Das Bilderbuch im Literaturunterricht der Grundschule

Möglichkeiten, Ziele und Anwendungsbeispiele


Examensarbeit, 2007

82 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitung

II. Theoretischer Teil
1. Historisches zum Bilderbuch
1.1. Ursprünge des Bilderbuchs und das Bilderbuch in der Aufklärung
1.2. Bilderbücher in der Romantik
1.3. Die Entstehung des erzählenden Bilderbuches
1.4. Das Bilderbuch im 20. Jahrhundert
1.4.1. Bis 1939
1.4.2. 1939 - 1945
1.4.3. Nach 1945
1.4.3.1. Die antiautoritäre Bewegung
1.4.3.2. Entstehung der problemorientierten Kinder- und Jugendliteratur
1.4.3.3. „Neue Erzählformen im Bilderbuch“ und Einflüsse von Kunst und Medien
1.4.3.4. Das Bilderbuch im 21. Jahrhundert
2. Definition Bilderbuch
2.1. Abgrenzung vom illustriertem Buch
2.2. Einteilung von Bilderbüchern nach Qualitätsmerkmalen
2.3. Typologien nach Thiele (vgl. Thiele 2000b, 237)
2.3.1. Das Sachbilderbuch
2.3.2. Das problemorientierte Bilderbuch
2.4. Das erzählende Bilderbuch in der Wissenschaft
3. Das Bilderbuch im Unterricht der Grundschule
3.1. Das Bilderbuch im Fremdsprachenunterricht
3.2. Das Bilderbuch im Sachunterricht
3.3. Das Bilderbuch als Beitrag zur ästhetischen Erziehung und zur Bildkompetenz
3.4. Das Bilderbuch im Religionsunterricht
3.5. Das Bilderbuch im Mathematikunterricht
3.6. Das Bilderbuch als Beitrag für fächerübergreifende Bereiche
3.6.1. Medienerziehung
3.6.2. Interkulturelle Erziehung
3.6.3. Umwelterziehung
3.6.4. Soziale Erziehung
3.7. Das Bilderbuch im Deutschunterricht
3.7.1. Erstlesen
3.7.2. Weiterführendes Lesen
4. Ziele eines Literaturunterrichtes mit Bilderbüchern
4.1. Grundlagen und Begriffe des Literaturunterrichtes
4.2. Leseförderung
4.2.1. Das Konzept und seine Ziele
4.2.2. Leseförderung durch Bilderbücher
4.3. Literarische Bildung
4.3.1. Das Konzept literarische Bildung
4.3.2. Ziele der literarischen Bildung
4.3.3. Literarische Bildung durch Bilderbücher
4.4. Ästhetische Bildung & visual literacy
4.4.1. Das Konzept und seine Ziele
4.4.2. Ästhetische Bildung & visual literacy durch Bilderbücher
5. Auswahl
5.1. Generelle Problematik
5.2. Bilderbücher analysieren
5.2.1. Inhaltliche, sprachliche und erzählerische Ebene
5.2.2. Visuelle Ebene
5.2.3. Typographische Gestaltung
5.3. Bilderbücher auswählen und präsentieren

III. Praktischer Teil
6. Anthony Browne: Stimmen im Park
6.1. Biografisches zu Anthony Browne
6.2. Inhalt & Typografie
6.3. Analyse & Deutung
6.3.1. Inhaltliche Ebene
6.3.2. Bildliche Ebene
6.4. Legitimation für den Einsatz des Buches
6.4.1. Literarische Qualität
6.4.2. Pädagogische Qualität
6.4.3. Bildqualität
7. Armin Greder: Die Insel. Eine tägliche Geschichte
7.1. Biografisches zu Armin Greder
7.2. Inhalt & Typografie
7.3. Analyse & Deutung
7.3.1. Inhaltliche Ebene
7.3.2. Bildliche Ebene
7.4. Legitimation für den Einsatz des Buches
7.4.1. Literarische Qualität
7.4.2. Pädagogische Qualität
7.4.3. Bildqualität
8. Umsetzung in den Literaturunterricht
8.1. Grundlegendes
8.1.1. Klassenzuordnung „Stimmen im Park“
8.1.2. Klassenzuordnung „Die Insel“
8.2. Hinführung zum Bilderbuchinhalt
8.2.1. Einstieg
8.2.1.1. „Stimmen im Park“
8.2.1.2. „Die Insel“
8.1.2. Erlesen des Bilderbuches
8.1.2.1. „Stimmen im Park“
8.1.2.2. „Die Insel“
8.3. Literarisches Unterrichtsgespräch
8.4 Handlungs- und produktionsorientierte Umsetzung
8.4.1. „Stimmen im Park “
8.4.2. „Die Insel“
8.5. Textanalytische Verfahren
8.6. Fächerübergreifende Verfahren

IV. FAZIT

V. Literaturverzeichnis
a) Primärliteratur
b) Sekundärliteratur

I. Einleitung

„Bilderbücher sind Teil der frühen ästhetischen Erfahrungen, die Kinder in ihrer Sozialisation sammeln.“ (Thiele 2000b, 238).

Das Bilderbuch im Literaturunterricht der Grundschule ist ein weitläufiges Thema, über das es leider nur wenige wissenschaftliche Arbeiten gibt. Das Bilderbuch wird oftmals mit dem „kommerziellen Bilderbuch“ gleichgesetzt und als Trivialliteratur abgetan. Wer so denkt und handelt urteilt vorschnell über dieses so umfangreiche Gebiet der Bilderbücher. Dies führt dazu, dass diese so vielseitige und wichtige Gattung der Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht oft vernachlässigt wird.

