests that they were not the exclusive preserve of one or two poets, but reflected a wider popularity. And the relative frequency of maxims occuring at junctures where an impression of authority, or rhetorical impact, was required, indicates that the poets could rely on their audiences recognising and understanding the form as a kind of emphatic discourse marker. (1999: 81)

Generell gibt es meiner Ansicht nach vier sinnvolle Merkmale bei der Untersuchung von Spruchweisheiten und der Frage, in welchem Fall es sich um ein Sprichwort handelt. Neben der Frage der Verbreitung einer Spruchweisheit und der damit zusammenhängenden Popularität wird von einigen Autoren, wie Alan Dundes, Paul Cavill oder Neal R.Norrick (1985: 70/73), die Struktur einer Spruchweisheit als Anhaltspunkt für eine Klassifizierung gesehen. Das dritte Merkmal ist das Vorhandensein einer metaphorischen Ebene, die es zu erkennen gilt, um zur primären Aussage eines Sprichwortes zu kommen. Auch hier gilt wieder: Alle drei Merkmale sind mit großer Wahrscheinlichkeit vorhanden, müssen dies allerdings nicht sein, bzw. können nicht als Unterscheidungsmerkmal zu den beiden anderen hier behandelten Klassen von Spruchweisheiten dienen. Die Frage der Verbreitung ist aufgrund der sich in der Vokalität erst entwickelnden Schriftkultur mit deren immer noch hohen Anteil an mündlicher Tradierung mit einer tendenziell eher unzureichenden Anzahl an altenglischen Schriften verbunden.[10] Zudem können auch Maximen einen hohen Verbreitungsgrad haben. Auch in der Struktur, besonders in Bezug auf einen Parallelismus, kann wohl eher von einer Tendenz gesprochen werden. Dies gilt auch mit Blick auf den metaphorischen Gehalt. Das vierte Merkmal, die Festgefügtheit eines Sprichwortes, die mit der Tatsache verbunden ist, dass eine Änderung einen erhöhten kommunikativen Aufwand erfordert, ist dagegen grundsätzlich ein zutreffendes Merkmal für Sprichwörter, das auch die Abgrenzung zu Maximen und Gnomai ermöglicht. Aufgrund der Unsicherheit in der Zuordnung von Spruchweisheiten in die Klasse ‘Sprichwort’ werde ich bei der Analyse der Sprechakte im Beowulf lediglich die schon in Kapitel 1.1 erwähnte Unterscheidung in Gnomai und Maxime vornehmen. Dies ist auch aus einem weiteren Grund sinnvoll: Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens mehrerer der vier hier thematisierten Merkmale einer Spruchweisheit, und damit die sichere Zuordnung in diese Klasse, ist gering.

1.2 Verben: sculon und beon

Die finiten Formen der Verben sculan und beon werden sehr häufig, wenn auch nicht ausschließlich, in Spruchweisheiten eingesetzt. Die Interpretation ihrer Bedeutung im Kontext ist Voraussetzung für das Verständnis einer Maxime oder eines Gnomon. Es ist natürlich keine neue Erkenntnis, dass die korrekte Interpretation eines mit einem Zeichenausdruck (Signifikant, Saussures signifiant) verbundenen Zeicheninhalts (Signifikat, Saussures signifié) Voraussetzung für das Verständnis eines Textes ist. Es muss jedoch im Zusammenhang mit den in den altenglischen Spruchweisheiten verwendeten Verben eine besonders gründliche Untersuchung der Semantik erfolgen, da hier die Wahrscheinlichkeit einer Fehlinterpretation besonders hoch ist. Die gebräuchlichsten finiten Verbformen, die in Spruchweisheiten benutzt werden, sind sceal und biþ, d.h. jeweils die dritte Person Singular der Verben sculon bzw. beon.[11] Während die Interpretation der dritten Person Singular von beon kaum Probleme aufwirft, ist dies bei sceal nicht der Fall. Die finiten Formen des Verbs beon werden, so Paul Cavill, überwiegend dazu benutzt, um Personen, transzendente Mächte wie Gott oder das Schicksal, und schließlich Naturphänomene und Gegenstände zu charakterisieren, ihren Zustand und ihre Eigenschaften zu beschreiben (Cavill 1999: 45). So heißt es in den Maxims II ceastra beoð feorran gesyne/ orðanc enta geweorc þa þe on þysse eorðan syndon/ wrætlic weallstana geweorc (Mxm II 1b-3a; ‘Städte sind von Ferne sichtbar, der Riesen kluges Werk, die auf dieser Erde sind [die Städte], aus Mauersteinen wundervolles Werk’) und weiter wyrd biþ swiðost winter byð cealdost (Mxm II 5; ‘das Schicksal ist am mächtigsten, der Winter am kältesten’). Beon entspricht semantisch in etwa dem deutschen Verb ‘sein’ und dem englischen ‘ be ’. In Bezug auf die Verwendung in Maximen und Gnomai gibt es für beon keine Beschränkung auf einen der beiden Typen von Spruchweisheiten. Im Seafarer des Exeter-Buches heißt es:

Dol biþ se þe him his Dryhten ne ondrædeþ; cymeð him

se deað unþinged.

