An der Schwelle zur Vermessenheit? Ein Stammzell-Diskurs


Examensarbeit, 2006

132 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Ziele der Arbeit

A Einführender Teil
1 Biotechnologie - Worum geht es überhaupt ?
2 Stammzellen – Was ist das ?
2.1 Allgemeines
2.2 Embryonale Stammzellen (ESZ)
2.3 Murine embryonale Stammzellen (mESZ)
2.3.1 Charakterisierung mESZ
2.4 Humane embryonale Stammzellen (hESZ)
2.4.1 Vergleich zu mESZ
2.5 Embryonale Keimzellen (EGZ)
2.6 Embryonale Karzinomzellen (ECZ)
2.7 Somatische Stammzellen (SSZ)
2.7.1 Betrachtung einiger somatischer Stammzelltypen
2.7.2 Risiken und Probleme der Verwendung somatischer Stammzellen
2.8 Embryonale Stammzellen oder Alternativen ?
3 Einige Methoden
3.1 Reproduktives Klonen, therapeutisches Klonen
3.2 In-vitro-Fertilisation (IVF)
3.3 Präimplantationsdiagnostik (PID)
4 Stammzellen und Gesellschaft
4.1 Biotechnologie - Entstehung und Bedeutung für Deutschland
4.2 Akzeptanz der Biotechnologie in Deutschland

B Diskursiver Teil
5 Juristische Perspektive
5.1 Ausgewählte Gesetze
5.2 Internationaler Vergleich
5.3 Die Situation in Deutschland
5.3.1 Der Embryo und das Grundgesetz
5.3.2 Der Embryo und die Einfachgesetze
5.3.3 Die Abtreibungsproblematik
5.3.4 Nationaler Ethikrat (NER)
5.3.5 Die Nidation und ihre Bedeutung für den rechtlichen Status des (In-vitro-) Embryos
6 Ethische Perspektive
6.1 Was ist Ethik ?
6.1.1 Das Ungenannte und sein Einfluss
6.1.2 Die Argumente
6.1.2.1 Direkte Argumente
6.1.2.2 Indirekte Argumente
7 Abschließender Kommentar
8 Anhang
9 Bibliographie

Einleitung

„Was wir zu fürchten haben,
ist nicht die Unmoral der großen
Männer, sondern die Tatsache,
daß Unmoral oft zu Größe führt.“

De Tocqueville (1805 – 1859, französischer Publizist und Politiker)

„Die Hybris (griechisch ‛′Υβριςder Übermut, die Anmaßung) bezeichnet eine Selbstüberhebung, die sich, vor allem unter Berufung eines göttlich gerechten Zorns, der Nemesis, rächen muss. Die Hybris ist der Auslöser des Falls von vielen Hauptfiguren in griechischen Tragödien. Die Hauptfigur ignoriert in ihrer Überheblichkeit Befehle und Gesetze der Götter, was unvermeidlich zu ihrem Fall und [richtiger: „oder“; Anm. d. A.] Tod führt.

In der griechischen Mythologie ist Hybris eine Nymphe, die mit Zeus den Halbgott Pan gezeugt haben soll.

Im aktuellen Sprachgebrauch wird „Hybris“ als ein bildungssprachlicher Ausdruck für Vermessenheit und Selbstüberhebung verwendet, die zu einem schlimmen Ende führen werden.“ (Wikipedia, 31.10.2006)

Biomedizinische Forschung ist auf dem Vormarsch. Die prospektiven Möglichkeiten scheinen unbegrenzt. Die Heilungsversprechen nehmen schon beinahe biblische Ausmaße an, Gelähmte wieder gehend machen, Blinde wieder sehend machen, alles scheint möglich.

Dabei sollte der Mensch im Vordergrund stehen. Es ist nicht vornehmlich eine Frage nach den technischen Möglichkeiten, sondern vielmehr eine Frage nach der Stellung des Menschen im Gefüge des Ganzen. Was kann der Mensch? Was darf der Mensch? Und darf er alles, was er kann?

In einem Bereich, in dem der Mensch, das ungeborene Leben, zur Diskussion steht, kann man nicht umhin, dass der Mensch selbst mit seiner Biographie, seinen Werten, Vorstellungen, Interessen, seinem Glauben, seiner Kultur, folglich allem, was einen Menschen auch kennzeichnet ein Recht hat sich einzubringen. Und damit ist jeder Mensch gemeint, nicht bloß jener Zirkel der elitären Wissenschaftler, die sich mit der Materie auskennen, sich gar als Experten titulieren lassen, sondern ausnahmslos jeder, oder zumindest so viele wie möglich.

Dies soll das vorrangige Ziel der vorliegenden Arbeit sein, nicht ausschließlich eine wissenschaftliche Abhandlung über Stammzellforschung, ihren Segen, ihren Fluch, sondern ein verständlicher Überblick für alle, die sich näher mit dem heiklen Thema Stammzellforschung auseinander setzen wollen, gespickt mit kniffligen Dilemmata, die den Leser zu einer Entscheidung auffordern, einer schwierigen Entscheidung für oder gegen das Leben, für Helfen oder Hilfe verweigern, je nachdem, welchen Standpunkt man für sich postuliert.

Ein Beispiel: Forschungsfreiheit ist ein grundgesetzlich geschütztes Recht (Artikel 5 GG, [Meinungsfreiheit]), Recht auf Menschenwürde (Artikel 1 GG, [Menschenwürde]) auch. Ab wann definiere ich Leben, ist die Menschenwürde angetastet? Ab wann ist ein Leben lebenswert? Ist das Recht auf Forschungsfreiheit höher zu bewerten, als das Recht auf Leben, erst recht und vor allem, wenn dieses Leben/die Menschenwürde nicht einmal klar definiert ist?

Im Laufe des Textes kann es durchaus möglich sein, dass der Leser sich gezwungen sehen wird, seine (bis dahin gebildete) Meinung zu revidieren und zwar dann, wenn ein neuer Aspekt das Problem von einer ganz anderen Seite beleuchtet.

