Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Cur Deus homo?
2.1. Die Frage, von der das ganze Werk abhängt
2.2. Inhaltliche Voraussetzungen
2.3. Die Sünde
2.4. Entehrung Gottes
2.5. Genugtuung
2.6. Notwendigkeit und Freiwilligkeit des Todes Jesu
2.7. Befreiung zur Freiheit
2.8. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes
2.9. Die Beantwortung der Frage
3. Zusammenfassung: Die zentralen Thesen
4. Ausblick: Das Versöhnungsmodell im politischen Versöhnungsprozess
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Anselm, 1033 in Italien geboren, wurde 1093 zum Erzbischof von Canterbury/England berufen und war einer der größten mittelalterlichen Theologen mit weit reichendem Einfluss - er gilt als Vater der Scholastik. Dieses intellektuelle System entstand, weil mittelalterliche Denker darauf abzielten, eine Synthese allen Wissens zu erreichen, sowohl des natürlichen als auch des göttlich offenbarten Wissens. So vereinte die Scholastik theologische und philosophische Voraussetzungen. Anselm war bestrebt, Glaubensdogmen rational zu begründen. Sein Grundsatz betont den Stellenwert der Vernunft: „Credo, ut intelligam.“ („Ich glaube, damit ich erkenne.“). Anselm von Canterbury verstarb 1109 in Canterbury. In der katholischen Kirche wird er als Heiliger und Kirchenlehrer verehrt.
In seinem Hauptwerk „Cur Deus homo?“ („Warum ist Gott Mensch geworden?“) versucht Anselm mit bloßen Vernunftgründen die Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes zur Erlösung der Menschen nachzuvollziehen. Zielpunkt ist dabei die Versöhnung Gottes mit den Menschen. Prägnant ist der dialogische Charakter des Werkes: Anselm redet als Lehrer mit Boso, seinem Klosterschüler. Boso vertritt in seinen Äußerungen sowohl die „fideles“ („Gläubigen“) als auch die „infideles“ („Ungläubigen“), denn die Frage ist für beide Gruppen ein Problem, nur die Gläubigen erwägen sie in ihren Herzen, aber die Ungläubigen werfen sie vor.[1] Dass Boso die Worte der Ungläubigen benutzt, derer, die keineswegs dem Glauben ohne Begründung zustimmen wollen, macht die Fragen also präzise. Die Dialogform verhilft zu besserem Verständnis, da auch Einwände hervorgebracht und diskutiert werden. Die Antwort auf die Frage ergibt sich aus dem ganzen Werk und ist als Ergebnis des gesamten Gesprächsverlaufs zu sehen. Einzelaussagen sind immer im Kontext des ganzen Dialogs zu interpretieren.
Anselm stellt ganz an den Anfang seiner Arbeit die Einschränkungen, dass alles, was er sagt, auch ein Weiserer vervollständigen oder verbessern kann und dass solch ein Thema noch tiefere Gründe in sich birgt, als es ein Mensch überhaupt offenbaren kann. Zudem verweist er auf eine höhere Autorität. Falls diese seinen Vernunftgründen gegenüber steht, hat sie auf jeden Fall Recht.[2] Als Autorität gilt allem voran die Bibel, die ein unumstößliches Fundament für die Wahrheit darstellt.[3]
Diese Arbeit stützt sich zum größten Teil auf die Interpretation von Georg Plasger[4] und stellt das Versöhnungsmodell Anselms von Canterbury verständlich dar, indem sie anhand der Kernpunkte seiner Versöhnungslehre der Entwicklung des Gedankengangs bis hin zur Zuspitzung der Antwort auf „Cur Deus homo“ folgt (Kapitel 2). Im Fazit fasst die Verfasserin die zentralen Thesen noch einmal knapp zusammen (Kapitel 3). Im Ausblick wird erörtert, wie sich Anselms Versöhnungsmodell auf heutige politische Versöhnungsprozesse übertragen lässt (Kapitel 4).
