Damals Mädchen - Heute Frauen. Adoleszenzverläufe in der Rückerinnerung von Frauen aus der DDR, die zur Zeit der Wende junge Erwachsene waren


Magisterarbeit, 2001

161 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Die Fragestellung
Aufbau der Arbeit
Methode 11 Vorbereitung und Vorüberlegungen
Die Interviews

1 Die psychosexuelle Entwicklung des Mädchens
1.1 Begriffsklärung: Autonomie und Bindung
1.1.1 Das „Gegenmodell“ zur traditionellen Begriffsfassung
1.1.2 Mein Verständnis von Autonomie und Bindung
1.2 Die Phasen der psychosexuellen Entwicklung
1.2.1 Der Weiblichkeitsentwurf von Freud
1.2.2 Neuere Ansätze von Psychoanalytikerinnen zur weiblichen Identifikation
1.2.3 Mutter und Mädchen in der analen Phase und die Wiederannäherungsphase
1.2.4 Die Rolle des Vaters in der frühen Triangulierung
1.2.5 Identifikationsmuster des Mädchens in der prä-ödipalen Phase
1.2.6 Das Mädchen in der Adoleszenz Zusammenfassung

2 Weibliche Adoleszenz in der patriarchalen Kultur
2.1 Adoleszenz und Kultur
2.2 Abschied von der Kindheit
2.3 Erste Menstruation­ – warum darf es kein Fest sein?
2.4 Das andere Bild der Weiblichkeit

3 Drei Frauen erinnern sich - Adoleszenzverläufe in der Rückerinnerung
3.1 Anna, Britta und Claudia – jede anders und doch drei Frauen
3.1.1 Anna - „eigentlich war es eine tolle Zeit, weil man sich erstmals so bewusst wahrgenommen hat“
3.1.2 Britta - die ganz andere, als die eigene Mutter
3.1.3 Claudia – auf dem Weg zu sich selbst
3. 2 Auswertung der Interviews und der Prozeß der Erkenntnisgewinnung
3.2.1 Der emotionale Beistand der Mütter
3.2.2 Der ambivalente Weg zur Frau
3.2.3 Auf dem Weg zu sich selbst Zusammenfassung Ein Lachen in die Zukunft

Literaturverzeichnis

Anhang

Die Interviews im Original - transkribierteTonbandaufnahmen
Anna
Britta
Claudia

Einleitung

In der Einleitung will ich die Fragen, die mich in dieser Arbeit begleiten werden, formulieren,

um deutlich zu machen, was mich an diesem so vielschichtigen Thema interessiert. Des

weiteren werde ich das methodische Vorgehen und den Aufbau der Arbeit kurz erläutern.

Die Fragestellung

Mich interessiert das Leben von Frauen! Mich interessiert, wie sie ihr Leben und ihren Alltag organisieren, wie sie ihre Beziehungen leben, wie sie ihre Probleme und Aufgaben meistern, wie sie sich als Frauen begreifen.

Das Gefühl, die eigene Weiblichkeit zu genießen, die eigenen Wünsche und Möglichkeiten zu spüren und durchzusetzen, fällt vielen Frauen oft noch immer nicht leicht. Und auch wenn viele von ihnen versuchen, den „Aufbruch“ zu wagen, weg von den gesellschaftlichen Normierungen sich ein Leben zu organisieren, begegnen ihnen viele Schwierigkeiten. Immer wieder kommen die Fragen auf, ob denn der Weg in die Unabhängigkeit der Richtige sei und wie sich dieser Wunsch vereinbaren läßt, mit der Sehnsucht nach Sicherheit, Harmonie und Anerkennung.

Wie läßt sich ein selbstbestimmtes Leben meistern, sich selbst zu spüren und die eigenen Bedürfnisse durchzusetzen, ohne als „unweiblich“ abgestempelt zu werden und somit ins Abseits geschoben zu sein?

Gibt es tatsächlich nur die Wahl zwischen bequemer Anpassung, mit dem Ergebnis ein fremdbestimmtes Leben zu führen, oder dem ständigen Kampf, immer im Sturm gegen die Norm? Wie ließe es sich auf einem dritten Weg laufen?

Welche Unterstützungen können sich Frauen untereinander dazu geben und wie oft hemmen sie sich gegenseitig, weil Neid eine große Rolle spielt? Welche Wertmaßstäbe haben unsere Mütter uns mitgegeben, mit denen wir uns immer wieder überprüfen, ob wir richtig sind, oder nicht.

Sowohl in der Literatur, als auch in den zahlreichen Gesprächen, die ich mit unterschiedlichen Frauen geführt habe, ist die Beziehung zur Mutter ein sehr zentrales Thema, wenn es um die Anerkennung der eigenen Weiblichkeit geht. Denn schon bevor wir das Licht dieser Welt erblicken, wirken sie auf uns ein, führen uns ins Leben und halten uns fest. Dieses Mutter – Tochter – Verhältnis wird und muß daher die gesamte Arbeit hindurch Schwerpunkt sein und ich setze voraus, daß dem Leser dieser massive Einfluß unserer ersten Pflegeperson (was ja in der Regel die Mutter ist) mit all seinen Konflikten klar wird.

Wenn wir Töchter hinausgehen in die Welt, wie haben unsere Mütter uns darin unterstützt mit Lust Frau zu werden, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und Verantwortung zu übernehmen? Konnten sie uns darin überhaupt unterstützen oder waren sie in ihrer eigenen Selbstverleugnung gefesselt?

Wie sehen die Fesseln aus und wer hat sie den Müttern angelegt? Welchen Raum haben Frauen - Mütter in einer patriarchalen Gesellschaft, wie unserer, ihren Töchtern die lustvolle Besetzung von Weiblichkeit zu spiegeln?

Die Antwort dafür ist natürlich sehr vielschichtig und in ihrer Gesamtheit kaum zu fassen.

Auf der einen Seite spielen unsere Kultur, unsere Traditionen, unsere Mythen, unser ganzes Symbol- und Wertesystem eine große Rolle, gleichzeitig aber auch die Bilder, die wir aus frühester Kindheit von unseren Eltern übernommen haben. Und dieses Netz ist eng gestrickt!

Es scheint mir daher wichtig in dieser Arbeit zusammenzufassen, woher wir unsere Wertmaßstäbe haben, wie wir sie verinnerlichen, wie sie uns hemmen oder fördern und wie wir sie wieder nach Außen in unser Umfeld, unsere Kultur tragen, dort leben oder verändern. Das heißt also, wie bedingen die inneren und äußeren Verhaltensnormen unsere Lebensorganisation?

Mit der Beleuchtung der weiblichen Entwicklung aus theoretischer Sicht, sowie aus Erfahrungsberichten, erhalten wir Ahnungen von Antworten und bewegen uns in die Richtung der alltäglichen Umsetzung.

Ich behaupte, daß es Frauen möglich ist, bei sich selbst anzukommen, bzw. sich selbst wiederzufinden, auch wenn sie in ihrer Entwicklung all zu oft verführt worden sind, sich selbst aufzugeben. Es gibt den dritten Weg, der anders ist als Anpassung, oder Kampf ein besserer Mann zu sein.

Die Bedeutung der Adoleszenz ist in letzter Zeit genauer untersucht worden. Für Jungen ist sie die „zweite Chance“, sich ihren Platz in ihrer patriarchalen Kultur zu suchen, für Mädchen ist sie Sackgasse oder Umweg. Aber wir Frauen haben die Möglichkeit uns den Raum zu schaffen, den wir brauchen, der uns zusteht, wenn wir in der Lage sind, die gesellschaftliche Geschlechterkonstruktion in Frage zu stellen.

Für Frauen bei sich selbst anzukommen, ihren Raum zu öffnen, heißt den Umweg der Adoleszenz gehen und in einem weiteren Schritt, den eigenen Weg erkennen und anerkennen. Wie das aussehen kann, und welche Motivationen und Erlebnisse diesen Schritt bedingen können, ist die Reise, auf die ich mich mit meiner Arbeit einlassen will.

Meine eigenen Erfahrungen im Gepäck, die Ablehnung und manchmal die Wut, die ich empfunden habe, wenn ich in der Literatur so oft gelesen habe, wie wir Mädchen in unserer Adoleszenz gebrochen werden und uns selbst verlieren, all das hat mir nicht die Ruhe gelassen es so zu akzeptieren. Ich habe auf meine Stimme gehört, die mir sagte, das war nicht die letzte Chance, es gibt noch mehr. Dann habe ich den Stimmen anderer Frauen zugehört und mein Gefühl bestätigt bekommen.

Und ich habe diesen Entwicklungsweg in wenigen Worten beschrieben gefunden, bei Carol Hagemann-White :

Das selbstbewußte, eigene Kompetenzen erlebende Mädchen verliert mit dem Beginn der Adoleszenz ihr Selbst und verbringt die Jugendphase damit, dem Wunschbild ihres sozialen Umfeldes entsprechen zu wollen. Eine verunsicherte, überkritische Beziehung zu ihrem Körper verstärkt die Bereitschaft, sich der Außenbewertung zu unterwerfen (vgl. Apter, 1990). Erst als Erwachsene, wenn Liebessehnsucht und Aufopferungsphantasien enttäuscht sind, findet die Frau zum aktiven Selbst zurück. (C. Hagemann-White, 1992: 71)

Gegenstand dieser Arbeit sind Gespräche mit Frauen aus der DDR, die zur Zeit der Wende junge Erwachsene waren. Es sind Gespräche über ihre Adoleszenzverläufe.

Ich habe diese Eingrenzung vorgenommen, weil ich selbst in der DDR zu dieser Zeit groß geworden bin und somit glaube, die Sprache dieser Frauen besser verstehen zu können. Wir sind eine Generation von Frauen in einem bestimmten gesellschaftlichen System. Wir alle sind Kinder von Eltern der bürgerlichen Mittelschicht und leben seit mehreren Jahren in der Großstadt.

Ich beziehe mich auf diese Frauen, habe sie als Untersuchungssubjekte für meine Arbeit ausgewählt, weil sie mir einerseits zum Verständnis nahe sind und ich bei ihnen Antworten auf die Frage meiner Arbeit vermute.

Und ein Stück weit war das Bild der Frauen in der DDR, speziell das Bild der Mütter ein anderes, zumindest mit anderen Farben gemalt.

