Neurowissenschaften und Schulpädagogik. Handlungsorientierter Unterricht


Diplomarbeit, 2007

88 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Problemstellung

2 Grundlegende Begriffe
2.1 Neurowissenschaften
2.2 Pädagogik und Schulpädagogik
2.3 Didaktik
2.4 Handlungsorientierter Unterricht
2.5 Lernen

3 Das menschliche Gehirn
3.1 Evolutionstheoretische Aspekte
3.2 Zur Anatomie des Gehirns
3.3 Neuronale Prozesse
3.4 Lernen, Gedächtnis und Emotionen

4 Rezeption lernpsychologischer und neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in der Pädagogik
4.1 Allgemeine Bemerkungen
4.2 Psychologische Lerntheorien
4.3 Neurowissenschaftliche Rezeptionen
4.3.1 Integrative Ansätze
4.3.2 Eigenständige Modelle
4.3.2.1 Konstruktivistische Didaktik
4.3.2.2 Neurodidaktik

INHALTSVERZEICHNIS (Forts.)

5 Hirnforschung und Didaktik: Das Beispiel „Handlungsorientierter Unterricht“
5.1 Einleitende Bemerkungen
5.2 Theoretische Fundierung des Handlungsorientierten Unterrichts
5.2.1 Kognitive Handlungspsychologie
5.2.2 Handlungsregulationstheorie
5.3 Charakteristika des Handlungsorientierten Unterrichts
5.3.1 Ziele
5.3.2 Merkmale und Definition
5.4 Fallstudie als praxisrelevante Unterrichtsform
5.4.1 Merkmale und Ziele
5.4.2 Phasenschema
5.5 Handlungsorientierter Unterricht und Hirnforschung
5.5.1 Vorüberlegungen
5.5.2 Bewertung der Merkmale
5.5.3 Weiterführende Aspekte

6 Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abb.1: Ein Gedächtnismodell von Informationsaufnahme und -verarbeitung

Abb.2.: Das menschliche Gehirn

Abb.3: Eine Nervenzelle mit Zellkörper (Soma), „Empfängerstrukturen“ (Dendriten), „Senderstruktur“ (Axon) und informationsübertragenden Strukturen (Synapsen)

Abb.4: Medianansicht (Längsschnitt) des menschlichen Gehirns mit den wichtigsten limbischen Zentren

Abb.5: Die strukturellen Zusammenhänge von Verhalten, Tun, Handeln und Denken

Abb.6: Schematische Darstellung der multiplen Beziehungen zwischen vorbereitenden und realisierenden Regulationskomponenten für einen mittleren Hierarchieausschnitt

Abb.7: Phasenschema der Fallstudie mit entsprechenden Sozialformen

1 Problemstellung

Naturwissenschaften und Geistes- bzw. Sozialwissenschaften sind zwei Wissenschaftsbereiche, die sich grundsätzlich voneinander unterscheiden. Auf der organisatorisch-strukturellen Ebene wird an Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen i.d.R. eine strikte Trennung in natur- und sozialwissenschaftliche Fakultäten praktiziert. Außerdem sind die theoretischen Erklärungsmodelle und praktischen Forschungsmethoden häufig grundverschieden. Die Naturwissenschaften arbeiten mit stringenten Kausalitätsbeziehungen unter experimentellen Laborbedingungen, während die Sozialwissenschaften auch einem qualitativ-hermeneutischen Zugang aufgeschlossen gegenüber stehen.

Trotz der unterschiedlichen Ausrichtung gibt es Ansätze für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Neurowissenschaften und Pädagogik. Prominentes Beispiel ist das „Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen“ (ZNL) in Ulm unter der Leitung des Hirnforschers Manfred Spitzer. Ein weiterer Verfechter des interdisziplinären Brückenschlags ist der Frankfurter Neurophysiologe Wolf Singer, der die Herausforderung u.a. darin sieht, „die Grenzen zwischen den Beschreibungssystemen für neuronale und psychische Prozesse überbrücken“ (Singer 2002, S.178) zu wollen.

Auch von Seiten der Erziehungswissenschaft lässt sich eine vermehrte Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen der Neurowissenschaften feststellen. Damit reagierte sie auf die umfangreiche Berichterstattung in den Medien nach dem „PISA-Schock“ im Jahr 2004. In dieser „Zeit der Empörung“ wurden Neurowissenschaftler mit ihren angeblich revolutionären Erkenntnissen zu wahren Heilsbringern stilisiert. Getragen wird die neurowissenschaftliche Popularität auch von der sog. Ratgeberliteratur, die im Bereich „hirngerechtes Lehren und Lernen“ ihre Leserschaft bei Lehrern, Schülern und Eltern rekrutiert. Als Fazit lässt sich feststellen, dass die Erziehungswissenschaft in die Defensive geraten ist und sich gezwungen sieht, ihrerseits Stellung zu beziehen, wie die pädagogischen Publikationen zum Thema Hirnforschung der letzten Jahre belegen.[1]

Grundsätzlich ist eine Interdisziplinarität zu begrüßen. Allerdings müssen sich die Beteiligten der Probleme bewusst sein, die bei einer Zusammenarbeit zweier grundverschiedener Disziplinen auftreten können. Neben den unterschiedlichen Forschungsmethoden sei exemplarisch die jeweils spezifische Fachsprache erwähnt, die sich als Barriere herausstellen könnte.

Jedoch steckt in einer engeren Zusammenarbeit ein chancenreiches Potential, das zu einer besseren Verständigung untereinander führen und in gemeinsamen Forschungsvorhaben resultieren könnte. Vor allem die deutsche Pädagogik sollte sich der Herausforderung stellen und aktiv Stellung beziehen, wenn Neurowissenschaftler Vorschläge dafür entwickeln, wie der Lernprozess in der Schule gestaltet sein sollte, um einen nachhaltigen Lernerfolg zu erzielen. Sicherlich hat die Pädagogik auf diese Frage Antworten geliefert, die der Komplexität der Materie Rechnung tragen. Doch momentan sieht sich die Pädagogik mit einer populären neurowissenschaftlichen Forschung konfrontiert, deren Erkenntnisse scheinbar neue Hinweise liefern, wie in der Schule gelernt werden sollte.

