Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Geschlechtsspezifische Unterschiede in schriftsprachlichen Leistungen
3 Erklärungsansätze für geschlechtsspezifische Unterschiede in schriftsprachlichen Leistungen
3.1 Physiologische Erklärungsansätze
3.2 Sozialisationstheoretische Erklärungsansätze
3.3 Psycholinguistischer Erklärungsansatz
4 Theoretische Grundlagen
4.1 Lernen aus der Sicht der Kognitiven Psychologie
4.2 Interesse und Lernen
4.3 Rechtschreibmodelle
4.3.1 Entwicklungsmodelle
4.3.2 Prozessmodelle
4.3.3 Ökologische Feldmodelle
5 Empirische Untersuchungen zu psycholinguistischen Faktoren
5.1 Qualitative Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern bei Diktaten
5.2 Geschlechtsspezifischer Wortschatz
5.3 Berücksichtigung des geschlechtsspezifischen Wortschatzes
6 Didaktische Folgerungen
6.1 Modell der „Ökologischen Didaktik“
6.2 Konsequenzen für den schriftsprachlichen Anfangsunterricht
7 Zusammenfassung
8 Literatur
1 Einleitung
Wenn es um geschlechtsspezifische Unterschiede in Schulleistungen geht, steht meist die Benachteiligung von Mädchen in Mathematik und Naturwissenschaften im Vordergrund. Andererseits belegen mehrere Untersuchungen seit dem Zweiten Weltkrieg eine Überlegenheit der Mädchen im schriftsprachlichen Bereich. Jungen sind demnach Mädchen in Lese- und Rechtschreibleistungen generell unterlegen (vgl. Brügelmann/Richter 1994, S. 12). Ergebnisse neuerer Studien haben diesen Sachverhalt verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt.
Wo genau und in welcher Form diese Unterschiede vorhanden sind, soll zunächst eine Darstellung der Forschungslage zu geschlechtsspezifischen Leistungsunterschieden im Schriftsprachbereich klären. Der folgende Überblick über die physiologischen, sozialisationstheoretischen und psycholinguistischen Erklärungsansätze wird zeigen, dass letzterer geschlechtsspezifische Unterschiede in den Schulleistungen mit einer mangelnden Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Interessen besonders plausibel erklären kann. Durch kognitive Lerntheorien und Erkenntnisse der Interessenforschung erhält diese Annahme ferner ein theoretisches Fundament, dessen Aspekte auch in Rechtschreibmodellen berücksichtigt sind. Im Anschluss werden empirische Forschungsergebnisse zum psycholinguistischen Erklärungsansatz vorgestellt, womit sich die Arbeit vornehmlich auf die Untersuchungen von Richter (1996a) bezieht, die sich vor allem mit Unterschieden in der Rechtschreibleistung bei Grundschulkindern beschäftigen. Die daraus erwachsenden didaktischen Folgerungen dienen nicht nur einer Aufhebung der Benachteiligung der Jungen im Schriftsprachbereich, sondern zielen auf eine Chancengleichheit aller SchülerInnen in allen Schulfächern.
2 Geschlechtsspezifische Unterschiede in schriftsprachlichen Leistungen
Dass Mädchen in Lese- und Rechtschreibleistungen den Jungen generell überlegen sind, belegen seit dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Studien. Zwar gibt es auch Untersuchungen, die zu keinen klaren Ergebnissen kommen oder auch eine Überlegenheit der Jungen feststellen, Brügelmann (vgl. 1994a, S. 14) macht jedoch die unterschiedlichen Forschungsansätze dafür verantwortlich. Der Großteil der Studien bestätigt hingegen eine Überlegenheit der Mädchen für alle westlichen Industrieländer, worin auch aktuelle Untersuchungen mehrheitlich übereinstimmen. So offenbaren die IGLU-Studie von 2001 (vgl. Bos u.a. 2005, S. 19) sowie die Pisa-Studien von 2000 und 2003 (vgl. OECD 2004, S. 327) in fast allen teilnehmenden Ländern eine deutlich höhere Lesekompetenz der Mädchen. In Deutschland erhalten laut IGLU Mädchen zudem im Fach Deutsch bessere Zensuren als Jungen, schreiben häufiger Briefe und verbringen einen größeren Teil ihrer Freizeit mit Lesen zum Vergnügen. (vgl. Bos u.a. 2005, S. 13ff.) Der Leistungsvorsprung der Mädchen im Schriftsprachgebrauch erstreckt sich außerdem über verschiedene Teilkompetenzen. Diese Tendenz belegt unter anderem die DESI-Studie, in der die Mädchen in allen sprachlichen Teilkompetenzen (Lesen, Sprachbewusstheit, Argumentation, Rechtschreibung und Aspekte der Textproduktion) überlegen waren, teilweise mit großem Vorsprung (vgl. Klieme u.a. 2006, S. 20). Interessanterweise können die Leistungsunterschiede aber auch vom Aufgabentyp abhängen, wie die internationale IEA-Studie offenbart. Dort schnitten die Jungen bei Gebrauchstexten teilweise besser als die Mädchen ab, während letztere bei Erzählungen den größten Vorsprung erreichten (vgl. Brügelmann 1994a, S. 18). Dies deckt sich mit Erkenntnissen der IGLU-Studie, wonach Jungen weitaus mehr Gebrauchstexte und Comics lesen als Mädchen, die sich vor allem mit Romanen und Zeitschriften beschäftigen (vgl. Bos u.a. 2005, S. 16).
