Die Tschechoslowakei / Tschechische Republik in der KSZE 1990 - 1994


Seminararbeit, 2000

25 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


INHALT

1. Einleitung

2. Pläne und Visionen in einem neuen Europa

3. Pariser Summit 1990

4. 1991: Ein Wendejahr für die tschechoslowakische Sicherheitspolitik

5. 1992: das Jahr des tschechoslowakischen KSZE-Vorsitzes

6. Vom Hauptakteur zum Teilnehmer unter vielen: Der Wandel der tschechischen Rolle in der KSZE von der Anerkennung als

Tschechische Republik bis zum Budapester Summit

ANHANG

Literatur

1. Einleitung

Ziel dieser Arbeit soll sein, einen Überblick über die tschechoslowakische bzw. ab 1.1.1993 tschechische Rolle innerhalb der KSZE von 1990 bis 1994 zu geben. Es geht hier ausdrücklich nicht um eine Entwicklungsgeschichte der KSZE in diesem Zeitraum, womit auch verständlich wird, dass in der Arbeit zwar tschechoslowakische/tschechische Vorschläge für einzelne KSZE-Gipfel bzw. Aussenministertreffen behandelt werden, nicht aber die Beschlüsse der einzelnen KSZE-Treffen zur Sprache kommen werden. Wenn, dann nur, um abwägen zu können, inwieweit sich die Positionen der Prager Diplomatie durchsetzen konnten.

Als Quellenbasis für die vorliegende Arbeit musste vorwiegend die tschechischsprachige Tagespresse der Jahre 1990 bis 1994 dienen, die in der Tschechischen Nationalbibliothek eingehend nach Beiträgen zur KSZE durchgesehen wurde. Die wenigen Aufsätze, die in tschechischen politologischen Fachzeitschriften über die KSZE zu finden waren, behandelten meist vorwiegend auf allgemein-europäischer Basis Vergangenheit, Gegenwart und Perspektiven der KSZE/OSZE und waren als Informationsmaterial über die Prager Rolle darin nur wenig nützlich. Ein Gespräch mit einem Vertreter der tschechischen OSZE-Sektion in Wien, Herrn Dr. Kaiser, brachte einige hilfreiche Anregungen. Die Kontaktaufnahme mit dem Prager OSZE-Archiv (Frau Němcová) verlief zuerst vielversprechend, doch sah sich das Archiv bis zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Arbeit wegen massiver Arbeitsüberlastung nicht in der Lage, über die tschechoslowakische/tschechische Rolle informierende Dokumente zuzustellen. Als Ersatz dafür wurden deshalb publizierte Akten des tschechoslowakischen Aussenministeriums und des Europa-Archivs herangezogen.

2. Pläne und Visionen in einem neuen Europa

Die Veränderungen, von denen Europa nach dem Epochenjahr 1989 ergriffen wurde, waren derart tiefgreifend, dass sie sich auf das Wirken und die Stellung der KSZE auswirken mussten. Das Mass ihres Einflusses hing aber entscheidend davon ab, wie die neue europäische politische und strategische Situation von den amtierenden Politikern gedeutet wurde.

Als das geeignetste Instrument wurde unmittelbar nach dem Kalten Krieg[1] und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aus diesem Gesichtspunkt mehrheitlich die KSZE angesehen. Der Hauptgrund für diese Bewertung war das Faktum, dass sie die einzige kontinentale Institution war, in der sich neben den Staaten des geteilten Europas auch die zwei mächtigsten Atommächte USA und UdSSR und beide Militärpakte beteiligt hatten, in denen diese Supermächte dominierten.