Eadig bið se þe eaþmod leofaþ; cymeð him seo ar of

heofonum.

(Sfr 106f.)

[Toll ist der, der seinen Herrn nicht fürchtet; ihm kommt

der Tod unerwartet.

Selig ist der, der demütig lebt; ihm wird die Gnade des

Himmels zuteil. ]

Biþ / bið dient hier der Zuordnung einer Eigenschaft für eine Klasse von Personen und ermöglicht in Verbindung mit den anderen Teilen des Spruches eine moralisierende Aussage über diese Klasse, womit eindeutig ein Maxim vorliegt. Im obigen Beispiel der Maxims II fehlt eine solche evaluierende Aussage, so dass dort, im Sinne der Definition Paul Cavills und der Ansichten Herbert Pilchs und Hildegard Tristams, von einem Gnomon gesprochen werden kann.

In seiner Kritik an Carolyne Larrington,[12] die die konjugierte Formen des Verbs beon ausnahmslos dort verwendet sieht, wo von Gott und dem Bereich der Natur die Rede ist, führt Paul Cavill folgendes Gegenbeispiel an (1999: 45):

God sceal on heofenum

dæde demend.

(Mxm II 35b-36a)

[Gott, der Richter, lebt im Himmel]

Aus Larringtons Sicht müsste anstelle von sceal das Verb bið stehen. Allerdings ist in diesem Zusammenhang die Kritik Paul Cavills an Larington überzogen, weil Letztere in ihrer etwas widersprüchlichen Aussage lediglich eine Tendenz der Verwendung der Verben feststellt.[13] Grundsätzlich ist es hier wichtig zu erkennen, dass sich die Verwendung der finiten Formen von beon nicht nur auf Bereiche des Lebens beschränkt, die sich dem direkten Einfluss des Menschen entziehen. Lässt man philosophische Überlegungen beiseite, Gott als menschliches Konstrukt anzusehen, dann liegt es nicht in der Macht des Menschen, in irgendeiner Weise über Gott zu bestimmen. Das Verb sceal drückt in diesem Fall eine Zustandsbeschreibung aus, wird also nicht präskriptiv verwendet. Der Zustand selbst entzieht sich dabei dem menschlichen Einfluss. Wendet man die Definitionen Paul Cavills an, so handelt es sich bei Zeilen 35b-36a der Maxims II um ein Gnomon. Die Maxims II enthalten eine Vielzahl von Zeilen, wie beispielsweise fugel uppe sceal/ lacan on lyfte (Zz.38b-39a; ‘Der Vogel schwebt oben in der Luft), in denen sceal im obigen Sinne als eine Tätigkeit oder einen Zustand beschreibend interpretiert werden muss. Tätigkeit und Zustand werden hier deshalb gleichzeitig genannt, weil sceal zwar zumeist als Verb im Zusammenhang mit typischen Handlungen verwendet wird, diese jedoch zugleich den Zustand einer festgefügten Ordnung symbolisieren. Paul Cavill vertritt die Ansicht, dass sceal, im Gegensatz zum Eigenschaften zuweisenden bzw. Zustände beschreibenden biþ, meist in Beschreibungen von Handlungen verwendet wird, wobei es keine strenge Grenzziehung geben kann, sondern auch hier vielmehr ein Kontinuum besteht (1999: 45f.). Stream sceal on yðum/ mencgan mereflode (Mxm II 23b-24a; ‘der Strom vermischt sich in den Wellen mit der Meeresflut’) beschreibt eindeutig einen dynamischen Vorgang, god sceal on heofenum dæde demend dagegen einen Zustand. An diesen Beispielen wird deutlich, dass es nur eine Tendenz der Verben sculon und beon gibt, vorwiegend Tätigkeiten bzw. Zustände oder Eigenschaften zu beschreiben. Die Zeilen 35b-36a aus dem MS Cotton Tiberius B.i. würden eine strenge Definition der Distribution der Verben widerlegen, denn es wird das Verb sceal verwendet. Würde man von einer streng komplementären Verteilung der beiden hier diskutierten Verben ausgehen, müsste an dieser Stelle dagegen biþ stehen, da ein Zustand beschrieben wird. Neben der deskriptiven semantischen Bedeutung hat sculon auch die dem Gebrauch des Verbs shall im heutigen Englisch entsprechende Verwendung im Zusammenhang mit Direktiven wie Wünschen oder Forderungen. In den Maxims II heißt es:

Geongne æþeling sceolan gode gesiðas

byldan to beaduwe and to beahgife.