2. Cur Deus homo?
2.1. Die Frage, von der das ganze Werk abhängt
Das ganze Werk ist die Beantwortung einer einzigen Frage: „mit welcher Notwendigkeit nämlich und aus welchem Grunde Gott, der doch allmächtig ist, die Niedrigkeit und Schwachheit der menschlichen Natur zu ihrer Wiederherstellung angenommen hat.“[5]
Es geht um die Klärung des scheinbaren Widerspruchs, dass der allmächtige Gott, der es doch auch allein durch seinen Willen oder einen Befehl irgendwie anders hätte tun können, in die Schwäche des Menschseins eingeht. Wie passt zusammen, dass ein allmächtiger Gott schwach ist? Das Leben und Sterben Jesu zusammen mit der Allmacht Gottes in einer Person zu vereinen - denn Gott selbst ist es ja, der fleischgeworden ist - das ist ein Verstehensproblem. Kurz: „Dass der Höchste sich so zu Niedrigem herablässt.“[6] Das Verhältnis von Christologie und Gotteslehre steht also zur Frage.
„Cur Deus homo“ will die Ohnmacht und Allmacht Gottes zusammenbringen und in der Menschwerdung Gottes Willen und Wesen erkennen, um den Widerspruch aufzuheben. Es soll in der Menschwerdung „aliquid solidum“ („ein fester Grund“) ersichtlich werden.[7]
2.2. Inhaltliche Voraussetzungen
Gesucht wird der Grund für eine Glaubensfrage. Keinesfalls ist der Glaube das Ziel der Beantwortung der Frage, sondern im Gegenteil - ihre Voraussetzung: „Darum bitten sie nicht, damit sie durch die Vernunft zum Glauben gelangten, sondern sich an der Einsicht und Beschauung dessen, was sie glauben, erfreuten (…).“[8] Der Glaube wird also vorausgesetzt, das Verstehen und letzten Endes die Freude daran ist das Ziel. „fides quarens intellectum“ („Der Glaube sucht das Verstehen“), er drängt förmlich darauf,[9] aber selbst, wenn er nichts verstünde, so Boso, würde das seinen Glauben nicht beeinträchtigen.
Bevor Anselm mit der Beantwortung der Frage beginnt, setzt er inhaltlich voraus:
1. Gottes Ziel mit den Menschen von Schöpfung an war, dass der Mensch zur Seligkeit geschaffen ist.
2. Zu dieser Seligkeit kann kein Mensch ohne Sündenvergebung gelangen.
3. Kein Mensch geht ohne Sünde durchs Leben.
4. „et alia“ („und einiges mehr“), was die gesamte katholische Lehre meint.
5. Die Argumentationsweise wird ihren Weg „remoto Christo“ („mit Beiseitesetzung Christi“) und „quasi nihil sciatur de Christo“ („als ob man von Christus nichts wüsste“)[10] nehmen. Das ist lediglich eine methodische Einschränkung, die verhindern soll, dass sich in den Glauben flüchtet, wem das Denken zu unangenehm ist. Es soll ja „sola ratione“ („mit reinen Vernunftgründen“) bewiesen werden, was schon geglaubt wird.[11]
2.3. Die Sünde
„Wenn Engel und Mensch Gott immer leisten würden, was sie schuldig sind, würden sie niemals sündigen.“[12] Wenn der Mensch sich also so verhält, wie er soll, ist er gerecht vor Gott. Und da der Mensch zur Seligkeit geschaffen ist, ist es seine in der Schöpfung gegebene Aufgabe - seine Bestimmung sogar, sich sündlos zu verhalten.
Sündloses Leben bedeutet, Gott als den Schöpfer anzuerkennen, seinem Willen zu gehorchen. Dazu ist dem Menschen der freie Wille gegeben, dass er sich unter den göttlichen Willen stellt. „Mithin ist sündigen nichts anderes als Gott das Geschuldete nicht leisten.“[13] Die Sünde verstößt gegen das erste Gebot, sie negiert Gott als den Herrn - sie richtet sich folglich direkt gegen Gott. Dadurch ist „die ganze menschliche Natur verdorben und gleichsam von der Sünde durchsäuert.“[14]
2.4. Entehrung Gottes
Sündigen, da es sich gegen Gottes Willen richtet, nennt Anselm auch „Gott entehren“. Jedoch ist es nach Anselm unmöglich, dass Gott seine Ehre verliert, „denn er selber ist die (…) unwandelbare Ehre.“[15] Gottes Wesen ist Ehre und weil die Herrschaft Gottes vollkommen ist, kann dieser Ehre auch „nichts hinzugefügt noch entzogen werden.“[16]
Die Ehrung Gottes ist also nicht direkt auf die ‚Person’ Gottes bezogen, sondern auf das, was Gottes Ziel mit den Menschen war, auf sein ‚Werk’. Entehrung Gottes bedeutet deshalb: Der Mensch zerstört die Absicht Gottes mit den Menschen. Damit trifft er sich selbst, weil sein Verhältnis zu Gott gestört ist. Das rechte Mensch-Gott-Verhältnis, die rechte Ordnung, wäre - wie schon erwähnt - die Einstimmung des menschlichen in den göttlichen Willen.