Zur Frage, ob die Leistungsunterschiede bestimmten Entwicklungsphasen geschuldet sind oder sich durchgängig vom Vorschul- bis zum Erwachsenenalter zeigen, gibt es teils gegenläufige Ergebnisse. Für die Vorschulzeit belegen Erhebungen einen 25-50% höheren Mädchenanteil unter den Frühlesern. Die Unterschiede bleiben in der gesamten Grundschulzeit erhalten, so dass der Rückstand der Jungen nicht mit einer Verzögerung im Reifeprozess erklärt werden kann. Für die Sekundarstufe zeichnet die IEA-Studie indes ein anderes Bild. Dort sind die Unterschiede nicht mehr in allen, sondern nur noch in etwa der Hälfte der Teilnehmerländer vorhanden. Die Angleichung der Jungen an die Mädchen ist aber unterschiedlich stark ausgeprägt. Während in manchen Ländern die Unterschiede bis zum Ende der Schulzeit zunehmen oder gleich bleiben, nehmen sie in anderen Ländern ab oder werden sogar zu einer Überlegenheit der Jungen. Statt eines verzögerten Entwicklungsprozesses sind also eher kulturelle Unterschiede anzunehmen (vgl. Brügelmann 1994a, S. 18f.). Anders stellt es sich jedoch inzwischen in der DESI-Studie dar, wonach sich die Unterschiede in allen Ländern durch höhere Leistungszuwächse der Mädchen in mehr Teilkompetenzen verstärken (vgl. Klieme u.a. 2006, S. 21f.).
Was die Verteilung von Jungen und Mädchen über das Leistungsspektrum betrifft, ergibt sich ebenfalls kein einheitliches Bild. Verschiedene Studien zeigen unterschiedliche Streuungen (Jungen und Mädchen gleich verteilt, größere Streuung bei den Jungen, größerer Anteil der Jungen im unteren Leistungsbereich) und unterschiedliche Relationen zwischen Jungen und Mädchen bei den leistungsschwachen Schülern (15:1 bis 1:1). Trotz deutlicher Unterschiede überlappen sich also die Leistungen der Jungen und Mädchen (vgl. Brügelmann 1994a, S. 19f.).
Verschiedene Anhaltspunkte deuten darauf hin, dass sich die Schwierigkeiten der Jungen mit der Schriftsprache auch im Erwachsenenalter fortsetzen. Jungen machen den größten Anteil der Schülerschaft in Haupt- und Sonderschulen aus, erwerben schlechtere Schulabschlüsse als Mädchen und machen den größten Teil der Schulabgänger ohne Abschluss aus (vgl. Brügelmann 1994a, S. 16f.; vgl. Statistisches Bundesamt 2006, S. 72).
3 Erklärungsansätze für geschlechtsspezifische Unterschiede in schriftsprachlichen Leistungen
Ein Erklärungsansatz für die geschlechtsspezifischen Unterschiede im schriftsprachlichen Bereich hat bestimmten Kriterien zu entsprechen. So ist bei der Bestimmung von Ursachen für die Leistungsunterschiede darauf zu achten, dass die angenommenen Ursachenmerkmale empirisch nachgewiesen werden können. Außerdem muss der Zusammenhang zwischen der angenommenen Ursache und der männlichen Unterlegenheit im Schriftsprachbereich theoretisch plausibel und stimmig sein. Angesichts von Studien, die belegen, dass Jungen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich bessere Leistungen als Mädchen erbringen, sollte ein Erklärungsansatz ebenfalls bereichsspezifische Unterschiede berücksichtigen (vgl. Brügelmann 1994a, S. 23f.).