Und das ist das wirkliche Problem. Es gibt keine definitive Antwort, es gibt kein Sicherheit spendendes „Gut“ oder „Böse“, „Richtig“ oder „Falsch“. Entscheidungen tun weh, oder fallen einem leicht, bedeuten aber auch immer einen Kompromiss. Mit einer Seite einer Meinung zu sein bedeutet auch immer mit den Konsequenzen dieser Entscheidung leben zu müssen, auch und gerade, wenn sie sich auf Bereiche und neue Aspekte, ausdehnen, die noch nicht beleuchtet wurden oder zum Zeitpunkt der Meinungsbildung noch nicht absehbar waren. Ob Sie bereit sein werden die Verantwortung, die aus diesen Konsequenzen erwachsen könnte, zu tragen, das ist eine Frage, die sie sich stellen sollten.

Auch dieses soll ein Ziel der Arbeit sein, den Dialog lebendig zu halten. Den Dialog in einer globalen Gesellschaft, in der Nähe eine ganz neue Bedeutung erhalten hat. Problemlos kann man sich über das Internet in Foren mit Menschen aus der ganzen Welt über ein Thema auseinandersetzen. Dies bedeutet aber gleichzeitig auch, dass man niemals das Ganze überblicken können wird. Stammzellforschung in seiner ganzen Breite verstehen zu wollen, bedeutet, um eine Metapher zu bemühen, sich an einem Puzzle zu messen, das niemals zu einem Ende finden wird. Man kann, je länger und umfassender man sich damit beschäftigt, lernen immer mehr Schattierungen einzelner Farben auseinander zu halten, kann lernen diese dann in sinnvolle Gruppen zu sortieren, vielleicht nur, um dann festzustellen, dass dieser Teil des Puzzles sich eigentlich auf zwei ganz verschiedene Seiten des Ganzen verteilt, worauf man gezwungen ist, die Gruppierungen neu zu überdenken. Davon, dass man schwierige Puzzle auch lösen kann, wenn man sich nur die Form und Größe der ineinandergreifenden Teile ansieht, soll hier nicht die Rede sein, obwohl auch das leichter fällt, wenn man gleiche Farben zueinander legt.

Aber eines ist sicher, wer sich einmal an einem wirklich großen Puzzle versucht hat, der weiß, dass es einen ungeheuren Aufforderungscharakter hat.

Ziele der Arbeit

Die vorliegende Arbeit besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil befasst sich mit dem, was man meiner Meinung nach über Stammzellen wissen sollte. Beginnend mit einigen Begriffserklärungen führe ich in den großen Bereich der Biotechnologie ein. Als besonderer Bereich der Biotechnologie folgt dann ein recht umfassender Abschnitt über Stammzellen, das Untersuchungsobjekt dieser Arbeit. Hier sollen Grundlagen und Interessantes zu den verschiedenen Stammzellen dargelegt werden, damit der Leser einen Eindruck davon bekommt, worum es überhaupt geht und sich vielleicht schon einmal den einen oder anderen Gedanken machen kann, welche Konsequenzen sich aus einzelnen Entwicklungen ergeben könnten. Spekulationen sind hier durchaus erwünscht, denn diese sind es, die uns auch im ethischen Teil noch einmal beschäftigen werden. Zu diesem Komplex gehört ebenfalls die anschließende Vorstellung einiger Methoden, die in der Forschung, oder auch in der Medizin das Interesse der Öffentlichkeit erregt haben.

Am Schluss des ersten Teils folgt die Erklärung, was die Forschung im Bereich der Biotechnologie für unser Land bedeutet, wie und warum sie gefördert wird und wie die Bürger ihr gegenüberstehen.

Solchermaßen gestärkt mit Informationen verfügt der Leser nun über das nötige Handwerkszeug, um sich mit dem Thema im zweiten Teil der Arbeit kritisch auseinandersetzen zu können.

Dazu bediene ich mich im juristischen Teil zuerst einem internationalen Vergleich, um darzustellen, wie andere nicht weniger rechtsstaatlich organisierte Länder die Problematik behandeln und ob sie überhaupt eine Problematik sehen. Eine nähere Betrachtung der juristischen Zusammenhänge in Deutschland soll durch eine in ähnlicher Form häufig vorkommende Argumentationskette, die anhand der Abtreibungsproblematik den Status des Embryos zu erhellen versucht, abgeschlossen werden. Hier finden sich schon die ersten kritischen Anmerkungen und provokanten Aussagen, die für die anschließende ethische Diskussion sensibilisieren sollen. Der Leser sollte zu diesem Zeitpunkt bereits in der Lage sein, eine Meinung, zumindest aber eine Tendenz für oder gegen die Forschung an Embryonen formulieren zu können. Möglicherweise stellt sich sogar eine gewisse Ablehnung gegen die stringente Argumentation auf juristischer Ebene ein. In jedem Fall ist damit genau die richtige Basis für den letzten, den ethisch-moralischen Teil der Arbeit geschaffen.

Nach einer Einführung in den theoretischen Bereich der Ethik werden in diesem Abschnitt die mehr emotionalen Argumente dargelegt anhand derer man seine eigene Einstellung überprüfen kann. Religiöse Motive finden in meiner Arbeit kaum Erwähnung, da die anschauliche Darlegung der Zusammenhänge den gebotenen Rahmen sprengen würde. Natürlich sind aber im Rahmen der ethischen Auseinandersetzung auch religiöse Ansichten vertreten. Einige der zitierten Autoren sind selbst Geistliche und so schwingt eine religiös motivierte Betrachtung immer ein wenig mit. Es sei aber angemerkt, dass die Meinungen der großen Weltreligionen, was den Beginn des Lebens betrifft, stark divergieren.

Um die Brisanz der Diskussion zur Wirkung zu bringen, bediene ich mich hier absichtlich stilistischer Mittel, wie sie vielleicht in „rein“ wissenschaftlichen Arbeiten nicht angebracht erscheinen, aber unter der Prämisse der Anregung zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema und zur lebendigen Diskussion scheint mir dies die einzig richtige Vorgehensweise. Ziel soll es sein den Leser auch noch auf den letzten Seiten Für das Thema zu interessieren.

Der abschließende Kommentar beinhaltet ausschließlich meine eigene Meinung und die Gründe, wie ich zu dieser in der Auseinandersetzung mit dem sehr spannenden Thema der Stammzellforschung gelangt bin.

A Einführender Teil

1 Biotechnologie - Worum geht es überhaupt ?

Auch wenn es in der vorliegenden Arbeit maßgeblich um die sogenannte „rote Biotechnologie“ (Erklärung folgt) gehen soll, ist es sinnvoll zunächst eine kurze Einführung in den großen Bereich der Biotechnologie überhaupt zu geben.

