Körper und Resonanz in der klient-zentrierten Kunsttherapie


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2007

19 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1 Kunsttherapie im person-zentrierten Kontext

2 Trans-verbale Kommunikation, intuitive Erfahrung und das Ahnungswissen

3 Körperwissen: Resonanz- und Resilienzfaktoren

4 Interventionen aus der Körperresonanz im kunsttherapeutischen Prozess

5 Literatur

1 Kunsttherapie im person-zentrierten Kontext.

Mit dem Konzept einer klient-zentrierten Kunsttherapie bewege ich mich in Theorie und Praxis im konzeptionellen Umfeld einer bereits Ende der 1950er Jahren ausgearbeiteten Psychotherapietheorie. Der amerikanische Psychologen Carl Ransom Rogers hatte 1959 mit seiner „Client-Centered Psychotherapy“ ein umfassendes und zugleich offenes theoretisches Begriffssystem bereitgestellt, das, vor anderen, vorwiegend psychoanalytisch und tiefenpsychologisch geprägten Konzepten, den unschätzbaren Vorzug hatte, dass es zu der internationalen, empirisch-psychologischen Forschung der damaligen Zeit anschlussfähig war. Als akademischer Psychologe legte er mit seinem klient-zentrierten Ansatz zugleich eine Persönlichkeitstheorie vor, eine Theorie zwischenmenschlicher Beziehungen und eine Theorie der Psychotherapie. (Rogers 1957/1959-deutsch: 1987)

Damit reklamierte er als Newcomer für seine Wissenschaftsdisziplin, die Psychologie, einen Führungsanspruch auf einem Gebiet, das damals (wie heute) weitgehend von der Medizin beherrscht war, das damals allerdings seine Kollegen aus der Zunft der amerikanisch-behaviorale Psychologie mit ihren Laborversuchen an Ratten und Tauben, erfolgreich ignoriert hatten. (Groddeck 2006, S. 89ff)

Rogers griff für seine Absicht, das Feld der Psychotherapie einem empirischen Studium zugänglich zu machen, die damals neuen Konzepte der europäischen Wahrnehmungs- und Gestaltpsychologie (die sog. Berliner Schule von Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka) ebenso auf, wie die sozialpsychologische Feldtheorie des nach den USA emigrierten Sozialpsychologen Kurt Lewin. Menschliches Handeln und die menschliche Psyche wurden hier nicht mehr als ein „Ding“ missverstanden und entsprechend „verdinglichend“ untersucht, sondern als lebendige Prozesse eines Individuums beschrieben, das sich in und an einem dynamisch sozialen Feld nach seiner eigenen Wahrnehmung und Bewertung orientiert. Rogers hat dieses Wahrnehmungsfeld und die in diesem Feld ablaufenden psychischen Prozesse, konsequenter weise „phänomenale Ereignisse“[1] genannt: subjektive, lebendige, geistige und emotional Prozesse in deren Zentrum immer neue subjektive Bedeutungen und Bewertungen entstehen. Die Person wird somit als ständig in Veränderung, immer neu und immer als einzigartig gedacht; ständig im Werden, ständig im Ringen um innere und äußere Balance, Anpassung und Kontinuität.

Ich will hier nur einige seiner Grundannahmen aus der Psychotherapieforschung von 1955 ihn Erinnerung bringen (Rogers 1971 S. 418ff) :

(1) „Jedes Individuum existiert in einer ständig sich ändernden Welt der Erfahrung, deren Mittelpunkt es ist….
(2) Der Organismus reagiert auf das Feld, wie es erfahren und wahrgenommen wird. Dieses Wahrnehmungsfeld ist für das Individuum "Realität".
(3) Der Organismus reagiert auf das Wahrnehmungsfeld als ein organisiertes Ganzes.
(4) Der beste Ausgangspunkt zum Verständnis des Verhaltens ist das innere Bezugssystem des Individuums selbst….“[2]

Allein bereits an diesen vier (von 19) Thesen wird deutlich, dass sich hier, in der damaligen Begrifflichkeit der Gestalt- und der Ganzheitspsychologie formuliert, substanzielle Erfahrungen artikulieren, die heute wieder von systemisch-konstruktivistischen Konzepten aufgegriffen und reformuliert wurden.[3] Wie sehr die rogerianische Psychotherapie- und Beratungsperspektive, wie sehr seine Auffassung vom Lernen und von der konstruktiven menschlichen Entwicklung, bis heute bestand haben und auch im neueren wissenschaftlichen Diskurs anschlussfähig sind, zeigen sich dem Kundigen auch in den neueren Ergebnissen der neurobiologischen Forschungen und den neuen Ansätzen in der Neuropsychiatrie, die mit der Bedeutung der Gefühle und mit einer Neubewertung der inneren Bewertungsinstanzen, sowie mit der Existenz der Spiegelneuronen ein naturwissenschaftlich erfassbares Substrat der Empathiefähigkeit des Menschen nachweisen konnten (Damasio 2002, Bauer 2006a u.2006b).[4]

Die vorletzte der oben zitierten Thesen aus der rogerianischen Psychotherapietheorie will ich ausführlicher kommentieren:

Der Organismus reagiert auf das Wahrnehmungsfeld als ein organisiertes Ganzes.

