Das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die politische Führung


Seminararbeit, 1999

33 Seiten, Note: 16 Punkte


Leseprobe


Gliederung

A) Vorbemerkungen

B) Die Ausgangslage
I. Grundlagen des Verhältnisses von Staat und Kirche in Deutschland
II. Besonderheiten der Bayrischen Verfassung (BV)
III. Frühere Entscheidungen des BVerfG zu Art. 4 GG
1. BVerfGE 35, 366 – Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen
2. BVerfGE 41, 29 / BVerfGE 41, 65 – Verfassungsmäßigkeit christlicher Gemeinschaftsschulen
3. BVerfGE 52, 223 – Verfassungsmäßigkeit des Schulgebet

C) Der der Entscheidung zugrunde liegende Fall

D) Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 16.5.1995 (BVerfGE 93, S. 1 ff.)
I. Die Entscheidungsgründe
1. Religiöse Neutralität des Staate
2. Lernen unter dem Kreuz
3. Das Kreuz als Glaubenssymbol
4. Einwirkung auf Schüler
5. Einschränkbarkeit des Art. 4 I
II. Die Sondervoten

E) Die Reaktionen auf das Urteil
I. Das Urteil in der juristischen Literatur
1. Argumente der Gegner
2. Argumente der Befürworter
3. Eigene Anmerkung
II. Die Reaktionen in Öffentlichkeit und Politik
1. Reaktionen aus den Reihen der CDU/C
2. Reaktion der Kirche
3. Die Befürworter des Urteil
4. Kritik an den Kritikern
5. Auswüchse der Kritik
6. Die Medien

F) Die Leitsatzberichtigung durch Vizepräsident Henschel

G) Die Umsetzung des Urteils durch den bayr. Gesetzgeber
I. Das Änderungsgesetz
II. Verstoß gegen das Normwiederholungsverbot?
1. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Normwiederholungsverbot
2. Reichweite der Bindungswirkung gem. § 31 I BverfGG
3. Normwiederholungsverbot im Bezug auf Art. 7 III BayEUG
III. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.4.1999
1. Kerngehalt der Begründung
2. Eigene Anmerkung

A) Vorbemerkungen

Der Beschluß des BVerfG vom 16.5.1995 zur Anbringung von Kruzifixen in Klassenzimmern hat wie nur wenige andere Entscheidungen die Öffentlichkeit erregt und zum Teil heftigste Reaktionen in allen gesellschaftlichen Bereichen hervorgerufen. Einmalig dürften die öffentlichen Reaktionen einiger z.T. ranghoher Politiker sein, die wiederum unter regem Interesse der Öffentlichkeit auf scharfe Kritik von Gelehrten und Richtern stieß. Dies und die Tatsache, daß es sich materiellrechtlich letztlich um eine Frage der Religionsfreiheit handelte, so daß sich auch die Kirche als Institution direkt von der Entscheidung betroffen und zu öffentlicher Reaktion genötigt sah, machen den Beschluß zu einem Paradebeispiel für die, sich aus der verfassungsmäßigen Stellung des BVerfG ergebenden Differenzen zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Führung. Es soll daher nachfolgend, unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Kruzifix-Urteils ( ein Begriff, der sich auch in der juristischen Literatur eingebürgert hat, obwohl es ja gerade nicht nur um Kruzifixe, sondern auch um einfache Kreuze ging[1] ), erörtert werden, wie sich BVerfG und politische Führung zueinander verhalten.

B) Die Ausgangslage

I. Grundlagen des Verhältnisses von Staat und Kirche in Deutschland

Die wesentlichen Aspekte des Verhältnisses von Staat und Kirche sind in Deutschland im Grundgesetz geregelt, in das mehrere Artikel der Weimarer Reichsverfassung übernommen wurden.

Die Kirchen genießen danach gewisse Sonderrechte wie den Religionsunterricht und die Möglichkeit, Kirchensteuern zu erheben. Eines der entscheidenden Grundrechte ist die Religionsfreiheit gem. Art 4 GG[2], zu der auch die Freiheit gehört, keiner Glaubensgemeinschaft anzugehören.

Durch Art. 7 III der Verfassung ist der Religionsunterricht in Deutschland abgesichert. In ihm wird den Kirchen als einziger Institution das Recht eingeräumt, über die Inhalte eines ordentlichen Schulfaches zu bestimmen.