Natürlich ist darauf hinzuweisen, dass trotzdem eine positive Entwicklung stattgefunden hat, da das Nutzen von Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht allgemein und im Deutschunterricht speziell zugenommen hat. Des Weiteren ist in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung[1] das Thema Kinder- und Jugendliteratur fest verankert und auch die Literaturdidaktik beschäftig sich in zunehmendem Maße mit Themen wie literarische Sozialisation und Lesemotivation. (vgl. Rank 1999, 5). Trotzdem ist gerade die Thematik Bilderbuch nur selten Gegenstand didaktischer Lehrbücher oder Lehrveranstaltungen.

Die Ursache liegt meines Erachtens in der Tatsache begraben, dass der Bilderbuch-Markt von Werken beherrscht wird, die Thiele „Kaufhausbilderbücher“ nennt und die „künstlerisch und inhaltlich anspruchsvollen Bilderbücher“ oft keine Aufmerksamkeit erlangen (vgl. Thiele 1986, 144). Dies führt zu einem Gros an Bilderbüchern, die klischeehaft und platt daher kommen. Eine genauere Abgrenzung dieser beiden Kategorien erfolgt im Kapitel Definitionen.

Diese Arbeit beginnt damit, die Geschichte des Bilderbuches abzureißen und dann im Folgenden klar zu definieren, was in dieser Arbeit und in didaktischen Texten mit dem Begriff „Bilderbuch“ gemeint ist im Unterschied zu anderen Definitionen und Untergattungen. Im weiteren Verlauf wird darauf eingegangen, welche Einsatzmöglichkeiten das Bilderbuch im Unterricht der Grundschule bietet. Nach einem knappen Überblick über verschiedene Fächer und fächerübergreifende Aspekte, rückt der Literaturunterricht in den Fokus der Arbeit. Es wird besprochen, welche Ziele man als Lehrer im Literaturunterricht erreichen kann und soll und wie dies umgesetzt werden kann. Es wird näher erläutert inwiefern Bilderbücher zur literarischen Bildung, zur Leseförderung und zur ästhetischen Bildung beitragen können.

Nachdem das Theoretische ausgiebig erläutert worden ist, beschäftigt sich der zweite Teil der Arbeit, wie der Titel schon verrät, mit praktischen Beispielen. Die Bilderbücher „Stimmen im Park“ von Anthony Browne und „Die Insel“ von Armin Greder werden vorgestellt, analysiert, gedeutet und ihre Möglichkeiten zum Einsatz im Unterricht nahe gebracht und fachdidaktisch begründet. Außerdem soll an den Beispielen aufgezeigt werden, wie die im theoretischen Teil beschriebenen Ziele erreicht werden.

II. Theoretischer Teil

1. Historisches zum Bilderbuch

1.1. Ursprünge des Bilderbuchs und das Bilderbuch in der Aufklärung

Die ersten bebilderten Bücher erschienen kurz nach der Erfindung des Buchdruckes 1445 durch Gutenberg, jedoch waren sie nicht an Kinder adressiert, sondern an leseunkundige Erwachsene. Gedruckt wurden vor allem ABC-Bücher zum Lesenlernen, Fabelbücher und Bücher religiösen Inhalts, wie zum Beispiel Bilderbibeln.

Erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde dieses Angebot ergänzt durch illustrierte Sachbücher. Als Beispiel für ein frühes Bilderbuch ist das meist verbreitete und nachgeahmte Lehrbuch „Orbis sensualium pictus“ (1658) des tschechischen Pädagogen Jan Amos Komensky (Johann Amos Comenius) zu nennen. In 150 Kapiteln präsentiert Comenius die Welt in Wort und Bild. Das Wissen wird eingeordnet in einen größeren Zusammenhang und somit den Kindern „die ganze Welt“ dargestellt. Nach Comenius pädagogischer Vorstellung wollte er den Lesern Sinnzusammenhänge aufzeigen, man sollte die Welt als eine Ordnung begreifen. Der „Orbis sensualium pictus “ war nicht nur die erste Enzyklopädie, sondern gleichzeitig ein Lehrbuch und eine Lateinfibel. Comenius wollte durch seinen Stil die Leser mit allen Sinnen ansprechen und ihnen das Lernen vergnüglicher gestalten.

In den folgenden Jahren wurde das Werk oft kopiert. Es entstanden zahlreiche gut gemeinte Bilderbücher, die den Kindern die Welt näher bringen sollten: die illustrierten Elementarwerke von Johann Bernhard Basedow (ab 1770), Johann Sigismund Stoy (1784), Christian Gotthilf Salzmann (1785) bis hin zu Friedrich Justin Bertuchs, der sein Werk sogar ausdrücklich „Bilderbuch für Kinder“ nannte (1790-1830) und Thesen für die Erstellung eines guten Bilderbuches festhielt.

Im Zeitalter der Aufklärung (Epoche des 18. Jahrhunderts) galt das Kind als „Erziehungsobjekt, das auf die Zeit als Erwachsener vorbereitet wird“ (Richter 2001 ,5), in der Kinder- und Jugendliteratur schlugen sich dementsprechend insbesondere pädagogische Ziele nieder. In dieser Epoche konnte man erstmals von einer spezifischen Kinder- und Jugendliteratur reden. Dichter und Denker in Deutschland und Europa versuchten, dem Kind mit „kindgerechter“ Literatur zu begegnen. Die Literatur als solche gehörte sogar zu einem wichtigen Instrument der Erziehung. Diese Tendenzen und Erkenntnisse sollten aber schon bald Gegner finden.

