Wurden im Frühsommer 1953 jegliche Reformbestrebungen in der DDR durch den Staatsapparat mit Unterstützung der sowjetischen Besatztruppen unterbunden, so regten sich 15 Jahre später in der ČSSR Veränderungsbestrebungen. In jenem Staat des „realen Sozialismus“ vollzogen sich im Frühjahr und Sommer 1968 Reformprozesse, „die das neostalinistische Herrschaftssystem ins Wanken brachten.“
Seitens der Parteiführungen in der Sowjetunion, DDR, Polen, Bulgarien und Ungarn wurde mit Misstrauen und Ablehnung reagiert. Nicht zuletzt stellte der Einmarsch der verbündeten Armeen am 21. August 1968 die größte militärische Aktion in Europa nach Ende des Zweiten Weltkriegs dar.
Welche Konsequenzen brachten diese Entwicklungen mit sich und welche Ideen sowie Gedanken des „Prager Frühlings“ wurden dabei von der Bevölkerung in der DDR aufgenommen? Der Bezirk Karl-Marx-Stadt nahm diesbezüglich unter den 14 Bezirken der DDR eine Sonderstellung ein. Er hatte als einziger im Westen eine Staatsgrenze zur Bundesrepublik sowie im Süden zur Tschechoslowakei. Demzufolge war Karl-Marx-Stadt durch seine Rolle als Grenzbezirk übermäßig von der außerplanmäßigen Stationierung sowjetischer Truppen und Einheiten der NVA betroffen. Eine vergleichbare Situation scheint es nur noch im östlichen Nachbarbezirk Dresden gegeben zu haben.
Da es bislang noch keine Publikation zu den speziellen Auswirkungen des „Prager Frühlings“ auf die südlichen Bezirke der DDR gibt, lag es nahe, einen ersten Schritt zu tun. Deshalb setzt sich die vorliegende Staatsexamensarbeit mit den „Reaktionen im Bezirk Karl-Marx-Stadt auf den ‚Prager Frühling‘ von 1968 in der ČSSR und dessen Niederschlagung“ auseinander.
Zwei zentrale Fragestellungen stehen im Mittelpunkt der Untersuchung:
Gab es ähnliche Denkweisen, in Bezug auf die tschechoslowakischen Forderungen nach Demokratie, im Bezirk Karl-Marx-Stadt? Durch die direkte räumliche Nachbarschaft zu Böhmen ist es wahrscheinlich, dass die Personen im Grenzbezirk Mut und Hoffnung aufgrund der Entwicklungen in Prag schöpften.
Sympathisierte die hiesige Bevölkerung, vor allem nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes, mit den Menschen in Prag und der gesamten ČSSR? Wenn dem so war, auf welche Weise äußerte sich dies bei den Bürgern im Bezirk?
Inhalt
1. Einleitung
1.1. Themenstellung
1.2. Darstellung der derzeitigen fachwissenschaftlichen Literatur
1.3. Methodisches Vorgehen der Arbeit/ Aktenlage in den Archiven
2. Der internationale und nationale Rahmen
2.1. Begriffsdefinition „Prager Frühling“
2.2. Reflektion der politischen Entwicklung in der Tschechoslowakei
2.3. ČSSR im Fokus der sozialistischen Staaten
2.4. Ablauf der Ereignisse in Prag
2.5. Rolle der SED
2.6. Verhältnis Prager Frühling und NVA
3. Die Reaktionen im Bezirk Karl-Marx-Stadt
3.1. Aktivitäten im Bezirk bis zum 21.08.1968
3.1.1. SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt
3.1.2. Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt des MfS
3.1.3. Verhalten der Bevölkerung
3.2. Informationsquellen der DDR-Bevölkerung
3.3. Auswirkungen des Einmarsches
3.3.1. Lage an den Grenzen
3.3.2. Innerhalb der SED
3.3.3. In den Kirchen
3.3.4. Unter den Werktätigen – in den Betrieben
3.3.5. Innerhalb der Intelligenz
3.3.6. Wahrnehmbare Aktivitäten von staatlicher Seite als (Gegen-) Reaktion
3.4. Schwerpunkte der Veränderungsforderungen aus der Gesellschaft
4. Schluss
5. Literatur
6. Abkürzungsverzeichnis
7. Anhang
1. Einleitung
1.1. Themenstellung
1968 – ein sehr ereignisreiches Jahr in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Überall auf der Welt wird man mit Brennpunkten konfrontiert; denkt man dabei an das Vorgehen der Vereinigten Staaten von Amerika in Vietnam, gegen welches sich weltweite Proteste erhoben. Ebenso rief die Ermordung des Bürgerrechtlers Martin Luther King große Anteilnahme hervor. In Frankreich kommt es zu Maiunruhen und einem Generalstreik. Die Bundesrepublik, seit jenem Jahr erstmals von einer Großen Koalition aus CDU (Kanzler Kurt Georg Kiesinger) und SPD (Außenminister Willy Brandt) regiert, muss sich mit den Studentenprotesten auseinandersetzen. Weiter östlich fährt Leonid Breschnew in der Sowjetunion einen harten Kurs gegen jegliche liberale Tendenzen.
Ausgehend von dieser globalen Perspektive richtet sich der Blick auf Mitteleuropa, genauer die Deutsche Demokratische Republik (DDR) und die Tschechoslowakei (ČSSR). Bedingt durch die Herkunft des Autors aus dem mittleren Erzgebirge und der damit einhergehenden direkten Grenzlage zur heutigen Tschechischen Republik, liegt eine lokale Studie zu den regionalen Ereignissen im Jahr 1968 nahe. Die vorliegende Abhandlung ist insofern als Fortsetzung meiner Semesterarbeit zu den Ereignissen rund um den 17. Juni 1953 zu betrachten. Wurden im Frühsommer 1953 jegliche Reformbestrebungen in der DDR durch den Staatsapparat mit Unterstützung der sowjetischen Besatztruppen unterbunden, so regten sich 15 Jahre später in der ČSSR Veränderungsbestrebungen. In jenem Staat des „realen Sozialismus“ vollzogen sich im Frühjahr und Sommer 1968 Reformprozesse, „die das neostalinistische Herrschaftssystem ins Wanken brachten.“[1] Seitens der Parteiführungen in der Sowjetunion, DDR, Polen, Bulgarien und Ungarn wurde mit Misstrauen und Ablehnung reagiert. Nicht zuletzt stellte der Einmarsch der verbündeten Armeen am 21. August 1968 die größte militärische Aktion in Europa nach Ende des Zweiten Weltkriegs dar.[2]
Welche Konsequenzen brachten diese Entwicklungen mit sich und welche Ideen sowie Gedanken des „Prager Frühlings“ wurden dabei von der Bevölkerung in der DDR aufgenommen? Der Bezirk Karl-Marx-Stadt nahm diesbezüglich unter den 14 Bezirken der DDR eine Sonderstellung ein. Er hatte als einziger im Westen eine Staatsgrenze zur Bundesrepublik sowie im Süden zur Tschechoslowakei. Demzufolge war Karl-Marx-Stadt durch seine Rolle als Grenzbezirk übermäßig von der außerplanmäßigen Stationierung sowjetischer Truppen und Einheiten der NVA betroffen. Eine vergleichbare Situation scheint es nur noch im östlichen Nachbarbezirk Dresden gegeben zu haben.
Da es bislang noch keine Publikation zu den speziellen Auswirkungen des „Prager Frühlings“ auf die südlichen Bezirke der DDR gibt, lag es nahe, einen ersten Schritt zu tun.[3] Deshalb setzt sich die vorliegende Staatsexamensarbeit mit den „Reaktionen im Bezirk Karl-Marx-Stadt auf den ‚Prager Frühling‘ von 1968 in der ČSSR und dessen Niederschlagung“ auseinander.
Zwei zentrale Fragestellungen stehen im Mittelpunkt der Untersuchung:
Gab es ähnliche Denkweisen, in Bezug auf die tschechoslowakischen Forderungen nach Demokratie, im Bezirk Karl-Marx-Stadt? Durch die direkte räumliche Nachbarschaft zu Böhmen ist es wahrscheinlich, dass die Personen im Grenzbezirk Mut und Hoffnung aufgrund der Entwicklungen in Prag schöpften.
Sympathisierte die hiesige Bevölkerung, vor allem nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes, mit den Menschen in Prag und der gesamten ČSSR? Wenn dem so war, auf welche Weise äußerte sich dies bei den Bürgern im Bezirk?
Neben der Archivauswertung wird sich diese Arbeit zuvor der fachwissenschaftlichen Literatur zuwenden. Im ersten Hauptteil soll es darum gehen, die direkten Entwicklungen in der Tschechoslowakei und deren Auswirkungen auf die DDR genauer zu untersuchen. Dies erscheint erforderlich, da viele Reaktionen innerhalb der Bevölkerung direkt auf den Ereignissen jenseits der Grenze beruhen. Am Anfang steht dabei die Klärung des Begriffs „Prager Frühling“. Anschließend folgt die Reflektion der tschechoslowakischen Innen- und Außenpolitik im Untersuchungszeitraum. Darauf aufbauend sollen die Reaktionen der anderen sozialistischen Staaten Europas betrachtet werden. Ergänzt wird dies durch einen kurzen militärisch-politischen Ereignisüberblick des Sommers 1968 in und um Prag. Danach wird der Fokus explizit auf die Rolle der SED während der Reformprozesse und deren Niederschlagung in der ČSSR gelegt. Ihren Abschluss findet die Literaturauswertung mit Betrachtung der Frage, inwiefern die NVA bei der Unterdrückung der Reformbewegung im Nachbarland beteiligt war.