Die vorliegende Arbeit wird sich aus Sicht der Pädagogik auf die Fragestellung fokussieren, inwieweit die neurowissenschaftliche Forschung das Konzept des Handlungsorientierten Unterrichts stützt. Anhand dieser Fragestellung gilt es vorab zu klären, ob ein erkenntnistheoretischer Transfer von den Neurowissenschaften zur Pädagogik grundsätzlich möglich und zweckmäßig ist. Welche Chancen und Risiken sich aus der Rezeption neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in der Pädagogik ergeben, wird u.a. am Beispiel des Handlungsorientierten Unterrichts aufgezeigt und bewertet.

Im zweiten Kapitel werden grundlegende Begriffe erläutert. Im dritten Kapitel werden evolutionstheoretische Aspekte und anatomische Grundlagen des menschlichen Gehirns vorgestellt. Außerdem wird die Funktionsweise neuronaler Prozesse beschrieben, die die neurobiologische Grundlage für kognitive Leistungen wie das Lernen bildet. Im vierten Kapitel werden verschiedene Rezeptionsmöglichkeiten neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in der Pädagogik skizziert. Dabei wird eine historische Betrachtung auf die psychologischen Lerntheorien der 1960er Jahre vorgenommen. Im fünften Kapitel wird ein aktuelles Beispiel aus der Lehr-Lern-Forschung ausführlich behandelt: der Handlungsorientierte Unterricht (HoU), der an kaufmännischen Schulen zum leitenden Unterrichtskonzept avancieren soll. Die theoretische Fundierung des HoU erfolgt unter Zuhilfenahme des kognitionspsychologischen Ansatzes von Aebli und der Handlungsregulationstheorie von Hacker/Volpert. Die Charakteristika dieses Unterrichtskonzepts werden vorgestellt und exemplarisch anhand der Fallstudie als einer praxisrelevanten Unterrichtsform aufgezeigt. Der zentrale Aspekt dieser Arbeit widmet sich dem HoU in Anbetracht aktueller Erkenntnisse aus der neurowissenschaftlichen Forschung. Die Merkmale des HoU und der Fallstudie werden hinsichtlich der zentralen Fragestellung analysiert und bewertet. Weitere Aspekte, die es in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen gilt, werden skizziert. Im Schlusskapitel werden die wesentlichen Ergebnisse zusammengefasst sowie ein Ausblick gegeben.

2 Grundlegende Begriffe

2.1 Neurowissenschaften

Unter dem Begriff Neurowissenschaften (engl.: neurosciences[2]) wird ein komplexes Wissenschaftsgebiet subsumiert, das sich aus unterschiedlichen Disziplinen zusammensetzt und sich mit der Struktur und Funktion des Nervensystems befasst. Diese Interdisziplinarität der Neurowissenschaften und ihre damit verbundene Eigenschaft, komplexe Zusammenhänge auf unterschiedlichen Ebenen darzustellen und zu interpretieren, ist ihr besonderes Kennzeichen. So werden Befunde auf der Mikroebene – z.B. molekulare Vorgänge in Nervenzellen – dafür benutzt, um sie auf der Makroebene – z.B. Bedeutung der zellulären Prozesse für das gesamte Nervensystem im Sinne einer Netzwerkarchitektur – zu interpretieren (vgl. Pickenhain 2000, S.475).

Ein zentraler Bereich der Neurowissenschaften befasst sich mit der Diagnose und der Behandlung von Hirnschäden und Erkrankungen des Nervensystems (z.B. Depression, Alzheimer Krankheit). Vor allem bei der Diagnose konnten erhebliche Fortschritte durch den Einsatz sog. nicht-invasiver Verfahren erzielt werden. Diesen bildgebenden Verfahren sind eine Vielzahl der aktuellen Erkenntnisse in den Neurowissenschaften zu verdanken (vgl. Pickenhain 2000, S.476f.). Im Bereich der Hirnforschung (s.u.) haben vor allem zwei Verfahren eine zentrale Bedeutung erlangt: Die Positronenemissionstomographie (PET) vereint die Vorteile tomographischer Schichtaufnahmen mit der selektiven Darstellung physiologischer Stoffwechselvorgänge. Mittels radioaktiv markierter Substanzen lassen sich beispielsweise der Blutfluss und der Glucoseverbrauch im Gehirn messen. Nachteile dieses Verfahrens sind die radioaktive Strahlenbelastung und die mangelhafte zeitliche Auflösung der durchgeführten Messungen (vgl. Hanser/Scholtyssek 2001, S.95). Diese Nachteile werden durch den in den vergangenen Jahren vermehrten Einsatz der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) aufgehoben. Die fMRT misst wie die PET die neuronale Aktivierung im Gehirn, die indirekt aufgrund einer veränderten Durchblutung einzelner Hirnareale erfasst wird. Im Vergleich zur PET zeichnet sich die fMRT vor allem durch eine hohe Bildauflösung aus, wobei 30 verschiedene Schichten in 1-3 Sekunden dargestellt werden können (vgl. Hanser/Scholtyssek 2000b, S.21f.).

Um eine Gesamtschau über die verschiedenen Disziplinen der Neurowissenschaften zu erhalten, werden diese kurz vorgestellt: Zunächst wäre die Neurobiologie als Grundlagenfach der Neurowissenschaften zu erwähnen, die mit den Methoden der Biologie zelluläre Vorgänge in tierischen und menschlichen Nervensystemen untersucht (vgl. Hanser/Scholtyssek 2000b, S.429f.). Als ein Teilgebiet der Neurobiologie bzw. der Physiologie wird die Neurophysiologie bezeichnet. Sie untersucht sowohl die Funktion von Nervensystemen bzw. von bestimmten Hirnarealen als auch die Funktion einzelner Nerven bzw. Nervenzellen (vgl. Hanser/Scholtyssek 2000b, S.464). Davon zu unterscheiden ist die Neuropsychologie als ein Teilgebiet der Neurologie, die als ein Brückenschlag zwischen den Neurowissenschaften und der Psychologie angesehen wird und sich im Vergleich zu den anderen Disziplinen erst relativ spät herausgebildet hat. Die Neuropsychologie erforscht die Grundlagen und Zusammenhänge von neuronalen, behavioralen (d.h. das Verhalten betreffenden) und psychischen Vorgängen oder Strukturen. Hierzu zählen die sog. „höheren kognitiven Leistungen“ des menschlichen Gehirns wie Wahrnehmung, Erkennen, Denken, Fühlen, Handeln, Lernen und Gedächtnis (vgl. Ebd. 2000b, S.465).

Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht die Hirnforschung (engl.: brain research), die sich für ein besseres Verständnis der Funktionsweise des menschlichen Gehirns interessiert. Sie gilt als das Paradebeispiel eines interdisziplinären Forschungsgebiets innerhalb der Neurowissenschaften (vgl. Hanser/Scholtyssek 2000b, S.142f.). Die Hirnforschung übernimmt und vereinigt die Erkenntnisse aus den zuvor beschriebenen neurowissenschaftlichen Disziplinen. Daraus könnte sich die Offenheit dieser Disziplin erklären, ihre Erkenntnisse in andere, nicht naturwissenschaftliche Bereiche zu transferieren, wie es das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) veranschaulicht.

2.2 Pädagogik und Schulpädagogik

Der Begriff Pädagogik kann als Synonym des Begriffs Erziehungswissenschaft verwendet werden, wenn darunter eine Wissenschaftsdisziplin von der Erziehung und Bildung verstanden wird und nicht nur eine Theorie der bloßen Wissensvermittlung. Damit geht die Klärung der Frage einher, was unter Erziehung und Bildung überhaupt zu verstehen ist (vgl. Schaller/Lersch/Baumgart 1977, S.325f.). Ohne im Folgenden auf die unterschiedlichen Strömungen in der Erziehungswissenschaft einzugehen,[3] besteht die Hauptaufgabe der Pädagogik darin, Erziehungs-, Unterrichts- und Ausbildungsprozesse unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zu beschreiben (vgl. Schaub/Zenke 1995, S.263). Die Pädagogik kann nach Altersstufen (z.B. Vorschulpädagogik, Schulpädagogik, Berufspädagogik, Erwachsenenbildung) und nach Fächern (z.B. Technikpädagogik, Wirtschaftspädagogik, Sozialpädagogik) in spezifische Teilgebiete gegliedert werden (vgl. Ebd. 1995, S.266).

Demnach stellt die Schulpädagogik ein Spezialgebiet der Pädagogik dar. Die Schule als Institution, in der Erziehungs- und Unterrichtsprozesse stattfinden, erlangt dabei eine zentrale Bedeutung. Unter dem Begriff Schulpädagogik wird eine Lehre vom Unterricht subsumiert, die in einen größeren schultheoretischen Gesamtzusammenhang gestellt wird, der sowohl die institutionellen Voraussetzungen der Schule als auch die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen hat. Mit anderen Worten ist die Schulpädagogik eine Theorie des Unterrichts im Rahmen einer Theorie der Schule (vgl. Ebd. 1995, S.310; vgl. Reinhold/Pollak/ Heim 1999, S.469f.).

2.3 Didaktik

Die Didaktik ist eine Teildisziplin der Erziehungswissenschaft bzw. Pädagogik. Es lassen sich zwei grundsätzliche Auffassungen voneinander unterscheiden: eine weite Auffassung von Didaktik als eine Wissenschaft vom Lehren und Lernen im Allgemeinen und eine engere Auffassung von Didaktik als Wissenschaft vom Unterricht mit Fokus auf Inhalts- und Zielfragen. Den verschiedenen Auffassungen ist jedoch gemeinsam, dass sie sich auf die beiden zentralen Aspekte der Didaktik begründen: Lehren und Lernen (vgl. Gudjons 2003, S.233).

Verschiedene Auffassungen von Didaktik finden sich in sog. didaktischen Modellen wieder. „Unter einem didaktischen Modell verstehen wir [...] ein erziehungswissenschaftliches Theoriegebäude, das didaktisches Handeln in Schule und außerschulischen Handlungsfeldern (z.B. der Volkshochschule) auf allgemeiner Ebene analysiert und modelliert, d.h. zur Planung hilft“ (Gudjons 2003, S.233). Diese didaktischen Modelle werden der Allgemeinen Didaktik zugerechnet, während es auch Spezielle Didaktiken wie Fachdidaktik (z.B. Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, Technik, Sozialwirtschaft), Stufendidaktik (je nach Altersstufe der Schüler) und empirische Lehr-Lern-Forschung gibt. Die Didaktik ist in besonderem Maße auf andere Bezugswissenschaften außerhalb der Pädagogik angewiesen. Die Grundlagen der Allgemeinen Didaktik gehen auf Erkenntnisse in der Philosophie, Psychologie, Soziologie und den Biowissenschaften[4] zurück. Außerdem müssen die Fachdidaktiken auf ihre jeweiligen Fachwissenschaften zugreifen, um eine entsprechende Vermittlung von Fachwissen zu gewährleisten (vgl. Jank/Meyer 2003, S.28ff.).

2.4 Handlungsorientierter Unterricht

Der Handlungsorientierte Unterricht (HoU) steht für ein Unterrichtskonzept, das durch fünf idealtypische Merkmale charakterisiert werden kann: Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit des Schülers[5], Orientierung des Unterrichts an der Lebensumwelt der Schüler (Schülerorientierung), Ganzheitlichkeit der Lehr- bzw. Lernmethoden, soziales bzw. kooperatives Lernen und Produkt- bzw. Ergebnisorientierung. In diesem Sinne lässt sich die Handlungsorientierung im Schulunterricht unter Zugrundelegung der Definitionen von Metzlaff und Vogt wie folgt bestimmen:

„Handlungsorientierter Unterricht ist ein umfassendes Konzept, welches das Handeln des Lernenden in den Mittelpunkt stellt. Handlungsorientierter Unterricht ist ein ganzheitlicher, schüleraktiver Unterricht, der kognitive, affektive und psychomotorische Lernprozesse anregt. Zentral ist das selbständige Planen, Durchführen und Kontrollieren einer komplexen, an der realen Umwelt orientierten Aufgabe durch den Lernenden“ (Metzlaff 2005, S.185). „Es werden höhere Lernziele wie Verstehen und Evaluation angestrebt, wobei gleichzeitig sachliche, soziale und personale Aspekte zu berücksichtigen sind. Dem Lehrer kommt primär eine beratende bzw. moderierende Rolle zu. Ziel des handlungsorientierten Unterrichts ist die Förderung der [beruflichen] Handlungskompetenz“ (Vogt 2002, S.53).