In einigen Ländern, wie Bremen und Brandenburg gelten hierzu Ausnahmeregelungen, so werden z.B. in Bremen Religionswissenschaften statt Religion gelehrt.[3]

Die anderen wichtigen Grundsätze zum Verhältnis von Staat und Kirche sind 1949 aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen worden, was in Art. 140 niedergelegt ist. Schon in der Verfassung von 1919 war die Staatskirche abgeschafft worden.[4] Bei der Vergabe öffentlicher Ämter darf seitdem die Religion keine Rolle spielen, außerdem darf niemand gezwungen werden, seine Religionszugehörigkeit zu offenbaren.[5] Das Recht der Kirchen, anhand staatlicher Steuerlisten selbst Steuern einzutreiben, ist ebenfalls in den übernommenen Artikeln festgelegt.[6]

In der Bundesrepublik hat man allerdings bei der Kirchensteuer einen anderen Weg gewählt. Die Finanzämter ziehen die Kirchensteuern direkt ein. Die Kirchen sparen Verwaltungskosten, zahlen allerdings von ihren Steuereinnahmen Gebühren für den Einzug an die Länder.

II. Besonderheiten der Bayrischen Verfassung (BV)

Zum Verständnis des Kruzifix-Urteils und der Reaktionen darauf ist außerdem ein Blick in die bayrische Verfassung unumgänglich, da sich diese in mehrfacher Hinsicht von den Verfassungen anderer Bundesländer unterscheidet. Die Verfassung formuliert die Erziehung zur Ehrfurcht vor Gott als eines der Ziele der Erziehung. Im Wortlaut der Verfassung des Freistaats vom 2. Dezember 1946 heißt es über Bildung und Schule:

Artikel 131, Absatz 2:"Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt."

Artikel 135:"Die öffentlichen Schulen sind gemeinsame Schulen für alle volksschulpflichtigen Kinder. In ihnen werden die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen. Das Nähere bestimmt das Volksschulgesetz."

Die strittige Rechtsverordnung des Bayrischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus aus dem Jahre 1983, zu deren Erlaß es das Bayrische Gesetz über Erziehungs- und Unterrichtswesen und das Volksschulgesetz ermächtigte (vgl. Artikel 80 Absatz 1 GG), knüpft an diese Ziele an. § 13 I BayVSO lautet:

"Die Schule unterstützt die Erziehungsberechtigten bei der religiösen Erziehung der Kinder. Schulgebet, Schulgottesdienst und Schulandacht sind Möglichkeiten dieser Unterstützung. In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen. Lehrer und Schüler sind verpflichtet, die religiösen Empfindungen aller zu achten."

III. Frühere Entscheidungen des BVerfG

Der Kruzifix-Beschluß war nicht die erste Entscheidung des BVerfG zur Religionsfreiheit. Bereits vorher gab es Entscheidungen, die thematisch ähnlich gelagert waren und im Kruzifix-Urteil auch zahlreich zitiert wurden. Die wichtigsten dieser Entscheidungen sollen nachfolgend kurz anhand ihrer Leitsätze und elementaren Begründungspassagen dargestellt werden:

1. BVerfGE 35, 366 - Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen

Der Leitsatz dieser Entscheidung lautete: Der Zwang, entgegen der eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung in einem mit einem Kreuz ausgestatteten Gerichtssaal verhandeln zu müssen, kann das Grundrecht eines Prozeßbeteiligten aus Art. 4 Abs. 1 GG verletzen.[7] Das Gericht führte damals aus, das bei ständiger Präsenz eines Kreuzes, dieses mehr Bedeutung erlange, als die eines reinen Schwurgegenstandes, und damit zumindest einzelne Prozeßbeteiligte durchaus in ihrem Grundrecht aus Art. 4 I verletzt sein können.[8]