Es geht mir jedoch in dieser Arbeit nicht darum, einen Vergleich von „Ost“- und „West“ -Frauen vorzunehmen, auch nicht darum, einen Querschnitt der DDR - Normalbiographie zu beschreiben. Dafür ist das System der DDR zu lange her, und die Rückerinnerung verzerrt einiges.

Und natürlich sind die Unterschiede nicht gravierend, denn sowohl „Ostfrauen“, als auch „Westfrauen“ sind sozialisiert in der patriarchalen Kultur.

Dennoch finde ich es spannend, was die Frauen sich mitgenommen haben, die von einem System in ein anderes gewechselt sind, noch dazu für sie in einer Zeit der individuellen Veränderungen und Orientierungen. Und an ihnen möchte ich den mir Mut machenden Gedanken verdeutlichen, an den dritten Schritt, das sich selbst finden jeder einzelnen Frau, der hoffentlich eines Tages die Sprengung der „Sackgasse“ und des „Umweges“ (Brown / Gilligan 1992) möglich werden läßt, wenn wir uns unsere aktiven Handlungsmöglichkeiten bewußt machen, um damit die Generation unserer Töchter in ihrer Weiblichkeit besser unterstützen zu können.

Aufbau der Arbeit

Im Anschluß an die Einleitung habe ich den Hauptteil dieser Arbeit in drei Teile gegliedert. Das Nachwort schließt die Arbeit ab.

Im ersten Teil behandle ich die psychosexuelle Entwicklung des Mädchens, anhand von psychoanalytischen Theorien. Ich orientiere mich dabei stark an dem Buch von Tamara Musfeld: „Im Schatten der Weiblichkeit“. Zentral dabei ist mir der Schwerpunkt der Autonomieentwicklung des Mädchens, die Klärung des Verständnisses von Autonomie und Bindung, was in seiner Polarisierung hemmend auf die weibliche Entwicklung wirkt. Hierbei spielt die Mutter und Mutterfigur eine große Rolle, da es hauptsächlich um die frühkindliche Entwicklung, das Erleben infantiler Sexualität und Phantasien, den Einfluß der ersten Pflegeperson geht.

Schritt für Schritt will ich die innerpsychischen Prozesse aufzeigen, um auf die Schwierigkeiten zu verweisen, die auftauchen, wenn man glaubt, daß es ausreichend sein könnte, allein über das reale Außen die weibliche Identitätsbildung zu verstehen. Es ist sowohl das innere Erleben, als auch das Äußere, was unsere Entwicklung beeinflußt.

Da die psychoanalytischen Theorien in meinen Augen dafür sehr schöne Erklärungsmodelle liefern, die innerpsychischen Prozesse anschaulich werden zu lassen, argumentiere ich hauptsächlich aus dieser Schule.

Das Außen wird zum Schwerpunkt des zweiten Teils dieser Arbeit. Und ähnlich der Individualentwicklung werde ich nach der frühen Kindheit hier das Adoleszenzerleben und den Einfluß der Kultur stärker beleuchten. Was passiert in dieser Zeit mit den Mädchen, was erwartet sie in unserer bestehenden Kultur, was bedeutet es, die alten familiären Strukturen neu zu definieren, wie wird der „Sturm“ erlebt und welche Möglichkeiten bietet er?

Diese Fragen will ich vorerst ganz allgemein klären und anschließend das andere Bild oder Verstehen von Weiblichkeit in der DDR, so wie ich es erlebt und verstanden habe, aufzeichnen.

Im dritten Teil werde ich die Frauen sprechen lassen, die ich interviewt habe, die mir aus ihrer heutigen Perspektive Geschichten aus ihrer Adoleszenz erzählt haben. Ich werde sie in gekürzter Form, verwoben mit meiner Perspektive darstellen, um sie anschließend detaillierter auszuwerten. Die ungekürzten, transkribierten Interviews setzte ich in den Anhang, um dem Leser die Möglichkeit zu geben, ihnen vollständig „zuzuhören“. In allen drei Geschichten steckt sehr viel Lebendigkeit, die berührt, die traurig macht, aber auch Kraft spendet. Sie beleben die beiden ersten theoretischen Teile dieser Arbeit, machen das dort Gesagte fühlbar und verstehbar.

Mit dem Nachwort möchte ich diese Reise abschließen und den Prozeß beschreiben, den ich im Zuge dieser Arbeit durchlaufen habe, an dessen Ende ich dann jedoch noch lange nicht sein werde.

Methode

Vorbereitung und Vorüberlegungen

Bevor ich den ersten Satz dieser Arbeit geschrieben habe, habe ich sehr viel gelesen. Angefangen bei theoretischer Literatur bis hin zu Erfahrungsberichten und Lebensgeschichten von Frauen. Beides war mir wichtig und ist deshalb auch Bestandteil dieser Arbeit. Die Lebensberichte von Frauen waren nicht nur interessant, sondern sehr ergiebig, da sie mich sensibilisiert haben, meine eigene Stimme zu hören. An ihnen sind Gefühle, Stimmungen und Erlebnisse wach geworden. Vieles kam mir sehr bekannt vor, vieles hat mich betroffen gemacht und oft spürte ich Abwehr in mir und Unbekanntes. Aus diesem Grund möchte ich in dem dritten Teil dieser Arbeit Frauen zu Wort kommen lassen, mit denen ich gesprochen habe.

Die theoretische Literatur hat mir geholfen, Phänomene zu verstehen und sie zu erklären, wachgewordene Gefühle bewußt zu machen. Sie hat mir auch die Angst genommen und oft Gelassenheit gegeben, Ambivalenzen zu ertragen. Immer wieder neue Fragen haben mich beschäftigt und mich in neue „Gedankenräume“ geführt. Hauptsächlich habe ich mich mit psychoanalytischen Erklärungsmodellen beschäftigt, da mir dieser Ansatz besonders wichtig erscheint, die innerpsychischen Prozesse und die unbewußten Anteile unseres Handelns und Erlebens zu verstehen. Dabei habe ich mich mehr mit den modernen, feministischen Autorinnen beschäftigt, da diese einen starken Bezug zu den heutigen gesellschaftlichen und kulturellen Konstruktionen herstellen.

Die Interviews

Um Erkenntnisse für meine Arbeit zu gewinnen, habe ich mich für die qualitative Sozialforschung entschieden. Eine rein empirische Datenerhebung erschien mir nicht sinnvoll und kaum ergiebig für mein Thema, welches so sehr am subjektiven Erleben interessiert ist.

Ich habe qualitative Interviews geführt. In der qualitativen Sozialforschung steht das Subjekt im Zentrum der Untersuchung und es gilt die subjektiven Sichtweisen des Interviewten genau zu verstehen und zu erkennen, um daraus Schlüsse ziehen zu können. Die subjektive Wirklichkeit ergibt hier die Daten für den Erkenntnisprozeß.

So habe ich drei narrative Interviews geführt und mich sowohl bei der Datenerhebung, als auch bei der Auswertung der Daten an dem Aufsatz von Eva Jaeggi und Angelika Faas: „Denkverbote gibt es nicht!“ (P&G 67/68, 17.Jg., 93, 3 /4) orientiert. Ganz kurz möchte ich diese Schritte hier erläutern.

Jedesmal war ich aufs Neue erstaunt, wie lebhaft die Geschichten aus den Frauen heraussprudelten, auf meine Bitte, mir Geschichten aus ihrer Adoleszenz zu erzählen. Fragen stellte ich erst im zweiten Drittel der Interviews, um Gesagtes genauer zu verstehen.

Alle drei Interviews habe ich auf Tonband mitgeschnitten und anschließend transkribiert. Sowohl vor, als auch nach den Interviews habe ich mir meine Eindrücke, Gedanken und Gefühle über die Gesprächssituation aufgeschrieben.

Das diente der besseren Erinnerung und des besseren Verstehens, denn auch Jaeggi und Faas weisen darauf hin, daß mit der Transkription, also der statischen Textwerdung einer Geschichte, ein Teil der Lebendigkeit bereits verloren geht. Andererseits wird das Material so übersichtlicher. Ich habe sowohl an den Texten gearbeitet, aber auch immer wieder meine Gedanken, Ideen und Interpretationen beim Hören der Tonbandaufnahmen aufgeschrieben. Ich habe sie oft und gerne gehört.

Zirkuläres Dekonstruieren nennen Jaeggi und Faas ihre Methode der qualitativen Auswertung. Damit meinen sie ein Herumkreisen um den vorhandenen Text, aus immer anderen Perspektiven wird der Text beleuchtet, auseinandergenommen und wieder neu zusammengesetzt. So kristallisieren sich die Sinngehalte heraus.

In der Interviewsituation ist absolute Offenheit und gleichschwebende Aufmerksamkeit wichtig, um allen Schwingungen folgen zu können. Gleichzeitig ist die Fragestellung immer präsent, die so breit gestellt sein sollte, daß sie einen großen Spielraum ermöglicht und keine vorgefertigten Ansichten enthält. Das Erkenntnisinteresse soll also bei dem Untersuchungssubjekt liegen. Nicht anders herum, daß der Forscher sucht, seine Theorien und Erkenntnisse dem Untersuchungssubjekt aufdrängen zu wollen, indem er es in bestimmte Richtungen drängt.

Und auch sofort nach dem Interview sollte wieder notiert werden, welche Einfälle, Ideen, Gedanken und Gefühle sich auf das geführte Interview beziehen, um die spätere Auswertung zu erleichtern, sowie wichtig werdende Aspekte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Nach der kommunikativ gewonnenen Datenerhebung erfolgt der Prozeß der Auswertung. Hier schlagen Jaeggi und Faas eine in sechs Schritten unterteilte Vorgehensweise vor, die der Spontaneität und Kreativität mit dem Material den Vorrang lassen soll, statt ewigem durchdetaillierten Suchen.

Die Überschrift bildet eine Aussage aus dem Text, oder eine eigene Formulierung, um somit grob den Sinngehalt festzuhalten und die schnellere Zuordnung zu ermöglichen.

Die Nacherzählung strafft das Material und ermöglicht erste Interpretationsansätze, da hier bereits Schwerpunkte gesetzt werden. Ist ein Forscherteam vorhanden, sollte die Nacherzählung von allen angefertigt werden, um alle subjektiven Schwerpunkte zu erfassen.

Hier kann bereits entschieden werden, ob die Auswertung sich eher an der interaktiven Produktion des Textes orientiert, oder an seinen Sinngehalten.