Zusammenfassend: Gott strahlt seine Ehre aus auf die Schöpfung und bittet, dass die Menschen ihn als Herrn und ihre eigene Ehre im rechten Mensch-Gott-Verhältnis anerkennen. Tun sie das nicht und entehren Gott, zerstören sie dieses Verhältnis von sich aus und nehmen sich ihre eigene Bestimmung: Seligkeit und ewiges Leben.[17] Die Entehrung Gottes ist also letztlich die Entehrung des Menschen.
Will der Mensch aus der Schuld der Sünde herauskommen, muss er „Gott die geraubte Ehre einlösen; und das ist Genugtuung, die jeder Sünder Gott leisten muss.“[18]
2.5. Genugtuung
Eine Barmherzigkeit im Sinne von ‚billiger Gnade’ scheidet aus, denn ein Übergehen oder Nachlassen der Sünde würde Unrecht mit Recht gleich stellen,[19] „was sehr ungeziemend erscheint“.[20] Durch Vergebung allein kann der Mensch nicht wieder gerecht werden, er muss gereinigt werden (weil von der Sünde ganz durchsäuert). So „ist es notwendig, dass jeder Sünde Genugtuung oder Strafe folgt.“[21] Boso sieht ein: „Ich sehe, dass man eine andere Barmherzigkeit Gottes als diese suchen muss.“[22]
[...]
[1] Anselm von Canterbury: Cur Deus homo? Warum Gott Mensch geworden. Lateinisch und Deutsch. München : Kösel-Verlag, 1956. [im Folgenden zitiert als CDh.] Buch I, 1. S. 11.
[2] Ebd. Buch I, 2. S. 15.
[3] Ebd. Buch II, 19. S. 151.
[4] PLASGER, GEORG: Die Notwendigkeit der Gerechtigkeit. Eine Interpretation zu „Cur Deus homo“ von Anselm von Canterbury. Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Neue Folge, Band 38. Münster : Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung GmbH & Co, 1993. [im Folgenden zitiert als PLASGER, G.: Die Notwendigkeit der Gerechtigkeit. ]
[5] CDh, Buch I, 1. S. 13.
[6] CDh, Buch I, 8. S. 25.
[7] PLASGER, G.: Die Notwendigkeit der Gerechtigkeit. S. 43-47.
[8] CDh, Buch I, 1. S. 11.
[9] Siehe auch Anselms Grundsatz „Credo ut intelligam“ („Ich glaube, damit ich erkenne“).
[10] CDh, Vorrede. S. 3.
[11] PLASGER, G.: Die Notwendigkeit der Gerechtigkeit. S. 70, 78.
[12] CDh, Buch I, 11. S. 39.
[13] CDh, Buch I, 11. S. 41.
[14] CDh, Buch I, 23. S. 81.
[15] CDh, Buch I, 15. S. 48.
[16] CDh, Buch I, 15. S. 49.
[17] PLASGER, G.: Die Notwendigkeit der Gerechtigkeit. S. 85-98.
[18] CDh, Buch I, 11. S. 41.
[19] WÜSTENBERG, RALF K.: Die politische Dimension der Versöhnung. Eine theologische Studie zum Umgang mit der Schuld nach den Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland. Gütersloh : Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus GmbH, 2004. [im Folgenden zitiert als WÜSTENBERG, R.: Die politische Dimension der Versöhnung. ] S. 452, 453.
[20] CDh, Buch I, 12. S. 43.
[21] CDh, Buch I, 15. S. 51.
[22] CDh, Buch I, 24. S. 85.