Menschen mit Down-Syndrom: Verhaltensänderungen im Alter


Diplomarbeit, 2007

177 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1
1. Einleitung
2. Verhaltensänderungen bei Menschen mit Down-Syndrom im Alter
3. Übersicht über die einzelnen Kapitel dieser Arbeit

Kapitel 2 - Theoriekapitel
1. Geistige Behinderung
1.1 Definition der AAMR (2002)
1.2 WHO-Klassifikationen
1.3 Definition nach ICD-10
1.4 Definition nach DSM-IV
1.5 Definition nach dem Sozialgesetzbuch (SGB)
1.6 Paradigmata von Behinderung
2. Down-syndrom
2.1 Historische Aspekte
2.2 Entstehung des Down-Syndroms
2.3 Häufigkeit des Down-Syndroms
2.4 Formen des Down-Syndroms
2.5 Folgen des Down-Syndroms
3. Zu den Begriffen „Alter“ und „Altern“
4. Beginn des Alter(n)s und der Alterungsprozess bei Menschen mit Down- Syndrom
5. Zur Berücksichtigung der Alternstheorien - das soziologische Alter(n) von Menschen mit geistiger Behinderung
5.1 Altern als „Soziales Schicksal“
5.2 Defizittheorie
5.3 Disengagementtheorie (1961)
5.4 Aktivitätstheorie (1962)
5.5 Kontinuitätstheorie (1971)
5.6 Kompetenztheorie (1990)
6. Kompetenzformen bei älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Be­hinderung
6.1 Zur Definition von Kompetenz
6.2 Selbständigkeit - Selbstverantwortung - sinnerfüllte Lebensgestaltung
6.3 Die Bedeutung der Umwelt
6.3.1 Räumliche Umwelt
6.3.2 Soziale Umwelt Exkurs: Soziale Netzwerke von älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Behinderung
6.3.3 Infrastrukturelle Umwelt
6.4 Kompetenzformen bei älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Be­hinderung
6.5 Kompetenz fördernde Konzepte in der Behindertenhilfe
7. Verhaltensänderungen aufgrund von Erkrankungen
7.1 Allgemeines
7.2 Schmerzen
7.3 Wahrnehmungsstörungen
7.3.1 Hörprobleme
7.3.2 Sehprobleme
7.4 Schilddrüsenfunktionsstörungen
7.4.1 Hypothyreose
7.4.2 Hyperthyreose
7.5 Autoimmunerkrankungen
7.5.1 Zöliakie
7.5.2 Perniziöse Anämie
7.5.3 Diabetes mellitus
7.6 Gynäkologische Themen
7.6.1 Prämenstruelles Syndrom (PMS)
7.6.2 Wechseljahre (Klimakterium)
7.7 Spätepilepsie
7.8 Orthopädische Probleme
7.8.1 Atlanto-axiale Instabilität
7.8.2 Osteoporose
7.9 Atemstörungen (Apnoe)
7.10 Übergewicht und Adipositas
8. Verhaltensänderungen aufgrund der Demenz vom Alzheimer Typ
8.1 Was ist Demenz?
8.2 Erscheinungsformen von Demenz
8.3 Was ist eine Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT)?
8.4 Epidemiologie
8.4.1 Mittlere Lebenserwartung bei Menschen mit Down-Syndrom
8.4.2 Inzidenz und Prävalenz
8.5 Risikofaktor Down-Syndrom
8.6 Diagnose DAT
8.7 Verlauf der Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT)
8.8 Symptome der Demenz Exkurs: Das psycho-biologische Modell der Demenz vom Alzheimer-Typ
9. Verhaltensänderungen aufgrund von psychischen Störungen

Kapitel 3 - Methodenkapitel
1. Die Untersuchungsmethode
1.1 Die schriftliche, standardisierte Befragung
1.1.1 Merkmale der Befragung bzw. des Fragebogens
1.1.2 Vorteile und Nachteile eines Fragebogens
1.2 Begründung der Wahl der Untersuchungsmethode
2. Fragebogenkonstruktion
2.1 Auswahl der Befragten
2.2 Auswahl der Stichprobe
2.3 Formulierung und Arten von Fragen
2.4 Auswahl und Formulierung der Fragen und Antworten
2.5 Aufbau des Fragebogens
2.6 Der Fragebogen
2.7 Das Deckblatt des Fragebogens
2.8 Das Anschreiben
3. „Pretest“
4. Verteilung des Fragebogens sowie des Anschreibens

Kapitel 4 - Empirie/Ergebniskapitel
1. Rücklaufquote
2. Persönliche Daten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
2.1 Alterstruktur der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
2.2 Geschlechtsverteilung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
2.3 Ausbildungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
2.4 Dauer der Tätigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Behinderten­hilfe insgesamt
2.5 Vorbereitung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die Arbeit mit älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Behinderung
2.6 Art der Anstellung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
2.7 Dauer der Tätigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Einrichtung ...
3. Die Arbeitsbereiche der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die von ihnen betreuten Personen mit geistiger Behinderung in diesen Arbeitsbereichen
3.1 Arbeitsbereiche der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
3.2 Spezielle Angebote für älter werdende und alte Menschen mit geistiger Be­hinderung in den Arbeitsbereichen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
3.3 Anzahl der betreuten Personen mit geistiger Behinderung in den Arbeitsberei­chen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter insgesamt
3.4 Anzahl der betreuten Personen mit Down-Syndrom
3.5 Alterstruktur der Personen mit Down-Syndrom
4. Angaben der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu den von ihnen betreuten Personen mit Down-Syndrom (> 40 Jahre)
4.1 Geschlechtsverteilung bei den Personen mit Down-Syndrom
4.2 Die häufigsten Wohnformen der Personen mit Down-Syndrom
4.3 Kontakthäufigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu den Personen mit Down-Syndrom
4.4 Erkrankungen bei den Personen mit Down-Syndrom
5. Ver(haltens)änderungen bei älter werdenden und alten Menschen mit Down- Syndrom
5.1 Auftretenshäufigkeit der Ver(haltens)änderungen
5.2 Zeitpunkt des Auftretens der Ver(haltens)änderungen
5.3 Reaktionen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die Ver(haltens)ände- rungen
6. Antworten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu bestimmten Aussagen
7. Kompetenzformen bei älter werdenden und alten Menschen mit Down- Syndrom
7.1 Bedeutsame Merkmale von Kompetenz bei älter werdenden und alten Men­schen mit Down-Syndrom
7.2 Erhaltung und Förderung der Kompetenzen von älter werdenden und alten Menschen mit Down-Syndrom durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Kapitel 5 - Diskussionskapitel
1. Zur Repräsentativität der Empirie
2. Vorbereitung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die Arbeit mit älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Behinderung
3. Zu den von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreuten älter werdenden und alten Menschen mit Down-Syndrom
4. Kompetenzformen bei älter werdenden und alten Menschen mit Down- Syndrom
4.1 Merkmale von Kompetenz
4.2 Erhaltung und Förderung der Kompetenzen
5. Erkrankungen von älter werdenden und alten Menschen mit Down-Syndrom ..
5.1 Sehprobleme
5.2 Schilddrüsenfunktionsstörungen
5.3 Übergewicht und Adipositas
5.4 Hörprobleme
5.5 Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT)
5.6 Depression
5.7 Epilepsie
6. Ver(haltens)änderungen bei älter werdenden und alten Menschen mit Down- Syndrom im Vergleich zu älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Behinderung insgesamt
7. Ver(haltens)änderungen aufgrund der DAT
7.1 DAT und das Auftreten der Ver(haltens)änderungen
7.2 DAT und die Reaktionen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf die Ver(haltens)änderungen
7.3 Gleichzeitiges Auftreten von DAT und Epilepsie bzw. Depression
7.4 DAT und Merkmale von Kompetenzen
7.5 DAT und Erhaltung und Förderung der Kompetenzen
8. Ver(haltens)änderungen aufgrund von Depression

Kapitel 6 - Zusammenfassung
1. Zusammenfassung
2. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhänge
1. ICD-10 - Kapitel V - Intelligenzstörungen (F70-F79)
2. Jantzen, Wolfgang (1997): Zur Neubewertung des Down-Syndroms
3. ICD-10 - Kapitel V - Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen (F00-F09)
4. Deckblatt des Fragebogens
5. Fragebogen
6. Anschreiben
7. Übersicht über die jeweiligen Antworten der einzelnen Fragebogen

Kapitel 1

1. Einleitung

Die Bevölkerung wird immer älter. Der demografische Wandel ist unumkehrbar. Erfreuli­cherweise hat dieser inzwischen auch nach und nach die Menschen mit geistiger Behinderung erreicht. Nach Stöppler (2004) handelt es sich „heute in Deutschland ... um die erste Genera­tion von Menschen mit geistiger Behinderung ..., die alt werden kann“ (Stöppler, 2004, S. 161). Bis Anfang der 1980er Jahre war das Alter(n) von Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland kaum ein Thema (vgl. ebd.). Erst in den 1980er Jahren erschienen in Deutsch­land die ersten Publikationen u.a. der Bundesvereinigung Lebenshilfe (1983), die dieses The­ma aufgegriffen haben. Speck schrieb 1983: „Mit dem älteren geistig behinderten Menschen haben wir uns bisher kaum wissenschaftlich differenziert befaßt. Empirische Untersuchungen fehlen weithin“ (Speck, 1983, S. 6). Mehr als zehn Jahre später schrieben Trost & Metzler: „Nach wie vor besteht aber auch ein breites Spektrum von Fragestellungen, die teils kontro­vers diskutiert werden, teils mangels verläßlicher Daten nicht beantwortet werden können“ (Trost/Metzler, 1995, S. 11). Auch heute noch fehlen empirische Untersuchungen und ver­lässliche Daten weitestgehend. Menschen mit Down-Syndrom haben bereits seit Beginn des wissenschaftlichen Interesses an dem Alter(n) von Menschen mit geistiger Behinderung eine gewisse Sonderposition eingenommen. Insbesondere der Beginn und der Verlauf des Al- ter(n)s von Menschen mit Down-Syndrom werden nach wie vor sehr kontrovers diskutiert (vgl. ebd.). (Aktuelle) empirische Daten fehlen jedoch auch hier gänzlich. Höchste Zeit also einmal selbst das Thema in die Hand zu nehmen und in die Diskussion einzusteigen.