2.5 Lernen

Der Lernbegriff weist unterschiedliche Facetten auf und ist mit einer Vielzahl an Lerntheorien verbunden, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen wird. Im Folgenden werden die Aspekte herausgegriffen, die für das Lernen aus neurowissenschaftlicher Perspektive besonders relevant erscheinen.

In einem neurowissenschaftlichen Lexikon wird der Lernbegriff als „das Speichern von individuell und selektiv erworbenen Informationen aus der Umwelt im Gedächtnis in abrufbarer Form“ (Hanser/Scholtyssek 2000b, S.300) definiert. Demnach besitzt Lernen sowohl einen Prozesscharakter (Informationsaufnahme, -verarbeitung und -speicherung) als auch einen Produktcharakter, d.h. die Disposition, das künftige Verhalten entsprechend den „gelernten“ Erfahrungen auszurichten. Das Aufnehmen und Speichern von Informationen wird von deren Abrufen unterschieden. Beim Abruf handelt es sich um eine Gedächtnisleistung, die auch als Performance bezeichnet wird (vgl. Ebd., S.300).

Dieser neurowissenschaftliche Lernbegriff weist eine große Übereinstimmung zum Lernen als Informationsverarbeitung nach dem Computermodell auf und wird der „Theorie der kognitiven Organisation“ aus der pädagogischen Psychologie zugerechnet. Wie im folgenden Schaubild (Abb.1) dargestellt, werden die angenommenen kognitiven Abläufe der Informationsaufnahme und -verarbeitung im menschlichen Gehirn mit einem Computermodell verglichen (vgl. Böhm 1988, S.382).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1: Ein Gedächtnismodell von Informationsaufnahme und -verarbeitung (in Anlehnung an Gage/Berliner 1996, S.280)

In diesem Modell wird Lernen als ein kognitiver Prozess aufgefasst, der mentale Vorgänge wie Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Behalten und Vergessen beinhaltet (vgl. im Folgenden Gage/Berliner 1996, S.280f.). Am Ende des Informationsverarbeitungsprozesses sollten die relevanten Inhalte im Langzeitgedächtnis abgelegt sein, die mit der richtigen Suchstrategie jederzeit abgerufen werden können. Das Modell differenziert zwischen der äußeren Welt – symbolisiert durch den Stimulus bzw. Input – und den inneren kognitiven Abläufen (gestrichelte Umrandung). Der von der Umwelt hervorgerufene Stimulus wird als Muster erkannt und für den Bruchteil einer Sekunde im Ultrakurzzeitgedächtnis (sensorischer, unbewusster Speicher) festgehalten. Je nach Kodierung und Aufmerksamkeit wird ein Teil der Stimuli – man beachte, dass gleichzeitig unterschiedlichste Umweltreize auf uns einwirken – an unser Kurzzeitgedächtnis weitergegeben. Die restlichen Stimuli werden einfach vergessen bzw. nicht bewusst wahrgenommen. Im Kurzzeitgedächtnis wird die reduzierte Information festgehalten und kann durch Wiederholung und Vergegenwärtigung kodiert werden. Wird die Information als dauerhaft behaltenswert erachtet, findet ein Transfer in die sog. Gedächtnisstrukturen des Langzeitgedächtnisses statt. Im Unterschied zu Informationen im Kurzzeitgedächtnis, die durchaus wieder vergessen werden können, sind gespeicherte Informationen im Langzeitgedächtnis fest verankert und können prinzipiell nicht vergessen werden. Sie können jedoch verloren gehen, wenn beim Abruf die falsche Suchstrategie angewendet wird.

Eine andere Akzentuierung des Lernbegriffs liegt der Definition nach Bower/Hilgard zugrunde, die die Verhaltensänderung aufgrund des Lernprozesses hervorhebt.

„<Lernen> bezieht sich auf die Veränderung im Verhalten oder im Verhaltenspotential eines Organismus hinsichtlich einer bestimmten Situation, die auf wiederholte Erfahrungen des Organismus in dieser Situation zurückgeht, vorausgesetzt, daß diese Verhaltensänderung nicht auf angeborene Reaktionstendenzen, Reifung, oder vorübergehende Zustände (wie etwa Müdigkeit, Trunkenheit, Triebzustände, usw.) zurückgeführt werden kann“ (Bower/Hilgard 1983, S.31).

Bei dieser Definition wird Lernen als ein Prozess aufgefasst, der das Verhalten durch wiederholte Erfahrungen relativ dauerhaft beeinflusst. Jedoch werden die inneren kognitiven Vorgänge vollständig ausgeblendet. Es kann sich demnach nur um ein beobachtbares Verhalten handeln und weist dementsprechende Analogien zum Reiz-Reaktions-Schema des Behaviorismus von I.P. Pawlow und B.F. Skinner auf.[6]

Dieser Lernbegriff vernachlässigt die pädagogische Perspektive von Erziehung und Bildung des Menschen. Wird Lernen mit Erziehung und Bildung in Verbindung gebracht, dann ist eine Lernsituation dadurch gekennzeichnet, dass sie der Lernende „bewußt und zielgerichtet dominant zur Veränderung der eigenen Person zu nutzen beabsichtigt“ (Kell 1989, S.16). Demzufolge ist Lernen durch Bewusstheit (Reflexivität) und Zielgerichtetheit im Sinne einer persönlichen Sinnzuweisung gekennzeichnet und lässt sich nicht nur als eine beobachtbare Verhaltensänderung beschreiben.