Dem zweiten Hauptteil dieser wissenschaftlichen Arbeit ist die Auswertung der Archivbestände vorbehalten. Am Ende sollen die beiden oben formulierten Kernfragen nochmals aufgegriffen und zu einer Lösung geführt werden.
1.2. Darstellung der derzeitigen fachwissenschaftlichen Literatur
Dieser Abschnitt gibt einen kurzen Überblick über die verfügbare Literatur zum Forschungsthema. Gleichzeitig werden jene Werke genauer betrachtet, welche beim Verfassen der vorliegenden Arbeit Verwendung fanden.
Insgesamt ist die Anzahl an Monographien zum Verhältnis zwischen Tschechoslowakei und DDR im Hinblick auf den „Prager Frühling“ gering. Am weitesten zurück reicht die Dissertation von Claus-Peter Burens zum Thema „Die DDR und der ‚Prager Frühling‘. Bedeutung und Auswirkungen der tschechoslowakischen Erneuerungsbewegung für die Innenpolitik der DDR im Jahr 1968.“ aus dem Jahr 1981. Obwohl bereits vor 26 Jahren erschienen, liefert sie eine sehr detaillierte Arbeit an den Grundlagendokumenten, wie z.B. dem Aktionsprogramm oder Statutenentwurf der KPČ. Trotz dass letztere oft in den Archivbeständen der SED oder des MfS zitiert werden, findet sich dort niemals der genaue Wortlaut jener Dokumente, um annähernd ein objektives Bild zu erhalten.
Das Gros der Werke erschien erst nach der politischen Wende 1989/90, nachdem sich der Zugriff auf die Archive der ehemaligen DDR vereinfachte und eine dogmatisch freiere Geschichtsforschung möglich wurde. Erwähnung finden sollen hier v.a. das 1995 veröffentlichte Werk „Die NVA und der Prager Frühling 1968“ von Rüdiger Wenzke über die Rolle Ulbrichts und der DDR-Streitkräfte bei der Niederschlagung der tschechoslowakischen Reformen und der 1996, im Rahmen des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, herausgegebene Band „Die SED und der ‚Prager Frühling‘ 1968“ von Prieß, Kural und Wilke. Letztere drei Autoren bemühen sich um eine Gesamtanalyse des spezifischen Verhaltens der Sozialistischen Einheitspartei im Kontext der Ereignisse in der ČSSR. Dabei arbeiten die Verfasser einen wichtigen methodischen Punkt heraus: „Will man die SED-Politik gegenüber dem tschechoslowakischen Reformprozess analysieren und bewerten, so gilt es eine Grundvoraussetzung ihrer Politik zu beachten: Die SED handelte immer mit Blick auf die sowjetischen Entscheidungen, und dieses Dreiecksverhältnis zwischen Berlin-Moskau-Prag lässt sich nur komparativistisch untersuchen. Anzumerken ist, daß uns in den Akten der SED eine entscheidende Lücke auffiel: die alltäglichen Abstimmungen der SED-Führung mit der sowjetischen Seite scheinen nicht überliefert zu sein. […]“[4]
Damit wird ein Problem, mit welchem sich die Forschung momentan noch konfrontiert sieht, indirekt angesprochen - der Zugang zu den Archivbeständen der „großen Politik“. Es besteht weiterhin kein Zugriff auf die Akten des ehemaligen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, welche heute durch das Archiv des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland verwaltet werden.
Neben einigen weiteren, vorwiegend Detailpublikationen[5] gibt es keine Arbeit, welches sich direkt mit den regionalen Auswirkungen der tschechoslowakischen Reformbewegung 1968 auf ein territorial begrenztes Gebiet der DDR auseinandersetzt.
Aber selbst bezüglich der Gesamtthematik des „Prager Frühlings“, ist die Forschung längst nicht am Ziel angekommen. Die Vielzahl an offenen Fragen, wird nur über eine internationale Zusammenarbeit beantwortet werden können. Solange jedoch noch nicht alle Archive, vor allem in den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, geöffnet sind, wird man weiter auf die Auflösung warten.[6]
1.3. Methodisches Vorgehen der Arbeit/ Aktenlage in den Archiven
Bevor sich anschließend mit der Literaturauswertung befasst wird, werden an dieser Stelle die bearbeiteten Aktenbestände des Staatsarchivs Chemnitz (StAC) sowie der Bundesstelle für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Außenstelle Chemnitz (BStU, Ast. Chemnitz) erläutert.
Von den bearbeiteten Aktenbeständen verteilt sich dies zu ca. zwei Drittel auf das StAC. Hier wurden vor allem die Akten der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt sowie der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) gesichtet. Bei erstem standen die Tagungsprotokolle der SED-Bezirksleitung, der Sekretariatssitzungen sowie der Bezirksdelegiertenkonferenzen zwischen 1968 und 1970/71 im Mittelpunkt. Ergänzt wird dies durch Aktenbände mit verschiedenen Rundschreiben, Informationsberichten „über die Stimmung und Argumente der Bevölkerung“[7] sowie die Dokumente der Bezirksparteikontrollkommission (BPKK). In den Akten der BDVP geht es um die „Lage an der Staatsgrenze Süd“ sowie den „Sicherungseinsatz ‚ ČSSR 1968‘“
Bei der Recherche in der BStU, Außenstelle Chemnitz, wurden v.a. die Akten der Abteilungen XVIII (Sicherung der Volkswirtschaft) und XX (Staatsapparat, Kultur, Kirche, Untergrund) der ehemaligen MfS-Bezirksverwaltung gesichtet. Ergänzt wird dies durch Dokumente der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG), einiger Kreisdienststellen sowie der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) und weiterer Dossiers des Hauptarchivs in Berlin. Grundlage der Akteneinsicht in der BStU stellte die hausinterne Sachaktenerschließung nach Abfrage der Schlagwörter „Prager Frühling“, „ČSSR“ und „1968“ dar. Auf dieser Basis wurde eine Auswahl der ermittelten Bände zur Einsicht angefordert. Die Vorbereitung jener Bände nahm seitens der BStU annähernd ein halbes Jahr in Anspruch, so dass erst ab Juli 2007 mit der eigentlichen Dokumentensichtung begonnen werden konnte. Es wurde sich trotz der wenigen verbleibenden Bearbeitungszeit, um eine umfassende kritische Auswertung der BStU- Bestände bemüht. Im Rahmen dieser Staatsexamensarbeit war es nicht möglich, auf einzelne „Operativ- Vorgänge“ des MfS im Detail einzugehen. Vielmehr sollen grundlegende Reaktionen und direkte Ereignisse in Bezug auf den „Prager Frühling“ im Bezirk Karl-Marx-Stadt herausgearbeitet werden.[8]
Bei den ausgewerteten Akten, sei es im StAC oder BStU, ist generell eines zu beachten: Alle Dokumente geben den Fokus der Partei bzw. seiner Machtstützen[9], also damit direkt des Staatsapparates, wieder. Vor allem im Hinblick auf bestimmte Wertungen ist dies nicht unerheblich. Hätte man die komplexen Auswirkungen des „Prager Frühlings“ und dessen Niederschlagung auf den Bezirk untersuchen wollen, so müsste man neben den beiden herangezogenen, eher staatlich dominierten, Aktenbeständen weitere Quellen auswerten. Denkbar sind diesbezüglich das Archiv der Evangelischen Landeskirche Sachsens bzw. die im Bezirk publizierten Tageszeitungen, Magazine und Hörfunkbeiträge.
Aus diesem Grunde wurden bei dieser Arbeit lediglich die direkt mit dem Jahr 1968 in Bezug stehenden Akten berücksichtigt, denn beim Befassen mit „Auswirkungen“ wäre ein noch viel längerer Betrachtungszeitraum erforderlich gewesen.
Eine Ausnahme davon bilden die SED-Sitzungsprotokolle. Hier erfolgte, wie bereits oben erwähnt, die Betrachtung der Dokumente bis 1971, dabei v.a. im Zusammenhang mit dem jährlich wiederkehrenden historischen Datum am 21. August. 1971 wurde bewusst als Einschnitt gewählt, da in jenem Jahr die Ära Ulbricht endete und jener durch Erich Honecker als Erster Sekretär des ZKs der SED und als Staatsratsvorsitzender abgelöst wurde.
2. Der internationale und nationale Rahmen
2.1. Begriffsdefinition „Prager Frühling“
Wenn sich diese Arbeit mit den Reaktionen auf den „Prager Frühling“ auseinandersetzen soll, so ist an dieser Stelle definitionsartig auf den Terminus „Prager Frühling“ einzugehen und zu erläutern, was man darunter zu verstehen hat.