2. Verhaltensänderungen bei Menschen mit Down-Syndrom im Alter

Das Thema dieser Arbeit lautet „Verhaltensänderungen bei Menschen mit Down-Syndrom im Alter“. Bei Menschen mit Down-Syndrom kommt es im Alter aus den verschiedensten Grün­den (häufig) zu Verhaltensänderungen. Diese können Teil des „normalen“ Alterungsprozesses sein oder aber auch auf eine Erkrankung hinweisen. Da Menschen mit Down-Syndrom u.a. aufgrund mangelnder Kommunikationsfähigkeit sich selbst (oft) anderen nicht verbal mittei­len können, gilt folgendes:

„Eine Verhaltensänderung muss genauso als eine Form von Kommunikation angesehen wer­den.“ (Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006, S. 7)

Diese Arbeit will dabei helfen diese Form der Kommunikation zu verstehen, indem hier ne­ben Erkrankungen, auch die Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT) sowie psychische Störun­gen, die alle insbesondere bei älter werdenden und alten Menschen mit Down-Syndrom (spe­zifische) Verhaltensänderungen mit sich bringen, ausführlich skizziert werden. Neben der Akzentuierung auf den Verhaltensänderungen liegt ein weiterer Schwerpunkt dieser Arbeit auf der Kompetenzorientierung. Unabhängig von Verhaltensänderungen z.B. aufgrund einer DAT haben Menschen mit Down-Syndrom Kompetenzen, die es zu erhalten, zu fördern oder zu (re)aktivieren gilt.

Diese Arbeit ist für Angehörige und Eltern von Menschen mit Down-Syndrom. Sie will ihnen aufzeigen, dass Menschen mit DS nicht grundsätzlich anders altern, dass ihre Lebenserwar­tung nicht grundsätzlich gering(er) ist und vor allem, dass nicht alle Menschen mit Down- Syndrom (im Alter) an einer DAT erkranken. Sie will aber auch deutlich machen, dass älter werdende und alte Menschen mit Down-Syndrom (noch) über Kompetenzen bis ins hohe Al­ter hinein verfügen. Insgesamt soll hier ein positives Bild der älter werdenden und alten Men­schen mit Down-Syndrom gezeichnet werden.

Diese Arbeit ist auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Behindertenhilfe, die erst in den letzten Jahren vermehrt auch älter werdende und alte Menschen mit DS betreuen und die noch Wissenslücken bei dem Thema Verhaltensänderungen insbesondere aufgrund von DAT und Depression bei Menschen mit Down-Syndrom haben. Diese Arbeit ist aber auch vor allem für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, weil sie deutlich machen will, wie wichtig die Aktivierung der älter werdenden und alten Menschen mit Down-Syndrom (mit oder ohne DAT) ist, damit Kompetenzen nicht verloren gehen und so lange wie möglich er­halten bleiben.

3. Übersicht über die einzelnen Kapitel dieser Arbeit

In dem Theoriekapitel (Kapitel 2) dieser Arbeit wird zunächst auf den Begriff, die gängigsten Definitionen und die Paradigmata der (geistigen) Behinderung eingegangen (siehe 1.). In 2. geht es um das Down-Syndrom im Speziellen (historische Aspekte, Entstehung, Häufigkeit, Formen sowie Folgen). Auf die Begriffe „Alter“ und „Altern“ wird in 3. näher eingegangen.

In 4. geht es um den Beginn des Alter(n)s und den Alterungsprozess bei Menschen mit Down- Syndrom. Die Alternstheorien werden in 5. berücksichtigt und somit ein Blick auf das sozio­logische Alter(n) von Menschen mit geistiger Behinderung geworfen. Der erste Schwerpunkt dieser Arbeit findet sich in 6., wo es um die Kompetenzformen bei älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Behinderung geht. In den nachfolgenden Abschnitten liegt die Akzen­tuierung auf den Verhaltensänderungen. Es werden zunächst die Verhaltensänderungen auf­grund von Erkrankungen (siehe 7.), dann aufgrund der DAT (siehe 8.) und schließlich auf­grund von psychischen Störungen (siehe 9.) ausführlich skizziert.

In dem Kapitel 3 (Methodenkapitel) wird die angewandte Methodik dargestellt und begrün­det. Dazu wird zunächst die Untersuchungsmethode vorgestellt (siehe 1.), danach die Fragen­bogenkonstruktion beschrieben (siehe 2.). Neben dem „Pretest“ (siehe 3.) wird in 4. schließ­lich auch kurz auf die Verteilung des Fragebogens und des Anschreibens eingegangen.

Die Empirie, d.h. die selbst erhobenen empirischen Daten, wird in Kapitel 4 (Ergebniskapitel) in Tabellen und Abbildungen detailliert dargestellt.

In dem Kapitel 5 (Diskussionskapitel) werden schließlich die eigenen Ergebnisse kritisch dis­kutiert. Zunächst wird auf die Repräsentativität der Empirie eingegangen (siehe 1.). Anschlie­ßend wird die Vorbereitung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die Arbeit mit älter wer­denden und alten Menschen mit geistiger Behinderung diskutiert (siehe 2.). In 3. geht es dann um die von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreuten Personen mit älter werdenden und alten Menschen mit Down-Syndrom. Die Kompetenzformen bei älter werdenden und alten Menschen mit Down-Syndrom werden in 4. ausführlich diskutiert. In 5. geht es dann ausschließlich um die Erkrankungen von älter werdenden und alten Menschen mit Down- Syndrom. Schließlich werden in 6. die festgestellten Ver(haltens)änderungen bei älter wer­denden und alten Menschen mit Down-Syndrom mit denen bei älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Behinderung insgesamt verglichen. In 7. geht es dann schließlich um die Ver(haltens)änderungen aufgrund der DAT und in 8. um die Ver(haltens)änderungen auf­grund von Depression.

In Kapitel 6 finden sich schließlich eine Zusammenfassung (siehe 1.) sowie ein kurzes Fazit (siehe 2.).

Kapitel 2 (Theorie kapitel)

1. Geistige Behinderung

Der Begriff der geistigen Behinderung wurde durch die Gründung der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung bekannt. Er löste damit den bis dorthin verwendeten Begriff der Oligophrenie (Schwachsinn) mit den Abstufungen Debilität (leicht), Imbezillität (mittel) und Idiotie (schwer) ab. Im englischen Sprachgebrauch finden sich vor allem die Begriffe „mental retardation“, „people with learning disabilities“ und „intellectual and developmental disability“. In der deutschen Fachliteratur werden hauptsächlich folgende Definitionen von (geistiger) Behinderung verwendet:

1. Definition der American Association for Mental Retardation (AAMR) (1.1),
2. Klassifikationen der WHO (1.2),
3. Definition nach ICD-10 (1.3),
4. Definition nach DSM-IV (1.4),
5. Definition nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) (1.5).

1.1 Definition der AAMR (2002)

„Mental Retardation is a disability characterized by significant limitations both in intellectual functioning and in adaptive behavior as expressed in conceptual, social, and in practical adap­tive skills. This disability originates before age 18.” (AAMR, 2002, online).

Haveman & Stöppler (2004) übersetzen diese Definition wie folgt:

„Geistige Behinderung ist eine Behinderung, die gekennzeichnet ist durch bedeutende Ein­schränkungen in sowohl dem intellektuellen Funktionieren als auch in konzeptuellen, sozialen und praktischen adaptiven Fertig- und Fähigkeiten. Diese Behinderung entsteht vor dem 18. Lebensjahr.“ (Haveman/Stöppler, 2004, S. 18).

Diese Definition betont vor allem die adaptive Fertig- und Fähigkeiten, die insbesondere „hinsichtlich der Entwicklungschancen im Alterungsprozess wichtig [sind]“ (ebd., S. 18).

1.2 WHO-Klassifikationen

Die Klassifikationen der WHO (ICIDH und ICF) finden in der Fachliteratur eine breite Aner­kennung und werden sehr häufig zur Definition von (geistiger) Behinderung herangezogen (vgl. Gusset-Bährer, 2002) (siehe Tab. 1). Insbesondere die ICIDH „trägt der Diskussion von unterschiedlichen Definitionen von Behinderung Rechnung, indem sie die in der Literatur seit längerem gemachte Unterscheidung von impairment (Schädigung), disability (funktionelle Einschränkung) und handicap (soziale Beeinträchtigung) aufgreift“ (Waller, 2002, S. 38).

Tab. 1 : Gegenüberstellung der WHO-Klasslflkatlonen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Schuppener, 2004, S. 42

1.3 Definition nach ICD-10

Im ICD-10 wird geistige Behinderung als Intelligenzminderung unter F70 bis F73 definiert: „Eine Intelligenzminderung ist eine sich in der Entwicklung manifestierende, stehen geblie­bene oder unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, mit besonderer Beeinträch­tigung von Fertigkeiten, die zum Intelligenzniveau beitragen, wie z.B. Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten.“ (Gusset-Bährer, 2002, S. 6) (siehe Tab. 2).

Tab. 2: Klassifikation nach ICD-10

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: eigene Darstellung nach DIMDI [1], 2007, Anhang 1

1.4 Definition nach DSM-IV

Im DSM-IV werden geistige Behinderung und tiefgreifende Entwicklungsstörungen unter der

Bezeichnung „Entwicklungsstörungen“ zusammengefasst (vgl. Gusset-Bährer, 2002). Geisti­ge Behinderung wird anhand der folgenden Kriterien diagnostiziert:

(A) „Die allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit ist unterdurchschnittlich.
(B) Die Anpassungsfähigkeit ist stark eingeschränkt in mindestens zwei der folgenden Berei­che: Kommunikation, eigenständige Versorgung, häusliches Leben, soziale zwischen­menschliche Fertigkeiten, Nutzung öffentlicher Einrichtungen, Selbstbestimmtheit, funk­tionale Schulleistungen, Arbeit, Freizeit, Gesundheit, Sicherheit.
(C) Die Störung muss vor dem Alter von 18 Jahren begonnen haben.“ (ebd., S. 7).

1.5 Definition nach dem Sozialgesetzbuch (SGB)

Laut dem § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ (zitiert nach Gastiger, 2004, S. 402 ff.).

1.6 Paradigmata von Behinderung

Neben den Definitionen von (geistiger) Behinderung kann Behinderung auch anhand von vier Paradigmata betrachtet werden (siehe Tab. 3).

Tab. 3: Vier Paradigmata von Behinderung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Waller, 2002, S. 39

Der Begriff „Geistige Behinderung“ und insbesondere der Begriff „Menschen mit geistiger Behinderung“ werden in dieser Arbeit wert- und urteilsfrei, lediglich zur näheren Bestim­mung (des Personenkreises) verwendet. Begriffe wie z.B. „Menschen mit kognitiven Beein­trächtigung“ haben sich im deutschen Sprachgebrauch (noch) nicht etabliert. Daher wurde zur Verständlichkeit und Einheitlichkeit auf diesen und andere Begriffe verzichtet.