2. BVerfGE 41, 29 / BVerfGE 41, 65 - zu christlichen Gemeinschaftsschulen

In zwei sehr ähnlich gelagerten Beschlüssen beschäftigte sich das BVerfG mit der Verfassungsmäßigkeit christlicher Gemeinschaftsschulen badischer Überlieferung bzw. bayrischen Typs. Zur Gemeinschaftsschule badischer Überlieferung hieß es: Eine Schulform, die weltanschaulich religiöse Zwänge soweit wie irgend möglich ausschaltet sowie Raum für eine sachliche Auseinandersetzung mit allen religiösen und weltanschaulichen Auffassungen - wenn auch von einer christlich bestimmten Orientierungsbasis her - bietet und dabei das Toleranzgebot beachtet, führt Eltern und Kinder, die eine religiöse Erziehung ablehnen nicht in einen verfassungsrechtlich unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt.[9] Und weiter: Die christliche Gemeinschaftsschule badischer Überlieferung im Sinne von Art. 15 I der Verfassung des Landes Baden-Württemberg ist als Schulform mit dem Grundgesetz vereinbar.[10] Zur christlichen Gemeinschaftsschule bayrischen Typs hieß es: Art. 135 S. 2 der Verfassung des Freistaates Bayern und Art. 7 I des bayrischen Volksschulgesetzes binden bei verfassungskonformer Auslegung den Unterricht in Klassen mit Schülern unterschiedlicher Konfession und Weltanschauung nicht an Glaubensinhalte einzelner christlicher Bekenntnisse. Unter religiösen Grundsätzen im Sinne dieser Bestimmungen sind in Achtung der religiös-weltanschaulichen Gefühle Andersdenkender die Werte und Normen zu verstehen, die von vom Christentum maßgeblich geprägt und weitgehend zu Gemeingut des abendländischen Kulturkreises geworden sind.[11] Beide Beschlüsse enthielten eine Passage, die deutlich machte, was das Gericht in diesem Fall mit verfassungskonformer Auslegung meinte. Sie lautet: [...] Die Schule darf daher keine missionarische Schule sein und keine Verbindlichkeit christlicher Glaubensinhalte beanspruchen [...].[12] Im übrigen dürfe die gewählte Schulform, soweit sie auf die Glaubens- und Gewissensentscheidung der Kinder Einfluß gewinnen kann, nur ein Minimum an Zwangselementen enthalten und müsse auch für andere weltanschauliche und religiöse Werte und Inhalte offen sein.[13]

3. BVerfGE 52, S. 223 - Verfassungsmäßigkeit des Schulgebets

Zu Schulgebeten entschied das Gericht 1979 folgendermaßen: Es ist den Ländern im Rahmen der durch Art. 7 I GG gewährleisteten Schulhoheit freigestellt, ob sie in nicht bekenntnisfreien Gemeinschaftsschulen ein freiwilliges, überkonfessionelles Schulgebet außerhalb des Religionsunterrichts zulassen.[14] Das Schulgebet ist grundsätzlich auch dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn ein Schüler oder dessen Eltern der Abhaltung des Gebets widersprechen, deren Grundrecht auf negative Bekenntnisfreiheit wird nicht verletzt, wenn sie frei und ohne Zwänge über die Teilnahme am Gebet entscheiden können.[15] Entscheidend dabei sei, daß die Durchführung des Schulgebets auf der Basis völliger Freiwilligkeit beruhe.[16]