Die Atmosphäre des Jahres 1990 drückt auch die Art aus, wie die neue Situation damals einer der bedeutendsten Politiker der postkommunistischen Länder, der tschechoslowakische Präsident Václav Havel, empfand. Ein seine damaligen Auffassungen zusammenfassendes Dokument bildet seine Rede vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Strassburg vom 10. Mai 1990. Václav Havel empfand die neue Situation in der Einleitung seiner Rede als Verwirklichung eines Traumes:

"Heute eröffnen sich vor Europa Perspektiven, die es im Grunde nie in der Geschichte hatte: Nämlich die Möglichkeit, ein Kontinent der friedlichen und freundschaftlichen Zusammenarbeit aller Nationen zu werden, die sich auf ihm aufhalten."[2]

Darauf sei, gemäss Havel, mit der Annahme entsprechender Massnahmen zu reagieren, die sicherstellen würden, dass sich die offene Hoffnung schrittweise in Wirklichkeit verwandeln könne. Sein Projekt war vor allem auf der Vorstellung begründet, dass sich beide militärischen Gruppierungen (NATO und WaPa) kontinuierlich in Richtung eines völlig neuen Sicherheitssystems transformierten, ein Sicherheitssystem, dass das künftige vereinigte Europa in seiner Struktur schon vorwegnehmen sollte, und das "so etwas wie die Sicherheitsgarantie bzw. das sicherheitspolitische Rückgrat"[3] des neu geordneten Kontinents werden sollte. Havel ging davon aus, dass NATO und WaPa ganz unterschiedliche Schicksale zuteil werden sollten. Während der WaPa schrittweise seine Rolle im laufenden Prozess der Abrüstung zu

Ende spielen solle und schliesslich sich selbst auflöste, könnte sich die NATO, als sinnvollere, demokratischere und besser funktionierende Struktur, "in den Keim des neuen europäischen Sicherheitssystems verwandeln..."[4].

Die grösste Aufmerksamkeit allerdings schenke Havel in seiner Rede der KSZE. In der europäischen Sicherheitsarchitektur liess er ihr eine Schlüsselrolle zukommen: "Das grosse 'nördliche' Sicherheitsband lässt sich im Grunde als 'Helsinki-Band' bezeichnen: Die Länder, die zu ihm gehören könnten und sollten, sind nämlich Teilnehmer des sogenannten Helsinki-Prozesses"[5], urteilte Havel. Deswegen sollten nach seiner Meinung neue Strukturen aus der gegebenen Grundlage des Helsinkiprozesses herauswachsen. Er wiederholte den schon früher geäusserten tschechoslowakischen Vorschlag für die Errichtung einer Europäischen Sicherheitskommission[6], als "Keim des zukünftigen geeinten 'Helsinki-Sicherheitssystems', das die Sicherheit des sich vereinigenden Europas garantieren"[7] solle.

Er stellte sich vor, dass die Bedeutung der Europäischen Sicherheitskommission (ESK) parallel zu den Auflösungsetappen des WaPa und der Umbaustadien der NATO wachsen würde. Die KSZE würde sich im Sicherheitsbereich schrittweise umbauen von einer Institution der gemeinsamen Empfehlungen zu einer Institution der gemeinsamen Vertragsbindungen. Die Hoffnungen, die damals Präsident Havel in die KSZE legte, entsprachen den Parametern des Versuchs eines Politiker eines postkommunistsichen Landes zur Beseitigung aller Hinterlassenschaften des Eisernen Vorhangs und zur beschleunigten politischen und militärpolitischen Vereinigung ganz Europas. Im Einvernehmen damit empfahl er, den Summit der KSZE noch im Jahre 1990 nach Prag einzuberufen. Gemäss seinen Vorstellungen hätte die Europäische Sicherheitskommission bereits ab 1. Januar 1991 in Prag ihre Arbeit aufnehmen können, wo ihr Sekretariat errichtet werden sollte bzw. ihr Repräsentationsapparat. Heute ist offensichtlich, dass Havels Vorschläge und Optik nicht immer den realen politischen Möglichkeiten entsprochen hatten, besonders was die Termine zur Realisierung einzelner Massnahmen betrifft. Einen deutlichen Anteil daran hatte der Charakter der neuen Situation, die sich im Bereich der europäischen Sicherheit eingestellt hatte, aber auch die Folgen von ungenügend persönlichen Erfahrungen aus multilateralen Verhandlungen.