(Mxm II 14f.)

[Gute Kameraden sollen einen jungen Prinzen

ermuntern zum Kampf und zum Verschenken von Ringen]

Die Pluralform sceolan wird hier eingesetzt, um einen moralischen Anspruch, der an einen guten Kameraden gestellt wird, deutlich zu machen.

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass die Verben sculan und beon, genauer deren finite Verbformen, keiner Beschränkung im Hinblick auf ihre Verwendung in Maximen oder Gnomai unterliegen. Dabei liegt eine Tendenz der Verwendung der Formen von beon in Gnomai und der Formen von sculan in Maximen vor. Letzteres Verb bezieht auch bei einer deskriptiven Verwendung immer auf einer zweiten, gesellschaftlich-kulturellen Ebene auf das Ideal der von Gott festgefügten Ordnung der Welt, selbst wenn dies nicht explizit erkennbar ist. Dieses Ideal (Soll-Zustand) dient als Maßstab für einen Vergleich mit dem realen Zustand (Ist-Zustand) der Welt. Hier werden Fixpunkte erstellt, die es ermöglichen festzustellen, ob bestimmte Dinge, Zustände oder Verhaltensweisen in die vorgegebene gesellschaftliche Ordnung und deren moralische Maßstäbe hineinpassen oder nicht. Mit der Verwendung des Verbs sceal ist damit die Evaluation eines bestimmten Zustandes verbunden.

So wichtig eine Interpretation der Bedeutung der in den Spruchweisheiten verwendeten Verben auch ist, sie sind nur Elemente innerhalb einer Gesamtkomposition, die wertend, beschreibend oder beides sein kann. Für die Verbformen von beon sieht Paul Cavill keine wertende Funktion. Im Zusammenhang mit diesem Verb macht er die Aussage, dass nicht das Verb selbst, sondern die Maxime oder das Gnomon als Ganzes eine wertende Funktion haben. Diese Wertung

is a function of the gnome as a whole, and also the metrical and syntactic form, ‘the parenthic exclamation’, and not the verb alone” (1999: 49).

Weitere Elemente

Verben bilden lediglich einen Bestandteil einer Spruchweisheit. Für deren Inhalt sind genauso die Elemente verantwortlich, die das zu Beschreibende oder zu Evaluierende in Klassen einteilen und quantifizieren. Dazu gehören Adverbien wie a und oft, Pronomen wie æghwylc, Adjektive wie unfæge und Relativsätze wie in wel biþ þam þe him are seceð/ frofe to fæder on heofonum (Wan 114b-115; ‘wohl dem, der (für) sich Gnade sucht, Trost beim Vater im Himmel’).[14] Adverbien und Indefinitpronomen werden verwendet, um die Wahrscheinlichkeit des Zutreffens einer Aussage auf eine in der Spruchweisheit festgelegte Klasse anzugeben. Die Universalität wird durch solche Lexeme (z.B. oft) untermauert, welche die Satzaussage auf einem Kontinuum zwischen den beiden entgegengesetzten Enden der Gültigkeit der Aussage für alle Elemente einer Klasse (a, æghwylc) und für kein Element (nænig) befinden. Das Adverb oft in Beowulf 572b-573 wyrd oft nereð / unfægne eorl þonne his ellen deah (‘Wyrd, das Schicksal, errettet oft den noch nicht zum Tode bestimmten Krieger, wenn seine Tapferkeit taugt’) ermöglicht die Universalität der Aussage. Die von Beowulf geäußerte Proposition kann praktisch nicht widerlegt werden, da prinzipiell alle diesbezüglichen Beobachtungen als wahr angesehen werden können. Für einen Fall, in dem das Schicksal einem couragierten Krieger zu Hilfe kam, kann mit Sicherheit ein Gegenbeispiel gefunden werden. Enthält eine Aussage über die Welt keine der soeben geschriebenen Wortklassen, dann stellen sich die Elemente der beschriebenen Klassen, für die die Aussage nicht zutrifft, prinzipiell außerhalb dessen, was von der Gesellschaft als richtig angesehen wird. Paul Cavill führt allerdings ein Beispiel aus den Maxims II an, das diese Aussage wieder relativiert (1999: 47). Interpretiert als Zustandsbeschreibung der von Gott geschaffenen Ordnung der Welt, würde eine Abweichung von der im Gnomon draca sceal on hlæwe, frod, frætwum wlanc (Mxm II 26b-27; ‘Der Drache lebt in einer Höhle, klug, stolz auf seine Schätze’) gemachten Proposition, also beispielsweise ein fliegender Drache, den Spruchinhalt entweder widerlegen oder das Verhalten des Drachen außerhalb dessen stellen, was eine gute Ordnung ausmacht. Da jedoch die altenglische Kultur Drachen Flugeigenschaften zuspricht, müssen Abweichungen vom Gesagten als tolerierbar angesehen werden. Man kann also aus fehlenden Adverbien oder Indefinitpronomen nicht die Unmöglichkeit von Abweichungen herleiten. Das Beispiel aus den Maxims II unterstreicht andererseits die in Kapitel 1.3 formulierte Aussage, dass Spruchweisheiten mit dem Verb sceal Fixpunkte für die Evaluierung von Ereignissen und Zuständen in der Welt aufstellen. Im Beowulf weicht der marodierende Drache von dem ab, was als gut im Sinne der von Gott geschaffenen Ordnung angesehen wird. Diese Abweichung wird dann auch von den höchsten Vertretern der Gesellschaft, Beowulf und Wiglaf, heroisch bekämpft. Erkennbar ist, dass (zumindest einige) Spruchweisheiten, insbesondere Gnomai, nicht zwangsläufig im Sinne eines ‘So-ist-es-und-nicht-anders’, also als absolute Wahrheiten ohne empirische Abweichungen, interpretiert werden dürfen.