2. Down-Syndrom

2.1 Historische Aspekte

1866 beschrieb der britische Arzt John Langdon-Down erstmalig das klinische Bild des später nach ihm benannten Down-Syndroms. Mit dieser Beschreibung gelang es ihm innerhalb der geistigen Behinderung eine Klassifikation aufzustellen und das Syndrom von anderen Behin­derungen abzugrenzen (vgl. Storm, 2004). Langdon-Down bezeichnete das Syndrom nach dem äußeren Erscheinungsbild der Patienten, in dem er Ähnlichkeiten mit den Mongolen sah, als Mongolismus.

1959 entdeckte der französische Genetiker Jérôme Lejeune, dass Menschen mit Down- Syndrom anstatt der üblichen 46 Chromosomen 47 haben. Es musste also bei einem Chromo­som eine Verdreifachung (Trisomie) vorliegen. Lejeune konnte dieses Chromosom jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht näher bestimmen. Erst später wurde nachgewiesen, dass es sich bei dem zusätzlich Chromosom um eines des 21. Chromosomenpaares handelt. Dies führte auch zur Einführung des Fachbegriffs „Trisomie 21“.

2.2 Entstehung des Down-Syndroms

Das Down-Syndrom entsteht durch eine fehlerhafte Meiose (Keimzellenbildung). Beim Down-Syndrom ist es während der Meiose zu Fehlern bei der Teilung des 21. Chromosomen­paars gekommen. Ca. 20 % bis 25 % der Fälle von Down-Syndrom sind durch eine fehlerhaf­te Chromosomenteilung während der Spermatogenese beim Mann und ca. 75 % bis 80 % der Fälle von Down-Syndrom sind durch eine fehlerhafte Chromosomenteilung während der Oo­genese bei der Frau bedingt (vgl. Weber/Rett, 1991).

2.3 Häufigkeit des Down-Syndroms

Das Down-Syndrom gehört zu den häufigsten angeborenen Syndromen. Wilken (2004) geht von einer Prävalenz von 1:800 aus. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen, daher spricht man von einer Androtropie beim Down-Syndrom (vgl. Wilken, 2004). Die Ursache für diese geschlechtsspezifische Ungleichheit ist noch nicht geklärt.

2.4 Formen des Down-Syndroms

Beim Down-Syndrom wird in erster Linie zwischen drei verschiedene Formen unterschieden (vgl. Weber/Rett, 1991):

a) Non-Disjunction-Trisomie bzw. Freie Trisomie 21:

Diese Form des Down-Syndroms liegt bei Menschen mit Down-Syndrom am häufigsten vor. Sie entsteht durch die Non-Disjunction (Nichttrennung) der Chromosomen während der Meiose. Bei Menschen mit dieser Form des Down-Syndroms ist in jeder Körperzelle das Chromosom 21 komplett dreifach vorhanden.

b) Translokations-Trisomie 21:

Ca. 3 % bis 4 % der Menschen mit Down-Syndrom haben diese Form des Down- Syndroms. Bei der Translokations-Trisomie 21 ist ebenfalls in allen Körperzellen das Chromosom 21 komplett dreifach vorhanden, jedoch hat sich eines der Chromosomen 21 an ein anderes Chromosom angelagert. In der Genetik wird diese Chromosomenverlage­rung als Translokation bezeichnet.

c) Mosaik-Trisomie 21:

Die dritte Form des Down-Syndroms wird als Mosaik-Trisomie 21 bezeichnet. Sie ent­steht durch einen Fehler in der zweiten oder weiteren Zellteilung. Bei dieser Form ist nicht in allen Körperzellen das Chromosom 21 dreifach vorhanden, sondern es existieren parallel Körperzellen mit einem normalen Chromosomensatz. In der Genetik wird das pa­rallele Vorliegen von verschiedenen Chromosomensätzen in den Körperzellen als Mosaik bezeichnet. Diese Form führt „zu einem abgeschwächten klinischen Bild“ (Weber/Rett, 1991, S. 18) des Down-Syndroms. Menschen mit dieser Form des Down-Syndroms zei­gen gegenüber anderen Menschen mit Down-Syndrom „deutlich höhere durchschnittliche intellektuell-kognitive Leistungen“ (ebd., S. 18).

2.5 Folgen des Down-Syndroms

Das Down-Syndrom führt „zu einer erheblichen geistigen Entwicklungsstörung“ (Remschmidt, 2002, S. 225). Unter den Menschen mit Down-Syndrom finden sich „alle Gra­de der Intelligenzminderung, meist im Sinne einer geistigen Behinderung“ (ebd., S. 225). Nach Jantzen (1997) scheint „sofern nicht Komplikationen hinzutreten, ... - entsprechend kompetente Umwelten vorausgesetzt - eher eine leichtere Form geistiger Behinderung zu resultieren“ (Jantzen, 1997, Anhang 2).

3. Zu den Begriffen „Alter“ und „Altern“

Vorab sei angemerkt, dass in der wissenschaftlichen Fachliteratur „keine allgemein akzeptier­te Definition des Alters oder Alterns“ (Haveman/Stöppler, 2004, S. 16) existiert. Baltes (1994) definiert die Begriffe „Alter“ und „Altern“ wie folgt:

„Wenn der Begriff Alter benutzt wird, stehen die älteren Menschen und das Resultat des Alt­werdens im Vordergrund; das Alter als Lebensperiode und die Alten als Bestandteil der Ge­sellschaft. Wenn dagegen von Altern gesprochen wird, liegt der Schwerpunkt auf der Unter­suchung von Prozessen und Mechanismen, die zum Alter führen und die dem Altwerden zugrunde liegen.“ (Baltes, 1994, S. 9)

Für diese Arbeit sind überwiegend nachfolgende Altersaspekte bzw. -dimensionen relevant (vgl. Buchka, 2003; Haveman/Stöppler, 2004):

a) Kalendarisches oder chronologisches Alter(n): Alter in Jahren, die seit dem Geburtsda­tum vergangen sind;
b) Administratives Alter(n): Kategorisierung in Altersgruppen zur Verwendung von Verwal­tung und Statistik;
c) Biologisches Alter(n): körperlicher Zustand aufgrund biologischer Vorgänge von Wachs­tum, Reifung, Abbau und Verfall;
d) Soziales bzw. soziologisches Alter(n): Fähigkeit in der Gesellschaft altersspezifisch übli­che Rollen und Positionen zu übernehmen;
e) Geistiges oder mentales Alter(n): geistige Aufnahme- und Lernfähigkeit, Fähigkeit der angemessenen Verhaltensanpassung.

4. Beginn des Alter(n)s und der Alterungsprozess bei Menschen mit Down-Syndrom

„Die Vorstellung einer verfrühten Alterung bereits am dem 35. Lebensjahr, gemeinsam mit einem demenziellen Abbau, bestimmt auch heute noch - häufig unbewusst - das Bild von erwachsenen Menschen mit Down-Syndrom.“ (Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006, S. 30).

Diese Vorstellung ist laut dem Deutschen Down-Syndrom InfoCenter (2006) durch die neues­ten Forschungsergebnisse jedoch widerlegt. Das Altern von erwachsenen Menschen mit Down-Syndrom unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem der übrigen Bevölkerung (vgl. u.a. Schuppener, 2004). „Die Verminderung der Fähigkeiten einer großen Zahl von Menschen mit Down-Syndrom entspricht annähernd der Entwicklung, die beim Rest der Be­völkerung beobachtet werden kann; allerdings treten diese Symptome zeitlich verschoben auf.“ (Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006, S. 31). Es lassen sich allgemein zwei Ar­ten des Alterns beobachten (vgl. ebd.):

(a) Der „normale“ Alterungsprozess, der mit einer allmählichen Veränderung der kogniti­ven und sozialen Fähigkeiten einhergeht. Dieser setzt jedoch bei Menschen mit Down- Syndrom früher als bei der Allgemeinbevölkerung als auch bei Menschen mit einer ande­ren geistigen Behinderung ein: „Er macht sich tatsächlich bereits ab dem 45. Lebensjahr bemerkbar.“ (Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006, S. 30). Menschen mit Down- Syndrom besitzen generell eine geschwächte physische und psychische Gesundheit, dies hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Alterungsprozess.

(b) Das pathologische Altern, das bei Menschen mit Down-Syndrom insbesondere durch das frühzeitige Auftreten einer DAT gekennzeichnet ist.

Unabhängig davon kann - wie bei Menschen ohne geistige Behinderung auch - „von einem individuellen Alterungsprozess und Alterungsbeginn bei Menschen mit geistiger Behinderung ausgegangen werden“ (Haveman/Stöppler, 2004, S. 20).

5. Zur Berücksichtigung der Alternstheorien: das soziologische Alter(n) von Menschen mit geistiger Behinderung

Im Nachfolgenden werden die bedeutsamsten sozialwissenschaftlichen Alternstheorien erläu­tert und auf ihre Relevanz für älter werdende und alte Menschen mit geistiger Behinderung untersucht. Dabei findet jedoch eine Begrenzung auf solche Theorien statt, die besonders für die Personengruppe der älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Behinderung von Bedeutung sind. Hierzu werden verschiedene Meinungen aus der Fachliteratur vorgestellt und miteinander verglichen.

5.1 Altern als „Soziales Schicksal“

„Alter ist heute nicht mehr primär als biologischer Prozeß anzusehen, als Abnahme gewisser funktioneller und körperlicher Fähigkeiten, sondern Altern ist heute primär soziales Schick­sal.“ (Thomae, 1968)

Für Menschen mit geistiger Behinderung gilt diese Aussage von Thomae noch heute: „Im Gegensatz zu nichtbehinderten älteren Menschen, die dieses soziale Schicksal in für sie neue, sinnerfüllende Lebenssituationen umkonstruieren können, haben geistig behinderte Menschen aufgrund ihrer psychosozialen Behinderung sehr selten diese intellektuelle Fähigkeit der Neu­konstruktion.“ (Buchka, 2003, S. 38; vgl. auch Haveman/Stöppler, 2004).

5.2 Defizittheorie

Bei dem Defizitmodell wird das Altern als ein Prozess des Verlustes und Abbaus emotionaler und intellektueller Fähigkeiten gesehen. Das Defizitmodell verleitete dazu, alte Menschen grundsätzlich als versorgungs- und hilfebedürftig zu betrachten und zu behandeln (vgl. Theu- nissen, 2002).

Die Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung war sehr lange Zeit von einer Defizitori­entierung geprägt. Menschen mit geistiger Behinderung wurden ausschließlich aufgrund ihrer Defizite beschrieben und behandelt und „es wurde im Alter eine endgültige Entwicklungsbe­schränkung angenommen, die auf handlungspraktischer Ebene einen Nihilismus beförderte und betroffene Menschen zu ,Pflegefällen’ degradierte“ (Theunissen, 2002, S. 27). Durch die Widerlegung und die Abwendung von dieser Theorie erhielten älter werdende und alte Men­schen mit geistiger Behinderung mehr Lebensentfaltungsmöglichkeiten (vgl. Buchka, 2003). Trotz altersbedingter Abbauprozesse und der Berücksichtigung dieser darf die Defizittheorie nicht handlungsbestimmend sein (vgl. Theunissen, 2002; Buchka, 2003).