Was meinen z.B. Prieß et al. damit, wenn sie schreiben, dass auf den „Prager Frühling“ „politischer Nachtfrost“ folgte? „ […] Das Wort vom ‚Prager Frühling‘ wurde zum Synonym für den Reformversuch, das sowjetische Sozialismusmodell von innen durch einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu überwinden. Sowjetische Panzer zerstörten diese Hoffnung nicht nur in der damaligen ČSSR.“[10]
Den Reformern in der tschechoslowakischen Hauptstadt ging es vor allem um die Überwindung der verkrusteten administrativen Strukturen und um eine Vervollkommnung des Sozialismus. Jedoch verfolgte die KPČ eine andere Herangehensweise als die Genossen in der DDR bzw. der Sowjetunion. So sollten in der ČSSR zuerst Veränderungen auf politischem Gebiet vorgenommen werden, bevor man Wirtschaftsreformen plante. Zielstellung war, eine „sozialistische Demokratie“ als Symbiose von Freiheit und Sozialismus aufzubauen. Wie Rüdiger Wenzke in seinem Werk einschätzt, mischten sich in diesen Vorstellungen „Realismus, Vision und Illusion – Machbares und Unvereinbares.“[11] Damit wird die besondere Stellung des „Prager Frühlings“ bereits deutlich, wenn man diesen in die Kette der Krisen, Aufstände und unterdrückten Reformversuchen im sozialistischen Block einreiht. Burens zufolge reichen die Ursprünge der Prager Reformbewegung bis in das Jahr 1956 zurück. Jenem Zeitpunkt, als durch den sowjetischen Ministerpräsidenten und Ersten Sekretär der KPdSU, Nikita Chrutschow, die Phase der Entstalinisierung in Osteuropa eingeleitet wurde. Der Begriff der „Entstalinisierung“ steht als Synonym für eine partielle Liberalisierung des gesellschaftlichen und ökonomischen Lebens. Dies stellt die Ausgangsbasis für jegliche tschechoslowakische Reformbewegung dar. Wichtige innenpolitische Etappen auf dem Weg zum Jahr 1968 waren der Internationale Schriftstellerkongress zum Werk Kafkas 1963 auf Schloss Liblice bei Prag sowie ab 1964 der zunehmende Einfluss von Wirtschaftswissenschaftlern.[12]
Der Begriff des „Prager Frühlings“ steht, wenn auch sein zeitlicher Beginn im Winter liegt, als ein Synonym des politischen Aufbruchs in der ČSSR und der damit verbundenen großen Hoffnung der Bevölkerung auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Darunter ist ein Sozialismus mit zunehmender Freiheit, Demokratie und mit pluralistischen Strukturen zu verstehen.[13]
Die direkten Ursachen des „Prager Frühlings“ bestanden im Wesentlichen aus dem Bekanntwerden der stalinistischen Verbrechen in der ČSSR seit 1945 sowie der Hoffnung von Tschechen und Slowaken auf eine gerechte, demokratische Gesellschaft mit einer besser funktionierenden Wirtschaft. Chronologisch einzugrenzen ist der „Prager Frühling“ auf die Zeit zwischen dem Spätherbst 1967 und dem Einmarsch der verbündeten Truppen des Warschauer Paktes in die ČSSR am 21.08.1968.
Davon ausgehend soll im direkten Anschluss die politische Lage im südlichen Nachbarland der DDR beleuchtet werden.
2.2. Reflektion der politischen Entwicklung in der Tschechoslowakei
Um die Auswirkungen des „Prager Frühlings“ auf die DDR und speziell den Bezirk Karl-Marx-Stadt verstehen zu können, erscheint es unerlässlich, die Entwicklungen innerhalb der ČSSR ab Herbst 1967 zu betrachten.[14] Für die Weltöffentlichkeit wurde das Reformbedürfnis der Tschechoslowaken offensichtlich, als am 31.10.1967 ca. 2000 Studenten demonstrierend vor den Sitz ihrer Partei- und Staatsführung zogen. Mit einem starken Polizeiaufgebot versuchte Antonín Novotný[15], der 1. Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPČ), die Demonstration aufzulösen.[16] Langsam begann sich, aufgrund der breiten Problemlage wie dem Nationalitätenkonflikt zwischen Tschechen und Slowaken[17] sowie der notwendigen Aufarbeitung stalinistischen Unrechts, innerhalb der KPČ eine Opposition zu etablieren. Deren Ziel war die Reform des bestehenden Systems. Um dabei die Möglichkeiten auszuloten, wurde bereits Mitte der 1960er Jahre ein Wissenschaftlerteam beauftragt, den Krisenprozess zu evaluieren. Im Bereich der Wirtschaft gehörte Ota Šik zu den führenden Theoretikern, unterstützt wurde er von Radovan Richta auf dem Gebiet von Zivilisationsfragen sowie von Zdeněk Mlynář hinsichtlich der Reformierbarkeit des politischen Staats- und Rechtssystems.[18] Trotz dieser organisatorischen Anstrengungen verschiedene Reformvorschläge zu entwickeln, kann man Veser zufolge nicht davon sprechen, dass sich die ČSSR vor 1968 auf Reformkurs befand. „Der Bereitschaft der Staats- und Parteiführung um Antonín Novotný, über Veränderungen nachdenken zu lassen, stand die Furcht vor einem Verlust an Einfluß und Macht gegenüber, so daß die meisten Reformprojekte theoretische Überlegungen blieben, die nur einem engen Kreis von Experten bekannt waren.“[19] Dies hatte zur Konsequenz, dass es zu keinen wesentlichen Änderungen im tschechoslowakischen Alltag kam.
Der beginnende Winter 1967/68 zeichnete sich durch eine Situation des politischen Umbruchs aus.[20] Genau in diese Periode fällt am 5. Januar 1968 die Wahl Alexander Dubčeks[21] zum Ersten Sekretär der KPČ. Dubček, welcher vorher die Position des Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei der Slowakei innehatte, symbolisiert damit einen Generationswechsel an der Spitze der kommunistischen Bewegung im Nachbarland. Vor allem im Hinblick auf den Nationalitätenkonflikt zwischen Tschechen und Slowaken stellt Dubčeks Wahl einen Schritt nach vorn dar. Wie Rüdiger Wenzke einschätzt, war der Mann, dessen Name ins Deutsche übersetzt „kleine Eiche“ bedeutet, „der einzige Parteifunktionär, auf den sich die unterschiedlichen Gruppierungen im ZK hatten einigen können.“[22] Dabei überwog bei den alten Kadern noch die Hoffnung, dass man die bisherige Politik im Hintergrund einer gewandelten Fassade, in Form eines neuen Ersten Sekretärs, fortführen kann und Dubček zu steuern wäre. Hier sollten sich die alten Parteimitglieder wie auch die Verantwortlichen in Moskau irren. Während nach dem Amtsantritt Dubčeks offiziellerseits alles so blieb wie vorher, bemühte sich der 47-jährige, seinerzeit der jüngste Parteichef des Ostblocks, um die Integration reformwilliger Personen in der Parteiführung.[23] Bereits im Januar 1968 vollzog sich ein Wechsel an der Spitze des tschechoslowakischen Staatssicherheitsdienstes - Statni bezpecnost, kurz StB.
Ein erstes öffentliches Zeichen, dass man es seitens der neuen Parteiführung mit den Reformen ernst meinte, setzte am 21. Januar 1968 der amtierende Forstminister Josef Smrkovský mit einem Artikel in der Gewerkschaftszeitung „Práce“. Er informierte die Leser über eine bevorstehende Änderung der Denkweisen im Präsidium der KPČ und das der Sozialismus nur zum Ziel gelangen kann, wenn alle Volksschichten einbezogen werden und zusammenarbeiten.[24] Ausgehend von diesen positiven Vorzeichen, begannen sich viele Massenmedien in der Tschechoslowakei, allen voran die Organe des Schriftstellerverbandes, aus ihrer politischen Abhängigkeit von der KPČ zu befreien und Aufklärung des Volkes, entsprechend ihres journalistischen Auftrages zu betreiben.[25] Es dauerte nicht mehr lange, bis am 4. März seitens der Regierung die Zensur in der ČSSR offiziell abgeschafft wurde.[26]
Am 22. März 1968 verlor Antonín Novotný mit dem Präsidentenamt seine letzte Machtposition und wurde durch den in der Bevölkerung anerkannten Ludvík Svoboda abgelöst. So konnte Dubček seine Stellung stärken und ein Gegengewicht zu den nach wie vor einflussreichen konservativen Kräften aufbauen.