Im Stichwortkatalog werden wichtige und gehaltvolle Begriffe chronologisch aufgelistet, um den Text weiter zu straffen. Hierbei muß nicht wirklich der gesamte Text durchgegangen werden, ausreichend sind einige Seiten am Anfang, in der Mitte und am Ende. So entsteht eine erste Strukturierung, die dem Verstehen dienlich sein soll.

Der Themenkatalog faßt die im Stichwortverzeichnis enthaltenen Begriffe nun unter bestimmten Themenbereichen zusammen, die in ihren Sinngehalten ähnlich sind. Man kann hier schon die Bildung von „Vor-Kategorien“ sehen und dies in Beziehung setzen mit den Prä - und Postskripten. Dabei kommen bereits die „sensibilisierenden Konzepte“ zum Tragen, die über die Meinungen, Theorien und Erlebnisse die Urteilsbildung beeinflussen (vgl. Jaeggi & Faas).

Die Paraphrasierung - Nacherzählung und Themenkatalog werden hier gewissermaßen zusammengefaßt, jedoch viel stärker strukturiert. Entweder werden die Themen zu Meta-Themen zusammengefaßt, oder aber nur ein Thema wird als zentral behandelt.

Nun kommt es auf die Kategorienbildung an, die alle vorherigen Arbeitsschritte zusammenfaßt und hier bilden sich die Theoriebestandteile heraus. Diese werden deutlicher und konkreter, wenn sie mit anderen Interviews verglichen werden. Wie diese Kategorien aussehen, ist sowohl von dem Forscher, als auch von dem Interview abhängig. Der Spielraum ist groß, „richtig“ oder „falsch“ gibt es nicht. Wichtig ist, Arbeit am Text und Interpretation nicht zu verwechseln.

Nach der Auswertung der einzelnen Interviews schließt sich der Vergleich der ausgewerteten Interviews an. In einer Tabelle werden die zentralen Kategorien eingetragen und anschließend die Häufungen der Erwähnung in den jeweiligen Interviews eingetragen. Für den Erkenntnisgewinn können sowohl die besonders starken Häufungen, als auch nur die einmalige Erwähnung von Bedeutung sein. Im zweiten Schritt werden die zentralen Themen noch einmal verdichtet zu einem neuen Konstrukt. Nun wird dieses Konstrukt in Beziehung zu dem bereits ausgewerteten Material gesetzt. In dieser Rückkopplung finden wir die Zirkularität. Mit der komparativen Paraphrasierung werden die unterschiedlichen Erlebensweisen des Konstruktes sichtbar und eröffnen somit neue Dimensionen und eventuell neue Fragerichtungen.

Im Anschluß an diese Auswertungsphase werden die Ergebnisse dargestellt und diskutiert. Wichtig ist die Transparenz der Erkenntnisgewinnung. Zitate aus dem Text sind oft sehr gut, um die theoretischen Erkenntnisse anschaulicher zu machen. Weiterhin müssen die Erkenntnisse in den Theoriezusammenhang gebracht werden, ob sie bestätigen, oder widerlegen, oder ob sie vielleicht sogar noch keiner bisherigen theoretischen Annahme zuzuordnen sind.

Ich habe hier den Text von Jaeggi und Faas sehr stark verkürzt, da ich nur ansatzweise das methodische Vorgehen erwähnen wollte. Genauere Ausführungen dazu halte ich im Rahmen dieser Arbeit nicht für sinnvoll. Außerdem bleibt das methodische Vorgehen schwer verstehbar, wenn es nicht an Beispielen erläutert ist.

Ich habe diesen Text aus dem Grund hier zusammengefaßt, um diese eine Methode, unter den vielen in der qualitativen Sozialforschung, transparent zu machen und damit mein wissenschaftliches Vorgehen zu begründen

1 Die psychosexuelle Entwicklung des Mädchens

In diesem ersten Teil möchte ich die psychosexuelle Entwicklung des Mädchens, anhand psychoanalytischer Theorien und Erklärungsmodelle beschreiben. Dabei werde ich den Schwerpunkt auf die Autonomieentwicklung des Mädchens richten. Die Frage dabei ist, inwieweit schon sehr zeitig das kleine Mädchen in seiner Entwicklung gehemmt wird, weil in dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Verständnis Autonomie und Bindung polarisiert sind, wobei Autonomie den Männern zugeschrieben wird und Bindung den Frauen. Dadurch bleibt sowohl Männern, als auch Frauen der jeweils andere, wichtige Teil abgesprochen.

Mit dieser Polarisierung wird einerseits das bestehende Herrschaftssystem unterstützt, indem Männer den autonomen, machtausübenden und herrschenden Teil der Gesellschaft übernehmen und Frauen mit ihrer Bindungsfähigkeit auf die Familie, speziell auf die Pflege der Kinder und Beziehungen festgelegt werden.

Beobachten wir Autonomie und Bindung in der kindlichen Entwicklung, so läßt sich feststellen, daß diese Polarisierung tatsächlich ein gesellschaftliches Konstrukt ist.

Auf der Grundlage der Überlegungen von Tamara Musfeld (1996), die sehr genau die weibliche Autonomieentwicklung untersucht hat und herausstellt, wie eng verwoben Autonomie mit Bindung ist, wie wichtig diese Verbindung für unsere Beziehungsfähigkeit ist, möchte ich diese zentrale Bedeutung und die Wichtigkeit beides zusammen zu denken, herausstellen.

1.1 Begriffsklärung: Autonomie und Bindung

Wichtig ist mir hier, die Begriffe von Autonomie und Bindung zu klären, um Verwechslungen zu umgehen. Dabei werde ich das „Gegenmodell“ zur traditionellen Begriffsfassung, sowie mein Verständnis der beiden Begriffe behandeln.

1.1.1 Das „Gegenmodell“ zur traditionellen Begriffsfassung

Immer wieder stoßen wir auf eine sehr irritierende Verwechslung, wenn Autonomie und Freiheit mit Beziehungslosigkeit gleichgesetzt wird. Hieraus entsteht die Annahme, daß der Mensch ohne sein soziales Umfeld, nur für sich allein leben könne. Aus feministischer Sicht resultiert diese Verwechslung aus einer patriarchalen Konstruktion des Sozialgefüges, welches Erleichterung und Rechtfertigung für Männer bietet, die eigenen Interessen durchzusetzen (vgl. Musfeld, 1997: 125).

Tamara Musfeld stellt ein psychoanalytisches und tiefenpsychologisches Gegenmodell auf, indem Autonomie anders verstanden werden muß und in dem klar wird, welche zentrale Bedeutung sie für die Entwicklung des Kindes hat.

Hier geht es um die enge Verbindung und Verwobenheit von Autonomie und Bindung, die sich nebeneinander bedingen. Sie sind nicht linear zu verstehen, in dem Sinne, daß sich der Säugling, mit seiner absoluten Bindung und Abhängigkeit von den primären Objekten im Laufe seiner Entwicklung löst, um ein autonomes erwachsenes Wesen zu werden. Bindungen bleiben erhalten, auch bei dem erwachsenen Wesen, so wie auch der abhängige Säugling autonom ist.

Autonomie und Bindung sind als zwei Tendenzen, zwei Motivationen anzusehen, die gleichermaßen zu einer befriedigenden Entwicklung dazugehören, und die auf jeder Entwicklungsstufe ein spezifisches Verhältnis eingehen und ihre besondere Ausdrucksform erhalten. (...) Vorbild und Matrize für dieses umfassende Verhältnis zur Welt ist jedoch der Anfang unseres Lebens und die in den ersten Beziehungen gelernten Möglichkeiten, Bindung und Autonomie miteinander ins Verhältnis zu setzen, sowie die darauf aufbauende, fortwährende Differenzierung dieser „ Beziehungsgestalt “. (Musfeld, 1997: 126/127)

Wenn diese beiden „Grundmotivationen“ in Beziehungen gelebt werden können, so sind diese stabiler und erhalten mehr Intensität und Tiefe.

Bindung ist dabei die Basis zur Autonomieentwicklung. Im Kontakt, im sozialen Miteinander entwickelt das Kind Fähigkeiten, kann aus der absoluten Abhängigkeit herauswachsen und die Gefühle von Geborgenheit und Sicherheit ins eigene Innere integrieren. So kann sich innere Autonomie entwickeln, indem sich die inneren Strukturen stabilisieren und ein starkes Identitätsgefühl wird gebildet. Mit der Fähigkeit eigene innere Grenzen zu setzen, geht auch die äußere Autonomie einher, bei der das Gewicht auf den Möglichkeiten im Außen liegen, die es dem Menschen ermöglichen, sich in der Welt durchzusetzen und sich zu behaupten. So stehen innere und äußere Autonomie in Wechselwirkung, ebenso wie innere und äußere Bindung, die sich in einem eher passivem Geborgenheitsgefühl und dem aktivem Kontaktherstellen und Zusammenleben äußert. (Vgl. Küfner 1989: 119, in: Musfeld,

1997: 127)

Tamara Musfeld arbeitet heraus, daß Autonomie und Bindung nicht nur ihre Bedeutung in zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch Einfluß auf das gesellschaftliche Leben haben. Sie macht deutlich, daß ein starkes Identitätsgefühl eher dazu führt, eigene moralische Entscheidungen zu treffen, als sich in gesellschaftliche Normen einzupassen und einzufügen. Diese Integration von Autonomie und Bindung ist eine entscheidende Grundlage zur Selbstbehauptung, ohne sich permanent an Gruppenurteilen zu orientieren (vgl. Musfeld, 1997: 129).

Wie nun das Verhältnis von Autonomie und Bindung im einzelnen ausgestaltet wird und welche konflikthaften Formen entstehen können, beschreibt sie mit den von Küfner gewählten Bezeichnungen von „Gegenabhängigkeit“ für extremes Autonomieverhalten, sowie „Gegenautonomie“ am Bindungsverhalten.