1.2. Bilderbücher in der Romantik

Die Vertreter der Romantik (Ende des 18. Jahrhunderts bis erstes Drittel des 19. Jahrhunderts) setzten der „pädagogischen Instrumentalisierung“ das der Literatur Eigene, das Künstlerische, das Poetische und Fantastische entgegen. „Man trat nicht mehr von der moralischen, sondern von der ästhetisch-sinnlichen Seite an das Kind heran, lockte sein Interesse, seine natürliche Neugierde mit der Buntheit, der Komik oder der Sentimentalität der Bilddarstellung." (Niermann 1979, 56). Auch das Kindheitsbild der Romantik war ein ganz anderes: Kinder wurden als göttliche unschuldige Wesen gehandelt, die Kindheit wurde idealisiert. In der Frühromantik wurde kaum Kinderliteratur geschaffen, da die Frühromantiker der Meinung waren, Kinder sollten Volkspoesie rezipieren. Dies führte zu poetischen Bilderbüchern in denen Volkslieder, Kinderreime, Märchen und Gedichte illustriert worden sind. Die Spätromantiker hingegen schrieben Texte für Kinder, als Beispiel ist E.T.A. Hoffmanns „Das fremde Kind“ (1817) zu nennen, das als Märchen der neuen Kindheit gilt.

Die wachsende Schaulust in der Romantik führte zu illustrierten Büchern und zu Berufszeichnern. Die Bilder dienten überwiegend als Beigabe und Ergänzung von Massenartikeln, „die Berufszeichner arbeiteten bildnerische Standards heraus, die zum Inbegriff der leicht fassbaren, gefälligen Buchillustration wurden.“ (Thiele 2000c, 18).

In der Biedermeierzeit (1815 - 1848) gipfelte die Vorstellung vom Bilderbuch als Unterhaltungsmedium: Es entstanden unrealistische, groteske und kitschige Bilder, die sogar in Kinderenzyklopädien keine Wirklichkeit mehr darstellten.

1.3. Die Entstehung des erzählenden Bilderbuches

Erst in der folgenden Zeit entwickelten sich erzählende Bilderbücher, ihren Ursprung haben sie also im Sachbilderbuch. Als frühes Beispiel wird oft der „Struwwelpeter“ (1844) im Vergleich zum „Orbis pictus“ (1658) genannt. Der Autor, Heinrich Hoffmann, betrachtete die vorhandenen Bilderbücher als nicht angemessen für seinen Sohn und entwickelte deshalb Bildergeschichten, die bald nach ihrem Erscheinen zu internationaler Berühmtheit gelangten. Warngeschichten wie der „Struwwelpeter“ zeigen, „wie Bedürfnisse und Wünsche der Kinder mit den strengen Verhaltensnormen der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in Konflikt geraten; Fehlverhalten wird mit drastischen und unerbittlichen Strafen geahndet.“ (Hollstein; Sonnenmoser 2006 ,12). Neben viel Beifall erntete das Buch auch nicht enden wollende Kritik, noch heute gibt es Befürworter und kategorische Ablehner. Vor allem die drastischen Strafen und Folgen der Handlungen der Kinder werden kritisiert.

In der darauf folgenden Zeit um 1900 handelten erfolgreiche Bilderbücher von den inneren Erlebniswelten der Kinder, natürlich aus Sicht der Erwachsenen, von naturhaften und paradiesischen Räumen mit Kindern und vermenschlichten Tieren. Dieses extrem Künstliche wurde als besondere Nähe zur Psyche des Kindes erklärt.

1.4. Das Bilderbuch im 20. Jahrhundert

1.4.1. Bis 1939

Das 20. Jahrhundert startete mit der pädagogischen Reformbewegung vom Kinde aus, was auch der Kinder- und Jugendliteratur zu Gute kam. „Die frühen Bilderbücher aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts ließen durchaus schon ambivalente, mehrschichtige Lesarten zu, gaben aber noch die pädagogische Richtung für das (...) Kind vor.“ (Thiele 2004, 13).

Als Beispiel für den Einfluss von aktuellen Strömungen des 20. Jahrhunderts ist „Etwas von den Wurzelkindern“ (1906) von Sybille von Olfers zu nennen, das sich dem Jugendstil zuordnen lässt. Der Jugendstil (Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert) wollte Kunst und Leben vereinen. In Bilderbüchern wurde Kindern ferne, künstliche Lebenswelten gezeigt (vgl. Thiele 2000b, 234 ff).

Gleichzeitig herrschte in der Kinder- und Jugendliteratur auch eine neue Themenvielfalt: soziale Ungerechtigkeit, der erste Weltkrieg und andere Themen aus dem Erfahrungshorizont der Kinder wurden erstmals thematisiert, jedoch ohne großen Erfolg in den Buchläden.

Allerdings gibt es auch zahlreiche Belege dafür, dass sich der Bilderbuchmarkt gerne von Strömungen abschottet und konservativ bleibt. Als Paradebeispiel gilt „Die Häschenschule“ (1924) von Fritz Koch-Gotha und Albert Sixtus. Der Leser erlebt den Schulalltag von Hasenkindern mit: Mutter verabschieden, Schulweg, Morgengebet zu Schulbeginn, Pflanzenkunde, Tiergeschichte und Eier bemalen. Der strenge Lehrer begleitet die Schüler in den Sportunterricht, in den Schulgarten und in die Musikstunde bis die Hasenschüler wieder nach Hause gehen und dort mit der Familie zu Mittag essen. Der Alltag einer kleinbürgerlichen Familie aus den 20er Jahren wird hier auf Hasen transformiert und das Reimschema unterstreicht das eingängige Thema. Die Tatsachen, dass es sich um eine monoszenische Bildfolge und eine auktorial erzählte Ebene handelt, wobei die Bilder dem Erzählten deutlich unterliegen, prägen den konservativen Charakter. Auch wenn das Bilderbuch doppelsinnige Elemente aufweist, die nur den erwachsenen Leser schmunzeln lassen, wie zum Beispiel die Figur des typischen Lehrers, der nicht immer die besten Manieren hat, ist es in seiner Gesamtwirkung jedoch sehr konservativ. Vor allem das klare Rollenverhalten von Vater und Mutter und die Dominanz des männlichen Geschlechts war häufig Grundlage dafür, dass das Buch „zum beliebtesten Prügelknaben vieler Kinderbuchkritiker“ (Bode 1995, 76) wurde. Trotzdem zählen meist solche konservativen und klassischen Werke wie die Häschen-Schule zu den großen Klassikern des Bilderbuchmarktes, die jeder kennt, jeder verschenkt und als typisches Bilderbuch versteht.