Beim Schlagwort Biotechnologie denken viele immer noch an Horrorszenarien wie Fische mit drei Augen, Gen-Mais, Mensch-Maschinen, Amerikas Weltenbeherrschungswahn und ähnlich negativ besetzte Begriffe. Dabei ist Biotechnologie schon jetzt aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken.

Wer macht sich schon Gedanken darüber, dass es viele Medikamente oder medizinische Methoden (u.a. auch In-vitro-Fertilisation) nur gibt, weil die Forschung im Bereich der Biotechnologie dies ermöglicht hat, dass jeder Euro-Geldschein den jemand in Händen hält, unter anderem aus Baumwolle besteht, die mit Hilfe der Biotechnologie verbessert wurde, dass nahezu jede der beliebten Stone-washed-Jeans mit biotechnologisch hergestellten Enzymen bearbeitet wurde, um diesen Look herzustellen?

„Als Biotechnologie, auch Biotech wird die Umsetzung von Erkenntnissen aus der Biologie und der Biochemie in technische oder technisch nutzbare Elemente verstanden.“ (Wikipedia, 31.10.2006)

Der Bereich der Biotechnologie spaltet sich in fünf weitere Bereiche auf („weiße“, „grüne“, „rote“, „graue“ und „blaue“ Biotechnologie (nach Wikipedia)), die sich nach den Zielsetzungen oder den verwendeten Methoden bzw. „Zutaten“ unterscheiden. Im Folgenden komme ich kurz zu den drei „großen“ Bereichen. Firmennamen und ähnliche Verwendungen sind im Wesentlichen der Internetseite <www.europabio.org> und der DVD des Bundesministeriums für Bildung und Forschung entnommen (s. Literaturliste).

„Weiße“ Biotechnologie

Diese befasst sich mit biotechnologisch-basierten Produkten und Industrie-Prozessen, beispielsweise in der Chemie-, Textil-, oder Lebensmittelindustrie. In Deutschland sind in diesem Bereich etwa 10 % aller Biotech-Unternehmen tätig. Der „weißen“ Biotechnologie verdanken wir es, dass es möglich ist, unsere Wäsche bei geringerer Temperatur, geringerem Wasserverbrauch und mit weniger Waschmittel zu waschen und damit neben der Einsparung des global ohnehin schon knappen Wassers weniger Phosphate in unsere Seen und Flüsse zu leiten.

„Grüne“ Biotechnologie

Die „grüne Biotechnologie“ befasst sich hauptsächlich mit der landwirtschaftlichen Anwendung von Pflanzen einschließlich ihrer genetischen Veränderung. In Deutschland arbeiten 19 % aller Biotech-Unternehmen in diesem Bereich.

So ist es der Firma „Metanomics“ mit Sitz in Berlin gelungen, ein Gen in der Modellpflanze Arabidopsis thaliana (Ackerschmalwand) zu isolieren, dass einen Einfluss auf den Vitamin E-Gehalt besitzt. Dieses Gen wird von der Firma „Sungene“, mit Sitz in Zwingenberg, dazu verwendet den Vitamin E-Gehalt in Rapssamen zu erhöhen. Auch wenn es noch nicht zur Produktreife gelangt ist, befindet sich dieses Projekt bereits auf dem richtigen Weg und ist im Moment in diesem Bereich weltweit Marktführer.

„Rote“ Biotechnologie

Diese beschreibt den medizinisch-pharmazeutischen Anteil der Biotechnologie und befasst sich mit der Herstellung von Medikamenten und Diagnostika. Mit 71 Prozent ist dies in Deutschland der größte Zweig.

Neue Medikamente zum Beispiel zur Verhinderung von Blutgerinnseln durch Verwendung eines Fledermausgens, dessen Expressionsprodukte im Speichel der Fledermaus gerinnungshemmend wirken, befinden sich bereits in der 2. klinischen Phase, kurz vor der Zulassung (Firma „Cenix“ bzw. „Ecotec OAI“).

2 Stammzellen – Was ist das ?

„Noch nie zuvor konnten wir in die Zukunft blicken, bei keinem der vielen Aspekte unseres Lebens. Aber diese neuen Kenntnisse werden es uns im Wesentlichen erlauben, die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Entwicklungen vorherzusagen. Und ich glaube, noch niemand hat erfasst, was das wirklich bedeutet.“ (Trounson 1998. In: Wormer 2003, S. 10).

Es geht bei der Stammzell-Forschung zumindest zum momentanen Zeitpunkt noch gar nicht so sehr um eventuelle praktische Anwendungen. So weit, dass Produkte, wie ein zuverlässiges Krebsmittel, oder eine nervenzellenregenerierendes Agens zur Marktreife entwickelt worden sind, sind wir noch lange nicht, auch wenn bereits an ähnlichen Projekten geforscht wird.

Vielmehr dreht sich die Forschung im Moment vorrangig um die Grundlagen, die alles andere bedingen. Die noch immer nicht restlos geklärten Fragen, welche die Stammzellforschung aktuell beschäftigen, sind jene nach Steuerungsmechanismen, die aus einer Stammzelle, insbesondere den sogenannten embryonalen Stammzellen, eine hochspezialisierte Körperzelle machen, nach Faktoren die die Embryonalentwicklung beeinflussen, oder wie gezielt bestimmte Zelltypen oder Gewebe im Labor oder im Körper aus Stammzellen erzeugt werden können. Erst wenn man hier Fortschritte erreicht, kann man eine gewisse Handlungssicherheit in der Forschung erlangen.