In jedem Fall wird eine Seite der eigenen Bedürfnisse verleugnet und auch aktiv verhindert, weil es aufgrund der bisherigen Erfahrungen zu gefährlich wäre, sie zu leben. Gerade durch das Verleugnen entfalten diese Wünsche jedoch eine ungeheure Kraft, und ihr Einfluß auf die Gesamtperson steigt: Um sie am Bewußtsein zu hindern, muß als Abwehr quasi ein Damm aus genau entgegengesetzten Persönlichkeitseigenschaften errichtet werden. Im Fall von verleugneten Bindungs- und Abhängigkeitswünschen führt dies zu einem völlig unrealistischen Autonomieverhalten, wie es viele Männer an den Tag legen, im Fall von verleugneten Autonomiebestrebungen werden Bindungswünsche und Abhängigkeiten sowie die Unfähigkeit, allein zurechtzukommen, geradezu zelebriert, wie es als klassisches Klischee über weibliches Verhalten bekannt ist. (Musfeld, 1997: 130)

Es lässt sich unschwer erkennen, wie festgelegt die Norm „männlich“ und die Norm „weiblich“ ist, die es den Heranwachsenden einfach machen, sich in dem Gefüge einzufinden. Genau hierin liegt die Begründung für die Polarisierung beider Begriffe, durch das unser kulturelles Herrschaftsgefüge gestützt und aufrechterhalten wird.

Und Musfeld arbeitet heraus, daß diese Polarisierung die menschlichen Potentiale einschränkt (vgl. Musfeld, 1997: 131), und es wird daran deutlich, daß immer ein Teil zum Ganzen fehlt.

Gerade für die weibliche Entwicklung bedeutet das Festhalten an der so überbewerteten Bindungsfähigkeit eine starke Hemmung in ihren gesamten Entfaltungsmöglichkeiten. Sie bleibt auf die Beziehungsarbeit - Familie und Kinder - festgeschrieben und der Weg in die Welt wird ihr verwehrt. Daher legt Tamara Musfeld in ihrem „Gegenmodell“ besonderes Gewicht auf die weibliche Autonomieentwicklung. Da ich mich an ihren Untersuchungen orientiere, möchte ich in der folgenden Beschreibung weiblicher Entwicklung das Zusammenspiel von Autonomie und Bindung herausarbeiten. Zuvor noch ein paar Worte zu meinem eigenen Verstehen dieser Begriffe.

1.1.2 Mein Verständnis von Autonomie und Bindung

Ich habe versucht festzustellen, was für mich Autonomie und was für mich Bindung bedeutet und in welchem Verhältnis sie in meinen einzelnen persönlichen Beziehungen stehen. Anhand dessen habe ich versucht für mich greifbarer zu machen, wie eng verwoben tatsächlich beides in unseren Beziehungen ist und wie konfliktreich es wird, wenn wir nur in der Polarisierung denken.

Bindung verstehe ich als ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, Anerkennung und Vertrauen. Dabei gilt dieses Gefühl nicht nur meiner eigenen Person, sondern ich verstehe darunter auch, dieses Gefühl in meinem sozialen Umfeld zu vermitteln. Idealerweise sollte dieses Gefühl so stark sein, daß es nicht durch Verlust- und Trennungsängste irritiert wird.

Autonomie bedeutet für mich Selbstbestimmung, Ausprobieren von eigenen Fähigkeiten, Auseinandersetzung mit der „Welt“ und ihren festgeschriebenen Werten.

Indem ich die Begriffe so fasse, fällt mir auf, wie unterschiedlich das Verhältnis in meinen unterschiedlichsten Beziehungen tatsächlich ist. Wo ich Beziehungen als stabil empfinde, fällt es mir leichter eigene Forderungen zu stellen, ebenso wenn mir an einer Beziehung wenig liegt, bzw. die Anerkennung nicht so wichtig ist.

Wenn ich dagegen um eine Beziehung kämpfe, weil sie mir wichtig ist, ich sie für mein Selbstwertgefühl besonders zu brauchen glaube, dann werde ich sehr viel schwerer eigene Forderungen stellen und meine Selbstbestimmung durchsetzen wollen, weil Verlustängste mich daran hindern. Im alltäglichen Leben, im direkten Handeln finde ich es oft schwer, mir das so klar vor Augen zu führen und mir darüber bewußt zu werden, aus welcher Motivation heraus ich gerade handle. Und dabei frage ich mich, wie schnell und wann handle ich doch konform meiner Rolle als Frau, mit den Möglichkeiten, die ich bisher gelernt habe und die so fest verinnerlicht sind.

Diese Verunsicherung scheint mir nicht zuletzt das Resultat der Polarisierung von Autonomie und Bindung zu sein, so wie wir sie von klein an gelernt haben.

Mit der Auseinandersetzung des Verhältnisses von Autonomie und Bindung in den einzelnen Entwicklungsphasen des Mädchens hoffe ich diesen Konflikt ein Stück weit bewußter zu machen, um uns in unserem Handeln dafür mehr zu sensibilisieren.

Des weiteren möchte ich darauf aufmerksam machen, wie schwer es Mädchen und Frauen tatsächlich fällt, ihre positiven und kreativen Aggressionen zuzulassen, um selbstbewußt, fordernd und selbstbestimmt sich in der Gesellschaft zu behaupten. Noch immer ist es ein Problem für Frauen, Grenzen zu setzen, Grenzen zu zeigen und noch immer verlassen sie eher ihr Selbst für die anderen.

1.2 Die Phasen der psychosexuellen Entwicklung

In diesem Kapitel werde ich die einzelnen Phasen genau beschreiben, im Hinblick auf Autonomie und Bindung. Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist in ihrer Konflikthaftigkeit dabei der zentrale Schwerpunkt.

1.2.1 Der Weiblichkeitsentwurf von Freud

Auch wenn aus heutiger Perspektive und mit den heutigen Erkenntnissen über die Weiblichkeit Freuds Ansichten weit überholt sind, so möchte ich dennoch seinen Entwurf der Weiblichkeit darstellen, denn er hat mit seiner Forschung an der weiblichen Sexualität die Grundlage geschaffen, auf der die heutigen Überlegungen basieren. Daß sich die Erkenntnisse heute, hundert Jahre später, entlang der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Moralentwicklung verändert haben, ist klar, dennoch möchte ich kurz auf Freuds Anfänge eingehen, um im Vergleich die Entwicklung sichtbar zu machen.

Nach Freud ist die Frau biologisch und triebmäßig ein verfehlter Mann. Ihre Abhängigkeit von sozialer Anerkennung und ihren Liebesobjekten geht auf ihre Abhängigkeit ihrer prä-ödipalen und ödipalen Bindungen zurück. Der Penis, als einziges richtiges Sexualorgan, bestimmt den Wert und die Richtigkeit des Kindes. Die erste Geschlechtsidentität, die das Mädchen erfährt ist demnach keine weibliche, da die Vagina erst in der Pubertät entdeckt wird. Daraus resultiert, daß das Mädchen Gefühle von Neid, Wut und Enttäuschung erlebt.

Da der Mann als „richtige Version der Realität“ gesehen wird, ist das Selbstwertgefühl des Mädchens erschüttert, ebenso das Körperbild. Um diesem Mangel entgegenzuwirken, schafft sich das Mädchen phantasierte phallische Ergänzungen, wie z.B. die Identifikation mit der Art des Vaters oder auch Kinderwunsch vom Vater.

Da nun die Selbstbestätigung stark von der Bewertung anderer abhängt, entwickelt sich in dieser Projektion von Defizienz die Scham. Freud beschreibt diese Scham folgendermaßen: „Der Scham, die als eine exquisit weibliche Eigenschaft gilt, aber weit mehr konventionell ist, als man denken sollte, schreiben wir die ursprüngliche Absicht zu, den Defekt des Genitales zu verdecken“ (Freud, 1933a: 562). Scham bedeutet also nach Freud verdecken und erzeugt damit „ein diffuses Gefühl persönlicher Unwürdigkeit, das auf eine Diskrepanz hinweist zwischen dem, wie man ist, und dem, wie man sein sollte, zwischen realer und idealer Selbstrepräsentanz.“ ( Eicke –Sprengler, 1988: 79)

Da Frauen ihren Mangel niemals richtig greifen können, haben sie auch immer Angst, etwas Verbotenes zu tun, dabei erwischt zu werden und haben immer das Gefühl, von außen auf richtig und falsch bewertet zu werden.

Freud hat mit diesem theoretischen Erklärungsmodell das tradierte Bild der Weiblichkeit unterstützt und untermauert darüber auch das patriarchale Herrschaftsgefüge. Und ganz eindeutig ist er hier an seine Grenze gestoßen, wenn er die Frau als „verfehlten Mann“ betrachtet.

Heute kommen wir mit dieser Erklärung nicht mehr weit, können diese Sichtweise nicht mehr vertreten, dennoch hat Freud versucht ein Modell zu entwickeln und ich denke es ist ungerechtfertigt, ihm für diesen Versuch undifferenzierte Vorwürfe zu machen. Wenn man die Umstände seiner Zeit, in der er seine Theorien entworfen hat und dazu berücksichtigt, daß er selbst ein Mann war, so kann man ihn, meines Erachtens, um diesen Versuch, die Weiblichkeit zu erklären, kaum anfeinden.

Er war ein Mann seiner Zeit und er war der erste, der überhaupt die Tabuisierung der Sexualität versucht hat aufzubrechen. Er hat erkannt, welche Lebensenergien im Lustempfinden verankert sind und welche Störungen auftreten, wenn sie in der Tabuisierung unter den Teppich gekehrt werden.

Man darf nicht vergessen, daß Freud mit den moralischen Ansprüchen seiner Zeit groß geworden ist und natürlich die kulturellen Ansichten über die Stellung der Geschlechter verinnerlicht hatte. Und er selbst als Mann gehörte ja zu den gesellschaftlich Herrschenden und an dieser Macht aus eigenen Reihen zu kratzen, ist äußerst schwer. Das sehen wir noch heute oft genug, wenn sogar Feministinnen mit ihren Theorien auf dem patriarchalen Herrschaftsgefüge ausrutschen und trotz bestem Wissen und Gewissen tradierte Bilder untermauern. Aus diesem Grund möchte ich mich der Würdigung Freuds Leistungen, wie Margarete Mitscherlich sie betont, anschließen:

Indem er mit Hilfe der Psychoanalyse das Denkverbot auf sexuellem Gebiet, unter dem die Frauen seiner Zeit und seiner Gesellschaft standen, aufzuheben trachtete, hat er eine Vorbedingung dafür geschaffen, daß bisher als spezifisch weiblich angesehene intellektuelle Einschränkungen und Denkhemmungen aufgehoben und als kulturell bedingt entdeckt werden konnten. Die pauschale Verdammung Freuds in der feministischen Bewegung ist ungerechtfertigt und nicht durch Sachkenntnis gestützt. (Mitscherlich, 1972: 26)

Und von ihm selbst stammt die Aussage gegenüber seiner Freundin, der Prinzessin Marie Bonaparte:

Die große Frage, die nie beantwortet ist und die ich trotz meiner 30jährigen Erforschungen der weiblichen Seele noch nicht habe beantworten können, ist: was will das Weib? (Ebd.)