C) Der der Entscheidung zugrunde liegende Fall

Bemerkenswert am Kruzifix-Urteil und den Reaktionen darauf ist unter anderem, daß der zugrunde liegende Fall, nicht zuletzt aufgrund der recht knappen Ausführungen in den Entscheidungsgründen, vielen, die sich zum Urteil äußerten, gar nicht in vollem Umfang bekannt war, obwohl der komplette Vorgang durchaus Bedeutung im Zusammenhang mit dem Beschluß hat.[17] So begannen die Auseinandersetzungen der Familie mit der Schulverwaltung bereits im Jahr 1986, als das älteste Kind eingeschult werden sollte. Im Klassenzimmer war aufgrund der Regelung des § 13 I S. 3 VoSchG ein Kruzifix mit Korpus direkt im Sichtfeld der Tafel angebracht. Die Eltern, die ihre Kinder im Sinne der antroposophischen Weltanschauung erzogen, wendeten sich gegen dieses Kruzifix und erreichten zunächst eine Kompromißlösung dergestalt, daß das Kruzifix abgenommen wurde, dafür aber ein kleines Kreuz seitlich über der Tür aufgehängt wurde. Die Auseinandersetzungen flammten jedoch bei der Einschulung der anderen Kinder sowie beim Klassen- und Schulwechsel wieder auf, da erneut Kruzifixe in Schulräumen angebracht waren. Die Beschwerdeführer erreichten daraufhin dadurch, daß sie ihre Kinder über einen längeren Zeitraum nicht zur Schule schickten, wiederholt die bereits dargestellte Kompromißlösung, ohne jedoch von der Schulverwaltung zugesagt zu bekommen, daß eine solche Kompromißlösung bei jedem Klassenwechsel eingehalten werde. Der zeitweilige Besuch einer Waldorfschule blieb aufgrund fehlender Finanzmittel ein vorübergehender Versuch zur Beilegung der Auseinandersetzungen. Was insbesondere im Urteil der BVerfG unerwähnt blieb, ist die Tatsache, daß die Familie während des Streits vom Freistaat Bayern massiv mit behördlichen Mitteln unter Druck gesetzt wurde. So wurde die Familie mehrmals von der Polizei besucht, schließlich wurde auch eine Wohnungsdurchsuchung durchgeführt. Der Vater wurde aufgrund einer schriftlichen Expertise und einem daraufhin ergangenen Gerichtsbeschluß zwangsweise psychiatrisch untersucht, jedoch mußte diese Untersuchung wiederum aufgrund eines Gerichtsbeschlusses des LG Regensburg nach zwölf Tagen wieder eingestellt werden. Schließlich wurde den Eltern durch die Behörden mehrfach der Entzug des Sorgerechts für ihre drei Kinder angedroht. Die Eltern beschritten schließlich den Verwaltungsrechtsweg zunächst vor dem VG Regensburg, dann vor dem VGH München. Beide Gerichte lehnten den Antrag der Eltern ab.[18] Der VGH München versagte den Eltern unter anderem die Prozeßkostenhilfe mit der Begründung, daß ein Erfolg in der Hauptsache aus verfassungsrechtlichen Gründen zwar nicht völlig ausgeschlossen sei, aber jedoch soweit entfernt, daß Versagung von Prozeßkostenhilfe verfassungsrechtlich legitimiert sei. Die Familie erhob daraufhin im Februar 1991 Verfassungsbeschwerde gegen die im Eilverfahren ergangenen Beschlüsse sowie mittelbar gegen § 13 I 3 BayVSO. Konkret beanspruchte die Familie dabei für sich die negative Glaubensfreiheit, die sie durch den dritten Satz des § 13 I BayVSO eingeschränkt sah. Die Familie berief sich in ihrer Verfassungsbeschwerde auf folgende Artikel:

Artikel 4, Absatz 1:"Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich."

Artikel 6, Absatz 2 Satz 1:"Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht."

Artikel 140 (aus der Weimarer Verfassung übernommen):"[...] Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden."

D) Der Beschluß des BVerfG vom 16.5. 1995 (BVerfGE 93, 1)

In seinem Beschluß vom. 16.5.1995 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde für zulässig und begründet und kam zum Ergebnis, daß § 13 I S. 3 BayVSO mit Art. 4 I GG unvereinbar und damit nichtig sei. Durch die Beschlüsse des VGH München sowie des Bayrischen Verwaltungsgerichts Regensburg sah das Gericht die Eltern in ihren Grundrechten aus Art. 4 I i.V.m. Art. 6 II S. 1 sowie die Kinder in ihren Grundrechten aus Art. 4 I verletzt.[19] Auf Fragen der Zulässigkeit und verfahrensrechtliche Fragen innerhalb der Begründetheit soll im folgenden nicht weiter eingegangen werden, da sich zumindest die öffentliche und politische Diskussion um das Urteil im wesentlichen auf die materiellrechtlichen Problemkreise bezog. Im folgenden sollen die Entscheidungsgründe dargestellt werden.

I. Die Entscheidungsgründe

1. Religiöse Neutralität des Staates

In der Begründung klärt der erste Senat zunächst noch einmal den traditionellen Kerngehalt der Rechtsprechung des BVerfG zur individuellen Glaubensfreiheit. Danach gehört zur individuellen Glaubensfreiheit neben der Freiheit einen Glauben zu haben auch die Freiheit nach eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln.[20] Dies bedeute auch die Freiheit zur Teilnahme an kultischen Handlungen, die ein Glaube vorschreibt oder in denen er Ausdruck findet und umgekehrt somit auch die Freiheit solchen Handlungen eines Glaubens fernzubleiben.[21] Diese Freiheit bezieht der Senat dabei auch ausdrücklich auf die Symbole, in denen ein Glaube bzw. eine Religion sich darstellt, so daß es dem einzelnen überlassen sei zu entscheiden, welche religiösen Symbole er anerkennt bzw. ablehnt.[22] Das Gericht weist in diesem Zusammenhang jedoch darauf hin, daß niemand das Recht hat von fremden Glaubensbekundungen verschont zu bleiben.[23] Hierbei differenziert das Gericht jedoch zwischen allgemein hinzunehmenden Bekundungen religiöser oder weltanschaulicher Einstellungen und einer "vom Staat geschaffenen Lage, in der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluß eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen er sich manifestiert und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist."[24] Unter Bezugnahme auf BVerfGE 41, 29 (49) führt der Senat aus, daß "Art. 4 I seine freiheitssichernde Wirkung gerade in den Lebensbereichen entfaltet, die nicht der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen sind, sondern vom Staat in Vorsorge genommen worden sind."[25] Das Gericht betont dabei ausdrücklich den sich aus Art. 4 I ergebenden Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen, der sich auch in Art. 3 III, Art. 33 I sowie Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I, IV und Art. 137 I WRV manifestiere.[26] Unabhängig von zahlenmäßiger Stärke oder sozialer Relevanz habe der Staat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften zu achten, was auch beinhalte, daß eine Zusammenarbeit oder Förderung einer solchen Religionsgemeinschaft nicht zu einer Identifikation des Staates mit ihr führen dürfe.[27] In Verbindung mit Art. 6 II S. 1 sieht der Senat auch Grundrechte der Eltern verletzt, da Art. 4 I auch das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Pflicht umfasse, was auch dem Recht entspreche, die eigenen Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die den Eltern schädlich oder falsch erscheinen.[28]