3.1 Physiologische Erklärungsansätze
Wenn physiologische Ursachen für die geschlechtsspezifischen Unterschiede in schriftsprachlichen Leistungen verantwortlich sein sollen, müssen Unterschiede in der Hirnorganisation vorhanden sein. Hierbei stellt sich auch die Frage, ob das weibliche Gehirn allgemein bessere sprachliche Leistungen erbringen kann oder ob sich diese Kompetenzen bei Jungen nur langsamer entwickeln (vgl. Richter 1996a, S. 131).
Die Neurophysiologie ging lange Zeit davon aus, dass Sprache in der linken Hemisphäre des Gehirns verarbeitet wird und dort spezielle Gebiete für die Sprachverarbeitung zuständig sind, sogenannte Sprachzentren. In diesem Kontext wurde die weibliche Überlegenheit im Sprachbereich mit einer geringeren Spezialisierung der weiblichen Hirnhälften erklärt. Frauen könnten demnach in beiden Hemisphären Sprache verarbeiten, was ihnen gegenüber den Männern einen Vorteil einbrächte. Andere Erklärungsansätze sahen die Ursache für die weibliche Überlegenheit im allgemein schnelleren Entwicklungstempo der Mädchen, woraus sich unterschiedliche Folgen für die Hirnorganisation ergeben sollten. Frühentwickler hätten demnach bessere sprachliche Fähigkeiten und zeigten eine geringere Spezialisierung der Hirnhälften.
Jüngere Untersuchungen der Neurophysiologie haben jedoch ergeben, dass Sprachverarbeitungsprozesse grundsätzlich in beiden Hemisphären stattfinden, so dass eine weibliche Überlegenheit in der Sprachverarbeitung durch eine geringere Spezialisierung der Hirnhälften nicht erklärt werden kann. Ein weiterer Einwand richtet sich direkt gegen die Annahme allgemeiner, undifferenzierter Sprachverarbeitungsprozesse, worunter verschiedene sprachliche Leistungen (lautsprachliche, grammatische, semantische, schriftsprachliche) gefasst werden. Während eine eindeutige weibliche Überlegenheit für den schriftsprachlichen Bereich nachgewiesen werden kann, trifft dies für eine allgemeine weibliche Überlegenheit in der Sprachverarbeitung nicht zu. Selbst wenn also die weiblichen Hirnhälften weniger spezialisiert wären und damit einen Vorteil für die Sprachverarbeitung hätten, wäre nicht klar, warum sich diese Überlegenheit nur in den schriftsprachlichen Leistungen zeigen sollte (vgl. Richter 1996a, S. 132ff.).
3.2 Sozialisationstheoretische Erklärungsansätze
Bei den sozialisationstheoretischen Erklärungsansätzen ist zunächst zwischen Makro- und Mikroanalysen zu unterscheiden. Erstere befassen sich mit den Handlungsanforderungen, die als gesellschaftliche Erwartungen die geschlechtsspezifischen Rollenbilder und damit die individuelle Entwicklung von Männern und Frauen unterschiedlich prägen. Demnach bräuchten Frauen bessere schriftsprachlichen Kenntnisse in ihrem Leben und entwickelten diese daher besser. Dadurch lassen sich allerdings die großen Leistungsunterschiede innerhalb der Männer- und Frauengruppen nicht erklären.
Der makroanalytische Ansatz lässt sich jedoch auch auf die geschlechtsspezifischen Erwartungen an den Umgang mit Schrift und den daraus erwachsenden unterschiedlichen Einstellungen zum Lesen und Schreiben spezifizieren. Hiernach wird Lesen und Schreiben als ‚Frauensache’ aufgefasst, weshalb diese Fähigkeiten von geringerer Bedeutung für Jungen sind. Behavioristische Lernmechanismen könnten hier im Sinne einer stattfindenden Verstärkung schriftsprachlichen Interesses bei Mädchen und einer ausbleibenden Verstärkung bei Jungen als Erklärung dienen. Für derartige Annahmen liegen indes keine Untersuchungsergebnisse vor. Hingegen belegen Studien, dass Lesen und Schreiben nicht als rein weibliche Tätigkeiten angesehen werden können, sondern dass es geschlechtsspezifische Unterschiede im Schriftsprachgebrauch gibt. So schreiben Frauen mehr im privaten Bereich, Männer eher im beruflichen Bereich. Generelle Leistungsunterschiede in Lesen und Schreiben lassen sich aber durch eine solche Arbeitsteilung auch nicht erklären.
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