Prieß et al. gehen davon aus, dass die Generation der kommunistischen Funktionäre um Dubček herum erstmals an eine gesicherte staatliche Existenz der Tschechoslowakei im Rahmen des sozialistischen Lagers glaubte. Darauf und auf dem Wissen aufbauend, keine persönliche Verantwortung für die Repressalien der fünfziger Jahre zu tragen, wollte dieser Kreis der KPČ, den Sozialismus – auch im Interesse der Sowjetunion – modernisieren.[27] Dabei entwickelte sich, wie Veser sehr deutlich herausstellt, eine ganz neue Offenheit seitens der führenden Politiker in der ČSSR. Die Verantwortlichen stellten sich auf Veranstaltungen, Diskussionsforen oder auf der Straße dem Diskurs mit der Bevölkerung. Dies implizierte bei den Bürgern ein ganz neues Interesse an Politik. Bis Ende März 1968 zeigten die „fortschrittlichen Kräfte“ im ZK der KPČ eine außerordentliche öffentliche Präsenz. Eigentliche Reformvorhaben, außer der Abschaffung der Pressezensur, die in noch kein Gesetz mündete, waren noch nicht eingeleitet.[28] Die Zeit jedoch drängte, da, wie bereits oben bzw. in Abschnitt 2.1. angesprochen, sich die tschechoslowakische Wirtschaft in einer andauernden Wachstumskrise befand, die im Wesentlichen auf einen Modernisierungsrückstand beruhte. Analog zur SED[29] überlegten die Reformer in der KPČ, wie man die Volkswirtschaft erneuern und die staatliche Planung flexibler gestalten könnte. Mittels neuer Konzepte verfolgte man das Ziel, die wirtschaftliche Rationalität zu erhöhen und gleichzeitig, unter Bekenntnis zur sozialistischen Eigentumsordnung, mehr Wettbewerb zu erreichen.[30] Aber das Aktionsprogramm der KPČ, welches auf dem ZK-Plenum vom 31. März bis 5. April 1968 verabschiedet wurde, enthielt nicht nur wirtschaftliche Zielstellungen.[31] Bei dem von der Spitze der kommunistischen Partei eingeleiteten Aktionsprogramm ging es um den Versuch einer friedlichen Systemreform, welche an die nationalen Traditionen eines demokratischen Sozialismus, v.a. im tschechischen Landesteil, anknüpfte. Damit sollte u.a. die Krise des sowjetischen Systems in der ČSSR überwunden werden.[32] Prieß et al. folgend, lassen sich die Zielstellungen im Rahmen des KPČ- Aktionsprogramms wie folgt zusammenfassen:
- Modernisierung der Ökonomie und effizientere Gestaltung der zentralen Planung
- Schaffung eines neuen Systems von Partizipationsmöglichkeiten gesellschaftlicher Interessensgruppen
- Garantie der Autonomie von Kultur und Wissenschaft
- Aufhebung der Zensur
- Neues föderales System zwischen Tschechen und Slowaken
- Gewinnung von mehr nationaler Eigenständigkeit in der Außenpolitik und Entideologisierung (u.a. im Hinblick auf den Westen: Zusammenarbeit statt Konfrontation)[33]
Das besondere an dem Aktionsprogramm, neben den demokratischen Tendenzen der einzelnen Ziele, ist, dass sich damit in der Tschechoslowakei erstmals eine „machtausübende Kommunistische Partei in einem Staat des realen Sozialismus an die Spitze einer Reformbewegung gegen das gültige stalinistisch-sowjetische Gesellschaftsmodell“ setzte.[34] Die bereits im Abschnitt „Prager Frühling“ beschriebene Idee vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ vereinte Nicht- und Reformkommunisten auf dem Weg, eine moderne Zivilgesellschaft zu schaffen.[35] Betrachtet man die Entwicklungen im Frühjahr 1968 in der ČSSR etwas differenzierter, so befanden sich die „fortschrittlichen Kräfte“ der KPČ in einer schwierigen Lage. Wie bereits dargestellt, führten die breiten Reformankündigungen zu einer schnell wachsenden politischen Öffentlichkeit. Darüber hinaus erwachte die Basis der KPČ aus ihrem Tiefschlaf und setzte sich für eine Demokratisierung von unten ein.[36] Aber nicht nur die Entwicklungen innerhalb der Partei stellten den Kreis um Dubček vor Herausforderungen. Allein zwischen April und Juni 1968 hatten mehr als 70 Gruppierungen[37] beim Innenministerium in Prag ihre offizielle Anerkennung beantragt. Lange Zeit diskutierte man innerhalb der KPČ, ob im eigenen Land eine Opposition zugelassen werden sollte. So schlug zum Beispiel ein Mitglied der Regierungskommission zur Ausarbeitung eines neuen politischen Systemmodells vor, alle Parteien anzuerkennen, die mit den „sozialistischen Herrschaftszielen konform gehen.“[38] Das neu zu bildende Verfassungsgericht sollte dann über die Zulassung entscheiden. Die Führung der KPČ kam für sich zu dem Schluss, dass die in der „Nationalen Front“ zusammengeschlossenen Parteien den Bürgern genügend Möglichkeiten zur Partizipation bieten.[39] Auf eine öffentliche Diskussion der Oppositions- Frage wurde verzichtet, da man sich bewusst war, wieviel Zündstoff in dieser Thematik lag. Zdeněk Mlynář, der in der Arbeitsgruppe für die Reformierbarkeit des Staatssystems zuständig war, äußerte diesbezüglich zehn Jahre später: „Ich war Reformkommunist und keinesfalls nichtkommunistischer Demokrat. […] Ich hatte daher selbstverständlich weder ideologische Beweggründe noch persönliche Motive, mich darum zu bemühen, daß die KPČ die politische Macht verlöre, und ich habe mich auch nicht darum bemüht.“[40]
Veser stellt in seiner Abhandlung vor allem drei Gruppen heraus, die ihrerseits eine Unterordnung unter die KPČ ablehnten. Dazu zählt er den Klub Engagierter Parteiloser (KAN), die sich in Gründung befindliche Sozialdemokratische Partei und die Organisation ehemals politisch Inhaftierter K-231.[41]
Wie in der bisherigen Abhandlung deutlich wird, wollten Dubček und seine Mitstreiter das politische Leben in der ČSSR unter dem Einfluss der Kommunistischen Partei halten.[42] Entsprechend der bereits erwähnten Charaktereigenschaften von Alexander Dubček[43] lehnte er es aber ab, obwohl von den Verantwortlichen in Moskau immer wieder gefordert, zu Repressionen zu greifen und die sich bildende Opposition entschieden auszuschalten. Insofern diente der Verweis auf die „Nationale Front“, als die nach wie vor einzige zugelassene Dachorganisation aller politischen und gesellschaftlichen Organisationen in der ČSSR, der Beruhigung der Entscheidungsträger in der Sowjetunion sowie der DDR. Diese beiden Staaten beobachteten die Aktivitäten von KAN, K-231 und Sozialdemokraten sehr genau und sahen darin den Beweis, dass die „Konterrevolution“ in der Tschechoslowakei offen agieren könne.[44] Teilweise hatten die Machthaber in Moskau und Berlin damit auch Recht. Denn wie bereits oben erwähnt, zogen die angekündigten Reformen eine schnell wachsende politische Öffentlichkeit nach sich. Prieß et al. sahen darin eine „Reaktivierung von unterschiedlichen Interessensbekundungen einer sich differenzierenden zivilen Gesellschaft.“[45] Die politischen Inhalte der Reformen wurden dadurch maßgeblich beeinflusst und drängten die Führung der KPČ, weiter in Richtung Liberalisierung zu gehen, als eigentlich geplant war. Insofern kann man die Wechselwirkung zwischen neuen Freiheiten und der wachsenden politischen Öffentlichkeit als eine der „wesentlichsten Antriebskräfte des Prager Frühlings“ bezeichnen. Im Rahmen der vom Kreis um Dubček geforderten „Systemreform“ störten sich die Reformer in der KPČ v.a. am Totalitarismus des Sowjetkommunismus. Nichts desto trotz gab es, der Einschätzung von Prieß et al. folgend, weiterhin eine starke Akzeptanz der Vertreter des sowjetischen Systems als loyale Partner. Dies kann aber nicht über die demokratischen Grunddefizite der Systeme in der DDR, ČSSR und UdSSR hinwegtäuschen. So sorgte die Kluft zwischen dem ideologischen Anspruch und der Realität in allen Lebensbereichen der Gesellschaft für Konfrontationen.[46] Im Vergleich zu ihren sozialistischen Schwesterparteien ging die KPČ in Bezug auf demokratische Rechte sehr weit. So sah das Aktionsprogramm der KPČ die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, die Freiheit von Glauben und Konfession sowie für den Arbeitnehmer die freie Wahl des Arbeitsplatzes vor.[47] Wenn man die Stimmung innerhalb der Partei in den Monaten April bis Juni 1968 beschreiben will, zeichnete sich eine stetige Spannung zwischen den überwiegend konservativen Mitgliedern des ZK und der eher reformerisch gesinnten Basis ab. In dieser kritischen Atmosphäre waren Dubček und seine Anhänger stets bestrebt, ihre Position der politischen Mitte zu stärken. Trotz der zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung zwischen Konservativen und Progressiven wurden auf der Parlamentssitzung am 25. Juni 1968 erste konkrete Reformergebnisse greifbar. So nahmen die Abgeordneten aus der langen Liste der Reformvorhaben, die Invasion im August kam dazwischen, lediglich das „Gesetz über die Rehabilitation der Opfer politischer Prozesse“ sowie ein „Verfassungsgesetz zur Vorbereitung der Förderalisierung des Staates“ an. Mit letzterem sollten die Grundlage zu einer wirklichen Gleichberechtigung zwischen Tschechen und Slowaken geschaffen werden.[48]
Die nach wie vor kritisch zur offiziellen Parteilinie der KPČ eingestellten Kreise[49] nutzten während des „Prager Frühlings“ zahlreiche spontane Veranstaltungen bzw. Resolutionen, um ihre konkreten Forderungen vorzubringen und Stellung zu aktuellen Fragen zu beziehen. Das bekannteste und in der DDR wie UdSSR umfassend propagandistisch ausgewertete Beispiel ist der „Aufruf ‚2000 Worte‘ an die Arbeiter, Landwirte, Angestellte, Wissenschaftler, Künstler und alle“ vom 27.06.1968.[50] Dieses von 60 bekannten Personen aus Wissenschaft, Kunstszene und Sport unterzeichnete Manifest wurde an jenem Tag in vier tschechoslowakischen Tageszeitschriften publiziert. Ausgehend von dem Erstarken der konservativen Kräfte und der ablehnenden Haltung der KPČ gegenüber der Zulassung von Oppositionsparteien wollten die Unterzeichner „den Reformen durch Druck von unten neuen Schwung geben, um sie unumkehrbar zu machen.“[51] In den darauf folgenden 14 Tagen kam es über die Medien zu einem regen Meinungsaustausch zwischen KPČ-Präsidium, Parlament und der Bevölkerung. Auf die Reaktion folgte jeweils die Gegenreaktion. Für Veser hatte damit der von Intellektuellen initiierte Aufruf ein Ziel erreicht: Es gab nun keine klare Trennung mehr zwischen Kommunisten und Nichtkommunisten, vielmehr verlief die politische Grenze von da an zwischen Reformbefürwortern und –gegnern.[52]
Den Bogen zum vorhergehenden Kapitel schlagend, hatten die Reformer in Prag die Vision, ein Modell zu entwickeln, welches exemplarisch den Weg für die Gestaltung einer modernen sozialistischen Industriegesellschaft aufzeigt. Damit sollten gleichzeitig die Probleme der wissenschaftlich-technischen Revolution gelöst werden.[53] Die erwähnten Demokratisierungstendenzen in Partei wie im Land hatten zur Konsequenz, dass die Führungsautorität der KPdSU, die in jedem Staat des Warschauer Paktes zum Alltag gehörte, ideologisch wie auch politisch in Frage gestellt wurde. Dies konnte nicht ohne Konsequenzen bleiben.