5.3 Disengagementtheorie (1961)

Die Disengagementtheorie wurde 1961 von Cumming und Henry entwickelt. Cumming und Henry „verstehen den Rückgang der Sozialkontakte als einen natürlichen und unvermeidbaren Prozess des wechselseitigen Rückzugs des alternden Menschen einerseits und der Gesell­schaft andererseits, als Disengagement, das letztlich in dem unvermeidbaren Prozeß des Rückzugs aus dem Leben begründet liegt“ (Deutsches Zentrum für Alternsforschung, 1997, S. 18). Disengagement (sozialer Rückzug) gilt als Voraussetzung für erfolgreiches Altern. Es wird davon ausgegangen, dass die gesellschaftlichen Erwartungen an den alternden Menschen mit dem individuellen Bedürfnis des alternden Menschen nach Disengagement übereinstim­men. Der Verlust von Kontakten und Aktivitäten wird daher positiv gesehen.

Nach Theunissen (2002) neigen älter werdende und alte Menschen mit geistiger Behinderung ohnehin dazu, sich zurückzuziehen oder zeigen aufgrund von Hospitalisierung Passivität (u.a.). Hinter dieser Passivität verbirgt sich jedoch oft eine erlernte Bedürfnis- und Hilflosig­keit „und daraus einen originären Wunsch nach Disengagement abzuleiten (...) wäre zynisch und unmenschlich zugleich“ (Theunissen, 2002, S. 30).

Die Disengagementtheorie hat sich nach Buchka (2003) auf die Lebenssituation älter werden­der und alter Menschen mit geistiger Behinderung zum Teil negativ ausgewirkt. Älter wer­denden und alten Menschen mit geistiger Behinderung werden keine aktivierenden Tätigkei­ten und neue Rollen mehr angeboten, sondern es werden ihnen „stattdessen ,Rückzugsmög- lichkeiten’ in den Einrichtungen“ (Buchka, 2003, S. 135) eingerichtet.

Haveman & Stöppler (2004) bewerten die angebliche Übereinstimmung von individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Erwartungen bei älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Behinderung kritisch. Menschen mit geistiger Behinderung haben oft lebenslang Ausgrenzungen aus der Gesellschaft erfahren. Eine (weitere) „Reduktion des sozialen Netz­werkes ist für niemanden wünschenswert, da soziale Kontakte von existenzieller Wichtigkeit sind“ (Haveman/Stöppler, 2004, S. 52).

5.4 Aktivitätstheorie (1962)

Die Aktivitätstheorie geht davon aus, dass Aktivität die Grundvoraussetzung für erfolgreiches Altern ist. Verluste, die im Alter eintreten z.B. durch das Ausscheiden aus dem Arbeitspro­zess, sollen mittels Aktivität in verbleibenden Lebensbereichen kompensiert werden.

Nach Theunissen (2002) kann die Aktivitätstheorie aus zwei Gründen kritisiert werden:

a) An älter werdende und alte Menschen werden allgemeine Leistungsansprüche und Leis­tungserwartungen herangetragen;
b) vorhandene Ressourcen, Interessen, Stärken und Kompetenzen finden zu wenig Beach­tung, indem weithin nur Defizite durch Aktivierungsangebote ausgeglichen werden sollen.

Er kommt somit zu dem Ergebnis, „dass eine bloße Aktivierung nicht genügt, um älteren Menschen gerecht zu werden.“ (Theunissen, 2002, S. 30 ff.).

Buchka (2003) bewertete den Ansatz des Zutrauens von Aktivität im Alter für die Lebenssitu­ation älter werdender und alter Menschen mit geistiger Behinderung zwar positiv, weißt je­doch darauf hin, dass auch immer der Einzelfall gesehen werden muss. „Nicht an jeden alten Menschen mit geistiger Behinderung kann eine Aktivitätsforderung gestellt werden.“ (Buch- ka, 2003, S. 135). Es muss darüber hinaus auch immer berücksichtigt werden, „ob die Aktivi­täten aus freiem Willen und aufgrund der noch vorhandenen Ressourcen gesteuert oder nur durch die Dienstleistenden ,gesetzt’ und ,gefordert’ werden, im Sinne ,aktives Altern für al­le’, unabhängig vom Einzelfall“ (ebd., S. 135).

Die Aktivitätstheorie, für die Aktivität die Grundvoraussetzung für erfolgreiches Altern ist, ist nach Haveman & Stöppler (2004) kritisch zu betrachten. Nicht jeder älter werdende und alte Mensch mit geistiger Behinderung hat die Möglichkeit oder strebt danach durch Aktivität den Alterungsprozess zu beeinflussen. Dies ist sowohl durch die Lebens- und Wohnsituation als auch durch kognitive Beeinträchtigungen bedingt, so dass älter werdende und alte Menschen mit geistiger Behinderung oftmals nicht in der Lage sind, das Alter aktiv und ohne fremde Hilfe zu gestalten (vgl. Haveman/Stöppler, 2004). „Auch mit der Unterstützung anderer Per­sonen ist die von dieser Theorie geforderte Aktivität kaum erreichbar.“ (ebd., S. 51).

5.5 Kontinuitätstheorie (1971)

Die Kontinuitätstheorie besagt, „dass Personen im höheren Erwachsenenalter motiviert sind, im frühen und mittleren Erwachsenenalter entwickelte innere und äußere Strukturen zu be­wahren“ (Deutsches Zentrum für Alternsforschung, 1997, S. 20). In der Kontinuitätstheorie wird zwischen innerer und äußerer Kontinuität unterschieden. Innere Kontinuität bedeutet „die Fortdauer psychischer Strukturen wie Temperament, Erfahrungen, Einstellungen und Überzeugungen“ (ebd., S. 20). Unter äußere Kontinuität wird die „beständige Struktur physi­scher und sozialer Umwelten“ (ebd., S. 20) verstanden.

Laut Buchka (2003) hatte die Kontinuitätstheorie einen großen Einfluss auf die Behinderten­politik: Während es früher Praxis war Menschen mit geistiger Behinderung nach dem Aus­scheiden aus der Werkstatt in stationäre Einrichtungen (Altenheime, Vollzeiteinrichtungen) zu verlegen; kann der älter werdende und alte Mensch mit geistiger Behinderung heute dort verbleiben, wo er alt geworden ist. „Dadurch braucht er seine sozialen Beziehungen nicht aufzugeben, und die ihm vertraute und haltgebende Umgebung federt den Alterungsprozess günstig ab.“ (Buchka, 2003, S. 136).

Die Kontinuitätstheorie sieht die Kontinuität im Lebenslauf als Garant für erfolgreiches Al­tern. Für die meisten älter werdende und alte Menschen mit geistiger Behinderung ist diese Kontinuität nach Haveman & Stöppler (2004) jedoch kaum realisierbar. „Institutionelle und Diskontinuität erzeugende Vorgänge, wie z.B. Berufsaustritt, Wohnortwechsel, machen es dem alten Menschen mit geistiger Behinderung unmöglich, Kontinuität aufrechtzuerhalten.“ (Haveman/Stöppler, 2004, S. 52).

5.6 Kompetenztheorie (1990)

Die Kompetenztheorie wendet sich gegen die automatische Verknüpfung von Alter(n) und Abbau. Sie unterscheidet zwischen Kompetenz und Performanz. „Performanz beschreibt die tatsächlich gezeigten, Kompetenz hingegen die möglichen Leistungen des Menschen, die er von seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten (,Ressourcen’) hier erbringen könnte“ (Theunissen, 2002, S. 39). Durch Bildung und Training sollen hinderliche Einflussfaktoren abgeschwächt oder beseitigt werden, damit vorhandene Kompetenzen wieder nutzbar werden.

Nach Theunissen (2002) ist es wie beim Konzeptwandel der defizit- hin zu den kompetenz­orientierten Alterstheorien auch in der (Geistig-)Behindertenpädagogik zu einem ähnlichen Wandel gekommen. In der (Geistig-)Behindertenpädagogik ging „mit der Betrachtung und Bestimmung geistig behinderter Menschen als ,kompetente Personen’“ (Theunissen, 2002, S. 38) „die Überwindung der traditionellen (medizinisch orientierten) Defizitorientierung“ (ebd., S. 38) einher.

Die Kompetenztheorie hat laut Buchka (2003) vor allem für die Altenbildung von Menschen mit geistiger Behinderung eine große Bedeutung. Buchka (2003) sieht hier einen Ansatzpunkt für Kompetenztraining im Sinne eines Angebotes an Kompetenz erhaltenden Maßnahmen, da viele älter werdende und alte Menschen mit geistiger Behinderung „keine Performanz sichtbar mehr zeigen, aber bei denen durch die Biographieanalyse erkennbar wird, dass Kompetenzen vorhanden waren und auch ausgeübt wurden, die heute aber nicht mehr vorzufinden sind“ (Buchka, 2003, S. 143). Darüber hinaus ist „die Kompetenztheorie auch geeignet, ökologisch­systematische Veränderungsstrategien zugunsten der angesprochenen Personengruppe zu be­gründen“ (ebd., S. 143).

Aufgrund der (neuen) Kompetenzorientierung in der Behindertenhilfe allgemein wird in die­ser Arbeit dem Thema „Kompetenzformen bei älter werdenden und alten Menschen mit geis­tiger Behinderung“ der nachfolgende Abschnitt gewidmet.

6. Kompetenzformen bei älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Behinderung

In dieser Arbeit liegt neben dem Schwerpunkt auf den Verhaltensänderungen bei Menschen mit Down-Syndrom im Alter auch eine besondere Akzentuierung auf den Kompetenzformen bei älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Behinderung. Die Begründung dafür liegt darin, dass die von der Heilpädagogik in den letzten Jahren entwickelten Konzepte, die auf die möglichst lange Erhaltung und Förderung der Kompetenz zielen, sowie deren empiri­sche Auswertung deutlich machten, dass auch im Alter Lern- und Veränderungspotenziale gegeben sind (vgl. Ding-Greiner/Kruse, 2004; Kruse, 2006). Diese Potenziale zeigen sich z.B. „in einer Zunahme an Selbständigkeit und Selbstverantwortung sowie in der Entwicklung von neuen Fertigkeiten in einer anregenden, fördernden und fordernden Umwelt“ (Ding-Greiner/ Kruse, 2004, S. 520).

6.1 Zur Definition von Kompetenz

Der in den nachfolgenden Ausführungen verwendete Begriff der Kompetenz beinhaltet

„die Fähigkeit und Fertigkeit des Menschen zu Erhaltung oder Wiederherstellung eines selbstständigen, selbstverantwortlichen und sinnerfüllten Lebens in einer anregenden, unter­stützenden, zur selbstverantwortlichen Auseinandersetzung mit Anforderungen motivierenden sozialen, räumlichen und infrastrukturellen Umwelt.“ (Kruse, 2006, S. 119).