Der tschechoslowakische Präsident trug im Europarat noch weitere Empfehlungen vor. Er schlug z.B. vor, dass die geplante Helsinki-Nachfolgekonferenz um ein Jahr früher stattfände, also bereits im Jahre 1991, und dass sich an ihrem Ende der Summit der KSZE träfe, der "eine neue Generation von Helsinki-Vereinbarungen" verabschiedete. Damit meinte Havel "das System gegenseitiger Verträge zur Zusammenarbeit und Hilfe in der Sicherheissphäre"[8] .

Aus dem Ausgeführten wird ersichtlich, dass sich die Vorstellungen von Politikern über die Möglichkeiten der Transformation europäischer Sicherheitsinstitutionen in den ersten Monaten nach den revolutionären Ereignissen von 1989 unter dem Einfluss allzu sehr starker Emotionen gebildet hatten. Diese waren ausgelöst worden durch die bemerkenswerte Schnelligkeit und den vergleichsweise leichten Ablauf der Veränderungen, die sich innenpolitisch in den postkommunistsichen Ländern abspielten. Dadurch lassen sich auch einige Vorstellungen von Präsident Havel über die Möglichkeiten ihrer Realisierung erklären. Havel ging davon aus, dass "bis zum Ende des nächsten Jahres [1991] die Grundlagen des neuen geeinten Helsinki-Sicherheitssystemes gebildet sein sollten, das allen europäischen Staaten die Sicherheit gäbe, dass der eine den andern nicht mehr fürchten muss, weil alle Bestandteil des gleichen Systems gegenseitiger Garantien sind, das sich auf dem Prinzip der Gleichberechtigung aller Teilnehmer und der Pflicht aller, die Unabhängigkeit eines jeden von ihnen zu schützen, abstützt."[9]

Die damalige Perzeption der Dynamik innenpolitischer Veränderungen trug auch zur Bildung weiterer optimistischer Vorstellungen über das Schicksal Europas bei. Der Präsident der früheren ČSFR vertraute dem Europarat-Parlament im weiteren seine Vision über die Bildung einer europäischen Gemeinschaft demokratischer Staaten an, "ungefähr bis in fünf Jahren", die sich "Organisation Europäischer Staaten" nennen solle.[10] Er stellte sich vor, dass am Ende des Jahrtausends aus ihr eine Europäische Konföderation entstehen könnte. Nach deren Verfestigung "könnte der ganze vorgeschlagene Helsinki-Prozess schrittweise an Bedeutung verlieren, bis sich zuletzt Europa seine Sicherheit alleine sichern" könne.[11]

Mit visionären Vorstellungen zeichnete sich nicht nur der tschechoslowakische Präsident aus. Der polnische Präsident Lech Wałęsa beispielsweise empfahl das Projekt eines Europäischen Bürgerparlaments und der damalige Premier Polens Tadeusz Mazowiecki wiederum schlug die Bildung eines ständigen politischen Organs vor, dem die Aussenminister aller europäischen Staaten angehören sollten. Mit Havels Vorschlägen durchaus vereinbar waren die Ansichten des französischen Staatspräsidenten Mitterand, der eine Art Europäische Konföderation als Ziel des Helsinki-Prozess ansah[12].

3. Pariser Summit 1990

Das Verständnis für die revolutionären Veränderungen in der Art, wie es die oben zitierte Rede Präsident Havels im Mai 1990 illustriert, bestimmte auch die Vorbereitungen der einzelnen Delegationen für den Pariser Summit vom November 1990. Nicht nur die ČSFR, auch weitere Länder aus beiden Teilen Europas suchten nach Wegen und optimalen Formen zum Ausbau der KSZE als vielversprechende europäische Sicherheitsinstitution. Die Vorbereitungen der ersten tschechoslowakischen nachrevolutionären Exekutive für den Pariser Gipfel verliefen in einem gewissen Masse gemäss einem Standardmodell, das für die Vorbereitungen auch der anderen postkommunistischen Länder gilt. Jedes von ihnen versuchte, möglichst viel und möglich nutzbringend zu den ablaufenden Veränderungen beizutragen und dadurch den Prozess der Abkapselung von der totalitären Vergangenheit zu beschleunigen.