1.2.2 Neuere Ansätze von Psychoanalytikerinnen zur weiblichen Identifikation

Martha Eicke – Sprengler beschreibt zwei Schwerpunkte für die weibliche Identifikation, die Beziehung zur prä – ödipalen Mutter, die die Identifizierungsmuster liefert und das strenge und vielfältige Über – Ich von Frauen, sowie die Komplexität ihrer Idealbildung.

Stark geprägt von der prä – ödipalen Mutter wird das Selbstwertgefühl und ist abhängig von einem guten Körperbild und positiver Selbstrepräsentanz. Wichtig in der Betrachtung der Entwicklung des Mädchens sind die Objektbeziehungen und der sexuelle Erlebnisbereich.

Kleine Mädchen können neben den oralen und analen Reizen auch vaginale Orgasmen haben. Hierin liegt ihre spezifisch weibliche Erregbarkeit.

Bedrohungen der psychophysischen Kohärenz, der Grundlage des Identitätsgefühls, steigern das Bedürfnis, sich mit idealisierten Objekten eins zu fühlen. Deren Stärke verleiht Sicherheit, soweit das erregend Gefährliche abgespalten werden kann. Die idealisierte Mutter – Imago wird Kraft ihrer Allmacht ambivalent erlebt. Mit ihrer Körperpflege kann sie erregen, durch das Ausmaß und den Charakter ihrer Verfügbarkeit Erlebnisräume öffnen oder vorenthalten, sie kann liebevoll oder grausam mit dem Körper ihres Kindes umgehen, wie wir es den Spielen der Kinder entnehmen und in den Alpträumen und im Agieren unserer Patienten miterleben können. (Eicke- Sprengler, 1988: 80/81)

Im Puppenspiel passiert die frühe Identifikation als Objekt, welches pflegt und gepflegt wird. Bedeutungsvoll ist für das Mädchen, ob es von der Mutter eine positive oder negative Spiegelung ihrer Körperlichkeit erhalten hat, ob der nicht sichtbare, aber spürbare weibliche Geschlechtsraum von der Mutter geschützt oder gefährdet wurde.

Schon das Stillen spielt eine Rolle, da es sich hierbei um eine sehr erotische und lustvolle Aktivität handelt.

Im Stillakt erfolgt eine Erotisierung des ganzen Körpers, die in genitalen Sensationen gipfeln kann, der orale, d.h. einverleibende Modus erfaßt die ganze Haut, die anderen Sinne, und es kommt zu Verschmelzungserlebnissen. (Musfeld, 1997: 210)

Aufgrund des Tabus, daß das Stillen der Mutter, als auch das Saugen der Tochter lustvoll und sinnlich besetzt sein darf, wird der Stillakt funktionalisiert, um Irritationen auszuweichen. Es ist das Verbot weiblicher Homosexualität. Schon hier ist es der Mutter aufgrund gesellschaftlicher, verinnerlichter Vorgaben nicht möglich, der Tochter die Weiblichkeit sinnlich- erotisch zu spiegeln, und so wird schon hier ein autonomes weibliches Begehren eingeschränkt (vgl. Musfeld, 1997: 211).

Dabei ist es wichtig zu bedenken, daß vermehrte oral - aggressive Impulse, die sich in der Saug - und Beißlust äußern, sich die aktiven Möglichkeiten des Säuglings erweitern, sich in der Welt wahrzunehmen.

Daraus entwickelt sich z.B. die Fähigkeit, “... seine Wünsche, den anderen haben zu wollen, äußern zu können, ohne die Angst empfinden zu müssen, als gierig, unersättlich und zerstörerisch abgewiesen zu werden.“ (Mertens 1992b: 58, zitiert in: Musfeld, 1997: 212)

Jedoch ist es für viele Frauen schwer, diese Fähigkeiten bei sich anzuerkennen, was sich dann häufig in den Schwierigkeiten zeigt, ihre Bedürfnisse anzumelden, zu sagen und durchzusetzen, was sie für sich wollen, ihr Begehren zu äußern und das als ganz normal zu empfinden, ohne sich zu schämen (vgl. Musfeld, 1997: 212).

Zusammenfassend wird deutlich, daß bereits die Mutter im Stillakt erheblichen Einfluß auf die positive oder eben negative Spiegelung der Weiblichkeit haben kann.

Im nächsten Abschnitt soll das Verhalten der Mutter in der analen Phase, bzw. der Wiederannäherungsphase genauer beschrieben werden.

1.2.3 Mutter und Mädchen in der analen Phase und die Wiederannäherungsphase

In der analen Phase begründet sich die weibliche Identität durch die Identifikation mit der Mutter. Moderne Analytikerinnen betrachten diese Phase für das Mädchen nicht anhand des fehlenden Penis, sondern an dem nur weiblichen Leibesinnenraum. Der Leibesinnenraum wird in der analen Phase erstmals bewußt erlebt, von ihm gehen belebende oder bedrohliche Erregungen aus, welche ohne die Mutter, nur vom Kind selbst ausgelöst werden. „Jedes Erleben, das von dieser Funktion herstammt, reguliert das Kind selbständig. Einmischungen werden als Eingriff erlebt. Wut, Angst und sadomasochistische Phantasien können die Folge sein.“ (Eicke-Sprengler, 1988: 83)

Im analen Ablauf von Bedürfnis, Erleichterung und Lustempfinden erfährt das Kind nicht mitteilbare innere Sensationen. Das Ausstoßen bzw. das Produkt ist die eigene Leistung des Kindes, worauf es von der Mutter eine Reaktion erhält. „Hier trifft die narzißtische Welt des Kindes mit seinen Objektbeziehungen zusammen und hier auch kann es erfahren, wie weit sein in ihm sich vollziehendes Leben, seine Kreation auf Interesse, Anerkennung oder Mißachtung und Mißbilligung stößt.“ (Ebd.)

Diese Reaktion der Mutter ist für das Mädchen von besonderer Wichtigkeit, da all ihre Leibeserlebnisse im Verborgenen liegen. Das Mädchen interpretiert auch nach diesem Muster die Erregungen in ihrem Leibesinneren. Sie kann sich als Beherrscherin oder Beschützerin des Leibesinneren empfinden, demnach reagieren und hierauf können sich spätere Scham– und Schuldgefühle gründen. Wenn nun die Eltern den Unterschied der Genitalität und Analität nicht ernst nehmen, nicht beachten und benennen, kann dies zu späteren Kontaminationen führen, z.B. Darmstörungen bei genitalen Ängsten, stark abgewehrte Phantasien führen zu hypochondrischen Ängsten und verschiedenen psychosomatischen Beschwerden.

Autonomie– und Abgrenzungskämpfe in diesem Alter betreffen nicht nur Verhaltensweisen und materielle Dinge. Sie sind in einer viel intimeren Weise verknüpft mit der Inbesitznahme, der positiven oder negativen Besetzung, u.U. der Verleugnung der eigenen leiblichen Innenwelt, auf der das Körper– und Selbsterleben der Frau letztlich gründen. (Eicke- Sprengler, 1988: 84)

Martha Eicke – Sprengler beschreibt daran die häufig festgestellte Bewegungslosigkeit ihrer Patientinnen.

Der Wunsch sich körperlich und geistig zu bewegen, erregt Schuldgefühle, wird als Treulosigkeit verdammt und macht bei genauerem Zusehen als Unberechenbarkeit Angst. In solchen Fällen hat die Bewegung im Inneren den Charakter von etwas Unvertrautem, ja Bedrohendem angenommen, das durch starres Verhalten, durch Rigidität des Charakters in Kontrolle gehalten werden muß. (Ebd.)

Aus dem Erleben des weiblichen Körperinnenraumes kann auch die Organisation des Lebensraumes resultieren.

Die entstehende Weiblichkeit beginnt mit den Erlebnissen, Erfahrungen, Objektbeziehungen und Phantasien der analen Phase über die ödipale Phase, die Adoleszenz bis ins Erwachsenenalter. Die damit verbundenen Konflikte bestimmen auch die Konflikte des inneren Raumes (Leibesinnenraum). Hierin sieht Martha Eicke–Sprengler den Zusammenhang,

(...) daß wir uns wohl immer wieder zu wenig Rechenschaft darüber geben, wie stark verdrängte infantile Phantasien aus dem Körpererleben das Lebensgefühl von Frauen bestimmen, wie sie für selbstschädigendes Verhalten, aber auch für chronische Leidenszustände des Körpers und natürlich für viele, das Sexualleben direkt betreffende Schwierigkeiten verantwortlich sind. (Eicke-Sprengler, 1988: 85)

Als den für diese Phantasien wichtigen szenischen Hintergrund beschreibt sie die Objektbeziehungen, die auf Triebwünschen und narzißtischen Vorstellungen basieren und sich in der Bearbeitung von Schuld – und Schamgefühlen entfalten.

Die weibliche Unterordnung entsteht häufig aus eigenen abgewehrten Bedürfnissen, analen Machtansprüchen, Bemächtigungs – und Kontrollbedürfnissen.

Für das Mädchen ist es nun von besonderer Tragweite, ob diese aktiven Bedürfnisse der analen Phase verstanden oder mit Ablehnung und Bestrafung geahndet werden, ob sich also zur inneren Gefährdung noch eine äußere verstärkend dazugesellt. (...) Die Gegenbesetzung solcher für die phallisch – anale Phase spezifischen Wunschphantasien, die sich mit den Wertvorstellungen des Erwachsenen nicht vertragen, bestimmen dann einige jener Charaktereigentümlichkeiten, wie z.B. passive Anlehnung, masochistische Opferbereitschaft und rücksichtsvolle Bescheidenheit, die wir noch immer unreflektiert als weibliche Wesensart mißverstehen. ( Eicke-Sprengler 1988: 86)

Da die anale Phase gekennzeichnet ist von der lustvollen Besetzung von Trennung, Ausstoßen und Festhalten, wird hier der innere Konflikt von Autonomie und Annäherung sehr stark. Desweiteren erfährt das Kind eine zunehmende Ahnung des Geschlechtsunterschiedes und seiner Geschlechtsidentität. Die Neugier am eigenen Körper wird geweckt, sowie das Experimentieren mit ihm, aber auch die Erprobung der eigenen Fähigkeiten und die Durchsetzungskraft in der Umwelt, in den Objektbeziehungen.