Nach Kruse (2006) hat sich diese Definition von Kompetenz in dreifacher Hinsicht insbeson­dere für die Behindertenhilfe als hilfreich erwiesen:

a) Diese Definition von Kompetenz unterscheidet zwischen Selbständigkeit, Selbstverant­wortung und sinnerfüllter Lebensgestaltung (siehe 6.2).
b) In dieser Definition kommt der Umwelt eine große Bedeutung für die Fähigkeiten des Menschen zu einem selbständigen, selbstverantwortlichen und sinnerfülltem Leben zu (siehe 6.3).
c) In dieser Definition sind Merkmale der Person und der Umwelt aufgeführt, die eng mit den in der Behindertenhilfe entwickelten Bildungs- und Förderkonzepten verwandt sind.

6.2 Selbständigkeit - Selbstverantwortung - sinnerfüllte Lebensgestaltung

Selbständigkeit wird in der Kompetenzdefinition „im Sinne der selbständigen Ausübung von Aktivitäten des täglichen Lebens“ (Ding-Greiner/Kruse, 2004, S. 520) verstanden und stellt ein bedeutsames Merkmal von Kompetenz dar. Daraus ergibt sich die Frage, „wie eine über­mäßige, Abhängigkeit herstellende oder verstärkende Betreuung und Pflege vermieden wer­den kann“ (ebd., S. 520). In der Kompetenzdefinition wird auch die Selbstverantwortung her­vorgehoben. Selbstverantwortung wird „als Fähigkeit und Bereitschaft verstanden ..., das Leben einer den eigenen Leitbildern eines guten Lebens (...) folgenden Weise zu gestalten“ (Kruse, 2006, S. 119). Die Erhaltung und Förderung der Selbstverantwortung „im Sinne von Entscheidungskompetenz sowie von Kontrolle über die eigene Lebenssituation und über Pro­zesse in der sozialen Umwelt“ (Ding-Greiner/Kruse, 2004, S. 520) sollten somit ein zentrales Ziel von Betreuung und Pflege sowie von tagesstrukturierenden Angeboten sein. Schließlich wird in der Kompetenzdefinition auch die sinnerfüllte Lebensgestaltung als bedeutsames Merkmal betont. Sinnerfahrung wird hier „als Übereinstimmung zwischen den Werten eines Menschen einerseits sowie den Möglichkeiten und Anforderungen einer Situation anderer­seits“ (ebd., S. 520) verstanden. Als Ziel der Tagesstrukturierung kann somit gesehen werden, dass ein sinnstiftendes Angebot unterbreitet wird, welches z.B. eine frühere Berufstätigkeit ersetzen kann (vgl. Kruse, 2006).

6.3 Die Bedeutung der Umwelt

In der Kompetenzdefinition wird betont, „dass die Umwelt - und zwar die räumliche, die so­ziale, die infrastrukturelle Umwelt - durch Anregungen, Unterstützung und Motivation (...) einen substanziellen Beitrag zur Erhaltung und Weiterentwicklung von Fähigkeiten leistet“ (Kruse, 2006, S. 120). Nach Kruse (2001) sind daher bei der Gestaltung der räumlichen, sozi­alen und infrastrukturellen Umwelt nachfolgende Aspekte zu beachten.

Es ist auf Barrierefreiheit, zufrieden stellende sanitäre Ausstattung, eine anregende Gestaltung im Sinne der Stimulation sensorischer und geistiger Funktionen sowie kommunikativer Fer­tigkeiten, Hilfsmittel in der Wohnung und im Wohnumfeld sowie auf ausreichende Verkehrs­anbindung zu achten (vgl. Kruse, 2001). „Eine vertraute Umwelt ist für die Erhaltung der I­dentität zentral“ (ebd., S. 96), da sich der Mensch auch über Orte, an denen er lebt, definiert.

6.3.2 Soziale Umwelt

Kruse (2001) nennt folgende Merkmale der sozialen Umwelt, die sich positiv auf die Zufrie­denheit des Menschen auswirken und darüber hinaus die Erhaltung der Kompetenz fördern:

- Integration in Familie und Nachbarschaft,
- Austausch von Hilfeleistungen (Reziprozität),
- Möglichkeiten, ein mitverantwortliches Leben zu führen und von anderen gebraucht zu werden,
- eine den individuellen Bedürfnissen entsprechende Relation zwischen der Möglichkeit zum Rückzug und der Möglichkeit zur Geselligkeit.

Bei der Gestaltung der sozialen Umwelt für Menschen mit geistiger Behinderung „sollten die genannten Merkmale in gleichem Umfang berücksichtigt werden“ (Kruse, 2001, S. 96). Für Menschen mit geistiger Behinderung sind Reziprozität und ein mitverantwortliches Leben genauso wichtig wie für Menschen ohne Behinderung. Gelebte und erlebte Reziprozität ver­ringert das subjektive Gefühl der Abhängigkeit und hat somit möglicherweise im Leben von Menschen mit geistiger Behinderung eine noch größere Bedeutung als im Leben von Men­schen ohne Behinderung (vgl. ebd.). Eine erfolgreiche Integration in die Familie und Nach­barschaft bildet darüber hinaus „einen bedeutsamen Schutz gegen das Auftreten psychischer Erkrankungen“ (ebd., S. 96).

Exkurs: Soziale Netzwerke von älter werdenden und alten

Menschen mit geistiger Behinderung

Menschen mit geistiger Behinderung leben im Alter primär in stationären Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe (vgl. Wacker, 2000). Das Verlassen der vertrauten Umgebung und der Umzug in eine stationäre Wohneinrichtung sind häufig bedingt durch den Wegfall des infor­mellen Netzes (primäres soziales Netzwerk) - insbesondere durch Krankheit oder Tod der Hauptpflegeperson (vgl. Haveman/Stöppler, 2004). Das formelle Netz (sekundäres soziales

Netzwerk) - hier die stationäre Wohneinrichtung - übernimmt somit die Hilfeleistungen des informellen Netzes (vgl. ebd.). „Der stabile Kontakt zu Angehörigen, Freunden und Bekann­ten ist eine wesentliche Voraussetzung für biografische Kontinuität und soziale Identität.“ (ebd., S. 85). Durch den Umzug in eine stationäre Wohneinrichtung ist die Aufrechterhaltung der bestehenden Kontakte jedoch gefährdet, vorhandene soziale Kontakte werden in der Regel reduziert (vgl. Haveman/Stöppler, 2004). Hier stellt sich also die Frage, ob es möglich ist, innerhalb der stationären Wohneinrichtung „neue soziale Kontakte aufzubauen, die von glei­cher Intensität und Qualität wie die vorangegangenen sind“ (ebd., S. 86).

In stationären Wohneinrichtungen lebende älter werdende und alte Menschen mit geistiger Behinderung verfügen im Vergleich zur Normalbevölkerung über ein stark reduziertes und instabiles soziales Netzwerk (vgl. ebd.). „Funktionsfähige soziale Netzwerke enthalten ge­wachsene Beziehungen, die bei der Bewältigung von Belastungen hilfreich sein können, sie bieten Schutz und beruhen auf Solidarität.“ (ebd., S. 86). Älter werdende und alte Menschen mit geistiger Behinderung, die in stationären Wohneinrichtungen leben, sind einer Vielzahl von Belastungen ausgesetzt, die sie täglich bewältigen müssen. Haveman & Stöppler (2004) nennen hier vor allem (a) ein hohes Maß an Alltagsbelastungen durch das enge Zusammenle­ben vieler erwachsener Menschen mit geistiger Behinderung innerhalb eines Hauses, (b) die Konfrontation mit und die Verarbeitung von belastenden Lebensereignissen (z.B. Tod der Eltern) sowie (c) die Dauerbelastung des Umgangs mit der eigenen Behinderung. Ein intaktes soziales Netzwerk kann sich auf diese Belastungen ausgleichend oder zumindest mildernd auswirken. Diese Personengruppe verfügt jedoch in der Regel nur über ein sehr kleines Netz­werk und hat zu den Personen innerhalb des Netzwerkes (meist Angehörige oder Familie) „weder ein ausreichend häufiger Kontakt noch eine enge und intensive Beziehung“ (ebd., S. 87). Daher wird davon ausgegangen, dass von diesen Personen eine ausreichende Unter­stützung zur Bewältigung der Belastungen nicht geleistet werden kann (vgl. ebd.).

Als Grund für das stark reduzierte Netzwerk von älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Behinderung und die damit einhergehende geringe Unterstützung wird von Haveman & Stöppler (2004) angeführt, dass die Unterstützung in der Regel ausschließlich aus dem Netzwerk hinaus zu der Personengruppe hin läuft. „Soziale Netzwerke funktionieren aber auf Dauer nur, wenn es sich um reziproke Beziehungen handelt, d.h. die Unterstützungsleistungen in beide Richtungen gleichermaßen laufen.“ (ebd., S. 87).

Die Folgen der reduzierten und instabilen sozialen Netzwerke sind eine geringe Qualität und Intensität vorhandener Beziehungen sowie die Unmöglichkeit im Bedarfsfall ausreichende

Unterstützungsressourcen zu aktivieren. Somit kommt es bei den älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Behinderung zu einer doppelten Benachteiligung:

(a) Ohne intaktes soziales Netzwerk fehlt „ein Puffer zwischen dem Individuum und der Belastung“ (Haveman/Stöppler, 2004, S. 88).
(b) „Zusätzlich ergibt sich daraus, dass die Bewältigung der Situation ohne Unterstützung von außen, allein durch das Individuum geleistet werden muss.“ (ebd., S. 88).

In dem sozialen Netzwerk von Menschen mit geistiger Behinderung gibt es nachfolgende Personen, zu denen eine mehr oder weniger intensive Beziehung besteht und von denen somit auch mehr oder weniger Unterstützung ausgeht.

Angehörige

Älter werdende und alte Menschen mit geistiger Behinderung haben in der Regel keine eigene Familie gegründet. Ihre Angehörigen bestehen somit in erster Linie aus den Mitgliedern ihrer Herkunftsfamilie. Erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung von ca. 50 Jahren und älter haben - sofern Geschwister vorhanden sind - zu diesen normalerweise eine längere Be­ziehung als zu den eigenen Eltern (vgl. ebd.). Das Leben in stationären Wohneinrichtungen - und hier insbesondere das Leben in sehr großen Einrichtungen - gefährdet die Kontakthäufig­keit zu den Angehörigen bzw. wirkt sich auf diese negativ aus (vgl. ebd.). Ungeachtet dessen lässt jedoch „weder die formale Größe des familiären Netzwerkes, noch die Kontakthäufigkeit zu den Angehörigen eindeutige Rückschlüsse auf den Grad der Unterstützung des familiären Netzes zu“ (ebd., S. 90).