2.3. ČSSR im Fokus der sozialistischen Staaten
Dieser Abschnitt widmet sich den Reaktionen auf den „Prager Frühling“ in der Sowjetunion sowie innerhalb der anderen dem Warschauer Pakt zugehörigen Staaten.[54]
Eingerahmt ist deren Betrachtungsweise in die Theorie und Praxis des „proletarischen Internationalismus“. Darunter wird die führende Rolle der UdSSR in der weltweiten Klassenauseinandersetzung mit Kapitalismus und Imperialismus verstanden. Prieß et al. erinnern hierbei an das „Prinzip der sowjetischen Hegemonie im sozialistischen Lager.“[55] Jene als Breschnew-Doktrin bekannt gewordene Einstellung stellt u.a. die Rechtfertigung für den Einsatz militärischer Gewalt durch die UdSSR im Jahre 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und schlussendlich 1968 in der ČSSR dar.[56]
Für die Führung der KPdSU und allem voran ihrem 1. Sekretär Leonid Breschnew waren die Entwicklungen in der Tschechoslowakei, einem Land welches genauso wie die DDR die Westgrenze zum „Klassenfeind“ darstellte, eine große Gefahr. Der durch die Reformbewegung in der ČSSR perspektivisch möglich werdende Systemwandel war eine unmittelbare Bedrohung der sowjetischen Sicherheitsinteressen und gleichzeitig der Hegemonialmacht des Ostblocks. Folgt man der Wertung bei Prieß et al., dann gab es bei den verbündeten sozialistischen Parteipräsidien in Bulgarien, Ungarn, Polen sowie in der DDR blockübergreifende und eigene Interessen, die sie an der Seite der Sowjetunion zu aktiven Gegnern jeglicher politischer Reformen in der ČSSR werden ließen.[57] Wenzke schätzt in seinem kurz vor der deutschen Wiedervereinigung 1990 erschienenen Aufsatz unter der Überschrift „Der Warschauer Pakt wird aktiv“ ein, dass mit aller Vehemenz versucht wurde, „ein Überschwappen des politischen Ideengutes der Prager Reformer in den eigenen Machtbereich […] zu verhindern.“ Als erste Anzeichen dafür führt der Wissenschaftler am Militärgeschichtlichen Forschungsamt die Studentendemonstrationen in Polen, die Erklärungen sowjetischer Bürgerrechtler und die Forderungen kritischer Künstler und Wissenschaftler in der DDR an.[58]
Die Reaktionen und Aktivitäten dieser Länder werden in Form von Konferenzen mit nachfolgenden Erklärungen und militärischen Manövern sichtbar. Diese beiden Bereiche sollen im Folgenden beschrieben werden. An erster Stelle steht dabei ein Überblick über die gemeinsamen Beratungen.
Nach der Wahl Dubčeks zum Ersten Sekretär der KPČ am 5.01.1968 blieben größere Reaktionen bei den „Partnern“ im Ostblock, die größtenteils an den Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der KPČ Ende Januar in Prag teilnahmen, noch aus. Dabei bestehen Parallelen zwischen dem Verhalten in der tschechoslowakischen Bevölkerung, die ebenso noch keine wirklichen gesellschaftlichen Veränderungen wahrnahmen, wie auf Seiten der Parteiführer in Moskau, Berlin und Warschau. Bis zur nächsten Zusammenkunft der Staats- und Parteiführungen des Warschauer Paktes in Sofia Anfang März hatte sich mittlerweile einiger Unmut angesammelt. Die Entscheidungsträger der sozialistischen Parteien in der DDR und Bulgarien, Walter Ulbricht und Todor Schiwkow, zeigten sich beunruhigt über die zwei Tage vorher in der ČSSR aufgehobene Zensur. Ihrer Ansicht nach verzichtet damit die KPČ auf das wesentlichste Mittel zur Sicherung der sozialistischen Macht. Die SED war, Veser zufolge, bereits wesentlich stärker für die politischen Entwicklungen in Prag sensibilisiert, als die KPdSU. Ausgehend von den Wahrnehmungen des DDR-Botschafters in der ČSSR, Peter Florin, und dessen Meldungen über „konterrevolutionäre Erscheinungen“ nach Berlin, lud Breschnew kurzfristig Alexander Dubček zu einer Beratung am 23. März nach Dresden ein. Es sollte ein Treffen der Parteien aus den Staaten des RGW sein, bei dem normalerweise über die wirtschaftlichen Probleme innerhalb der Organisation gesprochen wird. Eigentlicher Inhalt der Zusammenkunft war aber die Bewertung des Reformkurses in der Tschechoslowakei durch die Parteichefs der Sowjetunion, Polens, der DDR, Bulgariens und Ungarns.[59] Die Kritik, mit welcher die von dem Tagungsthema überraschte tschechische Delegation konfrontiert wurde, umfasste die Abschaffung der Zensur und den zunehmenden Einfluss antisozialistischer Kräfte auf Partei, Staat und Gewerkschaften. Dominiert wurde die Sitzung von der Diskussion über ein bereits vorgefertigtes Kommuniqué, welches von Konterrevolution und notwendigen Veränderungen in der ČSSR sprach. In diesem Kontext ließen die Anwesenden bereits anklingen, dass man nicht unbeteiligt den Reformentwicklungen zusehen wird. Dubček lehnte seine Unterschrift unter dieses Papier ab und erläuterte fortwährend seine Position sowie die seiner Mitstreiter. Schließlich verzichtete man auf die Veröffentlichung des von der SU präsentierten Kommuniqués. Veser deutet dies dennoch nicht als einen Erfolg für die KPČ-Führung, da die Sowjetunion intern nach wie vor auf ihre Sicht der Dinge beharrte. In der Öffentlichkeit wurde das Dresdner Treffen als ein „Meinungsaustausch zu Fragen der europäischen Sicherheit“ publiziert.[60]
Es folgte der Monat April, in welchem sich die Warschauer-Pakt- Staaten gegenüber der Tschechoslowakei, trotz dass es dort weiter zu entscheidenden personellen Veränderungen und der Bekanntgabe des Aktionsprogramms der KPČ kam, politisch zurückhielten. Die Reformer in Prag hofften unterdessen, durch die unbedingte außenpolitische Linientreue sich Spielraum für Veränderungen im Inneren des Landes zu verschaffen.[61]
Aber auch wenn im April keine größeren Aktivitäten aus Moskau oder Berlin wahrgenommen wurden, arbeiteten die Parteiapparate an einer nachrichtendienstlichen Aufklärung der Entwicklungen und Kräfteverhältnisse in der Tschechoslowakei.[62] Aufgrund der zahlreichen, durch die Reformer initiierten, Rücktritte und Entlassungen wurde das Netz der Informationsträger aus DDR und Sowjetunion durcheinander gebracht. Um diese Defizite u.a. auszugleichen, lud die Sowjetunion immer wieder Einzelpersonen oder kleine Gruppen zum Bericht zu sich ein. So auch am 4. und 5. Mai als Dubček, Černík, Smrkovský und Bilak zum bilateralen Gipfeltreffen nach Moskau flogen. Hauptkritik Breschnews gegenüber seiner Besucher war deren Untätigkeit im Kampf gegen antisozialistische Kräfte. Als Beispiel führte der 1. Sekretär der KPdSU die Demonstration anlässlich des Maifeiertages an, als nicht mehr ein „Hoch auf die Partei“ im Mittelpunkt stand, sondern Pressefreiheit und Rehabilitation gefordert wurden. Dubček bekräftigte daraufhin in seiner Stellungnahme, dass es keine „Konterrevolution“ gibt und die führende Rolle der KPČ nicht in Frage steht, sondern vielmehr durch die Reformen in der gesamten Gesellschaft gestärkt wird. Entsprechend seiner Grundauffassung warb Dubček für das Modell der Überzeugungsarbeit und nicht der Gewalt gegenüber den „vielen negativen kleinbürgerlichen Erscheinungen.“[63] Einzig Vasil Bilak, Mitglied des KPČ-Politbüros, räumte während der Beratungen ein, dass die Gefahr der „Konterrevolution“ bestehe.