Einhergehend mit diesem inneren Konflikt der Selbständigkeit setzt die Wiederannäherungsphase ein.

Tamara Musfeld beleuchtet diese Phase unter dem Gesichtspunkt der Aggressivität, inwieweit dem Mädchen aggressive Wünsche und Phantasien erlaubt sind, die dann das Gefühl der eigenen Weiblichkeit bestimmen. Sie beschreibt bei der Abwendung des Mädchens von der Mutter, daß es „ (...) wichtig ist, ob es selbst in der Lage ist, die Spannung innerhalb der im eigenen Innern repräsentierten Objektbeziehung zu ertragen, ohne zu fürchten, daß die guten und stimmigen Aspekte dieser Objektbeziehung von der eigenen Wut und dem eigenen Haß gleichsam „gefressen“ werden.“ (Musfeld, 1997: 214)

Ohne das gute innere Objekt wird eine gute Geschlechtsidentität schwierig. Weiterhin schreibt sie:

All dies macht die Autonomiewünsche äußerst brisant und birgt in sich die Gefahr, daß eigene Wünsche nach Selbständigkeit als bedrohlich empfunden werden können, und diese Bedrohlichkeit macht sie zu „bösen“ Wünschen. Dann wird die Wut und Ablehnung gegen das eigene Selbst gerichtet, um das gute innere Objekt zu erhalten. (Ebd.)

Daher ist das Verhalten der Mutter entscheidend, die von Außen das Mädchen in ihrem inneren Konflikt unterstützen kann, wenngleich auch bei der Mutter eigene Ängste wiederaufleben können und damit ihr Handeln beeinflussen.

Der Konflikt des Mädchens besteht also einmal in der Wut über den Verlust der phantasierten allmächtigen Mutter, der Angst ihrer Rache, wenn es seine Selbständigkeit erprobt, sowie der Auseinandersetzung mit der realen Mutter.

Wird hier kein stabiles inneres Objekt aufgebaut, lösen eigene Wünsche und Impulse Angst aus, die abgewehrt werden muß. Wenn das Streben nach Selbstbehauptung und Selbstdarstellung immer vermieden wird, so liegt laut der Hypothese von Tamara Musfeld darin der Grund für die weibliche „Beziehungssucht“ (vgl. Musfeld, 1997).

Ist die Beziehung zwischen Mutter und Tochter eine sehr stark symbiotische, in der die Tochter die Verlängerung der Mutter ist und nicht in ihrer Autonomie unterstützt wird, die Mutter also nicht loslassen kann, weil sie wiederum die Tochter für die eigene Aufwertung braucht, kann auch hier nicht die Beziehungsfähigkeit gelernt werden. Eine solche symbiotische Beziehung führt dann zu der spezifisch weiblichen „Beziehungssucht“.

Hilfreich in diesem Konflikt kann eine dritte Person, meist der Vater, sein. Er kann diese dyadische Beziehung in die Triade auflösen und damit neue Möglichkeiten der Wertschätzung bieten, indem eine andere Perspektive hinzukommt. Auch für die Ausgestaltung der Geschlechtsidentität, um Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Geschlechts am Vergleich des anderen zu erfahren, ist diese Triangulierung von Bedeutung und ermöglicht Entwicklung. Es ist jedoch wichtig, die Rolle des Vaters genau zu betrachten, um sie nicht falsch zu verstehen, eben nicht auf der Überbewertung des männlichen auszurutschen. Tamara Musfeld hat den Beziehungsauftrag in seiner Gesamtheit mit folgenden Worten beschrieben:

Ich halte diese Bedeutung des Vaters für ausgesprochen groß. Allerdings wird sein Einsatz nur funktionieren, wenn er sich schon zuvor und auch danach wirklich für seine Tochter und seine Frau interessiert und beide nicht nur in schwierigen Entwicklungsphasen begleitet, sondern eine eigene eigenständige Beziehung etabliert, wenn also die Grundlage für die Wahrnehmung einer triangulierten Beziehung in der Realität bereits existiert. (Musfeld, 1997: 216)

Ich werde später noch einmal auf die Vaterrolle eingehen, wenn ich die Triangulierung beschreibe. Vorerst sollen die Konfliktpunkte der Mutter- Tochter- Beziehung noch genauer dargestellt werden.

Das Mädchen muß sich mit dem Geschlecht der Mutter identifizieren und sich gleichzeitig von der Mutter abgrenzen.

Zur Trennung von der Mutter ist immer auch ein gehöriges Maß an Abgrenzungsaggression erforderlich, gepaart mit der Neugier und Lust auf die Bemeisterung der Welt. Wie wir sahen, erfordert diese Abgrenzung, mit eigenen Ängsten zurechtzukommen, den Verlust eines omnipotenten Gefühls, welches im Gefolge der als allmächtig phantasierten Mutter entstand. Die Entwicklungsaufgabe des Mädchens, bei der Ablösung von der Mutter nicht ein völlig differentes Ziel vor Augen zu haben, sondern so werden zu sollen oder zu können wie die Mutter ist, läßt vermutlich eine Konfusion entstehen und die Angst, mit dieser großen überwältigenden Mutter in Konkurrenz zu geraten oder einfach mit ihr verschmolzen zu bleiben. (Musfeld, 1997: 220)

Wichtig ist hier, daß die Mutter in der Lage ist, das Mädchen im Loslassen zu unterstützen und nicht die Tochter als Verlängerung des eigenen Selbst zu verstehen.

Wie sonst kann sich das Mädchen als eigenes Individuum, als eigene Frau entwickeln, wenn sie doch der Mutter so ähnlich ist. Die Aufgabe der Mutter, die Trennungs- und Unabhängigkeitswünsche des Mädchens zu ertragen, zuzulassen und einen guten Umgang damit zu finden, ist stark von dem Selbstwertgefühl der Mutter abhängig. Sie selbst muß dafür Freude an ihrer eigenen Weiblichkeit haben, um diese Ambivalenzen von Autonomie und Bindung zu ertragen.

Daß es gerade in dieser Phase zu beträchtlichen Problemen in der Entwicklung kommen kann, daß hier Weichen gestellt werden, die Auswirkungen auf das Ausbilden innerer Bilder von Weiblichkeit haben, ist Konsens. Darüber hinaus kann es leicht zu einer Beeinträchtigung der Fähigkeit kommen, selbstbewusst einen eigenen Weg in die nichtfamiliale Öffentlichkeit zu gehen und die eigene Kreativität zu entfalten. (Musfeld, 1997: 221)

Bereits in der Beschreibung der analen Phase anhand des Textes von Martha Eicke-Sprengler habe ich auf das komplizierte Körpererleben des Mädchens hingewiesen. Zur Wichtigkeit der Lust am eigenen Körper schreibt Tamara Musfeld:

Die Aneignung des eigenen Körpers und eigener Lustquellen sowie der Verfügung über diese Lust muß als wichtiges Paradigma für die Erlaubnis zu Neugier, Wissensdurst, Kreativität und Verfügung über die eigenen Kraftquellen verstanden werden. So ist von Analytikerinnen immer wieder der Zusammenhang von Unterdrückung der Sexualneugier und Denkhemmungen herausgearbeitet worden (Mitscherlich-Nilson, 1971; Lerner, 1980), und auch die Tatsache, daß viele Frauen so große Schwierigkeiten haben, etwas „für sich selbst“ zu wollen, hat sicherlich eine Ursache in der Verhinderung der sexuellen Selbsterforschung.

(Musfeld, 1997: 224)

Für ein positives Selbstbild ist die Anerkennung eines positiven Körperbildes notwendig, welches die Mutter spiegeln muß. Wichtig ist auch, daß das weibliche Genital benannt wird, um die Irritationen des kleinen Mädchens zu umgehen, da es zwar seine genitalen Sensationen erlebt, jedoch nicht sehen kann und eben häufig auch keine Sprache dafür hat.

Leicht kann das Gefühl entstehen, mein Körpererleben - mein Körper und ich - sind so unwichtig, daß es nichts zu benennen gibt.

Aber eine gute Spiegelung des Körpers ist nicht nur von Bedeutung für die eigene Wertschätzung, sondern auch für eine gelungene Abgrenzung von der Mutter.

Und es muß diese Wertschätzung eigener weiblicher Potenz auch im Dialog mit der Mutter erfahren, da sie es ist, die als Vorbild und Identifikationsfigur für die beginnende Weiblichkeit dient. Werden das anatomische Geschlecht und die sexuellen Regungen des Mädchens nicht von der Mutter gespiegelt und als wertvoll qualifiziert, erfolgt einerseits eine Entwertung des Zentrums der weiblichen Identität und andererseits muß das Mädchen befürchten, daß die Mutter ihm seine Autonomie neidet. (Musfeld, 1997: 222)

Ein weiterer innerpsychischer Konflikt entsteht in der Tabuisierung von aggressiven Gefühlen gegenüber der Mutter. Das Mädchen richtet in seinem Autonomiestreben seine Aggression auf die Mutter, die ihr real oder phantasiert, so viel versagt. Auch wenn es nicht entscheidend ist, ob diese aggressiven Gefühle real oder in der Phantasie ausgelebt werden, so schreibt Tamara Musfeld dazu:

Es ist bedeutsam, ob die Wut ausgedrückt werden darf und die Mutter dennoch weiterhin als verläßliches inneres und äußeres Objekt existiert, ob sie also diesen gefühlten Angriff überlebt und erträgt (Winnicott). Gerade dieser Ausdruck von Wut und Haß ist jedoch häufig im Umgang zwischen Mutter und Tochter tabuisiert und muß schon als Impuls verleugnet werden. (Musfeld, 1997: 227)

Durch diese Verleugnung kann also das Bemühen um Autonomie nicht als etwas Gutes und Wichtiges für die Entwicklung erfahren werden, sondern wird immer als etwas „Böses“ erlebt und verinnerlicht.