[...]


[1] AUSTIN, John L. (1962). How to do Things with Words. Oxford: Clarendon Press 1962.

SEARLE, John R. (1969). Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge University Press 1969.

[2] In Zz.183b-188 erfolgt keine direkte Rede und somit sind sie nicht Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit.

[3] Formeln haben in einer oralen wie vokalen Kultur die Aufgabe, das Memorieren zu erleichtern. Die Verwendung von Formeln für die Übertragung von Information führt wiederum dazu, dass sie quasi ein Signal für die Wichtigkeit der Äußerung sind.

[4] So besteht beispielsweise der Unterschied zwischen einer Bitte und dem Anflehen unter anderem darin, dass der Durchsetzungsmodus des letzteren illokutionären Aktes entsteht aus der boolschen Konjunktion des Durchsetzungsmodus der Bitte und des zusätzlichen Bedingung der besonderen Ernsthaftigkeit, die beim Anflehen vorhanden ist. Eine boolsche Konjunktion in Bezug auf den Durchsetzungsmodus liegt deshalb vor, weil der neu entstandene Durchsetzungsmodus der illokutionären Kraft des Anflehens sowohl mit einer Bitte als auch mit einer besonderen Ernsthaftigkeit verbunden ist. Zudem gilt, dass sowohl der Durchsetzungsmodus des Bittens als auch der des Anflehens für den Hörer nicht bindend ist. Eine ausführliche Erläuterung der einzelnen Komponenten der illokutionären Kräfte erfolgt in Kapitel 2 dieser Arbeit.

[5] Vgl. 1999: 10, und insbesondere Kapitel 8.

[6] Eigene Hervorhebung.

[7] Zum Begriff ‘Reifizierung’ vgl. Kapitel 1.5.3.

[8] Vgl. Cavill und Schaefer weiter oben.

[9] Der Satz ‘Ein Mann ist kein Mann’ bedeutet die Negierung einer Tautologie. Tautologien haben jedoch die Eigenschaft, immer wahr zu sein. Sie können damit aus Sicht der Logik nicht, wie im angeführten Beispiel geschehen, negiert werden.

[10] Der Begriff der Vokalität wird von Ursula Schaefer (1992) in ihrer Habilitationsschrift Vokalität: altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit eingeführt, um den Übergang von einer oralen Kultur zu einer Schriftkultur und die damit verbundenen Besonderheiten, wie die mündliche Performance schriftlich vorliegender Texte, auch terminologisch, in Abgrenzung zu den Begriffen Oralität und Schriftlichkeit, deutlich zu machen.

[11] Das Morphem {3.Ps. Sing. Präsens Indikativ}des Verbs beon hat neben bið noch die graphischen Realisierung biþ und byð. Das Morphem {3.Ps. Sing. Präsens Indikativ} des Verbs sculan wird neben dem vorrangig verwendeten sceal graphisch auch durch scel realisiert.

[12] LARRINGTON, Carolyne (1993). A Store of Common Sense: Gnomic Theme and Style in Old Icelandic and Old English Wisdom Poetry. Oxford: Clarendon Press 1993, 8.

[13] Vgl. Larrington 1993: 8 und Cavill 1999: 45.

[14] Die Übersetzung entnehme ich aus Schaefer 1992: 194.

Ende der Leseprobe aus 113 Seiten

Details

Titel
Beowulf - Eine sprechakttheoretische Untersuchung
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Anglistik und Amerikanistik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
113
Katalognummer
V85911
ISBN (eBook)
9783638900843
Dateigröße
888 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Beowulf, Eine, Untersuchung
Arbeit zitieren
Matthias Doyscher (Autor:in), 2006, Beowulf - Eine sprechakttheoretische Untersuchung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85911

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