3 Das menschliche Gehirn

3.1 Evolutionstheoretische Aspekte

Zum besseren Verständnis dieser Arbeit wird im nachfolgenden Kapitel das menschliche Gehirn aus neurowissenschaftlicher Perspektive dargestellt, was meines Erachtens für eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Pädagogik erforderlich ist. Zunächst werden einige evolutionstheoretische Aspekte bezüglich des Menschen und seines Gehirns angesprochen.[7]

Eine Schlüsselposition in der Entwicklung der Menschheit nimmt der Homo sapiens im engeren Sinne ein, der als Vorfahre des heutigen Menschen vor 600.000 bis 150.000 Jahren gelebt hat (vgl. Roth 2003, S.79). Laut der Evolutionstheorie gab es neben dem Homo sapiens mehrere Linien des Ordnungskriteriums Primaten[8], die teilweise gleichzeitig lebten und gelegentlichen Kontakt zueinander hatten. Doch seit ungefähr 25.000 Jahren sind auch die letzten Vertreter neben dem Homo sapiens – der Homo neanderthalensis („Neanderthaler“) und der Homo erectus – von der Erde verschwunden. Seitdem ist der Mensch alleiniger Vertreter seiner Art auf Erden, wobei die Ursache des Verschwindens der anderen Primaten nach wie vor rätselhaft bleibt und Anlass für unterschiedlichste Spekulationen bietet (vgl. Ebd., S.77ff.).[9]

Ein bedeutender Einschnitt in die Evolutionsgeschichte des Menschen erfolgte in jener Zeit vor ca. 30.000 Jahren. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „kulturellen Explosion“, die sich u.a. in einzigartigen Höhlenmalereien niederschlug.[10] Zum Ende der letzten Eiszeit, vor ca. 10.000 Jahren, entstanden erste Hochkulturen in China, am Indus[11], in Mesopotamien[12] und am Nil (Ägypten), über die ein fundiertes Wissen vorliegt. Beispielsweise geht die Erfindung der Schriftsprache und der Aufbau einer Verwaltung sowie die Entwicklung von Astronomie, Mathematik, Kunst und Kultur auf diese frühen Hochkulturen zurück (vgl. Ebd., S.80f.).

Im Laufe der Evolutionsgeschichte kam es zu einer starken Zunahme des menschlichen Gehirnvolumens. Innerhalb von 3,5 Millionen Jahren hat sich das menschliche Gehirnvolumen von rund 450 ccm auf rund 1300 bis 1400 ccm verdreifacht. Grundsätzlich lässt sich bei der Evolution der Säugetiere beobachten, dass sich deren Körpervolumina kontinuierlich vergrößert haben. Jedoch bleibt festzuhalten, dass das Verhältnis von Körper- zu Gehirnvergrößerung nicht proportional, sondern unterproportional erfolgte mit einem durchschnittlichen Exponenten (allometrischer Koeffizient) von rund 0,7. Dies bedeutet, dass bei einer Vergrößerung des Körpers die Größe des Gehirns zwar absolut zunimmt, jedoch in Relation zum Körpervolumen abnimmt. Was den Menschen in dieser Hinsicht auszeichnet, ist die Tatsache, dass sein relatives Gehirngewicht (in Prozent des Körpergewichts) im Verhältnis zur absoluten Körpergröße ungewöhnlich groß ist und im Vergleich zu anderen Säugetieren den Spitzenwert einnimmt (sog. Enzephalisationsquotient). Lediglich Delphine haben einen ähnlich hohen Enzephalisationsquotienten. Es lässt sich konstatieren, dass das menschliche Gehirn vor allem in den jüngsten Evolutionsphasen schneller wuchs als der Körper und dadurch die heutige „Bestmarke“ beim Enzephalisationsquotienten einnimmt. Erstaunlicherweise lässt sich seit der erwähnten „kulturellen Explosion“ keine wesentliche Vergrößerung des menschlichen Gehirns anhand anatomischer Befunde nachweisen. Dieser „große Sprung“ in der Menschheitsgeschichte mit seinen technologischen, wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften, lässt sich somit bis heute naturwissenschaftlich nicht erklären (vgl. Ebd., S.81ff.).

Als abschließendes Fazit bleibt festzuhalten, dass die Größe allein nicht das entscheidende Kriterium sein kann, wenn es um die Leistungsfähigkeit des Gehirns geht. Obwohl sich im Laufe der jüngeren Menschheitsevolution die Volumenzunahme vor allem der Großhirnrinde als besonderes Merkmal herausgestellt hat, bedarf es nach Meinung führender Hirnforscher der Berücksichtigung zellulärer Vorgänge in der Hirnrinde, von denen noch zu sprechen sein wird (vgl. Singer 2002, S.63).

3.2 Zur Anatomie des Gehirns

Das Gehirn bildet zusammen mit dem Rückenmark das zentrale Nervensystem (ZNS) des Menschen. Im ZNS sind die kognitiven, exekutiven, motorischen und emotionalen Leistungen des Nervensystems verankert. Das Gehirn seinerseits kann in Groß- bzw. Endhirn, Zwischenhirn, Mittelhirn, Brücke, Kleinhirn sowie verlängertes Mark eingeteilt werden (vgl. Roth 2003, S.94f.). Die enorme Leistungsfähigkeit des Gehirns spiegelt sich u.a. im hohen Energieverbrauch wider, wobei ca. 20% der Gesamtenergie des menschlichen Organismus vom Gehirn benötigt wird, obwohl es nur ca. 2% des Körpergewichts ausmacht (vgl. Spitzer 2007, S.13f.)

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Abb. 2.: Das menschliche Gehirn (nach Kandel/Schwartz/Jessell 1996, S.9)

Das verlängerte Mark (Medulla oblongata) bildet die direkte Verlängerung des Rückenmarks zum eigentlichen Gehirn. Es ist der Ort des Ein- und Austritts mehrerer Hirnnerven, die an der Steuerung lebenswichtiger Körperfunktionen wie Schlafen, Wachen, Blutkreislauf und Atmung beteiligt sind (vgl. Roth 2003, S.94f.).

Das menschliche Kleinhirn (Cerebellum) macht ca. 10 % des Gehirnvolumens aus (vgl. Hanser/Scholtyssek 2000b, S.241). Das Kleinhirn, das über die Brücke (Pons) verbunden unter dem Einfluss der Großhirnrinde steht, ist an der Feinregulierung der Muskeln beteiligt und stellt ein wichtiges Zentrum motorischer Fertigkeiten dar (vgl. Roth 2003, S.97). So ist dieser Hirnteil an der Koordination und Kontrolle zielgerichteter Bewegungen beteiligt (vgl. Hanser/Scholtyssek 2000b, S.242). Außerdem hat das Kleinhirn erheblichen Anteil an kognitiven Leistungen und an der Sprache, ohne jedoch dem Bewusstsein zugänglich zu sein (vgl. Roth 2003, S.97).