Ein hierfür wichtiges Wissensgebiet ist die Embryologie, die sehr detaillierte Einblicke in die vorgeburtliche Entwicklung von Lebewesen aufzeigt. Genau zu verstehen wann, warum und wodurch eine Zelle angeregt wird, sich von einer pluripotenten Zelle zu einer linksventrikulären Herzmuskelzelle zu differenzieren, dass ist das Geheimnis, das es zu ergründen gilt. Ziel muss es sein ein Rezept mit einem präzisen Ablaufschema zu finden, gelänge dies, wären die gegebenen Heilungsversprechen nicht länger unerreichbar. Aber wie so oft ist es unendlich schwierig alle internen und externen Faktoren, die eine Differenzierung begleiten restlos zu entschlüsseln. Immer noch sind bei weitem nicht alle Mechanismen verstanden, über die Zellen miteinander in Kontakt treten. Stetig werden neue Faktoren wie Enzyme, Zelloberflächenmarker oder auch Gene gefunden, die eine bestimmte Rolle in der Entwicklung der Zelle einnehmen und oft öffnen diese wiederum eine neue Tür, hinter der sich ein weiterer noch gänzlich unbekannter Raum befindet, den es zu kartieren gilt. Und selbst wenn man glaubt, einen Weg gefunden zu haben, geschieht es allzu oft, dass Zellen sich doch spontan wieder anders verhalten, als man es antizipiert hatte. Die Evolution hat Millionen Jahre gebraucht, den Menschen zu schaffen und auch sie hat den ein oder anderen Fehler gemacht, wie also kann man annehmen, dass wir etwas Ähnliches in wenigen Jahrzehnten auf die Beine stellen? Immerhin muss der Mensch den Menschen nicht neu erfinden, sondern nur das existierende Prinzip ergründen. Im Prinzip entspricht das dem cash-crops-Prinzip, mit dem die japanische Wirtschaft einige Erfolge verbuchen kann. Nimm Dir ein Modell, demontiere es, betrachte die Einzelteile und dann bau es aus eigenen Mitteln wieder zusammen und zwar billiger und schneller als vorher. [Und sein wir mal ehrlich - persönlichen Animositäten und finanzielle Kaufkraft außer Acht lassend - wer kauft einen japanischen Wagen, wenn er einen Mercedes zum selben Preis haben kann?]

Nicht vergessen! Es ist hier immer noch die Rede vom Menschen.

2.1 Allgemeines

Im Folgenden beziehe ich mich strukturell und inhaltlich im Wesentlichen auf die Dissertationsschrift von Badura-Lotter (2005), abweichende (z.B. neuere) oder ergänzende Informationen werden gekennzeichnet.

Der menschliche Körper enthält etwa 200- 300 unterschiedliche Zelltypen aus denen die verschiedensten Gewebe und Organe bestehen. Es war von evolutionsbiologischer Bedeutung, dass diese Gewebe nicht nur produziert, sondern auch irgendwie erhalten werden mussten. Zu diesem Zweck hält der menschliche Körper ein ganzes Arsenal an Stammzellen bereit, die der Neubildung oder Regeneration von Geweben dienen. Die enorme Komplexität des menschlichen Körpers hat – wie auch in anderen Bereichen – einen Nachteil. Regenerationsfähigkeiten, wie wir sie bei verschiedenen Tieren finden, sind von uns (vom Menschen) bisher (?) unerreicht. Von Eidechsen die auf der Flucht ihren Schwanz abwerfen (Autotomie) über Spinnen, die nach einer Häutung ganze Beine wieder erneuern bis hin zu den erstaunlichen Erneuerungsfähigkeiten von Axolotln, die nahezu alle Körperteile wieder ersetzen können, kaum etwas scheint im Tierreich nicht irgendwo vertreten zu sein. Dass dies für das Pflanzenreich natürlich ebenso, wenn nicht sogar ungleich mehr gilt, man denke an die Ablegerzüchtung aus einer einzigen Epidermiszelle, sei hier nur am Rande erwähnt.

Allen Stammzellen gemein ist ihre hohe Proliferationsfähigkeit (Teilungsfähigkeit), die Fähigkeit zur Regeneration und ihr Differenzierungspotential zu vielen - bei embryonalen Stammzellen sogar allen - Zellen eines Organismus (vgl. Wormer 2003, S. 57).

Im menschlichen Körper lassen sich aus den verschiedensten Geweben und zu den unterschiedlichsten Zeiten Stammzellen gewinnen. Der Begriff „embryonale Stammzelle“ wird in der Literatur sehr unterschiedlich verwendet. Die Einen beziehen sich auf jede Stammzelle, die pluripotent ist, Andere machen die Klassifizierung sehr genau am Herkunftsgewebe zum Zeitpunkt der Extraktion fest. Denn genau genommen stammt auch eine Knochenmarksstammzelle von einer einzigen Zelle ab.

Die folgende Unterteilung in vier Stammzelltypen erscheint sinnvoll (s. Abb. 1):

- ES-Zellen (embryonic stem cells, embryonale Stammzellen i.e.S.)
- EG-Zellen (embryonic germ cells, embryonale Keimzellen, primordiale
Keimzellen)
- EC-Zellen (von ECC embryonic carcinoma cells, embryonale Karzinomzellen)
- somatische Stammzellen (adulte Stammzellen)

Abbildung 1: Stammzellen und Zeitpunkte ihrer Gewinnung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: http://stemcellresearch.org/testimony/prentice-ppt.pdf

Sicher ließe sich diese Liste noch erweitern, aber im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll dies genügen, um einen Überblick über die aktuelle Forschung zu erhalten.

Zur Unterscheidung von Totipotenz und Pluripotenz

Vergleiche hierzu auch DFG 2003, S. 17, Tabelle 2.

In der wissenschaftlichen Praxis werden die Begriffe Totipotenz und Pluripotenz oft unterschiedlich verwendet. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass man, solange noch kein Mensch geklont und auch ausgetragen wurde, das entscheidende Kriterium der Totipotenz (s.u.) faktisch nicht verifizieren kann.

Totipotenz (auch Omnipotenz) (vergl. EschG)

Totipotenz bezeichnet die Fähigkeit zur Bildung des Ganzen. In der Zellbiologie werden Zellen dann als totipotent bezeichnet, wenn sie in geeigneter Umgebung (Gebärmutter) noch zu kompletten Individuen heranwachsen können. Für die Entwicklung von Säugetieren, auch des Menschen, geht man davon aus, dass embryonale Zellen bis längstens zum 16-Zell-Stadium (bis maximal 36 h nach der Befruchtung) totipotent sind.

Pluripotenz

Als pluripotent bezeichnet man Zellen, die fähig sind, sich zu Zellen der drei Keimblätter und der Keimbahn eines Organismus zu entwickeln. Somit können sie zu jedem Zelltyp eines Organismus differenzieren. Jedoch sind sie, im Gegensatz zu totipotenten Stammzellen, nicht mehr in der Lage, einen gesamten Organismus zu bilden (z.B. Zellen der inneren Zellmasse der Blastozyste, s.u.).