Auch auf der bildlichen Ebene war in den meisten Bilderbüchern eine klare Linie gefordert: Details, klare Umrisse und Formen, eindeutige Farben und Verzicht auf räumliche Darstellungen sollten mit „Rücksicht“ auf das Kind ein Bilderbuch prägen. Malerei in Bilderbüchern war verpönt, da sie für Kinder angeblich unklar war und sie ablenkte (vgl. Thiele 1997, 150). Hinter diesen Forderungen nach „kindgerechten“ Bildern steckte die Annahme, dass Kinder einen Mangel in der Fähigkeit, Bilder wahrzunehmen, haben. Diese Erfindung der Erwachsenen beherrscht leider noch heute die Produktion, Kritik und Rezeption von Bilderbüchern (vgl. Thiele 1997, 151).

1.4.2. 1939 - 1945

Während des NS-Systems fand, wie in allen Bereichen der Literatur, eine Zensur statt, die viele Bücher verbot und die so genannte „NS-Literatur“ etablierte. Bilderbücher von Elvira Bauer oder Ernst Hiemer sind Beispiele für dieses dunkle Kapitel der Bilderbuch-Geschichte. Wie schon die Titel verraten („Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid“ aus dem Jahr 1936 und „Der Giftpilz“ von 1938), wurde hier versucht, die Juden zu verteufeln und gleichzeitig die Deutschen zu verherrlichen. Die Wirkung solch rassistischer Bücher ist nur schwer auszumachen, jedoch spricht es für sich, dass Elvira Bauer selbst nur 18 Jahre alt war, als sie die rassistischen Bilder und Texte schuf.

1.4.3. Nach 1945

Nach dem Ende des NS-Systems kam es in der Kinder- und Jugendliteratur zu verschiedenen Wellen: die zeitgeschichtliche (1960), die antiautoritäre (1970), die emanzipatorische und die problemorientierte.

Es fand eine Entwicklung statt, die vor allem inhaltliche Enttabuisierung mit sich brachte, brisante Themen wurden erstmals aufgegriffen und in dynamische Beziehungsgeflechte umgesetzt. Diese Entwicklung war aber nicht allein eine Reaktion auf die emanzipatorische Sichtweise der 60er Jahre von Kindheit, nach der Kinder zu gesellschaftskritischen Wesen erzogen werden sollen und als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft angesehen wurden, sondern auch eine Antwort auf die veränderten Rahmenbedingungen: Technisierung, neue Geschlechterrollen und alternative Familienverhältnisse (vgl. Armbröster-Groh 1998, 135). Als Exempel ist Maurice Sendaks Held von 1963, Max, zu nennen. In dem Bilderbuch „Wo die wilden Kerle wohnen“ (1963), geht der trotzige und widerspenstige Protagonist Max auf eine gedankliche Reise, um einem Streit mit seiner Mutter zu entfliehen. Dies zeigt bereits, dass sogar auf der „erzählten Handlungsebene Widerstand gegen erzieherische Normen“ (Thiele, 2004, 15) erprobt wird. Nach seiner Phantasiereise, auf der Max wilde Kerle besiegt, kehrt er psychisch gestärkt dorthin zurück, wo das Familienleben auf ihn wartet. Revolutionär an diesem Bilderbuch ist die Tatsache, dass erstmals das Destruktive im Kind thematisiert und akzeptiert wird, wenn auch auf einer phantastischen Ebene. Es findet eine Öffnung für tabuisierte Themen statt während die Protagonisten nicht länger mit Strafen wie im Struwwlepeter zu rechnen haben (vgl. Thiele 2004, 15 ff). Man kann hier von einer ersten Emanzipierung des Bilderbuches sprechen, bei der der Blick nach innen auf die Phantasiewelt der Kinder berücksichtigt wird.

1.4.3.1. Die antiautoritäre Bewegung

Als Paradebeispiel für die antiautoritäre Bewegung steht „Der Anti-Struwwelpeter“ (1970) von Friedrich Karl Waechter. Die Ähnlichkeit zum Struwwelpeter wird deutlich, wenn man sich die Inhalte und den Sprachstil näher ansieht, die Differenz, das „Anti“, ist jedoch eindeutig in der Handlung zu finden. Die Kinder rufen zum Kampf gegen die Erwachsenen und zur Missachtung aller Regeln auf, Strafen werden nicht vollzogen.

1.4.3.2. Entstehung der problemorientierten Kinder- und Jugendliteratur

In den 70er Jahren emanzipiert sich der Bereich der Kinder- und Jugendliteratur. Er öffnet sich gegenüber neuen Themen und verzichtet immer mehr auf herrschende Ideale. Dadurch entsteht die problemorientierte Kinder- und Jugendliteratur entsteht (siehe 2.2.2.). Sahr spricht von einem „neuen Trend“, der sich von phantastischen und märchenhaften zu realitäts- und problemorientierten Inhalten bewegt (vgl. Sahr 1987, 2).