Partnerschaften

Für älter werdende und alte Menschen mit geistiger Behinderung „gehören Partnerschaften nicht zum Lebensalltag“ (ebd., S. 91). In der Regel wurde ihnen Sexualität und entsprechende Bedürfnisse (im jungen Erwachsenenalter) aberkannt. Auch angemessene Rahmenbedingun­gen, die Privatsphäre und Intimität ermöglichen, waren nicht gegeben bzw. nicht vorgesehen.

Mitbewohnerinnen und Mitbewohner

Menschen mit geistiger Behinderung haben in der Regel kaum Kontakte zu nicht behinderten Personen außerhalb der Wohneinrichtung; Beziehungen innerhalb der Wohneinrichtung neh­men somit an Bedeutung zu (vgl. ebd.). Zu den Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern besteht „zwangsläufig ein regelmäßiger und häufiger Kontakt“ (Haveman/Stöppler, 2004, S. 92). Diese Beziehungen untereinander „basieren häufig auf gegenseitigen Hilfeleistungen, dienen der Koalitionsbildung gegenüber anderen Heimbewohnern und erweisen sich häufig als insta­bil und werden scheinbar ohne ersichtlichen Grund wieder gelöst“ (ebd., S. 92). Bei diesen Beziehungen kann also kaum von Freundschaft gesprochen werden, sie ähneln vielmehr (flüchtigen) Bekanntschaften.

Freundschaften und Bekanntschaften außerhalb der Wohneinrichtung

Menschen mit geistiger Behinderung haben kaum Freunde und Bekannte ohne geistige Be­hinderung. Der häufigste Kontakt findet mit Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern statt. Beziehungen zu Personen ohne geistige Behinderung außerhalb der Wohneinrichtung werden somit als etwas Besonderes betrachtet (vgl. ebd.).

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wohneinrichtungen gehören zu dem formellen sozi­alen Netzwerk. Im Allgemeinen hat das formelle Netzwerk keine große Bedeutung für die Gestaltung des Alltags. Dies gilt nicht für Menschen mit geistiger Behinderung, die in einer stationären Wohneinrichtung leben. Hier haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch den täglichen Kontakt einen großen Einfluss auf die Lebensgestaltung. „In quantitativer Hin­sicht bestimmen zwar die sozialen Kontakte zu den Mitarbeitern den Alltag der Bewohner, die Quantität sagt jedoch nichts über die Qualität der Kontakte aus.“ (ebd., S. 94). Haveman & Stöppler (2004) gehen jedoch davon aus, dass die Kontakte zu den Mitarbeitern nicht so intensiv sein können, „um einen Ausgleich für die seltenen und unregelmäßigen Kontakte zu anderen Personengruppen des sozialen Netzwerkes darzustellen“ (ebd., S. 94).

6.3.3 Infrastrukturelle Umwelt

Zentrale Merkmale der infrastrukturellen Umwelt, die sich positiv auf die soziale Integration, die Selbständigkeit und die Selbstverantwortung auswirken, sind die Ausstattung des Wohn- umfeldes mit sozialen und kulturellen Angeboten, die Verkehrsanbindung der Wohnung so­wie die behindertengerechte Verkehrsgestaltung (vgl. Kruse, 2001). Kruse (2001) wünscht sich vor allem eine Kooperation von Trägern ambulanter und stationärer Einrichtungen unter­einander und die Abstimmung der Angebote für Menschen mit geistiger Behinderung aufein­ander, um die Forderung nach Dezentralisierung umsetzen zu können.

6.4 Kompetenzformen bei älter werdenden und alten Menschen mit geisti­ger Behinderung

Kruse (2006) nimmt vor dem Hintergrund eines kompetenzorientierten Konzepts eine Skiz- zierung der Fähigkeiten von älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Behinderung vor und trifft folgende Aussagen (vgl. Kruse, 2006, S. 123 ff.):

a) Die Kompetenz im Alter ist in hohem Maße beeinflusst
- vom Schweregrad der Behinderung;
- vom Grad der Förderung, die Menschen im Lebenslauf erfahren haben;
- vom Grad der sensorischen, kognitiven und sozialen Anregungen, die Menschen in früheren Lebensjahren erfahren haben und aktuell erfahren.
b) Der Alternsprozess verläuft bei Menschen mit geistiger Behinderung nicht grundsätzlich anders als bei Menschen ohne Behinderung.
c) Die Variabilität im Alter ist bei Menschen mit geistiger Behinderung noch stärker ausge­prägt als bei Menschen ohne Behinderung.
d) Der Kreativität geistig behinderter Menschen ist im Alter genauso wenig eine Grenze ge­setzt wie in früheren Lebensaltern.
e) Gefühle der Selbstverantwortung und Mitverantwortung sind bei Menschen mit geistiger Behinderung in gleicher Weise vorhanden wie bei Menschen ohne Behinderung.
f) Fehlen systematische Anregung oder systematisches Training, so besteht bei Menschen mit geistiger Behinderung die besondere Gefahr, dass die im Lebenslauf entwickelten Fä­higkeiten und Fertigkeiten rasch verloren gehen.
g) Aufgrund verringerter affektiver und emotionaler Kontrolle sind die Belastungs- und Trauerreaktionen bei Menschen mit geistiger Behinderung intensiver. Aus diesem Grund muss nach dem Auftreten von Verlusten eher mit tief greifenden psychischen Reaktionen gerechnet werden.
h) Die körperliche Ermüdung und seelische Erschöpfung nehmen bei Menschen mit geistiger Behinderung im Alter besonders stark zu, der Antrieb ist verringert.
i) Bei einzelnen Formen geistiger Behinderung - vor allem beim Down-Syndrom - ist die Gefahr des Auftretens einer Demenz im Alter erkennbar erhöht. „Aus diesem Grunde ist hier dem alltagspraktischen und kognitiven Training besondere Bedeutung beizumessen, damit auch im Verlauf dieser Erkrankung die bestehenden Fähigkeiten und Fertigkeiten möglichst lange erhalten bleiben.“ (Kruse, 2006, S. 124).

6.5 Kompetenz fördernde Konzepte in der Behindertenhilfe

Seit Beginn der 90er Jahre kann in der internationalen und nationalen Behindertenhilfe eine Akzentuierung auf die Förderung von Selbstverantwortung beobachtet werden (vgl. Ding­Greiner/Kruse, 2004; Kruse, 2006). Die Hauptanliegen zahlreicher entsprechender Modellpro­jekte lassen sich in zwei Punkten zusammenfassen:

(a) Fähigkeiten und Fertigkeiten zum selbständigen und selbstverantwortlichen Leben sollen erhalten und gefördert werden;
(b) der Umzug in eine Pflegeeinrichtung aufgrund eines eingetretenen Hilfe- oder Pflegebe­darfs soll vermieden werden (vgl. Ding-Greiner, 2004; Kruse, 2006).

Die Ergebnisse dieser Projekte stützen sowohl die Annahme der auch bei älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Behinderung gegebenen Lernfähigkeit als auch der gegebenen kognitiven Plastizität und Verhaltensplastizität (vgl. Ding-Greiner, 2004; Kruse, 2006). Unter Plastizität wird allgemein die Reservekapazität und Anpassungsfähigkeit der Nervenzellen verstanden, welche erst unter Aktivierung ausgeschöpft werden. Unter einer Selbständigkeit fördernden Umwelt kann somit in diesem Sinne die Aktivierung und Nutzung von Reserve­kapazitäten verstanden werden, während unter einer Abhängigkeit fördernden Umwelt Kon­texte, die die Reservekapazität des Zentralnervensystems ungenutzt lassen, verstanden werden können (vgl. Kruse, 2006).

Nach Ding-Greiner & Kruse (2004) und Kruse (2006) lassen sich die zentralen Anforderun­gen an Kompetenz fördernde Konzepte für älter werdende und alte Menschen mit geistiger Behinderung in der Behindertenhilfe wie folgt zusammenfassen:

a) Anknüpfung an frühere Förderansätze;
b) Fortsetzung der Nutzung und des Trainings spezifischer Funktionen und Fertigkeiten;
c) Sicherstellung eines ausreichenden Maßes an Tagesstrukturierung nach dem Ausscheiden aus der Werkstätte;
d) Schaffung von Möglichkeiten zur Kreativität, zum körperlichen und alltagspraktischen Training;
e) Erhalt der Kontakte zur Werkstätte nach dem Ausscheiden;
f) Annahme von lebenslanger Lern- und Entwicklungsfähigkeit bei der Entwicklung von Kompetenz fördernden Konzepten;
g) Flexibilisierung der Angebote, um dem Wunsch- und Wahlrecht gerecht zu werden;
h) Bewahrung der Kontinuität des Lebensumfeldes und der angestammten Lebenszusam­menhänge.

7. Verhaltensänderungen aufgrund von Erkrankungen

7.1 Allgemeines

Die medizinische Versorgung von erwachsenen Menschen mit Down-Syndrom ist im Ver­gleich zu dem Angebot, das heute Kindern und Jugendlichen mit Down-Syndrom zur Verfü­gung steht, „sowohl in strukturell-organisatorischer als auch in fachlich-inhaltlicher Hinsicht wesentlich schlechter“ (Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006, S. 4). Darüber hinaus werden gesundheitliche Probleme von älter werdenden und alten Menschen mit Down- Syndrom und der daraus entstehende Versorgungsbedarf unterschätzt (vgl. Ding-Greiner/ Kruse, 2004; Kruse, 2006). Dies liegt zum einen daran, dass Menschen mit Down-Syndrom gesundheitliche Probleme möglicherweise aufgrund mangelnder Selbstwahrnehmung bzw. aufgrund Kommunikationsprobleme nicht richtig einschätzen und mitteilen können (vgl. Ding-Greiner/Kruse, 2004; Haveman/Stöppler, 2004; Kruse, 2006; Deutsches Down- Syndrom InfoCenter, 2006). Zum anderen werden gesundheitliche Probleme bei Menschen mit Down-Syndrom immer noch „häufig als Folge natürlicher Alternsprozesse oder von Be­hinderung interpretiert“ (Ding-Greiner/Kruse, 2004, S. 522). Ferner bestehen folgende Barrie­ren des Zugangs älter werdender und alter Menschen mit geistiger Behinderung zum medizi­nischen Versorgungssystem:

(a) “Kommunikationsprobleme,
(b) motorische Einschränkungen,
(c) mangelnde Ausbildung und mangelndes Training von Ärzten und Pflegefachkräften,
(d) zu hohe Kosten, zu hoher Zeitaufwand im Erleben der Angehörigen,
(e) geringer sozialer Status von älteren Menschen mit Behinderung.“ (Ding-Greiner/ Kruse, 2004, S. 522; Kruse, 2006, S. 122).