[64] In diesem Kontext war Breschnew über die, wie er empfand, zu optimistische Lageeinschätzung durch die drei Reformer sehr verärgert. Dies stellte für die Sowjetunion den Startpunkt für die Formierung einer „Antireform-Koalition“ dar. Nur wenige Tage nach der tschechischen Delegation trafen am 8. Mai die Parteichefs aus der DDR, Polen, Bulgarien und Ungarn in Moskau zusammen und ließen sich von Breschnew über den Verlauf der Gespräche mit den KPČ-Vertretern informieren. Man sprach über die verschiedenen Wahrnehmungen der Entwicklung in der ČSSR und beschloss, im Rahmen einer informellen Fünfergruppe, sich hinsichtlich des „Problems“ Tschechoslowakei regelmäßig auszutauschen. Einig waren sich die fünf Staatsvertreter darin, dass „eine Einmischung von außen zur Rettung des Sozialismus in der Tschechoslowakei nötig sei.“[65] Wie Veser einschätzt, verfolgten die Fünf zu diesem Zeitpunkt noch kein direktes militärisches Eingreifen, verständigten sich jedoch auf das Abhalten eines Manövers auf dem Gebiet der ČSSR.[66] Zu einer etwas anderen Einschätzung diesbezüglich kommt Wenzke (1995): „Man war sich in Moskau einig, nunmehr zu offenen Einschüchterungsversuchen und Warnungen überzugehen, die auch eine militärische Komponente mit einschlossen.“[67] Dabei bleibt weiter offen, ob die fünf Staaten bereits im Mai eine direkte Invasion in der Tschechoslowakei planten oder ob man anfangs mit einer „militärischen Komponente“ lediglich die „Stärkedemonstrationen“ in Form der vorgesehenen Manöver meinte?
Gleichzeitig lief eine koordinierte Pressekampagne der „Antireform-Allianz“[68] gegen die Entwicklungen in der Tschechoslowakei an.[69] Damit wurde den Reformern in Prag bewusst, dass ihre politischen Handlungsspielräume innerhalb des sozialistischen Blockes doch geringer waren, als vorher angenommen. Trotz dass sich der Kreis um Dubček bemühte, den Weg der Mitte zu beschreiten und positive Signale nach Moskau zu senden, muss die weitere Demokratisierung, wie z.B. Liberalisierung des Pressegesetzes und Verabschiedung des Rehabilitierungsgesetzes, bei der „Antireform- Allianz“ genau das Gegenteil bewirkt haben.
Hinzu kommt die Veröffentlichung der „2000 Worte“. Eine realistische Auseinandersetzung damit innerhalb der SED oder KPdSU erfolgte nicht. Vielmehr dienten sie den Entscheidungsträgern in Berlin und Moskau als ein weiterer schwerwiegender Beleg, dass die „Konterrevolution“ in der Tschechoslowakei das Heft des Handelns an sich riss.
Ausgehend von dem, durch die Sowjetunion als Provokation empfundenen, Manifest der „2000 Worte“, bekräftigte Breschnew gegenüber Dubček nochmals seine Forderung, die Medien wieder unter Kontrolle zu bringen und schließlich hart durchzugreifen. Bei Bedarf könne die Tschechoslowakei jederzeit Hilfe von der Sowjetunion erhalten. Briefe mit ähnlichem Inhalt erreichten das Präsidium der KPČ auch von den anderen vier Parteien der „Antireform-Allianz“. Zur selben Zeit wurde Dubček von Breschnew telefonisch zu einem nächsten gemeinsamen Gipfel mit den anderen Staaten eingeladen. Unter mehreren vorgeschobenen Begründungen, tatsächlich hatte der Reformflügel ernste Bedenken, dass es zu einem konservativen Umschwung kommen könnte, lehnte Dubček die Teilnahme seines Landes ab. So tagten am 14. und 15. Juli 1968 in Warschau die führenden Repräsentanten der Partei- und Staatsführungen aus der UdSSR, der DDR, Polen, Ungarn und Bulgarien ohne die Vertreter der KPČ. Das Ergebnis der Beratungen in der polnischen Hauptstadt war ein gemeinsamer Brief, der am 18. Juli in den Parteiorganen der fünf Staaten veröffentlicht wurde, so auch im „Neuen Deutschland“. Von den im Dokument niedergeschriebenen Feststellungen der „Antireform-Allianz“ war kaum etwas neu, jedoch wurde der gewählte Ton schärfer. Da alle fünf Parteichefs den Brief unterzeichnet hatten, erreichte man eine neue Stufe.[70] Dies wird auch offensichtlich, wenn man sich die gewählten Formulierungen des Schreibens anschaut. Im Hinblick auf die Schwierigkeiten, die von „den reaktionären Kräften“ mit „Unterstützung des Imperialismus“ ausgehen, ist im Warschauer Brief zu lesen: „Die Völker unserer Länder würden uns ein gleichgültiges und sorgloses Verhalten zu einer solchen Gefahr niemals verzeihen. […] Deshalb meinen wir, daß die entschiedene Zurückweisung der Angriffe der antikommunistischen Kräfte und die entschlossene Verteidigung der sozialistischen Ordnung in der ČSSR nicht nur Ihre, sondern auch unsere Aufgabe ist.“[71] Unmittelbar nach der Publizierung des Briefes kam es zu einem offenen Schreiben des ZKs der KPČ. Gab man einerseits die Probleme, die bei der Durchsetzung der Demokratisierung entstanden sind, zu, so stellte die Führung in Prag klar, dass keine Anzeichen für eine „Konterrevolution“ vorhanden sind und es keinen Kurswechsel weg von der sozialistischen Ordnung geben wird. Ausgehend von der für die UdSSR unerwartet selbstbewussten Antwort[72] aus Prag, kam es nun doch zu einer bilateralen Aussprache zwischen führenden Vertretern der KPdSU und KPČ. Diese fand vom 29. Juli bis 1. August 1968 in der slowakischen Kleinstadt Čierná nad Tisou, unmittelbar an der sowjetischen Grenze, statt. Seitens des sowjetischen Politbüros wurde abermals versucht, die grundlegend verschiedenen Ansichten, die Konservativen um Vasil Bilak waren ebenso anwesend, in der Prager Delegation offen zu legen und auf eine Spaltung hinzuarbeiten. Dies gelang nicht. Erste Kompromisse fanden sich in den anschließenden Beratungen im kleineren Kreis. Die KPČ verpflichtete sich, die Kontrolle über die Medien wiederzuerlangen, die Tätigkeit der oppositionellen Kreise wie KAN und K-231 zu unterbinden und die Polemik gegen die kommunistischen Bruderländer nicht zu dulden. Gleichzeitig wurde über die Ergebnisse des Treffens, zu dem Journalisten von vornherein nicht zugelassen waren, Stillschweigen vereinbart. Öffentlich bekannt gegeben wurde, dass man sich auf ein multilaterales Treffen zwischen den kommunistischen Parteien Bulgariens, Ungarns, der DDR, Polens, der UdSSR und ČSSR am 3. August in Bratislava geeinigt habe.[73]
So trafen dann nur zwei Tage nach der Beratung in Čierná alle Staaten der „Antireform- Allianz“ und die Vertreter der Tschechoslowakei in Bratislava zusammen. Abgeschlossen wurde die Tagung mit der Unterzeichnung einer gemeinsamen Kommuniqués durch alle beteiligten Parteichefs. Darin brachte man das Bemühen aller anwesenden Staaten zum Ausdruck, „die allseitige Zusammenarbeit auf der Basis der Gleichberechtigung, der Achtung der Souveränität, der brüderlichen Hilfe und Solidarität zu vertiefen.“[74] Das Wort „Konterrevolution“ tauchte in der Erklärung nicht mehr auf. Wie Veser feststellt, hoffte der Reformer-Kreis um Dubček, ebenso wie nach der Beratung in Dresden, mit seiner Zustimmung zu einer eindeutigen außenpolitischen Haltung weiterhin die Souveränität für die KPČ im Inneren zu erhalten. Dass die Zeichen der Zeit bereits wesentlich weiter fortgeschritten waren und die Vorbereitungen für einen militärischen Einmarsch der verbündeten Truppen bereits seit der Beratung in Čierná nad Tisou abgeschlossen waren, wie Veser und Wenzke parallel feststellen, erkannte man innerhalb der Prager Reformer nicht.[75]
Von den diplomatischen Lösungsversuchen im Frühjahr und Sommer 1968 geht die Betrachtung über zu den Ereignissen zwischen den nationalen Streitkräften im Warschauer Pakt.