Betrachten wir den Aspekt der Bindung des Mädchens an die Mutter, so muß dieses alsbald feststellen, daß es die als allmächtig phantasierte Mutter nicht gibt. Auch hier erfährt das Mädchen Verletzungen, denn der Wunsch nach absoluter Bedürfnisbefriedigung und Bindung, so wie es das Kind als Säugling erlebt hat, bleibt bestehen. Autonomie und Bindung werden hier zu ständig zu verhandelnden Wünschen.

Trennung und Individuation kann man auch als den großen Sündenfall verstehen, wo der Konflikt zwischen Selbstbehauptung und Trennungsangst eine essentielle Spannung erzeugt. In der Phase der Wiederannäherung erlebt das Kind seine eigene Aktivität und seinen eigenen Willen als Kontrapunkt zu einem mächtigeren Elternteil und zu seiner eigenen Hilflosigkeit. Die Selbstachtung des Kindes kann nun durch die Erkenntnis Schaden leiden, daß es die Mutter nicht beherrscht, und daß vieles von dem, was die Mutter tut, keineswegs eine Erweiterung seiner eigenen Macht ist. (Benjamin 1986:131, zitiert in: Musfeld, 1997: 231)

1.2.4 Die Rolle des Vaters in der frühen Triangulierung

Der Vater, wenn er nicht nur anwesend ist, sondern real und in dem Beziehungsgeflecht eingebunden ist, kann die komplizierte Beziehung von Mutter und Tochter entschärfen. Er übernimmt dann die Rolle als „Dritter im Bund“.

Der Vater kann die dyadische Beziehungsstruktur in eine Triadische erweitern. Zum einen wird an ihm die Auseinandersetzung mit dem anderen Geschlecht deutlich und dabei das eigene, mit seinen Grenzen und Möglichkeiten, leichter erfahrbar.

Zum anderen kann er neue Impulse in die bestehende Beziehung geben.

Die Beziehung zu dieser dritten Person ist nicht in gleicher Weise durch projektive Wünsche und Ängste von Verschmelzung und Vernichtung aufgeladen bzw. kann einen anderen Beziehungsmodus, der mehr durch Unterscheidung und Verschiedenheit charakterisiert ist, symbolisieren. Dadurch hilft sie, eine realitätsgerechtere Beziehungsstruktur zu etablieren, ohne die Nähe zu verlieren. Dieses neue Muster kann dann auch in die Beziehung zur Mutter oder in alle mütterlich gefärbten Objektbeziehungen integriert werden.

(Musfeld, 1997: 218)

Das heißt also nicht, daß sich die Tochter von der Mutter nun abwendet, sondern daß noch eine Beziehung hinzukommt und damit die zur Mutter anders erlebt werden kann. Das Kind hat nun zwei Bezugspunkte.

Weiterhin entlastet der Vater seine Frau „in dem realen Konflikt mit der Tochter und ermöglicht ihr, ihre eigene, autonome, weibliche Seite zu erleben und in die Beziehung zur Tochter zu integrieren.“ (A.a. O., S. 240)

Durch diese Dreierbeziehung erweitert sich für das Kind die Möglichkeit der Identifizierung, da nun zwei Personen für es existieren und weiterhin kann es die Interaktion einer anderen Beziehung beobachten. Somit erhält das Beziehungsgeflecht Stabilität und die Voraussetzung für den Eintritt in die ödipale Situation ist gegeben.

Tamara Musfeld beschreibt eine „idealisierende Hoffnung“ für das Mädchen:

Der Vater könnte den Zugang zu Lust, Aufregung und Freiheit eröffnen, der dann auch mit der Mutter weiter geteilt und erweitert würde. Identifizierungen mit Mutter und Vater würden eine selbstbewußte, autonome und doch bindungsfähige Ausgestaltung von Weiblichkeit ermöglichen. (A.a.O., S. 241)

Oft jedoch ist der Vater für das Mädchen nicht wirklich so präsent, wie es hier beschrieben wurde. Wenn der Vater in seiner traditionellen Geschlechterrolle verharrt, kann er kaum als Identifikationsfigur für seine Tochter dienen und auch seiner Frau nicht die Anerkennung ihrer autonomen Weiblichkeit geben. Somit kann die beschriebene Dreierbeziehung nicht wirklich entstehen, der Vater bleibt draußen und die Mutter behält ihre Mächtigkeit.

In dieser Konstellation ergibt sich aber lediglich eine neue Entweder- Oder Beziehung, d.h. das innere Bild bleibt die Dyade und der Hinwendung zum Vater haftet etwas Illusionäres an, was zu einer ungeheuren Idealisierung führen muß. (...) Dies führt dazu, daß die Einheit von Bindung und Autonomie auf die beiden Geschlechter aufgespalten wird und bleibt; die Mutter, und damit das weibliche Geschlecht stehen weiterhin für Bindung und in ihrer phantasmatischen Form für Überwältigtwerden, und der Vater steht für Autonomie und den Zugang zur großen weiten Welt und in seiner phantasmatischen Form für Freiheit und unbegrenzte Kraft.

(A.a.O., S. 242/243)

Es ist also Aufgabe der Väter sich ihrer Mittäterschaft an dem patriarchalen Herrschaftsgefüge bewußt zu werden, um dann ihre Funktion in der Dreierbeziehung tatsächlich wahrnehmen zu können.

1.2.5 Identifikationsmuster des Mädchens in der prä-ödipalen Phase

Margarete Mitscherlich (1972) beschreibt den Identifikationsprozeß des kleinen Mädchens am Ende der prä-ödipalen Phase dahingehend, daß die Entidealisierung der Mutter auf die erweiterte Wahrnehmung des Kindes zurückzuführen ist, die sich nicht nur auf die Geschlechtsunterschiede bezieht, sondern auch auf eine realere Einschätzung der Umwelt. Somit bemerkt das Mädchen die soziale Höherbewertung des Vaters und verliebt sich in ihn. Die nun zur Rivalin gewordene Mutter wird abgewertet und der Vater idealisiert. Das Mädchen erfährt damit einen Wechsel seines Liebesobjektes, was für das Mädchen doppelt schwer ist. Einerseits identifiziert sich das Mädchen mit dem gegengeschlechtlichen Vater und verinnerlicht seine Werte, andererseits wird die Mutter abgewertet und das Mädchen erlebt rivalisierende Gefühle der Mutter gegenüber.

Tatsächlich scheint die Mutter oft Gleiches mit Gleichem zu vergelten und die Ambivalenzgefühle der sie entwertenden Tochter mit ähnlichen Gefühlen zu beantworten. Auch sie wertet Vater und Sohn höher als die Tochter, empfindet es als richtig, wenn der Sohn sich (wie der Vater) zurückzieht, sich seinen Aufgaben widmet, weniger auf die Bedürfnisse der Umwelt eingeht, sich mit sich selbst und seinen Interessen beschäftigt, während die Tochter immer zur Hand sein, abhängig von der Meinung der Mutter bleiben soll. Unter solchen Umständen ist es klar, daß das Mädchen in seinen Autonomiebestrebungen und Sublimierungsfähigkeiten sehr gehemmt wird. ( Mitscherlich, 1972: 34)

So schreibt auch Martha Eicke-Sprengler, daß in der prägenitalen Phase, in der der Realitätssinn des Kindes wächst, es erkennt, daß weder es selbst, noch die Mutter über die angenommene Allmacht verfügen. Daraus resultiert die zunehmende Enttäuschung des Mädchens über die Mutter, ihrem Identifikationsobjekt. Sie wendet sich von der Mutter ab und entwertet darüber hinaus auch alle mit ihr gemachten Erfahrungen und Erlebnisse. Nun wendet sie sich dem Vater zu, ihrem zweiten Liebesobjekt, der ihr nun die Kohärenz ihres Selbstbildes garantieren soll, welches bei der Abwendung von der Mutter aus Angst vor ihrem Liebesverlust in Frage gestellt wurde.

„Unter Umständen identifiziert es sich jetzt mit der dem Vater zugeschriebenen Macht und Herrlichkeit, mit seinem Phallus. Auf alle Fälle wird es abhängig von seiner Anerkennung“ (Eicke-Sprengler, 1988: 87)

Martha Eicke-Sprengler unterstützt dies mit Aussagen ihrer Patientinnen: „Der Mann mißt sich mit seinen Maßstäben, ich tue es mit seinen. Ich bleibe lieber hilflos und dumm, dann hilft er mir, wenn ich mir nicht anmaße, auch etwas zu sein, sonst gäbe es ja zwei Götter nebeneinander.“ (Ebd.)

Das Mädchen rivalisiert also mit der entwerteten Mutter um den Vater, begehrt etwas, was ihm fremd ist und so verstärken sich die Ängste um das Körperinnere und das Gefühl von Frustration. Die neidvollen und sadistischen Phantasien zur Mutter-Rivalin stärken Macht und Einfluß des Vaters, wodurch sich die Bedrohlichkeit verstärkt.

Anders als der Junge „identifiziert sich das Mädchen mit zwei Aggressoren, was sich in einem besonders strikten Über-Ich zeigt.“ (Ebd.)

Hier nun beschreibt Martha Eicke-Sprengler den zweiten Schwerpunkt, die Vielfalt und Komplexität des strikten weiblichen Über-Ich. Dieses strikte Über-Ich neigt besonders zu Schuldgefühlen, um damit die Wünsche und Bedürfnisse der verschiedenen Entwicklungsstufen abzuwehren. So entstehen Masochismus und depressive Verstimmungen zu typisch weiblichen Charakterzügen und

(...) alles auf sich zu nehmen (...) verdeckt Wut und Haß, Neid und Rachegelüste, die eigentlich anderen gelten und nun gegen sich selbst wirksam werden, verdeckt auch tiefe Scham– und Schuldgefühle über jene zugreifende Aktivität, jene vom weiblichen Schoß ausgehende Begehrlichkeit, jene vom Kind als gefährlich und verboten interpretierten Wünsche, die gemäß des Talion- Prinzips entsprechende Vergeltungen nach sich ziehen.

(Eicke-Sprengler 1988: 88)

Nur durch den Verzicht auf Befriedigung von Abhängigkeitswünschen, kann Aktivität und Aggressivität integriert werden, doch dazu darf Trauer, Verzweiflung und Einsamkeit nicht mehr abgewehrt werden.