1.4.3.3. „Neue Erzählformen im Bilderbuch“ und Einflüsse von Kunst und Medien

Um 1990 ist eine weitere Etappe in der Geschichte des Bilderbuches fest zu machen. Jens Thiele beschäftigt sich in seinem Buch aus dem Jahre 1991 „Neue Erzählformen im Bilderbuch“ genau mit dieser Etappe. Er hält fest, dass die Bereitschaft der Autoren und Autorinnen und der Illustratoren und Illustratorinnen zugenommen hat, sich neue Ausdrucksformen zu suchen, um den Lesern mehr mitzuteilen. Der Buchmarkt verändert sich insofern, als dass immer häufiger künstlerische Ambitionen, komplexe Erzählstrukturen und engagierte Themen im Zentrum der Bilderbücher stehen. Er spricht von der Entstehung einer neuen Kunstform, die geprägt ist durch die Spannung, die zwischen dem Text und den Bildern liegt. Nach einer Einleitung beschäftigen sich unterschiedliche Autoren mit jeweils einem Bilderbuch pro Kapitel, als Beispiele sind Anthony Brownes „Der Tunnel“ (1989) und Jörg Müllers und Jörg Steiners „Der Aufstand der Tiere oder die neuen Stadtmusikanten“ (1989) zu nennen (vgl. Thiele 1991). 2004 sagt Thiele, dass Materialität, Medialität und Bildfragmentierung mittlerweile ästhetische Prinzipien sind, denen sich das Bilderbuch geöffnet hat und die aus Bilderbüchern nicht mehr wegzudenken sind. Außerdem geht er auf Bilderbücher ein, die mehrere Lesearten zulassen und somit jung, alt und was dazwischen liegt ansprechen (vgl. Thiele 2004, 20). Diese neue Form des Bilderbuches ist typisch für das Ende des 20. und den Beginn des 21. Jahrhunderts. Autoren geben ihren Werken verschiedene Ebenen der Handlung und auch das Visuelle wird vielfach unterschiedlich angesprochen, so dass Erwachsene, die zum Beispiel vorlesen, Dinge entdecken können, die den Kindern zwar nicht auffallen, ihnen aber auch nicht fehlen. Thiele geht sogar so weit, dass er sagt, die Emanzipation ist soweit vorangeschritten, dass es mittlerweile Bilderbücher gibt, die sich über den Kindern hinweg entwickelt haben und jetzt der Erwachsenenliteratur zuzuordnen sind (vgl. Thiele 2004, 20).

Diese junge Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland lässt sich nach Dahrendorf als Teilung beschreiben. Zum einen findet eine Öffnung zur allgemeinen Literatur hin statt, die auch von Thiele erkannt und thematisiert wurde, zum anderen gibt es ein breites Feld der Anfängerliteratur (vgl. Dahrendorf 1996, 16 f.). Die pädagogischen Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert, die besagen, dass man in Kinderbüchern darauf „Rücksicht“ nehmen muss, den Kindern nur einen einfachen Bildstil zuzumuten und dass die Bücher ihre Leser nicht psychisch überfordern, herrschen bis heute vor, vor allem wenn es um Illustrationen geht. Jens Thiele spricht in einem Aufsatz von 1997 von einem „ästhetischen Ghetto“, dass sich über seine kommerziell erfolgreichsten Vertreter selbst reproduziert und sich in artifiziellen und dekorativen Bildwelten verliert (Thiele 1997, 156).

Trotz der konservativen Aspekte hat auf der inhaltlichen Ebene sowie auch auf der bildlichen Ebene eine enorme Entwicklung stattgefunden. Viele Bilderbücher haben sich Einflüssen der Kunst, Medien und der Kultur im Allgemeinen geöffnet und somit ihre Eindimensionalität aufgegeben. Jedoch zeigt sich in der Gattung Bilderbuch im 20. Jahrhundert nur selten eine Übereinstimmung zwischen freier Kunst und Bilderbuchgestaltung. Zeitversetzte Rückgriffe der Illustrationen auf bestimmte Stilepochen sind zu beobachten (vgl. Thiele 2000b, 236 ). „In den 80er und 90er Jahren hat sich das Bilderbuch trotz der Dominanz des Trivialen ästhetisch weiter differenziert. Vor allem die Einflüsse der Medien haben zu einer zeitgemäßeren Bildsprache geführt.“ (vgl. Thiele 2000b, 236). „Zoom“ (1995) von Istvan Banyai oder „Der Aufstand der Tiere oder die neuen Stadtmusikanten“ (1989) von Jörg Müller und Jörg Steiner sind in diesem Zusammenhang erwähnenswert. Die Tatsache, dass Kinder heutzutage angesichts der neuen Medien mit immer komplexeren Bildwelten konfrontiert werden, zieht die Aufmerksamkeit auf die visual literacy, also die Bildwahrnehmung von Kindern.

1.4.3.4. Das Bilderbuch im 21. Jahrhundert

Die neuesten Bilderbücher werden häufig als durch die Postmoderne beeinflusst beschrieben. Durch umfangreiche Entgrenzungen und viele Ambivalenzen in modernen Bilderbüchern entstehen Werke, die dazu veranlassen vom „Ende der Eindeutigkeit“ (Oetken 2007, 25) zu reden. Immer neue Bild-Text-Konzepte „verlangen neue Erzähl- bzw. Vorleseweisen, auch für neue Zielgruppen des Bilderbuches, denn die Zielgruppe der Vorschulkinder wurde längst erweitert.“ (ebd.).

Diese Entwicklung kann zwar zu innovativen Werken führen, es stößt aber auch auf Kritik: „Entortung und Auflösung ehemals verbindlicher Erzähltraditionen scheinen im Bilderbuch dort ihre Grenzen zu finden, wo sich Themen, Motive und Aussagen von Erzählstoffen (...) verlieren und das Kind nur noch die Scherben der erzählten Geschichte in der Hand hält.“ (Thiele 2000, 19).