Abbildung 2 Kultivierung embryonaler Stammzellen

Quelle: <http://www.zum.de/Faecher/Materialien/hupfeld/index.htm?/Faecher/Materialien/hupfeld/Entwicklung/stammzellen/stammzellen.html>

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.2 Embryonale Stammzellen (ESZ)

Embryonale Stammzellen (ESZ, embryonic stem cells) sind in vivo und in vitro in der Lage, sich in Zellen aller drei Keimblätter (Entoderm, Ektoderm und Mesoderm) sowie in Zellen der Keimbahn auszudifferenzieren. Sie werden daher als pluripotent bezeichnet. ESZ werden für experimentelle Zwecke nach der Befruchtung der Eizelle im Stadium der Blastozyste (Abb. 3) aus der inneren Zellmasse (ICM; auch Embryoblast genannt) gewonnen.

Eine weitere in Abbildung 2 nicht gezeigte Methode ist der Zellkerntransfer. Dabei wird einer entkernten Eizelle eine kernhaltige somatische Zelle implantiert. Dies bedeutet, dass der sich entwickelnde Organismus mit dem Spenderorganismus genetisch ident ist. Da ist der Schritt zum reproduktiven Klonen nicht mehr weit, dazu später. An dieser Stelle der Arbeit ist nur so viel zu sagen: Wenn ein Mensch ein Mensch ist, in dem Moment in dem Samen und Eizelle eins werden, ist dann die Ausschlachtung der entstehenden Blastozyste schon Mord? Hat nicht vielleicht der Mensch (Spender) das Recht über sein eigenes Leben, also das des Klons frei zu entscheiden, oder ist der Klon jemand anders?

Abbildung 3: Die Blastozyste (4. bis 6. Tag nach der Befruchtung)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: <http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Blastozyste.svg>

Als embryonale Stammzellen gelten

- die befruchtete Eizelle (Zygote)
- die Blastomeren (durch Furchung entstandene Zelle noch vor der Blastozyste)
- die Embryoblastzellen
- die primordialen Keimzellen (diploide („unreife“) Keimzellen)

2.3 Murine embryonale Stammzellen (mESZ)

Ein Vergleich muriner und humaner Stammzellen findet sich in der Tabelle 1 (s.u.).

In den 50er Jahren begann die Erforschung der Präimplantationsembryologie an Säugetieren, d.h. die Forschung mit und an Blastozysten noch vor der Einnistung (Implantation, Nidation) in die Gebärmutter. Diese Studien standen in direktem Zusammenhang mit der ab etwa 1962 aufkommenden künstlichen Befruchtung (In-vitro-Fertilisation oder IVF). Im Rahmen dieser Studien entdeckte man, zufällig, dass Zellen der inneren Zellmasse von Blastozysten eine erstaunliche Differenzierungspotential enthalten.

Wegweisend war hier der am Edinburgher Institut für Tiergenetik tätige Forscher Robert Edwards, der in den 1960er Jahren erstmals Differenzierungsvorgänge von Zellen in vitro untersuchte. Seine Versuchstiere waren zunächst Kaninchen (vgl. Wormer 2003).

Ihm gelang es erstmals „Zelllinien“ zu kultivieren.

In der Folge wurden Versuche mit Mausembryonen in verschiedenen Entwicklungsstadien (bis zum 16-Zellstadium) durchgeführt und schließlich sogar durch Zelltrennung und Zellfusion Maus-Chimären (zwei verschiedene Genome in unterschiedlichen Teilen eines Mausorganismus, Mischwesen) erzeugt.

1981 wurden dann erstmals von Evans und Kaufmann murine ES-Zellen aus der ICM von intakten Blastozysten (bei der Maus entspricht das dem vierten Tag nach der Befruchtung) etabliert.

Seitdem wurden die Verfahren permanent verbessert und erweitert. Heute ist, aufgrund zahlreicher kommerzieller Anbieter etablierter ES-Zelllinien für die Forschung die eigene Erzeugung von mESZ nur dann nötig, wenn keine geeigneten Zelllinien vorliegen.

Interessant für die Forschung, insbesondere im Hinblick auf prospektive Möglichkeiten in der medizinischen Anwendung, ist natürlich welche potentiellen Produkte man mit den gewonnenen Erkenntnissen herstellen kann. Bisher gelang es die existierenden Zelllinien in folgende Zelltypen zu differenzieren (z.B. Wormer 2003, S. 57 f.):

- Blutzellen
- Endothelzellen (Gefäßzellen)
- Chondrozyten (Knorpelzellen) und Osteoblasten (Knochenzellen)
- Muskelzellen (glatte, quergestreifte und auch Herzmuskelzellen)
- Epithelzellen (Hautzellen)
- Adipozyten (Fettzellen)
- Hirn- und Nervenzellen
- insulinproduzierende Zellen
- Dottersackzellen
- Hepatozyten (Leberzellen)

Dass murine ES-Zellen in vivo grundsätzlich in der Lage sind alle Zelltypen zu bilden konnte über die Methode der Blastozysteninjektion mit anschließender Keimbahnbesiedlung gezeigt werden. Hierfür werden die Zellen in vitro genetisch modifiziert und wieder in eine Blastozyste injiziert. Überleben diese Blastozysten eine Transplantation in scheinschwangere Mäuse, entstehen daraus sogenannte Mosaikmäuse (Chimäre, s.o.).

Um einen Einfluss der benachbarten Zellen der Blastozyste auszuschließen, wurden ES-Zellen mit Zellen aus dem Trophoblast tetraploider Embryonen zusammengebracht. Da tetraploide Zellen nicht an der Embryonalentwicklung teilnehmen können, musste der entstehende Organismus ausschließlich aus den ES-Zellen bestanden haben (s. auch Hochedlinger 2006, S. 1063).

Aber wann kann ein Forscher sicher sein embryonale Stammzellen vor sich zu haben?

2.3.1 Charakterisierung mESZ

(nach Badura-Lotter 2005)

Eine weitere Schwierigkeit der Forschung ist es Zellen, an denen man forschen möchte, eindeutig als embryonale Stammzellen zu klassifizieren. Anhand muriner ES-Zellen wurde eine Richtlinie herausgearbeitet, an der sich heute noch jede potentiell zu beforschende Zelle messen muss.