Folgen wir der Einschätzung bei Wenzke, so gehörten die sowjetischen Militärs von Anfang an zu den stärksten Gegnern der Reformbewegung in der Tschechoslowakei. Für die Armee bedeuteten die sich vollziehenden politischen Veränderungen eine „ernsthafte Bedrohung der militärischen Sicherheit der Sowjetunion und des gesamten von ihr beherrschten Blocks.“[76] Bestärkt wurde dies dadurch, dass in der ČSSR als einzigen sozialistischen Staat in Ostmitteleuropa keine sowjetischen Truppen stationiert waren.[77] Jegliche politische Versuche, dies im Winter bzw. Frühjahr 1968 zu ändern, wurden anfangs durch Novotný und später durch Dubček entschieden abgelehnt.
Die im 1. Halbjahr 1968 im Rahmen des Warschauer Paktes stattgefundenen Manöver waren deshalb ein „idealer Deckmantel sowohl für die Verwirklichung einer raschen Truppenstationierung in der ČSSR als auch zur operativ-taktischen, technischen und logistischen Vorbereitung der militärischen Intervention.“[78] Weiterhin konnten sich dabei die führenden sowjetischen Militärs einen Überblick über die Leistungsfähigkeit der einzelnen Satellitenarmeen verschaffen. Außerdem darf das von der Truppenpräsenz ausgehende Droh- und Einschüchterungspotenzial nicht unterschätzt werden.
Bereits im März/ April muss sich die sowjetische Führung deshalb entschieden haben, kurzfristig eine Kommandostabsübung mit dem Namen „Šumava“ (Böhmerwald) auf dem Territorium der ČSSR durchzuführen. Hinsichtlich der damaligen Stellung des KPČ- Präsidiums dazu gibt es mittlerweile sehr differenzierte Auffassungen.[79] So begannen in den ersten Maiwochen die Übungen von sowjetischen und polnischen Truppen, indem sie ihre Einheiten dicht an die Grenze zur Tschechoslowakei verlagerten. Die dadurch bewusst ausgelösten Wirkungen auf die Reformer und die Bevölkerung in der ČSSR waren weitreichend.
Verstärkt wurden diese Befindlichkeiten durch den Besuch des Verteidigungsministers der UdSSR, Marschall Gretschko, sowie seiner beiden Begleiter, dem Oberkommandierenden der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland sowie dem Befehlshaber des Karpatenmilitärbezirks der UdSSR, am 17. Mai 1968 in Prag. Zeitgleich tauchten in der Bundesrepublik aber auch in den direkt anliegenden Ländern des Ostlocks Gerüchte über eine Truppenverlagerung in die Tschechoslowakei auf, die in den folgenden Wochen nicht verstummten. Um diesen Diskussionen ein Ende zu bereiten, folgte am 25. Mai 1968 eine offizielle Pressemitteilung, in welcher die Kommandostabsübung der Vereinigten Streitkräfte des Warschauer Paktes für Juni in der ČSSR angekündigt wurde.
Am 18. Juni war es dann soweit. Die Übung der verbündeten Truppen begann und sollte bis zum 30. Juni 1968 andauern. Wenzke gelangt dabei zu der Einschätzung, dass es sich bei „Šumava“ um eine der wichtigsten militärischen Vorbereitungsmaßnahmen in Bezug auf den späteren bewaffneten Einmarsch handelte.[80] Im Rahmen der Stabsübung rückten immer mehr Truppen mitsamt ihrer umfangreichen Technik in die böhmischen Gebiete ein. Insgesamt sollen sich ca. 16 000 Soldaten in der ČSSR aufgehalten haben. Neben dem bereits erwähnten Druckeffekt, welchen die Verantwortlichen in Moskau auf die KPČ- Führung ausüben wollten, sollte ihnen im Rahmen der Verteidigungssimulationen vor Augen geführt werden, dass im Falle eines Krieges, das tschechoslowakische Heer allein nicht in der Lage ist, den Gegner auf der gesamten Grenzlänge hin zur Bundesrepublik erfolgreich abzuwehren.[81]
[...]
[1] Klappentext von Prieß/ Kural/ Wilke (1996).
[2] Prieß/ Kural/ Wilke (1996), S. 11.
[3] Zur genaueren Situation der fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen siehe Abschnitt 1.2.
[4] Prieß/ Kural/ Wilke (1996), S. 21.
[5] Vgl. Bollinger (1993), Häder/ Wiegmann (2004), Bilak (2006).
[6] Vgl. Wenzke (1995), S. 9
[7] Besondere Bedeutung kommt hierbei den beiden Akten Nr. 31602, IV B-2/5/490 bzw. /491 als „Informationsberichte der Bezirksleitung über Stimmung und Argumente der Bevölkerung zu den Ereignissen in der ČSSR März 1968-1971“ zu.
[8] Vgl. diesbezüglich die Leitfragen dieser Arbeit, in Abschnitt 1.1. vorgestellt.
[9] U.a. das MfS als „Schild und Schwert der Partei“.
[10] Prieß/ Kural/ Wilke (1996), S. 11.
[11] Vgl. Wenzke (1995), S. 43.
[12] Vgl. Burens (1981), S. 31-33.
[13] Vgl. Prieß/ Kural/ Wilke (1996), S. 12-15.
[14] Für Veser (1998) war der „Militäreinsatz gegen die Tschechoslowakei im August 1968 […] nur der Höhepunkt einer langen Entwicklung.“ S. 5. Eine ähnliche Auffassung dazu findet sich bei Burens (1981), S.31-33.
[15] Antonín Novotný war seit 1953 Erster Sekretär der KPČ und seit 1957 Staatspräsident. Er ist dem konservativen Parteiflügel zuzurechnen und jedem Reformwillen gegenüber abgeneigt. Deutlich wird dies am Beispiel der Entstalinisierung, bei welcher jedes Mal die Impulse für eine liberalere Entwicklung aus der Sowjetunion kamen. (vgl. Veser (1998), S. 10-16.)
[16] Vgl. Häder/ Wiegmann (2004), S. 109-110, Veser (1998), S.29-30 und Wenzke (1995), S. 41.
[17] Zum Nationalitätenkonflikt siehe Veser (1998), S. 22f.
[18] Vgl. Wenzke (1995), S. 43.
[19] Veser (1998), S. 20.
[20] Vgl. Ebd., S. 31f.
[21] Bereits 1963 wurde Alexander Dubček auf Vorschlag von Antonín Novotný als neues Mitglied ins Präsidium der KPČ aufgenommen. (vgl. Veser (1998), S. 17.)
[22] Wenzke (1995), S. 45. Zum Ringen um einen passenden Nachfolger Novotnýs siehe auch Veser (1998), S. 36-37.
[23] Eine aussagekräftige Charakteristik Dubčeks findet sich bei Veser (1998), S. 37/38: Dubček „galt zu Beginn des Jahres 1968 auch vielen seiner Kollegen aus der Parteiführung als farbloser, unentschlossener Funktionär. Die zögerlichen ersten Schritte nach seiner Wahl schienen diese Einschätzung zu bestätigen, doch sie waren eher Ausdruck einer tiefen Abneigung gegen autoritäres Handeln. Dubček setzte auf die Kraft der Überzeugung statt auf Zwang und war bereit, andere Meinungen gelten zu lassen – zwei Charakterzüge, die ihn von der Masse der Parteifunktionäre deutlich unterschieden und zusammen mit seinem bescheidenen Auftreten und seiner unbestreitbaren persönlichen Integrität die wichtigsten Ursachen seiner großen Popularität waren.“ Darin können u.a. die Ursachen für die differenzierte Wahrnehmung der Entwicklungen in der ČSSR seitens der SED liegen, wie in den nächsten Abschnitten noch zu zeigen sein wird. Zu den erfolgten Umbildungen innerhalb der KPČ vgl. Veser (1998), S. 47-48.
[24] Vgl. Veser (1998), S. 40.
[25] Vgl. Burens (1981), S. 35. Hier sei auf die Buchempfehlung in Fußnote 21 verwiesen.
[26] Vgl. Veser (1998), S. 42-43.
[27] Vgl. Prieß/ Kural/ Wilke (1996), S. 14. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Veser (1998), S. 38.