2. Definition Bilderbuch

2.1. Abgrenzung vom illustriertem Buch

Ein illustriertes Buch oder ein illustrierter Text sind charakterisiert durch die Tatsache, dass die Bilder eine rein unterstützende Funktion haben. Sie tragen somit nicht zur Handlung bei. Beim Bilderbuch werden sowohl thematische als auch bildnerische Elemente in einer für die Gattung typischen Einfachheit miteinander verbunden.

2.2. Einteilung von Bilderbüchern nach Qualitätsmerkmalen

Auch wenn sich Lehrer, Eltern, Fachleute und Kritiker nie völlig einigen können, ob ein Bilderbuch nun zu empfehlen sei oder nicht, lassen sich Bilderbücher nach ihrer Qualität grob in zwei Kategorien einteilen. Zum einen gibt es die so genannten „Warenhaus- / Kaufhausbilderbücher“ und die „künstlerisch und inhaltlich anspruchsvollen Bilderbücher“ (vgl. Dehn; Thiele 1985 142 ff.). Die Unterscheidung erfolgt in erster Linie nach inhaltlichen und bildästhetischen Kriterien. Während die „Warenhaus- / Kaufhausbilderbücher“ geprägt sind durch klischeehafte Handlungen in einer heilen und fröhlichen Welt, beschäftigen sich die anspruchsvollen Bilderbücher auch mit der Darstellung von Problemen und mit Beziehungen zwischen Menschen. Die Bilder können sich an die bildende Kunst anlehnen, nutzen verschiedene Techniken und sind meist sehr differenziert, wohingegen in den einfachen Büchern häufig mit grellen Farben, klar konturierten Formen und ohne Räumlichkeit gearbeitet wird. Eine weitere Differenz ist in Auflage und Preis zu finden. Die meist recht preiswerten Bilderbücher (unter fünf Euro) aus dem Kaufhaus, können hohe Auflagen aufweisen (25. – 30.000) und liegen oft ihn Schreib- und Spielwarenabteilungen und sogar in Supermärkten aus. Die im Vergleich dazu recht teuren Bilderbücher (13 – 20 Euro) mit höherer Qualität müssen sich mit niedrigen Auflagen (5. – 8.000) zufrieden geben und sind nur in gut sortierten Buchläden zu finden (vgl. Dehn; Thiele 1985 142 ff.).

Für diese Arbeit ist es wichtig zu erwähnen, dass der Gebrauch des Wortes Bilderbuch sich auf die „künstlerisch und inhaltlich anspruchsvollen Bilderbücher“ bezieht. Die Bücher der anderen Kategorie sind natürlich nicht zu verteufeln. Sie können Kindern auch das Vergnügen am Lesen nahe bringen, den Wortschatz der Kinder erweitern (Tiere auf dem Bauernhof etc.), Beziehungen zu Büchern in Vorlesesituationen aufbauen, in die Schriftsprache einführen und das Wahrnehmen von Bildern schulen. Jedoch ist natürlich zu berücksichtigen, dass die Kinder hierbei selten verschiedene Illustrationsstile, Lebenshilfe, Identifikationsmöglichkeiten oder Anknüpfung an ihre Lebenswelt erfahren.

2.3. Typologien nach Thiele (vgl. Thiele 2000b, 237)

Das Bilderbuch tritt und trat schon immer in unterschiedlichen formalen Typen auf. Grob unterteilen lässt es sich in die Kategorien erzählendes Bilderbuch und Sachbilderbuch (siehe 2.2.1.). Wie auch in der Kinder- und Jugendliteratur kann eine weitere Unterteilung je nach Realitätsbezug erfolgen, also eine Differenzierung in phantastische und realistische Erzählungen. In den Bereich der Realistik lässt sich das Problembilderbuch (siehe 2.2.2.) einordnen, wenn es auch problemorientierte Bilderbücher gibt, die phantastische Darstellungsmittel nutzen. Eine eindeutige Unterteilung in Phantastik und Realistik ist jedoch immer schwierig. Natürlich lassen sich Bilderbücher auch nach ihren stilistischen Merkmalen unterscheiden. Abstrakte Bilderbücher, moderne Bilderbücher, impressionistische Bilderbücher etc. Darüber hinaus gibt es Bilderbücher, die sich in ihrer Ausführung unterscheiden: Aufklapp-, Zieh-, Dreh- und Faltbilderbücher oder sogar Bastelbilderbücher. Durch neue Medien wie Internet und CD-ROMs ergeben sich Möglichkeiten, Bilderbücher interaktiv anzulegen. Da es in dieser Arbeit aber nicht um die vielen Bilderbucharten gehen soll, wird im Folgenden auf zwei ausgewählte Arten eingegangen. Das Sachbilderbuch soll nur kurz erwähnt werden, da es für Kinder und Schule sehr hilfreich ist, in dieser Arbeit aber keine weitere Thematisierung stattfindet. Das problemorientierte Bilderbuch wird im weiteren Verlauf der Arbeit häufig genutzt und deshalb im Folgenden klar definiert, so dass sich später keine Fragen mehr stellen.

2.3.1. Das Sachbilderbuch

Die meisten der modernen Sachbücher für Kinder sind Sachbilderbücher. Die Bilder sind quantitativ entweder mit dem Text gleichgestellt oder sie überwiegen. Sie sollen Kinder informieren, Wissen vermitteln und gleichzeitig unterhalten, was den Unterschied zum Lehrbuch ausmacht (vgl. (Hollstein; Sonnenmoser 2006, 79 ff). Thematisch beschäftigen sich Sachbücher für Kinder mit allem was es in der realen Welt gibt.