Herkunft und Kultivierung

ES-Zellen müssen aus einer pluripotenten (embryonalen) Zellpopulation etabliert werden.

Proliferation, Wachstumsrate, Generationszeit, Zellzyklusphasen

ES-Zellen müssen „unsterblich“ sein, d.h. sie müssen theoretisch unbegrenzt in undifferenziertem Zustand vermehrt werden können, sind zur Regeneration fähig und zeigen keine Seneszenz (Verlust der Teilungsfähigkeit durch Zellalterung). Die selbsterneuernde Teilung muss asymmetrisch erfolgen, d.h. es entstehen eine Stamm- und eine Tochterzelle, nicht zwei identische Tochterzellen. Inzwischen ist dies kein eindeutiges Kriterium für ESZ mehr. Morrison & Kimble (2006) fanden heraus, dass Stammzellen offensichtlich in der Lage sind sich sowohl asymmetrisch, als auch symmetrisch zu teilen. Die Art der Teilung richtet sich dabei wahrscheinlich nach den Erfordernissen am Ort der Teilung. Gewebeheilung oder Entwicklung erfordert anscheinend symmetrische Teilung, während Selbsterneuerung (self-renew) asymmetrische Teilung bedingt. Sie postulieren ebenfalls, dass ein Fehler im Wechsel von asymmetrischer zu symmetrischer Teilung oder andersherum ein Symptom von Krebs sein könnte. Inwieweit diese Fehler direkt mit dem Alter korrelieren und vor allem welche molekularen oder anders gearteten Bestandteile, für die Regulation der Teilung verantwortlich sind, bleibt noch herauszufinden, aber eine Antwort in diesem Bereich könnte einen weiteren Schritt in Richtung erfolgreicher Krebstherapie bedeuten. Über diesen Prozess, so er denn ergründet werden kann, wäre dann auch eine direkte Kontrolle des therapeutischen Einsatzes möglich. Man stelle sich vor, man müsste nur eine Zellsuspension mit dem entsprechenden Medium auf eine Wunde träufeln und schon würde die Heilung einsetzen. Im Moment noch fiktiv, aber wer weiß, was die Zukunft bringen wird?

Die Generationszeiten von ES-Zellen sind relativ kurz (12 – 16 h gegenüber 36 – 48 h bei Primärkulturen somatischer Zellen) und die G1-Phasen („Gap“-Phasen der Mitose) sind signifikant kürzer als bei differenzierten Zellen.

Klonierung

Aus einer einzelnen ES-Zelle kann eine ganze Zelllinie durch Klonierung etabliert werden. So kann ausgeschlossen werden, dass sich eventuell pluripotente Zellen in eine Kultur „eingeschlichen“ haben, wodurch eine Aussage über das effektive Entwicklungspotential der ES-Zelle unmöglich wäre.

Morphologische Eigenschaften

Das wichtigste Merkmal ist ein hohes Kern-Zytoplasma-Verhältnis.

Genetische Parameter

Ein großes Problem im Zusammenhang mit der Kultivierung von ES-Zelllinien ist die Mutationsfrequenz der Zellen. Nach einer nicht näher bestimmbaren Zeit treten im Genom spontan Mutationen auf, die eine weitere Verwendung dieser Kulturen unverantwortbar machen. Kontrolluntersuchungen vor einer Verwendung von Zelllinien sind so unbedingt erforderlich, insbesondere wenn ES-Zellen in klinischen Versuchen verwendet werden sollen.

Für murine ES-Zellen konnten eine Reihe von embryonalen Markern (i.d.R. keimbahnspezifische Transkriptionsfaktoren) ermittelt werden, die scheinbar den undifferenzierten Status der ES-Zellen erhalten. Zur eindeutigen Klassifizierung eignen sie sich dennoch nicht, da keiner von ihnen allein spezifisch für ES-Zellen ist, sondern diese ebenfalls in anderen Zelltypen finden lassen.

Biochemische, serologische und Zelloberflächenmarker

Eine Theorie der Zellalterung ist der sukzessive Telomerabbau. Telomere bezeichnen sich vielfach wiederholende Sequenzen am Ende eines Chromosoms. Bei jeder Replikation werden die Enden der Chromosomen verkürzt und die Telomere, die keine genetische Information enthalten, verhindern eine Beschädigung der DNA (s. z.B. Campbell 1996). Das Enzym Telomerase (Reverse Transkriptase) kann diesen Alterungsprozess aufhalten bzw. mildern und weist demzufolge in ES-Zellen eine hohe Aktivität auf. Ebenso das Enzym alkalische Phosphatase. Ein Glykolipid der Zelloberfläche (SSEA-1) ist ebenso charakteristisch für undifferenzierte murine ES-Zellen.

Differenzierungspotenzial

Da ES-Zellen pluripotent sind, müssen sie in vivo und in vitro spontan in Derivate aller drei Keimblätter differenzieren können. Der Nachweis erfolgt über ektopische (ortsfremde) Injektion der ESZ in ein adultes Tier, wo sie Teratome oder Teratokarzinome ausbilden. Die Möglichkeit in alle drei Keimblätter zu differenzieren, schließt auch eine Keimbahnkompetenz (Entwicklung in Zellen der Keimbahn) mit ein. Dieser Nachweis erfolgt über Injektion in Blastozysten und anschließende Transplantation in scheinschwangere Mäuse, eine Methode, durch die auch transgene Mäuse hergestellt werden (vgl. Campbell 1996).

2.4 Humane embryonale Stammzellen (hESZ)

Wiederum im Zusammenhang mit der Entwicklung der künstlichen Befruchtung (In-vitro-Fertilisation, IVF) konnte verstärkt an menschlichen ES-Zellen geforscht werden. Bei der IVF werden in der Regel mehrere Eizellen befruchtet, in Deutschland nur so viele, wie für einen Zyklus vorgesehen sind (vgl. EschG § 1, Satz 3 und 5), und in die Gebärmutter transplantiert. In andern Ländern, so z.B. England, werden mehrere Eizellen befruchtet, und zwar so viele, wie nach dem Stand der Wissenschaft für eine erfolgreiche IVF hinreichend sind (etwa zwei Drittel aller Embryonen sterben vorzeitig, im „natürlichen“ Verlauf oft unbemerkt, ab), wobei nur diejenigen implantiert werden, die für die IVF geeignet erscheinen. Somit bleiben Embryonen übrig, die kryokonserviert werden können, sogenannte „überzählige“ Embryonen (vgl. abweichend Wormer 2003, S. 51).