Die Vorstellungen über die zukünftige europäische Sicherheitsarchitektur gingen von der These aus, dass es unter den neuen Bedingungen unerlässlich ist, deren Begriff im weiteren Sinne zu verstehen und in ihr ausser politischen und militärischen Aspekten auch ökonomische, ökologische und humanitäre Gesichtspunkte einzubringen. Diesem Postulat konnte gemäss den Vorstellungen der damaligen tschechoslowakischen Aussenpolitik nur ein gesamteuropäisches Friedenssystem entsprechen. Seine wichtigste Grundlage sollte der KSZE-Prozess sein. "Die neue Situation in Europa verlangt, dass dieser Prozess den Weg zu einer zweiten Generation von Helsinki-Verhandlungen weist", wie in einem Memorandum der tschechoslowakischen Regierung über die Europäische Sicherheitskommission vom 6. April 1990 steht[13]. Diese Kommission sollte gemäss tschechoslowakischen Vorstellungen zur Bildung der Voraussetzungen für ein schrittweises Aufbauen einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsarchitektur führen.

Aufmerksamkeit verdienen einige Einzelheiten, die mit der vorgeschlagenen ESK zusammenhingen. Alle KSZE-Staaten hätten an ihr teilnehmen sollen. Anfänglich hätte sie bloss eine konsultative, teils koordinative, teils eine bestimmte Kontroll-Funktion übernehmen sollen, später aber auch weitere Funktionen, auf die sich die Teilnahmestaaten geenigt hätten. Zu den Hauptaufgaben der ESK hätte gehört, die Hauptfragen europäischer Sicherheit zu beurteilen, Gefahren für den Frieden in Europa zu beseitigen, sowie bereits ausgebrochene Konflikte effizient zu beenden. Sie hätte sich weiter befasst mit Fragen der Gefährdung und der Verletzung der Sicherheit aus ökonomischen, ökologischen und humanitären Gründen. Der tschechoslowakische Vorschlag ging von der realen Sicherheitslage des Kontinents aus, auf dem sich damals noch zwei Militärblöcke gegenüberstanden. Deswegen ging der Vorschlag davon aus, dass die ESK den Raum schaffen würde für direkte Kontakte zwischen diesen und deren Mitgliedsstaaten, im Falle der Notwendigkeit auch im Beisein der neutralen und nicht-teilnehmenden Staaten.

[...]


[1] Nicht übereinstimmend mit gewisser Fachliteratur wird hier von einer Dauer des sog. "Kalten Krieges" bis Ende der 80er-Jahre ausgegangen.

[2] Sen o Evropě se naplňuje, projev V. Havla před poslanci Rady Evropy, in: Lidové noviny 57/III/1990, 3 (Übersetzung aus dem Tschechischen jeweils von A.V.)

[3] Ebenda.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda.

[6] V. Havel nahm damit Bezug auf das tschechoslowakische Memorandum an die KSZE vom 6. April 1990, das bereits den Vorschlag zur Bildung einer Europäischen Sicherheitskommission enthielt.

[7] Sen o Evropě se naplňuje, projev V. Havla před poslanci Rady Evropy, in: Lidové noviny 57/III/1990, 3

[8] Ebenda. Dieser Gedanke tauchte in modifizierter Form in einem Vorschlag des französischen Premier Balladur 1993 wieder auf, der damals einen Stabilitätspakt für Europa forderte.

[9] Ebenda.

[10] Ebenda.

[11] Ebenda.

[12] Hájek, Jiří, Rok nové československé zahraniční politiky, in: Mezinárodní politika 1/15/1991, 5.

[13] Československé zahraniční politika, Dokumenty 4-6/1990, FMZV, Praha 1990, 155.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Die Tschechoslowakei / Tschechische Republik in der KSZE 1990 - 1994
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Politikwissenschaft)
Note
1.0
Autor
Jahr
2000
Seiten
25
Katalognummer
V86199
ISBN (eBook)
9783638011587
ISBN (Buch)
9783638915922
Dateigröße
540 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tschechoslowakei, Tschechische, Republik, KSZE
Arbeit zitieren
Adrian von Arburg (Autor:in), 2000, Die Tschechoslowakei / Tschechische Republik in der KSZE 1990 - 1994, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86199

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