Das Mittelhirn (Mesencephalon) kontrolliert verschiedene sensorische und motorische Funktionen wie Augen- und Kopfbewegungen sowie die Koordination visueller und auditorischer Reflexe (vgl. Kandel/Schwartz/Jessell 1996, S.10). Das Zwischenhirn (Diencephalon) liegt tief im Innern des Gehirns zwischen Mittelhirn und Endhirn und umfasst zwei Strukturen: Thalamus und Hypothalamus. Der Thalamus verarbeitet einen Großteil der sensorischen und motorischen Informationen, die vom restlichen ZNS zur Großhirnrinde gelangen (vgl. Ebd., S.83). „Der Hypothalamus ist das wichtigste Regulationszentrum des Gehirns für vegetative [d.h. unbewusst ablaufende, Anmerk. d. Verf. ] Funktionen wie Atmung, Kreislauf, Nahrungs- und Flüssigkeitshaushalt, Wärmehaushalt, Biorhythmen und immunologische Reaktionen. Er beeinflusst lebens- und überlebenswichtiges Verhalten wie Flucht, Verteidigung, Fortpflanzung und Nahrungsaufnahme“ (Roth 2003, S.98).

Das Großhirn bzw. Endhirn (Telencephalon) bildet die bei weitem größte Region des Gehirns, die auch für die enorme Größenzunahme in der menschlichen Evolutionsgeschichte verantwortlich gewesen ist. Das Großhirn umfasst die Hirnrinde sowie subcortikale Anteile (d.h. tiefer liegende Strukturen): Basalganglien, Hippocampus und Amygdala bzw. Mandelkern, die die Steuerung motorischer Aktivitäten, die Speicherung von Informationen (Aufmerksamkeit und Gedächtnis), die emotionale Bewertung und Verhaltenssteuerung beeinflussen (vgl. Roth 2003, S.98f.; vgl. Kandel/ Schwartz/Jessell 1996, S.10). Die Großhirnrinde[13] wird durch die stark gefaltete Oberfläche der beiden Großhirnhälften (Hemisphären) mit ihren Hirnfurchen verkörpert, die sich im Laufe der jüngeren Evolutionsgeschichte ausgeprägt haben (vgl. Ebd., S.83). Die beiden Großhirnhälften werden über den Balken (Corpus callosum) verbunden, der für den Informationsaustausch (Reizübertragung) zwischen den beiden Hemisphären verantwortlich ist (vgl. Hanser/Scholtyssek 2000a, S.146f.).

Die Großhirnrinde kann in den Isocortex und Allocortex eingeteilt werden. Der Isocortex wird wiederum in vier Lappen unterteilt.[14] Aufgrund der Unterschiede des Isocortex hinsichtlich Zelltypen, Zellkörpergröße und Zelldichte wird er in unterschiedliche Hirnrindenareale eingeteilt, die sich an anatomischen oder funktionellen Kriterien orientieren (vgl. Roth 2003, S.98f.; vgl. Hanser/Scholtyssek 2000b, S.105). Beispielsweise gibt es Areale, die sich überwiegend mit der Verarbeitung und Weiterleitung von visuellen, auditorischen, motorischen oder somatosensorischen (d.h. Druck, Berührung und Schmerz betreffenden) Signalen befassen (vgl. Hanser/Scholtyssek 2001, S.264; vgl. Singer 2002, S.64). Die sensorische Verarbeitung von Sprachmaterial wird mit dem nach seinem Entdecker benannten Wernicke-Areal in Verbindung gebracht. Dieses Areal ist vorwiegend für das Verständnis gesprochener Sprache zuständig und ist bei den meisten Menschen in der linken Hemisphäre lokalisiert (vgl. Hanser/Scholtyssek 2001, S.447). Ein wichtiger Nervenstrang führt u.a. zum Broca-Areal, das ebenfalls nach seinem Erfinder benannt als Sprachzentrum gilt, d.h. für die expressive Sprechleistung verantwortlich ist (vgl. Hanser/Scholtyssek 2000a, S.212). Hingegen beinhaltet der Allocortex den entwicklungsgeschichtlich besonders alten Anteil der Riechrinde sowie Teile des Mandelkern-Komplexes und der Hippocampus -Formation (vgl. Roth 2003, S.98f.; vgl. Hanser/Scholtyssek 2000a, S.50).

3.3 Neuronale Prozesse

In der Neurophysiologie werden auf der Makroebene die Funktionen des Nervensystems bzw. auf Mikroebene der einzelnen Nervenzellen untersucht (vgl. Hanser/ Scholtyssek 2000b, S.464). Die Hauptaufgabe der Nervenzelle (griech.: Neuron) besteht darin, Informationen weiterzuleiten und zu verarbeiten. Für diese spezielle Aufgabe besitzt sie erstens eine spezialisierte Plasmamembran, die die elektrische Erregungsleitung ermöglicht. Zweitens verfügen Nervenzellen untereinander über spezielle Kontaktstellen (sog. Synapsen), die die Informationsübertragung auf nachgeschaltete Nervenzellen erlauben. Drittens weist das Neuron eine besondere Zellform auf, die die Vernetzung und Informationsübertragung zwischen vielen, teilweise weit voneinander entfernten Nervenzellen ermöglicht (vgl. Hanser/ Scholtyssek 2000b, S.420). Typischerweise wird die Nervenzelle in drei Bereiche unterteilt (vgl. im Folgenden Ebd., S.420f.; vgl. Roth 2003, S.102ff.): Zellkörper (Soma), Dendriten und Axon.

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Abb. 3: Eine Nervenzelle mit Zellkörper (Soma), „Empfängerstrukturen“
(Dendriten), „Senderstruktur“ (Axon) und informationsübertragenden
Strukturen (Synapsen); entnommen aus: Braun/Meier 2004, S.511.