Edwards begann bereits 1971 mit Versuchen Stammzellen aus solchen überzähligen Blastozysten zu isolieren, um daraus Zelllinien zu etablieren. Ende der 1980er Jahre, als die Forschung an humanen ES-Zellen deutlich zunahm und schon mehrere hundert überzählige Embryonen zur Verfügung standen, setzte erstmals eine Diskussion ein, die sich mit der ethischen Fragwürdigkeit der Forschung an humanen Embryonen beschäftigte.

In England wurden daraufhin alle Projekte die sich mit diesem Thema auseinander setzten unterbrochen. Anfang der 90er Jahre vernichtete man sogar große Teile der einstmals eingefrorenen Embryonen, um juristische Konsequenzen zu vermeiden, wenn möglich mit Zustimmung der Eltern.

Bereits 1994 wurden erste Versuche publiziert, die sich um die Etablierung von humanen Stammzelllinien bemühten. Und schließlich gelang Thomson et al. 1998 erstmals die Isolierung und Kultivierung menschlicher Stammzellen (Thomson et al. 1998a. In: Badura-Lotter 2005).

Da die von Ihnen benutzten Primaten-ES-Zellen nur einige der Standards zur Charakterisierung von ES-Zellen erfüllten, änderten sie die Kriterien wie folgt:

Drei essenzielle Kriterien zur Charakterisierung von Primaten-ES-Zellen

(nach Thomson et al. 1998. In: Badura-Lotter 2005, S. 40):

- Herstellung aus einem Embryo in der Prä- oder Peri-Implantationsphase
- Überdauernder undifferenzierter Zustand mit Erhalt der Proliferationsfähigkeit
- Fähigkeit auch nach langer Kulturzeit in Derivate aller drei Keimblätter zu

differenzieren

Über eine Reihe weiterer Untersuchungen ist es inzwischen möglich geworden, humane ES-Zellen genauer zu klassifizieren. Einige Merkmale haben sie mit den murinen ES-Zellen gemein, in anderen unterscheiden sie sich deutlich.

2.4.1 Vergleich zu mESZ

Siehe auch Tabelle 1

Herkunft und Kultivierung

ES-Zellen werden beim Menschen aus der Blastozyste (entsteht am 3. – 4. Tag) in der Regel am 6. Tag nach der Befruchtung entnommen. Da der Embryo sich bei ungestörtem Entwicklungsverlauf in der Phase der Einnistung befindet, spricht man hier von einem Peri-Implantationsembryo. Die Kultivierung erfolgt ähnlich wie bei der Maus mit wenigen zentralen Abweichungen im Ablauf beziehungsweise in der Zusammensetzung des Kulturmediums. Eine besondere Bedeutung für die dedifferenzierende Wirkung kommt dabei dem sogenannten Leukaemia Inhibitory Factor (LIF) zu (vgl. Badura-Lotter 2005, S. 32, Fn. 39 und S. 42, Fn. 59).

Um menschliche ES-Zellen im undifferenzierten Zustand zu erhalten, muss man bis dato noch auf feeder-Zellen (vgl. Badura-Lotter 2005, S. 32) von Mäuseembryonen zurückgreifen. Da dies aber eine potentielle Gefahrenquelle, durch Übertragung endogener Viren von den Mauszellen auf den Menschen bei Xenotransplantationen bedeutet, ist man sehr bemüht, einen adäquaten Ersatz zu finden, was aber bisher noch nicht gelungen ist. Eine Möglichkeit wäre es, humane ES-Zellen auf humanen feeder-Medien zu kultivieren, aber hierfür ist zunächst eine Konditionierung auf fötalen feeder-Zellen notwendig, was das Töten weiterer Föten notwendig machen würde.

Proliferation, Wachstumsrate, Generationszeit, Zellzyklusphasen

Die Generationszeit humaner ES-Zellen erscheint nach bisherigen Befunden relativ lang (ca. 35 h). Über die genauen Ursachen können aufgrund der geringen Datenlage noch keine Informationen gegeben werden.

Klonierung

Die Klonierung menschlicher ES-Zellen ist ungleich schwieriger als bei murinen ES-Zellen.

Morphologische Eigenschaften

Humane ES-Zellen bilden monolayer-Kulturen, während murine ES-Zellen eher zu kugeligen Gebilden heranwachsen.

Genetische, biochemische und serologische Marker

Es konnten mehrere embryonale molekulare Marker sicher nachgewiesen werden. Deutliche Unterschiede bestehen in der Exprimierung serologischer Marker, wobei über die Bedeutung dieser Unterschiede noch keine Aussagen gemacht werden können. Aber im Hinblick auf diese Differenzen kann davon ausgegangen werden, dass eine direkte Übertragung von Erkenntnissen aus muriner ES-Zellforschung auf humane ES-Zellforschung nicht möglich ist.

Ein weiterer besonders für die potentielle Anwendung in der Transplantationsmedizin interessanter Aspekt ist die Expression von sogenannten MHC-Proteinen, die für die immunologischen Reaktionen in Organismen verantwortlich sind.

Differenzierungspotential

ES-Zellen bilden in Kulturmedium sogenannte embryoid bodies (EBs) (vgl. Wormer 2003, S. 57), d.h. sie sind kleine Embryonen. Je nach Kulturmedium (Proliferations- bzw. Differenzierungsbedingungen) können sich Keimblätter entwickeln. Hierin wird eine große Chance für die Erforschung der embryonalen Entwicklung von Primaten gesehen. Voraussetzung ist allerdings, dass es gelingt EBs zu einer normalen Entwicklung in vitro anzuregen.

Eine besondere Fähigkeit von humanen ES-Zellen ist die spontane Differenzierung in Trophoblastzellen. Dadurch eignen sie sich als In-vitro-Modell für die Plazenta-Entwicklung.