Im Nachfolgenden werden die häufigsten Erkrankungen im Alter bei Menschen mit Down- Syndrom sowie ihre Auswirkungen auf das Verhalten beschrieben.

7.2 Schmerzen

Schmerzen können einen negativen Einfluss auf die psychische Gesundheit haben und „Ver­haltensauffälligkeiten oder depressive Stimmungen hervorrufen“ (Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006, S. 6). Viele verschiedene Erkrankungen sind mit Schmerzen verbunden. Bei Menschen mit Down-Syndrom sind dies z.B. Zahnprobleme, Ohrenentzündungen, Ver­stopfung oder atlanto-axiale Subluxation (unvollständige Ausrenkung des Atlantoaxialge- lenks) (vgl. ebd.).

Viele Menschen mit Down-Syndrom beklagen sich trotz (sehr) schmerzhaften, gesundheitli­chen Problemen kaum oder gar nicht. Auf der einen Seite wird dahinter eine erhöhte Schmerztoleranz vermutet, auf der anderen Seite wird aber auch angenommen, dass Angehö­rige oder Betreuer Beschwerden von Menschen mit Down-Syndrom nicht wahrnehmen bzw. richtig interpretieren (vgl. ebd.). Als weitere mögliche Gründe wird zum einen mangelnde Kommunikationsfähigkeit, zum anderen aber auch eine nicht gut entwickelte Selbstwahrneh­mung und -mitteilung gesehen, die es den Menschen mit Down-Syndrom erschwert anderen mitzuteilen, dass es schmerzt (vgl. ebd.). Auch die Erinnerung an eine frühere, unangenehme Untersuchung, die die Erwähnung von Schmerzen nach sich gezogen hat, kann ein Grund sein nicht über Schmerzen zu sprechen (vgl. ebd.).

7.3 Wahrnehmungsstörungen

Das Deutsche Down-Syndrom InfoCenter (2006) sieht in der allmählichen Abnahme des Hör- und/oder Sehvermögens eine Ursache für den Abbau der Fähigkeiten bei fortgeschrittenem Alter von Menschen mit Down-Syndrom. Viele Hör- und/oder Sehprobleme bei Menschen mit Down-Syndrom bleiben unerkannt und werden nicht oder zu spät diagnostiziert (vgl. Ha- veman/Stöppler, 2004). Dies liegt entweder daran, dass Menschen mit Down-Syndrom z.B. aufgrund eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit, Angehörigen oder Betreuern eine Ab­nahme ihres Hör- und/oder Sehvermögens gar nicht mitteilen können. Oder daran, dass selbst schwere Hör- und/oder Sehstörungen von den Betroffenen gar nicht als Veränderung wahrge­nommen werden, sondern akzeptiert und somit nicht Angehörigen oder Betreuern mitgeteilt werden. Auch Angehörige und Betreuer selbst erkennen eine Abnahme des Hör- und/oder Sehvermögens oft nicht oder die daraus resultierenden Verhaltensänderungen wie z.B. Inakti­vität, Abnahme des Sprechens, Inflexibilität, Ablehnung des Laufens werden falsch interpre­tiert (vgl. Gusset-Bährer, 2006).

Wahrnehmungsstörungen führen zu Verunsicherung und Verwirrung der Betroffenen sowie gleichzeitig zu einem Verlust des Interesses an der Umgebung (vgl. Deutsches Down- Syndrom InfoCenter, 2006). Dies wiederum führt häufig zur Isolation oder es kommt zu ag­gressiven Verhaltensweisen. Insbesondere Hör- und/oder Sehprobleme haben „einen großen Einfluss auf das Wohlbefinden einer Person und auf ihr Zurechtkommen im Alltag“ (ebd., S. 13). Durch das Nachlassen der Hör- und/ oder Sehkraft können Aufgaben nicht mehr wie frü­her erledigt werden und es kommt zum Rückzug aus dem Geschehen. Dies wird dann oft (vorschnell) auch als Abbau der Fähigkeiten interpretiert. Durch entsprechende Hilfsmittel (z.B. Hörgeräte, Brillen) kann dies jedoch (bereits im Vorfeld) verhindert werden.

Bei älter werdenden und alten Menschen mit Down-Syndrom treten Hörprobleme im Ver­gleich zu jüngeren Menschen mit Down-Syndrom und zu Gleichaltrigen mit anderen Formen geistiger Behinderung häufiger auf (vgl. Haveman/Stöppler, 2004; Gusset-Bährer, 2006). Da­bei ist die Altersschwerhörigkeit bei Menschen mit Down-Syndrom relativ häufig und kann bereits ab einem Alter von 20 Jahren festgestellt werden (vgl. Haveman/Stöppler, 2004; Gus­set-Bährer, 2006; Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006). Von den über 60-Jährigen und älteren Menschen mit Down-Syndrom können 22 % schlecht hören und 22 % sind taub (vgl. Haveman/Stöppler, 2004; Gusset-Bährer, 2006). Schwerhörigkeit kann zu Kommunika­tionsproblemen führen, d.h. die schwerhörige Person reagiert z.B. nicht auf Ansprache oder nur verzögert, so dass der Eindruck entstehen kann, dass der Inhalt des Gesagten nicht ver­standen wird (vgl. Michalek/Haveman, 2002). Das Deutsche Down-Syndrom InfoCenter (2006) empfiehlt daher, dass die Altersschwerhörigkeit „bei differenzialdiagnostischen Über­legungen zu kognitiven Defizienzerscheinungen im Erwachsenenalter berücksichtigt werden [sollte]“ (Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006, S. 13).

7.3.2 Sehprobleme

Die Prävalenzrate der Sehprobleme ist bei Menschen mit Down-Syndrom stark erhöht: Wäh­rend in der Normalbevölkerung der 65- bis 74-Jährigen die Prävalenz bei 6,5 % liegt, liegt sie in dieser Altersgruppe bei Menschen mit geistiger Behinderung (ohne Down-Syndrom) bei 17,4 % und bei Menschen mit Down-Syndrom bei 70 % (vgl. Ding-Greiner/Kruse, 2004). In der Regel nimmt die Sehkraft allmählich ab, es kann aber auch zu plötzlichen massiven Seh­störungen kommen z.B. bei Frauen, ausgelöst durch die Wechseljahre (vgl. Deutsches Down- Syndrom InfoCenter, 2006).

Neben der „normalen“ Fehlsichtigkeit (Weit- oder Kurzsichtigkeit) tritt bei Menschen mit Down-Syndrom vor allem der Keratokonus (kegelförmige Vorwölbung der Hornhautmitte) auf (vgl. ebd.). Dies führt häufig zu einer irregulären, meist kurzsichtigen Stabsichtigkeit. Bei sehr vielen Menschen mit Down-Syndrom kann mit zunehmendem Alter auch eine erworbene Linsentrübung (Katarakt oder Grauer Star) nachgewiesen werden (vgl. Haveman/Stöppler, 2004; Ding-Greiner/Kruse, 2004; Gusset-Bährer, 2006; Deutsches Down-Syndrom InfoCen­ter, 2006). Auch ein Glaukom (Grüner Star) kann Ursache von Sehproblemen bei Menschen mit Down-Syndrom sein (vgl. Ding-Greiner/Kruse, 2004; Deutsches Down-Syndrom Info­Center, 2006). Im späteren Stadium kommt es hierbei zu Gesichtsfeldausfällen (Skotome) und zum Nachlassen der Orientierungsfähigkeit. Ebenso treten Probleme der Tiefenwahrnehmung bei Menschen mit Down-Syndrom vermehrt auf (vgl. Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006). Betroffene empfinden es als schwierig von einem Bodenbelag zum anderen zu wech­seln oder über unebene Flächen zu gehen; sie entwickeln manchmal auch Angst vor der Be­nutzung von (Roll-)Treppen. Die Folgen können Verweigerung und Rückzug sein (vgl. ebd.).

7.4 Schilddrüsenfunktionsstörungen

7.4.1 Hypothyreose

Bei der Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion) bildet die Schilddrüse zu wenig oder gar kein Thyroxin (T4) und Trijodthyronin (T3). Diese Schilddrüsenhormone beeinflussen nahezu alle Stoffwechselvorgänge des Menschen. Bei einem Mangel an diesen Hormonen laufen alle Stoffwechselvorgänge verlangsamt ab.

Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit einer Schilddrüsenunterfunktion. Sie kann sich allmählich entwickeln und wird häufig nicht (sofort) erkannt. Bei 20 % bis 30 % der Menschen mit Down-Syndrom tritt eine Hypothyreose auf (vgl. Haveman/ Stöppler, 2004), in der Altersgruppe der 65- bis 74-Jährigen liegt die Prävalenz bei Menschen mit Down-Syndrom bei 45,5 % (vgl. Ding-Greiner/Kruse, 2004). „Einige klinische Zeichen sind:

- trockene Haut, sprödes Haar
- nachlassende geistige und körperliche Fähigkeiten
- zunehmende Kälteintoleranz
- unerklärbare Gewichtszunahme
- Obstipation.“ (Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006, S. 8).

Da diese Zeichen auch als spezifisch für das Down-Syndrom gelten, werden sie manchmal nicht mit anderen Erkrankungen in Verbindung gebracht und als Teil der Behinderung ange­nommen (vgl. ebd.). Bei Nichtbehandlung kann eine Hypothyreose zu Halluzinationen und Koma führen (vgl. Haveman/Stöppler, 2004). Hypothyreose kann darüber hinaus Depressio­nen verursachen (vgl. Haveman/Stöppler, 2004) sowie „demenzartige Symptome hervorru­fen“ (Michalek/Haveman, 2002, S. 226). Laut dem Deutschen Down-Syndrom InfoCenter (2006) gibt es viele Berichte über Menschen mit Down-Syndrom, bei denen nach einer Be­handlung viele Symptome der Hypothyreose wieder verschwunden sind und die so ihre Fä­higkeiten wieder zurück gewonnen haben.

Bei der Hyperthyreose (Schilddrüsenüberfunktion) produziert die Schilddrüse zu viel Thyro­xin (T4) und Trijodthyronin (T3). Typische Symptome sind u.a. Gewichtsverlust und Hyper­aktivität. Die Hyperthyreose tritt deutlich seltener als die Hypothyreose auf (vgl. Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006). Sie kann eine Ursache für Verhaltensänderungen sein, kommt aber beim Down-Syndrom relativ selten vor (vgl. Haveman/Stöppler, 2004).