So entdeckte eine Patientin in sehr langsamen Schritten und vielen Rückfällen in alte Anpassungsmuster: „Ich muß es ja gar niemandem recht machen, nur mir, ich muß keinen schützen, bei Laune halten, reparieren. Ich will mich ausbreiten können und brauche Platz. Ich sage jetzt das will ich, das tue ich, weil es mir so paßt. Aber dann stehe ich im Wind und muß das Brausen aushalten, dann muß ich mich messen lassen, und es kommt raus, daß ich gar nicht einzureihen bin. (Ebd.)

Das weibliche Über-Ich und das Ich-Ideal hängen eng mit der Mutter-Identifikation zusammen, die sehr kompliziert und undurchsichtig ist. Und natürlich wird das weibliche Über-Ich um so strikter und strenger, je weniger die Mutter der Tochter die Lust an der Weiblichkeit homoerotisch spiegeln konnte. Ohne dieses lustvolle Vorbild, hat die Tochter nicht die Möglichkeit sich in diese Richtung zu identifizieren und es bleibt ihr nur die Orientierung an der gesellschaftlichen Norm.

Was man als Frau darf und wie man sein soll, ist abhängig von dem Mutter-Ideal und wird durch das Vatervorbild verstärkt. Daraus resultieren massive innere Konflikte und es ist dann eher einfach, sich den gesellschaftlich tradierten Identifikationsmustern anzupassen. Der Grund ist dabei aber nicht, weil man verdecken oder verstecken muß, sondern weil die Identifikation so stark belastet ist.

Margarete Mitscherlich schreibt dazu:

Da typischerweise in der Konstellation Tochter- Eltern die Verinnerlichungs- und Identifikationsvorgänge nicht so rasch wie beim Knaben ablaufen, bleibt also beim Mädchen eine stärkere Objektabhängigkeit mit ihrer größeren Angst vor Liebesverlust erhalten. Unsere Gesellschaft hat zudem die Neigung, diese Abhängigkeit des Mädchens, sein überstarkes Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung, ohne Rückfrage als etwas Naturgegebenes anzusehen und sich entsprechend darauf einzustellen. Was als angeborene weibliche Eigenschaft angesehen wird, entpuppt sich bei genauerem Zusehen als traditionsbestimmt. Traditionen stellen bekanntlich, psychologisch gesehen, über viele Generationen reichende Identifikationsmuster dar. Diese bauen sich in überwiegend unbewußten seelischen Prozessen auf und stehen nicht selten im Gegensatz zu den bewußten Absichten und Idealen des betreffenden Menschen. (Mitscherlich, 1972: 36/37)

Diese tradierten Muster zu brechen ist sehr schwierig, da wir sie immer wieder wiederholen, auch wenn wir annehmen, Traditionen zu brechen, schwingen diese alten Muster latent immer mit. Und deutlich wird dies, wenn man der Frage nachgeht, was in diesem Identifikationsprozeß gelobt wird und was nicht. Das liebe, saubere, brave und gefühlvolle Mädchen wird dafür immer Lob erhalten und gespiegelt bekommen, daß es richtig ist. Wogegen, wenn es sich nicht angepaßt, wütend, laut, aufbrausend und durchsetzungsstark verhält, wird man versuchen es zu zähmen, es erhält dafür kein Lob und keine Anerkennung. Da gilt es ganz bewußt sich mit der Täterinnenrolle auseinanderzusetzen, denn mehr noch, als wir es wahrhaben wollen, loben und tadeln wir nach den tradierten Werten.

Es entstehen gerade bei erfolgreichen Frauen Verhaltensunsicherheiten, Gefühle, schuldig zu werden, und Frau sein wird als etwas Unheimliches empfunden. Die Selbstentwertung bedeutet „tiefe Verletzungen und Sehnsüchte nach der Begegnung mit einer weiblichen Figur, der man sich unbedroht anvertrauen könnte.“ (Eicke-Sprengler, 1988: 89)

Hierin liegt auch die Sehnsucht nach Selbstanerkennung, einem klaren Selbstbild und eigenem Erfülltsein.

Margarete Mitscherlich weist daraufhin, wie wichtig es ist, neben der psychosexuellen Entwicklung auch genau die gesellschaftlichen Vorgaben und Werte zu beleuchten. Sie sagt:

(...) denn eine säuberliche Trennung der seelischen Reaktion auf die Entdeckung des anatomischen Geschlechtsunterschiedes von den Auswirkungen seiner gesellschaftlichen Bewertung wird bei der Verflechtung von biologischen, psychologischen und gesellschaftlichen Faktoren nicht möglich sein. (Mitscherlich, 1972: 43)

Nancy Chodorow (1978) interpretiert das Erleben des Mädchens in der ödipalen Phase etwas anders. Besonders stark bewertet sie die Mutter als das primäre Liebesobjekt für das Kind. Diese enge Bindung und Beziehung wird in ihrer Betrachtung durch nichts erschüttert, bzw. der Vater - als Dritter im Dreieck - kann niemals die gleiche Bedeutung erhalten, wie die Mutter.

Auch in ihrer Betrachtung wendet sich das Mädchen von der Mutter ab und dem Vater zu.

Der Grund sind auch hier die starken Ambivalenzen zur Mutter, die Hinwendung zum Vater hat jedoch ihre Motivation in der „Freiheit“, die sich das Mädchen durch die Identifikation mit ihm erhofft, um aus der intensiven Mutter-Tochter-Beziehung auszubrechen. Nach ihrer Annahme ist es dann der Vater, der dieser Beziehung die sexuelle Ausrichtung gibt.

„Wahrscheinlich wendet sich ein Mädchen dem Vater nicht wegen seines Geschlechts oder seiner sexuellen Orientierung zu, sondern weil er eine Person ist, die ihr mit der größten Wahrscheinlichkeit hilft, von der Mutter loszukommen.“ ( Chodorow, 1978: 159, zitiert in: Musfeld 1997: 45)

Um sicher die Grenze zur Mutter zu ziehen, werden die guten Anteile auf den Vater übertragen, während die schlechten Anteile der Beziehung zum Vater nun auf die Mutter projiziert werden. Mit dieser Ansicht erscheint der Vater, also das Männliche, wieder als der Retter.

Weiterhin beschreibt sie, daß das Mädchen in der ödipalen Situation die Mutter als Liebesobjekt begehrt. Da es aber feststellt, das die Mutter den Menschen mit Penis mehr Aufmerksamkeit schenkt, wünscht sich das Mädchen auch einen Penis, um die Liebe der Mutter zu vertiefen. Chodorow geht also hier nicht von einem Objektwechsel aus, sie schreibt:

Die innere ödipale Situation des Mädchens ist vielschichtig. Ihre Beziehung zur Mutter, bestehend aus Abhängigkeit, Zuneigung und Symbiose, bleibt bestehen, und ihre ödipale Zuneigung (triadisch, sexualisiert) zur Mutter und später zum Vater wird einfach hinzugefügt. (Chodorow, 1978:168, zitiert in Musfeld, 1997: 46)

In dieser Auslegung der ödipalen Situation bleibt also die Mutter als primäres Liebesobjekt erhalten, der Vater fungiert in erster Linie als „Befreier“, damit kommt es zu keinen Rivalitäten und das Mädchen muß keine Rache befürchten.

Tamara Musfeld kritisiert an dieser Begründung der ödipalen Situation die Passivität des Mädchens sowie die mangelnde Bewertung der Ambivalenzen in dem Mutter-Tochter-Verhältnis, „ (...) sie redet zwar über Ambivalenz, getraut sich jedoch nicht, sie in ihrem Ausmaß und in ihrer innerpsychischen Wirklichkeit zu untersuchen.“ (Musfeld, 1997: 47)

An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf den vollständigen Ödipuskomplex eingehen. Der vollständige Ödipuskomplex besteht aus dem negativem und positiven Ödipuskomplex. Wahrscheinlich wird beim Eintritt in die ödipale Situation erst der negative, dann der positive Ödipuskomplex erlebt, wobei diese beiden nicht voneinander streng zu trennen sind, ihr Erleben verläuft nebeneinander.

In dem frühen „negativen Ödipuskomplex“ ist die Mutter das Liebesobjekt des kleinen Mädchens und auf sie richtet sich all ihr Begehren. Um all die Liebe und Aufmerksamkeit von der Mutter zu erhalten, phantasiert sich das Mädchen den Penis. Es stellt also fest, daß der Vater etwas hat, was das Mädchen nicht hat und genau das braucht es, um in die Beziehung einzugreifen, also den Vater als Rivalen auszuschalten und die Mutter als begehrtes Objekt für sich zu bekommen.

Verletzungen erlebt das Mädchen, wenn es einsehen muß, daß aufgrund der Generationsschranke dieses Begehren nicht befriedigt werden kann. Hinzu kommt oft, daß die Mutter häufig nicht mit entsprechenden Zärtlichkeiten auf das Werben des Kindes eingehen kann, aufgrund der Tabuisierung homoerotischer Gefühle. Tamara Musfeld schreibt dazu:

Diese Zurückweisung eines nun aktiv gewendeten sexuellen Impulses bedeutet, daß das Mädchen annehmen kann, daß es auf weibliche Liebesobjekte ganz verzichten soll. Darüber hinaus kann die Zurückweisung als eine Entwertung und Ablehnung des eigenen Geschlechts erlebt werden, was zu einer generellen Störung sexueller Genußfähigkeit führen kann (vgl. Poluda-Korte, 1993:79). (Musfeld, 1997: 247)

[...]

Ende der Leseprobe aus 161 Seiten

Details

Titel
Damals Mädchen - Heute Frauen. Adoleszenzverläufe in der Rückerinnerung von Frauen aus der DDR, die zur Zeit der Wende junge Erwachsene waren
Hochschule
Technische Universität Berlin  (FB Erziehungswissenschaften)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2001
Seiten
161
Katalognummer
V8777
ISBN (eBook)
9783638156646
Dateigröße
1415 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Frauen
Arbeit zitieren
Susanne Kristina Kästli (Autor:in), 2001, Damals Mädchen - Heute Frauen. Adoleszenzverläufe in der Rückerinnerung von Frauen aus der DDR, die zur Zeit der Wende junge Erwachsene waren, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/8777

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Titel: Damals Mädchen - Heute Frauen. Adoleszenzverläufe in der Rückerinnerung von Frauen aus der DDR, die zur Zeit der Wende junge Erwachsene waren



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