Die Rede vom „Organismus“ meint hier eine umfassende und ganzheitliche Sichtweise des Menschen als geistig-emotionale und körperliche Person wie als natürlicher Organismus. Will heißen: Die Person reagiert in der Kommunikation mit anderen nicht nur von dem gesprochenen Wort zu dem gesprochenen Wort, oder nur von Auge zu Auge, oder nur von Ohr zu Ohr usw., sondern der Organismus reagiert ganzheitlich, d.h. mit und auf allen Sinneskanälen gleichzeitig. Er hört und sieht und riecht und gibt in seinem Handlungsimpuls z.B. den Eindrücken des Geruchssinnes die Priorität. Die Wahrnehmung der Alkoholfahne des Gegenübers lässt dessen gesprochene Worte vielleicht unglaubwürdig erscheinen. Schon längst bevor die Worte richtig verstanden sind, hat „der Organismus“ eine bedeutsame (organismische) Bewertung vorgenommen und einen entsprechenden „Marker“ gesetzt. Dieser hilft im günstigen Falle spontan und direkt eine Entscheidung oder eine Handlung zu generieren. (Damasio 2002)

Im ungünstigen Falle wird der Organismus von unterschiedlichen (gleichzeitig auftretenden aber einander widersprechenden) Markern irritiert und verharrt handlungsgelähmt.

Um es weiter kompliziert zu machen: In der internen Abspeicherung dieser Wahrnehmung überlagern und ergänzen diese sich gegenseitig. Sie sind miteinander verbunden und werden, wie die moderne Neurobiologie heute mit den bildgebenden Verfahren zeigen kann, quer über das gesamte Hirnareal vernetzt und multimodal abgespeichert. Deshalb schmeckt das Auge sozusagen bei aller Sehtätigkeit auch immer ein bisschen mit und das gesprochene Wort löst beim Hörer auch stets bildhafte Vorstellungen aus. Auch spürt der Körper einen wirklichen Schmerz, wenn z. B. ein kreischendes Geräusch an das Ohr dringt.

2 Trans-verbale Kommunikation, intuitive Erfahrung und das Ahnungswissen

Die Formulierung: „Der Organismus reagiert als Ganzes“ können wir also heute als nach wie vor zutreffende Beschreibung eines höchst komplexen Abstimmungsvorgangs beschreiben, der sich in unterschiedlichen Sinnesmodalitäten, in verschiedenen Ausdrucksgebärden und in vielfältigen Hirnregionen vernetzt vollzieht und zusammenwirkend abläuft. Noch komplexer und differenzierter werden diese Phänomene, wenn wir mit einem anderen Menschen in Beziehung treten, auf diesen reagieren und auf dessen Reaktionen wiederum reagieren. Dann interagieren und kommunizieren beide Organismen spontan und intuitiv aufeinander. Sie tasten sich gegenseitig ab und tasten auch ihre „Abtastversuche“ wiederum ab; sie kommunizieren sozusagen bereits miteinander bevor sie offiziell (verbal) zu kommunizieren begonnen haben. Diese ganzheitlichen Resonanzprozesse möchte ich „trans-verbale Kommunikation“ nennen, weil sie die verbale Kommunikation bei weitem überschreiten, also transzendieren und zumeist dieser auch zeitlich vorausgehen. Ich meine hiermit also eine Kommunikation, die sich zwischen den Organismen jenseits der Worte vollzieht und, die über die Sprache hinaus hinausgeht.[5]

Die Chemie stimmt oder sie stimmt nicht, - wie man so sagt; und wir können uns diese Vorgänge mit der so genannten „Chemie“ prinzipiell nachträglich bewusst machen. Ich kann reflexiv erarbeiten, was in einer bestimmten Situation meine Vorsichtreaktion ausgelöst und was meine inneren Alarmglocken zum klingen gebracht hat: War es zum Beispiel ein bestimmter Geruch, den ich an diesem Menschen wahrgenommen habe? war es der Klang seiner Stimme? war es die Gestik seiner Bewegungen? Oder war es nur eine bestimmte Körperhaltung, die mich an irgend etwas erinnert und die bei mir bestimmte Emotionen, Einstellungen und zurückliegende Erfahrungen in Resonanz bringen?