7.5 Autoimmunerkrankungen

Laut dem Deutschen Down-Syndrom InfoCenter (2006) ist bei Menschen mit Down-Syndrom auch mit einem vermehrten Auftreten von Autoimmunerkrankungen zu rechnen. Insbesondere werden die Zöliakie, die perniziöse Anämie und Diabetes mellitus genannt, da diese Erkran­kungen „für das Wohlbefinden und die Entwicklung des ganzen Menschen ernsthafte Folgen haben können, deren Symptome gleichzeitig häufig mit dem ,klassischen’ Bild des Down- Syndroms übereinstimmen und deshalb oft unerkannt bleiben“ (Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006, S. 10).

7.5.1 Zöliakie

Zöliakie kommt bei Menschen mit Down-Syndrom im Vergleich zur Normalbevölkerung relativ häufig vor (vgl. Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006). Unter Zöliakie wird die Unverträglichkeit von glutenhaltigem Getreide verstanden, die zu einer Zerstörung der Dünn­darmschleimhaut führt. Laut dem Deutschen Down-Syndrom InfoCenter (2006) wird in letz­ter Zeit über Zusammenhänge zwischen ernsthaften Verhaltensstörungen (insbesondere De­pressionen) und Zöliakie berichtet.

7.5.2 Perniziöse Anämie

Die perniziöse Anämie entsteht durch einen lang andauernden Vitamin-B12-Mangel. Bei Menschen mit Down-Syndrom besteht die Möglichkeit eines Vitamin-B12-Mangels z.B. durch eine Zöliakie (vgl. ebd.). Neben den typischen Symptomen wie u.a. Mattigkeit, Schwindelgefühl, Leistungsminderung und Herzbeschwerden, kann es vor allem auch zu psy­chischen Symptomen wie Verwirrtheit, Verhaltensveränderungen und Wahnideen kommen (vgl. ebd.).

Bei Menschen mit Down-Syndrom kommt auch Diabetes mellitus häufiger vor (vgl. ebd.). Diabetes wird oft nicht sofort diagnostiziert und kann aufgrund des Unwohlseins des Betrof­fenen zu Veränderungen im Verhalten oder zu einer depressiven Stimmung führen (vgl. ebd.). Eine zusätzliche Inkontinenz aufgrund des häufigen Harndrangs wird oft fälschlicherweise als ein Verhaltensproblem interpretiert (vgl. ebd.). Selbst nach der Diagnose und der Behandlung des Diabetes mellitus kann ein zu hoher oder vor allem ein zu niedriger Blutzuckerspiegel ernsthafte Verhaltensprobleme verursachen (vgl. ebd.).

7.6 Gynäkologische Themen

7.6.1 Prämenstruelles Syndrom (PMS)

Als prämenstruelle Syndrom (PMS) wird eine Anzahl von Symptomen, die bei Frauen häufig in der Woche vor Beginn der Periode einsetzen, bezeichnet. Diese Symptome können sowohl körperliche Schmerzen (z.B. Kopf- und Rückenschmerzen), als auch Stimmungsschwankun­gen, Reizbarkeit oder depressive Verstimmungen sein.

Wenn Veränderungen im Verhalten in der Woche vor der Periode bei einer Frau mit Down- Syndrom auftreten oder die Frau selbst über Beschwerden klagt, kann es sich also entweder um „normale“ Periodenschmerzen, ein PMS oder um beides gemeinsam handeln (vgl. Deut­sches Down-Syndrom InfoCenter, 2006). Laut dem Deutschen Down-Syndrom InfoCenter (2006) leiden Frau mit Down-Syndrom häufiger unter PMS und Periodenschmerzen als ande­re Frauen. Frauen mit Down-Syndrom zeigen allerdings oft sehr unterschiedliche Symptome wie z.B. Verhaltensauffälligkeiten, die nicht in einen direkten Zusammenhang mit einer PMS gebracht werden (vgl. ebd.). Die Folge kann eine Fehldiagnose sein, die entweder eine medi­kamentöse Behandlung (z.B. mit Antidepressiva) der scheinbaren Verhaltensauffälligkeit nach sich zieht oder es wird nichts unternommen in der Annahme, dass diese Verhaltenswei­sen typisch für das Down-Syndrom sind (vgl. ebd.).

7.6.2 Wechseljahre (Klimakterium)

In den Wechseljahren lässt die Hormonproduktion in den Eierstöcken allmählich nach, bis diese ihre Funktion ganz einstellen. Die Dauer der Wechseljahre liegt durchschnittlich bei etwa zehn Jahren. Die Wechseljahre beinhalten folgende drei Stadien: die Prämenopause, die Menopause und die Postmenopause.

Frauen mit Down-Syndrom kommen relativ früh im Alter von ca. 40 Jahren in die Wechsel­jahre (vgl. Haveman/Stöppler, 2004; Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006). Die sin­kenden Mengen des in der Eierstöcken produzierten Hormons Östrogen wirken sich auf alle Frauen in gleichen Maßen aus, sind jedoch in ihrer Ausprägung individuell. Häufige Be­schwerden sind Hitzewallungen, Müdigkeit, Schmerzen, Schweißausbrüche, Gewichtszu­nahme und Esslust, Depressionen und schwankende Gemütsstimmungen (vgl. Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006). Frauen mit Down-Syndrom können diese körperlichen Veränderungen während der Wechseljahre (meist) nicht verstehen oder richtig einordnen z.B. Schweißausbrüche von normalem Schwitzen bei Anstrengung unterscheiden (vgl. ebd.). Dies verunsichert nicht nur, sondern kann eventuell zu Verhaltensauffälligkeiten führen, die falsch interpretiert werden. Es kann also vorkommen, „dass emotionale Symptome als herausfor­derndes Verhalten erlebt und nicht adäquat behandelt werden“ (ebd., S. 16).

7.7 Spätepilepsie

Zusätzlich zu einer Demenz des Alzheimer-Typs (DAT) entwickeln Menschen mit Down- Syndrom sehr häufig Epilepsien (vgl. Theunissen, 1999; Deutsches Down-Syndrom InfoCen­ter, 2006). Laut dem Deutschen Down-Syndrom InfoCenter (2006) tritt diese so genannte Spätepilepsie bei Menschen mit Down-Syndrom und einer DAT bei bis zu 75 % auf, während nur etwa 10 % der Menschen ohne Down-Syndrom und einer DAT erkranken. Insgesamt nimmt die Inzidenz für Epilepsien bei zunehmendem Alter bei Menschen mit Down-Syndrom im Gegensatz zu Menschen mit geistiger Behinderung ohne Down-Syndrom zu (vgl. Gusset- Bährer, 2002). Epileptische Anfälle bedeuten für Betroffene (zusätzlichen) psychischen Stress, wobei vor allem die Unvorhersehbarkeit der Anfälle Angst auslöst, die „zur emotiona­len Lähmung und Inaktivität führen kann“ (Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006, S. 18).

7.8 Orthopädische Probleme

Die Ursache fast aller Erkrankungen der Knochen und Gelenke bei Menschen mit Down- Syndrom liegt in einem abweichenden Kollagen (vgl. ebd.). Kollagen ist das wichtigste Prote­in, das Bänder, Sehnen, Knorpel, Knochen und Haustrukturen bildet. Die Auswirkungen die­ses abweichenden Kollagens bei Menschen mit Down-Syndrom zeigen sich in der Bänder­schlaffheit und einem geringen Muskeltonus, was zu orthopädischen Problemen bei Men­schen mit Down-Syndrom beiträgt. Hinzu kommt noch der altersbedingte Verschleiß der Ge­lenke, der bei Menschen mit Down-Syndrom früher auftritt (vgl. ebd.).

7.8.1 Atlanto-axiale Instabilität

Atlanto-axiale Instabilität ist die Instabilität der oberen Halswirbel, welche mit zunehmendem Alter ein größeres Risiko darstellt. Diese Instabilität „kann Unbehagen verursachen und even­tuell zu neurologischen Veränderungen führen, u.a. zu einer Muskelschwäche in Armen und Beinen, zur Harn- und/oder Stuhlinkontinenz oder zu Gehstörungen“ (ebd., S. 19).

7.8.2 Osteoporose

Osteoporose ist eine Stoffwechselerkrankung der Knochen, die durch Östrogenmangel verur­sacht wird und insbesondere bei Frauen in den Wechseljahren auftritt. Bei Frauen mit Down- Syndrom, die relativ früh in die Wechseljahre kommen, muss mit einem frühzeitigen Auftre­ten von Osteoporose gerechnet werden (vgl. Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006). Etwa 60 % der 50-Jährigen und älteren Menschen mit geistiger Behinderung haben eine Os­teoporose, wobei Menschen mit Down-Syndrom am meisten betroffen sind (vgl. Have- man/Stöppler, 2004). Im Gegensatz zur Normalbevölkerung scheint Osteoporose auch ver­mehrt bei Männern mit Down-Syndrom aufzutreten (Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006).

7.9 Atemstörungen (Apnoe)

Menschen mit Down-Syndrom haben eine höhere Prävalenzrate bei zunehmendem Alter für ein obstruktives Schlafapnoe-Syndrom (vgl. Haveman/Stöppler, 2004; Deutsches Down- Syndrom InfoCenter, 2006). Bei dem obstruktiven Schlafapnoe-Syndrom handelt es sich um im Schlaf auftretende Atempausen, die durch Verengung der oberen Atemwege ausgelöst werden. Symptome sind „erschwerte morgendliche Weckbarkeit, Kopfschmerzen, Tagesmü­digkeit, Konzentrationsschwierigkeiten sowie verminderte geistige Leistungsfähigkeit“ (Deut­sches Down-Syndrom InfoCenter, 2006, S. 21).

7.10 Übergewicht und Adipositas

Viele Menschen mit Down-Syndrom neigen zu Übergewicht (vgl. ebd.). Übergewicht und Adipositas sind ein großer Risikofaktor sowohl für viele chronische Krankheiten (vor allem Probleme im Herz-Kreislaufsystem und Diabetes mellitus) als auch für orthopädische Prob­leme (z.B. Überlastung der Gelenke) (vgl. Gusset-Bährer, 2002; Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006). Folgeerscheinung von Übergewicht und Adipositas können „eine vermin­derte soziale Akzeptanz und mangelndes Selbstbewusstsein, bis hin zu Depressionen [sein]“ (Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, 2006, S. 22).

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Ende der Leseprobe aus 177 Seiten

Details

Titel
Menschen mit Down-Syndrom: Verhaltensänderungen im Alter
Hochschule
Katholische Hochschule Freiburg, ehem. Katholische Fachhochschule Freiburg im Breisgau
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
177
Katalognummer
V88050
ISBN (eBook)
9783638023580
ISBN (Buch)
9783638921060
Dateigröße
3887 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Verhaltensänderungen, Menschen, Down-Syndrom, Alter
Arbeit zitieren
Karin Böhm (Autor:in), 2007, Menschen mit Down-Syndrom: Verhaltensänderungen im Alter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88050

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