Der Zellkörper enthält den Zellkern, dessen Hauptaufgabe in der Speicherung der genetischen Information besteht (vgl. Hanser/Scholtyssek 2001, S.477). Der Dendritenbaum mit seiner unterschiedlichen Anzahl von Dendriten empfängt die Signale von anderen Nervenzellen und leitet diese in Richtung Zellkörper weiter. Der Fortsatz einer Nervenzelle wird Nervenfaser oder Axon genannt und kann zwischen wenigen Mikrometern (Tausendstel Millimeter) und mehr als einem Meter lang sein. Das Axon leitet elektrische Signale vom Zellkörper weg und führt sie anderen Neuronen oder ausführenden Organen wie Muskeln oder Drüsen zu. Am äußersten Ende der verzweigten Dendritenbäume bildet das Neuron mit der nachgeschalteten Zelle eine interzelluläre Kontaktstruktur, die man als Synapse bezeichnet. Den vorgeschalteten (axonalen) Teil dieser Struktur nennt man Präsynapse. Auf ein ankommendes elektrisches Signal (Erregung) setzt diese chemische Botenstoffe (Neurotransmitter) frei, die den sog. synaptischen Spalt (weniger als ein Tausendstel Millimeter breit) überbrücken, um an der Kontaktstruktur zur nachgeschalteten Zelle (Postsynapse) erneut eine elektrische Signalübertragung zu bewirken. Synapsen, bei denen ein elektrisches in ein chemisches Signal, um dann erneut in ein elektrisches Signal übersetzt zu werden, nennt man asymmetrische bzw. chemische Synapsen. Im Gegensatz dazu spricht man von symmetrischen bzw. elektrischen Synapsen, bei denen die Signalübertragung über sehr enge Zellkontakte (gap junctions) direkt erfolgt, d.h. ohne die Freisetzung von Neurotransmittern.

Auf der Makroebene enthält das menschliche ZNS etwa 2*1010 (200 Milliarden) Nervenzellen (vgl. Hanser/Scholtyssek 2000b, S.421). Wenn zusätzlich die immense Komplexität berücksichtigt wird, die durch die Verschaltung zwischen den einzelnen Neuronen besteht, dürfte es einleuchtend sein, dass die Neurowissenschaften die komplexen neuronalen Vorgänge im Detail nicht nachvollziehen können (vgl. Roth 2003, S.123).[15] Die Regulierung der Anzahl dieser Kontaktstellen und deren Effektivität bzw. Stärke stellt die neurobiologische Grundlage von Lernen und Gedächtnis dar.

3.4 Lernen, Gedächtnis und Emotionen

Wie bereits in Kap. ‎2.5 thematisiert, wird das Lernen durch längerfristige Verhaltensänderungen charakterisiert. Der spezifische Lernprozess beim Menschen kann mit dem vorgestellten Modell der Informationsverarbeitung (Computermodell) abgebildet werden, wobei sich vor allem Anknüpfungspunkte zum (neuro-) psychologischen Erklärungsansatz ergibt. Ein solcher Ansatz unterscheidet die Gedächtnisleistungen des menschlichen Gehirns nach der Zeitstruktur. Im Allgemeinen wird die Einteilung in ein Ultrakurzzeitgedächtnis[16], Kurzzeitgedächtnis[17] und Langzeitgedächtnis[18] vorgenommen, die sich durch das Ausmaß und die Dauer der synaptischen Veränderungen voneinander unterscheiden (vgl. Roth 2003, S.171). Demnach kommt es auf neurobiologischer Ebene zu einer mehr oder weniger dauerhaften Veränderung im menschlichen Nervensystem (vgl. Müller 2005, S.53).

Aufgrund experimenteller Untersuchungen kann man darauf schließen, dass neue Gedächtnisinhalte anfänglich in einer störbaren, vergesslichen Form vorliegen (Kurzzeitgedächtnis) und erst im Zeitverlauf in einen stabileren, störunempfindlicheren Zustand (Langzeitgedächtnis) überführt bzw. konsolidiert werden (vgl. Roth 2003, S.172). Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung mittels Positronenemissionstomographie (PET), dass beim Speichern neuer Informationen – d.h. beim Transfer vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis – andere Hirnregionen beteiligt sind als beim späteren Abruf von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis (vgl. Ebd., S.170; vgl. Hanser/Scholtyssek 2000b, S.300).

Zum besseren Verständnis des Zusammenhangs von Lernen und Gedächtnis ist es hilfreich, eine weitere Unterscheidung nach den verarbeiteten Inhalten vorzunehmen, wie sie von dem amerikanischen Psychologen L.R. Squire bzw. seinem Kollegen D.L. Schacter vorgenommen wurde: die Abgrenzung eines deklarativen bzw. expliziten Gedächtnis von einem nicht-deklarativen bzw. impliziten Gedächtnis (vgl. Roth 2003, S.154). Das Erstgenannte speichert Fakten und Wortbedeutungen (semantisches Gedächtnis) sowie Erinnerungen an Ereignisse (episodisches bzw. autobiografisches Gedächtnis). Alle Inhalte dieser Gedächtnisart sind prinzipiell sprachlich erklärbar und unmittelbar von Bewusstsein begleitet (vgl. Ebd., S.154f.; vgl. Vaas 2000b, S.39).[19] Das deklarativ-explizite Gedächtnis wird aufgrund neurowissenschaftlicher Untersuchungen vor allem Strukturen des sog. limbischen Systems (s.u.) und Teilen des präfrontalen Cortex zugeordnet (vgl. Brand/ Markowitsch 2006, S.66f.). Der sog. hippocampalen Formation kommt als „Organisator“ dieses Gedächtnisses eine Schlüsselrolle zu, wobei der Speicherort in bestimmten Arealen des Isocortex liegt (vgl. Roth 2003, S.163,167).

[...]


[1] Die prominentesten Beispiele finden sich in dem Themenschwerpunkt „Gehirnforschung und Pädagogik“ in der Zeitschrift für Pädagogik (50.Jg., H.4, 2004) sowie „Biowissenschaft und Erziehungswissenschaft“ im Beiheft 05/2006 der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft.

[2] Der Begriff „neurosciences“ wurde erstmals in den USA in den späten 1950er Jahren nach dem heutigen Verständnis verwendet. Die zunehmende Bedeutung der Neurowissenschaften spiegelt sich u.a. in der Deklaration des Senats der USA wider, wonach das letzte Jahrzehnt des 20. Jh. (1990-1999) zur „Decade of the Brain“ erklärt wurde (vgl. Pickenhain 2000, S.475f.).

[3] Es können drei Hauptströmungen unterschieden werden: geisteswissenschaftliche Pädagogik, empirisch-analytische Erziehungswissenschaft und kritische Erziehungswissenschaft.