[...]


[1] Dies auch kritisch anmerkend: Link, NJW 1995, S. 3353 (3353)

[2] alle mit Art. gekennzeichneten Normen sind, soweit nicht anders gekennzeichnet, solche des Grundgesetzes

[3] s. hierzu Art. 141 (sog. Bremer Klausel)

[4] vgl. Art. 137 I RV 1919

[5] vgl. Art. 136 II, III RV 1919

[6] vgl. Art. 137 VI RV 1919

[7] BVerfGE 35, S. 366 (366), Leitsatz

[8] BVerfGE 35, S. 366 (374, 376)

[9] BVerfGE 41, S. 29, Leitsatz 4

[10] BVerfGE 41, S. 29, Leitsatz 5

[11] BVerfGE 41, S. 65, Leitsatz 1

[12] BVerfGE 41, S. 29 (51); BVerfGE 41, S. 65 (78)

[13] BVerfGE 41, S. 29 (51)

[14] BVerfGE 52, S. 223, Leitsatz 1

[15] BVerfGE 52, S. 223, Leitsatz 2

[16] BVerfGE 52, S. 223 (239)

[17] Ausführlich zum zugrundeliegenden Fall: Czermak, NJW 1995, S. 3348 (3349)

[18] die Entscheidung des VGH ist abgedruckt in: BayVBl 1991,

[19] BVerfGE 93, S. 1 ( 1)

[20] BVerfGE 93, S. 1 (15)

[21] BVerfGE 93, S. 1 (15)

[22] BVerfGE 93, S. 1 ( 16)

[23] BVerfGE 93, S. 1 ( 16)

[24] BVerfGE 93, S. 1 ( 16);

[25] BVerfGE 93, S. 1 ( 16)

[26] BVerfGE 93, S. 1 ( 16, 17),

[27] BVerfGE 93, S. 1 ( 17); in diesem Zusammenhang verweist das Gericht auf frühere Entscheidungen: BVerfGE 32, S. 98 (106); BVerfGE 19, S. 1 (8); 19, S. 206 (216); 24, S. 236 (246); BVerfGE 30, S. 415 (422)

[28] BVerfGE 93, S. 1 ( 17)

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die politische Führung
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Prof. Dr. H.H. Klein)
Veranstaltung
Öffentlich-Rechtliches Seminar der Uni Göttingen bei Prof. H.H. Klein
Note
16 Punkte
Autor
Jahr
1999
Seiten
33
Katalognummer
V871
ISBN (eBook)
9783638105552
ISBN (Buch)
9783638636995
Dateigröße
502 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit befaßt sich mit den Reaktionen auf das umstrittene Kruzifix-Urteil des BVerfG (Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern (BVerfGE 93,S. 1)) in Politik und Medienöffentlichkeit. Es wird darüber hinaus die Umsetzung des Urteils in Bayern inklusive der Problematik der Normwiederholung beleuchtet. Schließlich wird die Folgerechtsprechung des BVerwG dargestellt und hinterfragt.
Schlagworte
Kruzifix-Urteil, Art. 4 GG, negative Glaubensfreiheit, Art. 6 GG, Wechselspiel zwischen Politik und BVerfG, Normwiederholungsverbot, Bindungswirkung von Entscheidungen des BVerfG
Arbeit zitieren
Guido Brinkel (Autor:in), 1999, Das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die politische Führung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/871

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