2.3.2. Das problemorientierte Bilderbuch

Problemorientierte Bilderbücher beschäftigen sich, wie der Name schon verrät, mit der Thematik unterschiedlicher Probleme und mit Konflikten sozialer oder persönlicher Natur. Die meist fiktiven Geschichten stehen im genauen Gegensatz zu den verbreiteten Bilderbüchern, die eine heile Welt darstellen, die völlig frei von Problemen und Konflikten ist. Ziel der Autoren problemorientierter Bilderbücher ist in erster Linie das Nachvollziehen der Problematik, verbunden mit der Anregung zur Reflektion, und das Nachdenken über mögliche Lösungen des Problems. Thematisch beschäftigt sich das problemorientierte Bilderbuch mit allen Facetten des Lebens. Exemplarisch lassen sich Tod, Scheidung, Krieg, Angst und Ausländerfeindlichkeit nennen (vgl. Hollstein; Sonnenmoser 2006, 68 ff). In „Hat Opa einen Anzug an?“ (1997) von Amelie Fried und mit Bildern von Jacky Gleich beispielsweise stellt der Enkel Bruno diese und andere Fragen zum Thema Tod. Die in erster Linie realistischen Erzählungen können aber auch phantastische Darstellungsmittel gebrauchen. Konflikte werden dann auf eine phantastische Ebene transferiert, in der zum Beispiel Tiere oder Zwerge mit eigentlich typisch menschlichen Konflikten hadern, in „Das kleine Drachenmädchen“ (1992) von Michael Lundgren und Ulf Gustavsson wird zum Beispiel der sexuelle Missbrauch innerhalb einer (Drachen-)Familie thematisiert. Eine eindeutige Zuordnung in die realistische Kinder- und Jugendliteratur ist also nicht möglich, wenn auch die meisten problemorientierten Bilderbücher dieser Gattung zu zuordnen sind.

Problemorientierte Kinder- und Jugendliteratur sieht sich oft der Kritik ausgesetzt, dass sie die harmonische Kindheit beeinträchtigen. Jedoch sehe ich es als völlig falsch an, Kinder von Problemen und Konflikten fern zu halten, da sie wissen, dass es neben dem Guten auch das Böse gibt. Das Beschäftigen mit Problemen führt zum einen zu der Erkenntnis, dass auch andere Probleme haben, und dass man daran Anteil nehmen sollte, zum anderen können mögliche Lösungswege aufgezeigt werden. Die Bücher können also einen Beitrag zur Sozialisation und zur persönlichen Entwicklung leisten. Wichtig ist, dass die Themen zwar realistisch dargestellt werden aber der Glaube und die Hoffnung nicht völlig enttäuscht werden. Leider finden problemorientierte Bilderbücher nur selten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit.

2.4. Das erzählende Bilderbuch in der Wissenschaft

In der Wissenschaft wurde das Bilderbuch lange vernachlässigt. Dementsprechend liegt auch ein Mangel an wissenschaftlichen Texten zur Thematik vor. 1973 erschien das Buch „Das Bilderbuch“ vom Frankfurter Institut für Jugendbuchforschung und seinem Direktor Klaus Doderer und Helmut Müller, das sich mit der Geschichte des Mediums Bilderbuch beschäftigt. In diesem Buch wird an exemplarischen Bilderbüchern aus dem Zeitraum vom 19. Jahrhundert bis zum Erscheinungsjahr 1973 dargestellt, wie sich die Bilderbücher literarisch, bildnerisch und stilistisch entwickelt haben. Ansonsten gibt es nur wenige wissenschaftliche Publikationen. Definitionsversuche sind oft einfach, subjektiv und für einen wissenschaftlichen Kontext nicht brauchbar. Einig sind sich jedoch alle in folgender Basis: Eine enge Wechselbeziehung von Bild und Text ist Grundvoraussetzung für ein Bilderbuch. Diese Wechselbeziehung grenzt das Bilderbuch auch klar vom illustrierten Buch ab, da die Bilder in einem Bilderbuch eine eigene narrative Funktion haben. Diese narrative Ebene der Bilder und die im Text erzählte Handlung bilden ein „komplexes symbolisches Gebilde, in dem in der Regel Stoffe fiktionalen Charakters erzählt werden, so dass das Bilderbuch ein primär narratives Medium ist.“ (Thiele 2000c, 228). Prof. Dr. Phil. Jens Thiele (Direktor der Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg) gehört zu den führenden Wissenschaftlern auf dem Bilderbuch-Sektor in Deutschland. Seine Publikationen sind zahlreich und fast alle in dieser Arbeit berücksichtigt worden.

Unter einem Bilderbuch versteht man heute eine „spezielle Untergattung der Kinderliteratur, die in der Regel 30 Buchseiten nicht überschreitet und sich durch eine enge Wechselbeziehung von Bild und Text auszeichnet.“ (Thiele 2003, 71). Es richtet sich im Allgemeinen an Kinder, die noch nicht selbst lesen können oder sich noch in einem frühen Lesealter befinden. Aus diesem Grund resultiert die große Bedeutung der Bilder in einem Bilderbuch (vgl. Thiele 2003, 71). Bilder sind nur dem ersten Anschein nach naive und unverbindlichere Auseinandersetzungen mit der Wirklichkeit, da der Wert von Bildern darin besteht, dass sie die Wirklichkeit in unmittelbaren, gestalthaften Eindrücken als Ganzes zum Ausdruck bringen. Ein Bild präsentiert den Sinn stets als Ganzes und nicht Teile seiner Bedeutung. Bilder bieten Orientierung und geben auf der anderen Seite Anlass zum Fragen.

Die Illustrationen in solchen Bilderbüchern können ganz unterschiedliche Rollen spielen. Im Normalfall laufen Bild und Text parallel. Das bedeutet, dass sie „aufeinander Bezug [nehmen], wobei dem Text eher die Funktion der Entwicklung einer Handlung zukommt und das Bild eher die Rolle des Darstellens ausgewählter Handlungsmomente übernimmt.“ (Thiele 2003, 78). Bild und Text können aber auch kontrapunktisch sein (Bild und Text passt nicht zusammen), mit dem Ziel, beim Leser Irritation oder Komik zu erregen. Auch ein geflochtener Zopf ist möglich, wobei Bild und Text im Transportieren des Inhaltes gleichwertig sind. (vgl. Thiele 2003, 78f.)