[28] Vgl. Veser (1998), S. 45 und 57. Zur neuen Öffentlichkeit der Politik vgl. auch Prieß/ Kural/ Wilke (1996), S. 12. Staatsrechtlich garantiert wurde die Pressefreiheit aber erst mit einer Novelle zum Pressegesetz am 25.06.1968, vgl. dazu Burens (1981), S. 43.
[29] Vgl. Neues Ökonomisches System in der DDR.
[30] Vgl. Prieß/ Kural/ Wilke (1996), S. 15.
[31] Vgl. Veser (1998), S. 48f. Eine knappe, aber prägnante Zusammenfassung des von Ota Šik entwickelten Wirtschaftsmodells findet sich bei Burens (1981), S. 38-42.
[32] Der Weg zu den Reformen in Prag vgl. auch Bollinger (1993), S. 25-27.
[33] Entnommen bei Prieß/ Kural/ Wilke (1996), S. 12.
[34] Prieß/ Kural/ Wilke (1996), S. 11.
[35] Vgl. Prieß/ Kural/ Wilke (1996), S. 11 und Veser (1998), S. 64-65. Zu einer detaillierten Erläuterung des Begriffs „Reformkommunismus“ und der Abgrenzung bestimmter Intellektueller innerhalb der tschechoslowakischen Poltik vgl. Bures (1981), S. 34, Fußnote 19.
[36] Die Forderungen bzw. Ergebnisse des Dialogs von der Parteibasis flossen größtenteils in den am 10. August 1968 veröffentlichten Entwurf der neuen Parteistatuten der KPČ ein. Wesentliche Neuerungen waren dabei die Meinungsfreiheit innerhalb der Partei, ein nunmehr differenziertes und kontrolliertes Verfahren im Falle eines Parteiausschlusses, das Recht auf Austritt und Amtsniederlegung, das Verbot der Kumulation sowie die zeitliche Begrenzung von Parteiämtern. Insofern kann man von einer Demokratisierung der KPČ sprechen. Vgl. dazu: Burens (1981), S. 46-47.
[37] Vgl. Veser (1998), S. 65, 70.
[38] Burens (1981), S. 45.
[39] Vgl. Burens (1981), S. 45-46 und Veser (1998), S. 50-55.
[40] Zitiert bei: Veser (1998), S. 52.
[41] Vgl. Veser (1998), S. 62/ 65-73. Die Bezeichnung K-231 orientiert sich dabei an dem politischen Paragraphen des Strafgesetzbuches der ČSSR, auf dessen Grundlage sie verurteilt wurden.
[42] Dieses Zwischenfazit scheint, aus Sicht des Verfassers, an dieser Stelle ganz besonders wichtig, da man zur gleichen Zeit im Nachbarland DDR sowie der UdSSR bereits zu der Einschätzung gekommen war, dass die Reformer in Prag sich komplett vom Sozialismus lösen wollen. Als Anhaltspunkte zu dieser Denkweise vgl. Abschnitte 2.3 und 2.5. dieser Arbeit.
[43] Vgl. Fußnote 23.
[44] Vgl. Burens (1981), S. 45 und Veser (1998), S. 62.
[45] Prieß/ Kural/ Wilke (1996), S. 12.
[46] Vgl. Ebd., S. 12-13.
[47] Vgl. Burens (1981), S. 43-44.
[48] Vgl. Veser (1998), S. 56-61.
[49] Als einen Grund für die Zurückhaltung fügt Veser (1998), S. 72, die „Abneigung der Tschechen und Slowaken gegenüber allen Organisationen mit einem politischen Programm “ an. Diese beruht wiederum auf dem staatlich ausgeübten Zwang, unbedingt, um sich private wie berufliche Aufstiegschancen offen zu halten, den Massenorganisationen wie Gewerkschaft oder Jugendverband beizutreten.
[50] Vgl. StAC, 31602, IV B-2/5/490, Bl. 215-218.
[51] Veser (1998), S. 74.
[52] Vgl. Ebd., S. 75-78.
[53] Zu einer ideologisch geprägten Kritik der Ideen des „Prager Frühlings“ vgl. Burens (1981), S. 48.
[54] Das Verhalten der DDR wird hier lediglich im Kontext von Gemeinschaftsaktivitäten mit den anderen verbündeten Staaten besprochen, da sich im Abschnitt 2.5. näher mit der Linie der SED auseinandergesetzt werden soll.
[55] Prieß/ Kural/ Wilke (1996), S. 18.
[56] Eine militärhistorische Einschätzung zum Eingreifen der sowjetischen Truppen in den Jahren 1953 und 1956 findet sich bei Wenzke (1995), S. 79-80.
Darüber hinaus bedeutet die „Breschnew-Doktrin“ die Vormachtstellung der Sowjetunion im Ostblock und gesteht den sozialistischen Ländern nur eine beschränkte Souveränität zu. Dies rechtfertigt schlussendlich di militärische Präsenz der Roten Armee in allen Ländern des Ostblocks.
[57] Vgl. Prieß/ Kural/ Wilke (1996), S. 11.
[58] Wenzke (1990), S. 9.
[59] Nachdem die beiden sozialistischen Staaten Jugoslawien und Albanien bereits ihren eigenen Weg gingen, wurde auch die Einladung des RGW- Mitglieds Rumänien verzichtet, da die anderen Teilnehmer für ihre Linie keine Unterstützung durch Ceaucescu erwarteten. Vgl. dazu Wenzke (1990), S. 10.
[60] Vgl. Veser (1998), S. 80-83 und Wenzke (1995), S. 57-58.
[61] Veser (1998), S. 85 berichtet lediglich Mitte April von einem persönlich Brief Breschnews an Dubček. Dabei soll es sich von ersterem um einen Überzeugungsversuch hinsichtlich der Notwendigkeit eines harten Vorgehens und einer hohen Wachsamkeit gehandelt haben. Näher darauf ein geht Wenzke (1995), S. 61.
Zu den weiteren personellen Veränderungen in der ČSSR nach dem Treffen in Dresden vgl. Abschnitt 2.2. bzw. Wenzke (1990), S.6-7.
[62] Vgl. dazu u.a. Wenzke (1995), S. 58-59.
[63] Vgl. Veser (1998), S. 86.
[64] Vgl. Bilak (2006).
[65] Veser (1998), S. 88. Verstanden werden kann diese Grundhaltung der 5 Warschauer-Pakt-Staaten nur unter der Beachtung der herrschenden politischen Ideologie.
[66] Vgl. Veser (1998), S. 88.
[67] Wenzke (1995), S. 62.
[68] Der Begriff der „Antirefom-Allianz“ wird durch Veser geprägt. Der Verfasser dieser Arbeit übernimmt ihn dahingehend, um eine klarere Abgrenzung gegenüber den später nicht am Einmarsch in die ČSSR beteiligten Warschauer-Pakt-Staaten vorzunehmen. Eine weitere Alternative wäre der Terminus „Anti- ČSSR- Block“, wie er bei Wenzke (1995), u.a. auf S. 63 Verwendung findet.
[69] Vgl. Wenzke (1990), S. 12.
[70] Vgl. Veser (1998), S. 90 und Wenzke (1990), S. 11.
[71] StAC, 31602, IV B-2/5/490, Bl. 232-241.
[72] Vgl. dazu Veser (1998), S. 91.
[73] Vgl. Veser (1998), S. 91-94 und Wenzke (1995), S. 66. Im Hinblick auf die Quellenkritik muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass die sehr detaillierten Aussagen über die Ergebnisse von Čierná nad Tisou bei Reinhard Veser überraschen, wenn -wie von ihm überliefert- offiziell im Jahre 1968 keine weiteren Details über das Treffen zwischen KPdSU und KPČ bekannt wurden. In der Darstellung bei Wenzke werden die unterschiedlichen Sichtweisen über die Beratung in Čierná durch Einbeziehung der späteren Aussagen der damals Anwesenden bewusst. Dass die Zeitzeugen jeweils eine klare politische Dimension haben, muss an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Hinzu kommt, dass die Akten der jeweils betreffenden Staatssicherheitsdienste für die Forschung noch nicht zugänglich sind. Einen indirekten Verweis auf die Diskussionspunkte in Čierná geben die Parteidokumente der SED. So berichtet Paul Roscher, Mitglied des ZK und 1.Sekretär der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, auf der Tagung der BL am 12.08.1968, in seinem Referat „Auswertung der 7. Tagung des ZK der SED und der 10. Tagung der Volkskammer der DDR“ u.a. über die ideologische Darstellung des Verhältnisses in der CSSR. (vgl. StAC, 31602, IV B-2/1/010, Bl. 9.)
[74] Wenzke (1990), S. 12.
[75] Vgl. Veser (1998), S. 95 und Wenzke (1995), S. 69. Bestätigt werden die Einschätzungen durch die überlieferten Reaktionen Alexander Dubčeks, als er in der Nacht vom 20. zum 21. August von der Invasion erfuhr.
[76] Wenzke (1995), S. 81.
[77] Vgl. Veser (1998), S. 82.
[78] Wenzke (1995), S. 86.
[79] Vgl. Ebd., S. 88, Fußnote 18.
[80] Vgl. Ebd., S. 90.
[81] Vgl. Ebd., S. 92.
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