In jeder zwischenmenschlichen Situation geraten wir in eine ganz vielschichtige Sphäre von unterschiedlichen Eindrücken, die sich dem Organismus gegenseitig überlagernd anbieten. Die Wahrnehmungssysteme der Organismen tasten sich gegenseitig ab und „lesen“ wichtige Informationen. Unsere Körper scheinen einander zu verstehen, ohne dass wir situativ genau wissen, was da eigentlich vor sich geht. Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty (2002) hat diese Sphäre des unwillkürlichen Kontaktes als den Bereich der „Zwischenleiblichkeit“ bezeichnet. Der Säuglingsforscher Daniel Stern (1998) nennt die Ergebnisse aus diesem Erfahrungsbereich das „implizite Beziehungswissen“. Dieses sammelt ein Säugling in der immer wiederkehrenden Abfolge von alltäglichen Erfahrungen zum Beispiel mit der Mutter und mit wichtigen anderen Bezugspersonen in der täglichen Interaktion.

Wie gesagt, der Organismus reagiert stets als Ganzes mit einer Überfülle von bereitgestellten Informationen aus unterschiedlichen Wahrnehmungssystemen und gleicht diese mit dem Schatz der bisher erworbenen Erfahrungen ab. Aus diesem Abgleich der Wahrnehmungen mit dem impliziten Erfahrungswissen des Organismus entsteht dann die Handlungsbereitschaft und ein erster innerer motorisch messbarer Handlungsentwurf. Dieser muss allerdings nicht mit dem willentlichen, absichlich-bewussten Handlungsvorsatz übereinstimmen. Wer kennt die Situation nicht, in der sie gerade bemerken, dass sie gerade etwas anderes tun als das, was sie sich eigentlich vorgenommen hatten?

[...]


[1] In Rogers´ Werk stehen Empirie und Phänomenologie durchaus in einem spannungsvollen Zusammenhang, der konzeptionell von ihm nie wirklich thematisieret wurde. In der Verbreitung seiner Psychotherapie als Wissenschaft hat sich allerdings der eher nüchterne (und gelegentlich auch naive) Empirismus durchgesetzt.

[2] Wie offen, zutreffend und aktuell diese Thesen von 1952 bis heute geblieben sind, konnte jüngst eine neue Studie von Michael Lux zeigen , der die Thesen im Licht der Ergebnisse neuerer Hirnforschungen interpretiert. (Lux 2007)

[3] Nach den ausführlichen kontroversen Debatten der letzten Jahre um „Person-zentrierung“ einerseits und „System-zentrierung“ andererseits, kann heute etwas entspannter die gemeinsame konstruktivistische Tradition beider Konzepte gesehen werden. Vergl. Schlippe/Kriz 2004

[4] Danach ist der Mensch auf Kooperation und auf gelingende Kommunikation angelegt und angewiesen. Die Fähigkeit, Absichten und Intentionen, Erwartungen und Hoffnungen anderer Individuen erahnen, entschlüsseln und „verstehen“ zu können und in der Kooperation soziale Gemeinschaften zu bilden, scheint die besondere Leistung der menschlichen Rasse zu sein. (Bauer 2006a und 2006b)

[5] Der in der Kommunikationswissenschaft üblich Begriff der „Non-verbalen Kommunikation“ ist m. E. von der unzutreffenden Annahme einer Priorität der sprachlichen Kommunikation geprägt.

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Details

Titel
Körper und Resonanz in der klient-zentrierten Kunsttherapie
Hochschule
Hochschule für Bildende Künste Dresden  (Ausbildungsinstitut für klientenzentrierte Kunsttherapie (AKT-Siegen) )
Autor
Jahr
2007
Seiten
19
Katalognummer
V86130
ISBN (eBook)
9783638891073
ISBN (Buch)
9783656411673
Dateigröße
1334 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Über den Autor: Prof. Dr. Norbert Groddeck, geb. 1946, lehrt als Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen. Er ist als Diplompädagoge, Kunsttherapeut (AKT + DFKGT) , und Supervisor (DGSv) wissenschaftlicher Leiter der Arbeitsgemeinschaft für klientenzentrierte Therapie und humanistische Pädagogik (akt-GmbH) in Siegen. www.person-zentriert.de
Schlagworte
Körper, Resonanz, Kunsttherapie
Arbeit zitieren
Prof. Dr. phil, Diplompädagoge Norbert Groddeck (Autor:in), 2007, Körper und Resonanz in der klient-zentrierten Kunsttherapie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86130

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