[4] Unter dem Begriff der Biowissenschaften werden die naturwissenschaftlichen Forschungsrichtungen subsumiert, die sich mit Lebewesen befassen (d.h. Biologie und verwandte Fachwissenschaften). In diesem Zusammenhang wird auch häufig von den sog. Life Sciences gesprochen.

[5] Im Sinne einer besseren Lesbarkeit wird ausschließlich die männliche Form verwendet. Gemeint sind selbstverständlich auch die Schülerinnen bzw. die weibliche Form.

[6] Es wird unterschieden nach den Lernarten des klassichen Konditionierens (Pawlow) und des instrumentellen Konditionierens bzw. operanten Lernens (Skinner). Einen guten Überblick über diese Lernarten findet sich bei Bower/Hilgard 1983, S.80ff., S.247ff. Beide Modelle sind v.a. von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik heftig kritisiert worden wegen ihrer Beschränkung auf das beobachtbare Verhalten (Black-Box-Annahme), der Übertragung des Verhaltens vom Tier auf den Menschen und der Überbetonung des reaktiven Moments gegenüber dem aktiven Moment beim Menschen, dessen Wille und Motive unberücksichtigt bleiben.

[7] In diesem Zusammenhang wird hauptsächlich auf die Ausführungen des anerkannten Verhaltensphysiologen und Hirnforscher Gerhard Roth zurückgegriffen, der die evolutionstheoretischen Aspekte in einer anschaulichen und nachvollziehbaren Weise darlegt, die für die Zielsetzung dieser Arbeit gut geeignet ist.

[8] Der Begriff Primaten kommt von dem lateinischen Wort Primates und kann als „Herrentiere“ übersetzt werden (vgl. Roth 2003, S.74).

[9] Bezüglich des Neanderthalers wurde u.a. hervorgebracht, dass ihm der Kontakt mit dem Homo sapiens zum Verhängnis wurde, durch die Übertragung von Infektionskrankheiten gegen die der moderne Mensch immun war. Jedoch ist es keineswegs erwiesen, ob die beiden Arten in Europa überhaupt nennenswert in Kontakt gekommen sind. Eine andere Theorie lautet, dass der moderne Mensch im Kampf um Nahrung dem Neanderthaler überlegen war durch eine effektivere Jagdtechnik im Sinne von geeigneten Werkzeugen (z.B. Lanzen) bei der Großwildjagd. Diese Theorie wird untermauert durch den Vergleich von Skeletten, wobei die häufigen Knochenbrüche beim Neanderthaler auf Verletzungen hinweisen, die er sich beim Nahkampf mit Großwild zugezogen haben könnte (vgl. Roth 2003, S.79f.).

[10] Zum Beispiel in Altamira (in der heutigen Provinz Kantabrien in Nordspanien) und Lascaux (Südfrankreich).

[11] Der Indus ist der längste Fluss auf dem indischen Subkontinent. Der Indus entspringt im Himalaya (Tibet) und fliesst durch Pakistan, bevor er ins Arabische Meer mündet.

[12] Mesopotamien wird auch als Zwei- bzw. Zwischenstromland zwischen Euphrat und Tigris bezeichnet. Der größte Teil Mesopotamiens liegt im heutigen Irak.

[13] Sie umfasst eine Oberfläche von etwa 2500 cm2 (vgl. Glees 1971, S.106), wobei ein mm3 Hirnrinde 40.000-60.000 Neuronen enthält (vgl. Singer 2002, S.63; vgl. Singer 2006, S.13).

[14] Hinterhauptslappen (Lobus occipitalis), Schläfenlappen (Lobus temporalis), Scheitellappen (Lobus parietalis) und Stirnlappen (Lobus frontalis).

[15] Zur Verdeutlichung: Im Durchschnitt bildet jedes der ca. 200 Milliarden Neuronen etwa 1000 synaptische Kontakte aus und empfängt seinerseits etwa 10.000-20.000 Verbindungen (vgl. Hanser/ Scholtyssek 2001, S.327; vgl. Singer 2006, S.13).

[16] Im Ultrakurzzeitgedächtnis, dem sog. reizspezifischen sensorischen Gedächtnis, werden Wahrnehmungseindrücke für wenige Sekunden festgehalten (vgl. Vaas 2000b, S.38).

[17] Zwischen Ultrakurzzeitgedächtnis und Kurzzeitgedächtnis besteht eine Art Filter, der nur bestimmte Eindrücke weiterleitet, wobei die Aufnahmekapazität des Kurzzeitgedächtnisses auf durchschnittlich sieben Einheiten (z.B. Objekte, Ziffern, Namen oder Stimulationen) beschränkt ist, an die sich eine Person gleichzeitig erinnern kann. Der aufgenommene Inhalt bleibt je nach Definition zwischen 40 Sekunden und mehreren Minuten im Kurzzeitgedächtnis haften (vgl. Vaas 2000b, S.38; vgl. Brand/Markowitsch 2006, S.61).

[18] Das Langzeitgedächtnis übernimmt die längerfristige Speicherung von Informationen. Dabei kann es sich um Tage, Monate oder ein ganzes Leben handeln. Das Langzeitgedächtnis ist demnach ein Permanentspeicher mit sehr großer Speicherkapazität (vgl. Vaas 2000b, S.38f.).

[19] Als Beispiel wäre die Erinnerung an die letzte Urlaubsreise zu nennen, wobei in der Regel einzelne Erlebnisse stärker im Gedächtnis haften geblieben sind als andere. Der Grund für diese unterschiedliche Bewertung liegt im emotionalen Erleben (s.u.).

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Neurowissenschaften und Schulpädagogik. Handlungsorientierter Unterricht
Hochschule
Universität Hohenheim  (Berufs- und Wirtschaftspädagogik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
88
Katalognummer
V87931
ISBN (eBook)
9783638026987
ISBN (Buch)
9783638925907
Dateigröße
3100 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Neurowissenschaften, Schulpädagogik, Erörterung, Beispiel, Unterrichts
Arbeit zitieren
Dipl.-Hdl. Björn Widmann (Autor:in), 2007, Neurowissenschaften und Schulpädagogik. Handlungsorientierter Unterricht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87931

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