Es gelang über Versuche mit verschiedenen Wachstumsfaktoren in vitro neuronale Vorläuferzellen zu differenzieren, d.h. Zellen, die der ektodermalen Linie entstammen, die in vivo (Mäuse) Teile vom Hirn formten und vollständig differenzierten, ohne Teratome, oder sonstige pathologische Veränderungen zu entwickeln. Diese und andere Versuche machten deutlich, dass sich tierische Embryonen als Entwicklungsmodell für humane ES-Zellen in vivo eignen.

In vitro Versuche mit Zellen mesodermaler und endodermaler Herkunft zeigten ein Entwicklungspotential u.a. zu Kardiomyozyten bzw. Insulin produzierenden Zellen.

Tabelle 1: Eigenschaften pluripotenter ES-Zelllinien von Maus und Mensch *)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: DFG 2003

2.5 Embryonale Keimzellen (EGZ)

Embryonale Keimzellen (embryonic germ cells) stammen aus den primordialen Keimzellen des späten Embryonal- oder frühen Fetalstadiums (siehe Abb. 1). Diese entspricht etwa der fünften bis elften Schwangerschaftswoche (Schamblott et al. 1998, 2001 nach DFG 2003).

Zu ihrer Gewinnung sind abgetriebene (induzierter Abort) Föten notwendig.

Erst 1992 wurden unbegrenzt vermehrungsfähige Stammzellen dieser Art beschrieben. Die erste Kultivierung von EG-Zellen des Menschen wurden 1998 durch Schamblott et al. (1998) publiziert (s.o.).

EGZ zeigen ähnliche Charakteristika wie die humanen ES-Zellen, unterscheiden sich aber zum Beispiel in der Expression von Zelloberflächenmarkern. Eine Etablierung von EG-Zellen aus EBs ist leichter möglich als bei ES-Zellen und die entstehenden Zellen differenzieren nach ektopischer (extrauteriner) Transplantation nicht in Tumore. Morphologisch ähneln humane EG-Zellen eher murinen ES- und EG-Zellen als humanen ES-Zellen, demzufolge wachsen sie auch zu kugeligen Gebilden aus und bilden keine monolayer-Kultur (s.o.).

Ein besonderer Unterschied liegt im sogenannten genetischen Imprinting (vgl. Knippers 2001). Parentales Imprinting ist dafür verantwortlich, dass im Organismus in somatischen Zellen von einzelnen Genen jeweils nur das mütterliche oder das väterliche Allel exprimiert wird (sehr umfassend dazu: Gilbert 2006). Diese Hemmung des jeweils anderen Allels geschieht über eine Methylierung der DNA. Methylierung ist ein hochspezifischer Prozess, der in der Keimentwicklung zu bestimmten Zeitpunkten vollständig aufgegeben wird, in den späteren Zellen aber wieder vorhanden ist. Der genaue Ablauf des Mechanismus ist noch ungeklärt, es scheint aber erwiesen, dass ein fehlerhaftes Imprinting beim Menschen zu pathologischen Erscheinungen führt (siehe z.B. Kato et al. 1999. In: DFG 2003, S. 13). Wenn aber EG-Zellen ein Imprinting aufweisen, könnten sie sich ebenso wie humane ES-Zellen für die Transplantationsmedizin eignen.

2.6 Embryonale Karzinomzellen (ECZ)

Embryonale Karzinomzellen (von ECC, embryonic carcinoma cells) sind Stammzellen von Teratokarzinomen. Teratome und ihre malignen Entartungen, die Teratokarzinome, sind beim Menschen schon sehr lange bekannt (möglicherweise seit dem 9. Jh. vor Christus) und zählen zu einer ganzen Reihe von Keimzell-Tumoren. Sie bilden spontan und chaotisch Zellen und Gewebe aller drei Keimblätter aus. Häufig finden sich Haare, Zähne und andere überraschend komplexe anatomische Strukturen in ihnen (vgl. Wikipedia, 02.11.2006).

Dies bedeutet, gelänge es das unkontrollierte Wachstum zu bändigen, könnte man immunologisch und vor allem ethisch unbedenkliche „Ersatzteillager“ schaffen.

Murine EC-Zellen gelten als robuster und einfacher in der Handhabung unter anderem auch deshalb, weil ihre Generationszeit (zwei Stunden vs. vier bis sechs Stunden) sehr viel kürzer ist, als die von EG- und vor allem ES-Zellen, was sie vielleicht weniger anfällig für mutagene Substanzen und Viren macht. Humane EC-Zellen haben eine Zellverdopplungszeit von ca. 26 Stunden, sind damit deutlich langsamer, aber anscheinend nicht weniger effizient.

Ihre Klonierung gelingt dafür ohne weiteres. Es existieren bereits mehrere Zelllinien.

EC-Zellen weisen meist einen aneuploiden Karyotyp auf, d.h. sie besitzen keinen normalen diploiden Chromosomensatz. Je länger diese Zellen in Kultur gehalten werden, desto häufiger scheinen diese aberranten Chromosomensätze und andere Mutationen aufzutreten.

Dennoch gibt es auch einzelne Linien, die weitestgehend einen diploiden Chromosomensatz erhalten. Einigen Gruppen scheint es gelungen zu sein, murine EC-Zellen aus EBs gezielt in ausdifferenzierte Neuronen zu differenzieren (z.B. Nakao et al. 2000. In: Badura-Lotter 2005). Diese Gruppe konnte Nervenzellen erzeugen, die nach Transplantation in Ratten mit Parkinson-Syndrom sowohl das transduzierte Gen exprimierten, ein neurotropher Wachstumsfaktor (glial cell line-derived neurotrophic factor, GDNF), als auch das weitere Absterben dopaminerger Neuronen des Empfängertiers unterbanden. Dies ist deswegen interessant, weil, sollte es gelingen das Gleiche mit humanen EC-Zellen zu bewerkstelligen, ein großer Schritt in Richtung Heilung der Parkinson-Krankheit getan wäre.

[...]

Ende der Leseprobe aus 132 Seiten

Details

Titel
An der Schwelle zur Vermessenheit? Ein Stammzell-Diskurs
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Note
1,5
Autor
Jahr
2006
Seiten
132
Katalognummer
V87747
ISBN (eBook)
9783638033107
ISBN (Buch)
9783638929615
Dateigröße
1220 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schwelle, Vermessenheit, Stammzell-Diskurs
Arbeit zitieren
Nikolaus Kittner (Autor:in), 2006, An der Schwelle zur Vermessenheit? Ein Stammzell-Diskurs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87747

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