Will man den aktuellen Wissensstand darstellen, muss man sich Publikationen amerikanischer Wissenschaftler bedienen. Maria Nikolajeva und Carole Scott haben mit ihrem Buch aus dem Jahre 2001 „How picturebooks work“ einen innovativen und engagierten Blick auf das Verhältnis von Text und Bild geworfen. Sie sehen die Einmaligkeit des Bilderbuches in der Tatsache begraben, dass es eine Kunstform ist in der die zwei Ebenen der Kommunikation, die visuelle und die verbale, kombiniert werden (vgl. Nikolajeva 2001, 1). Erzähltheoretisch unterscheiden sie zwischen „showing“ und „telling“, wobei „showing“ sich auf das Dramatische, das Dargestellte bezieht und „telling“ den narrativen, berichtenden Charakter darstellt. Die Einteilung in „showing“ und „telling“ im Kontext Bilderbuch erfolgt dementsprechend, mit „showing“ ist die visuelle, bildliche Ebene gemeint, mit „telling“ die verbale, textliche Ebene (vgl. Nikolajeva 2001, 26). Sie betonen, dass es keiner anderen Literaturform gelungen ist, das Symbolische so eng mit dem Fiktiven zu verbinden. Sie sehen darin den eindeutigen Unterschied zum illustrierten Buch, da dies nicht symbolisch arbeitet, sondern bildlich. Es bildet die Handlung ab. Im Bilderbuch müssen Symbole gedeutet werden, um die Handlung zu erschließen. Die Worte laufen trotz aller temporärer Ellipsen linear fortlaufend, während Bilder immer diskontinuierlich sind und so zum Verweilen einladen, da sie als Ganzes aufgenommen werden müssen und alle Teile entdeckt werden sollten (vgl. Nikolajeva 2001, 157 ff.). Für sie ist das Bilderbuch eine Form der Kommunikation, in der Wort und Bild dynamisch sind und in ganz unterschiedlichem Verhältnis zu einander stehen können (vgl. Nikolajeva 2001, 262). In der Entwicklung des Bilderbuches im letzten Jahrhundert sehen sie einen Spiegel der Entwicklung der Gesellschaft, da sich Bilderbücher von Konventionen und Belehrungen weg, hin zu persönlichen Vorlieben und individuellen Einstellungen bewegt haben (vgl. Nikolajeva 2001, 257 ff).

Ansonsten bedarf es noch immer kulturwissenschaftlicher Unzersuchungen und Reaktionen auf veränderte Erzählstrukturen im Bilderbuch, wie Thiele in seinem neuesten Aufsatz betont (vgl. Thiele 2007, 6). Weiter hält er fest, dass es vor allem nötig wäre, das Bilderbuch in einem wesentlich weiteren Forschungsrahmen zu betrachten und dadurch Bezugswissenschaften, wie Medienrezeptionsforschung und Entwicklungspsychologie, mit ein zu beziehen (ebd.).

3. Das Bilderbuch im Unterricht der Grundschule

Da das Bilderbuch im Unterricht der Grundschule so vielfältig genutzt werden könnte, soll diese Arbeit überblicksartig zeigen, in welchen Fächern und in Zusammenhang mit welchen fächerübergreifenden Lernzielen die Gattung Bilderbuch ein geeignetes Medium darstellt (vgl. Hollstein; Sonnenmoser 2006).

In der Reihenfolge der Kapitel spiegeln sich weder die quantitativ noch qualitativ unterschiedlichen Möglichkeiten wieder. Die Tatsache, dass der Bereich des Deutschunterrichts am Ende der Aufzählung steht, soll nur den weiteren Verlauf der Arbeit gliedern, da sich von da an der Fokus der Arbeit verringert und sich nur noch auf den Literaturunterricht bezieht.

3.1. Das Bilderbuch im Fremdsprachenunterricht

Nicht mehr die kognitive Förderung der Kinder steht an erster Stelle, sondern das interkulturelle Lernen, das in einer multikulturellen Gesellschaft von großer Bedeutung ist. Es besteht nun die Möglichkeit, Bilderbücher in ihrer Originalsprache zu nutzen. Zum einen können die Schüler die Sprache und ihren Klang kennen lernen und zum anderen findet ein Einblick in fremde Kulturen statt. Auch wenn die Bücher nicht immer im Ganzen behandelt werden müssen, wird der Umgang mit Büchern geschult und das Interesse an fremden Sprachen kann geweckt werden (vgl. Hollstein; Sonnenmoser 2006, 159). Vor allem im tatsächlichen Sprachunterricht können Bilderbücher sehr motivierend wirken, da man bedingt durch die einfache Sprache sehr schnell ein „ganzes“ Buch verstehen kann. Außerdem lassen sich Bilderbücher nutzen, die im Original zum Beispiel in englischer Sprache sind und deren deutsche Übersetzung nun untersucht und verbessert werden kann.

3.2. Das Bilderbuch im Sachunterricht

Neben dem Einsatz von Sachbilderbüchern, der natürlich nahe liegt, können auch erzählende Bilderbücher von großem Nutzen sein. Das historische Lernen in der Grundschule kann durch Quellen aus unterschiedlichen Epochen gefördert werden. Die Häschenschule oder der Struwwelpeter können den Schülern zeigen, wie das Leben der Kinder in anderen Zeiten war.

[...]


[1] Im Weiteren soll die maskuline Form als Universalbegriff verwendet werden

Ende der Leseprobe aus 82 Seiten

Details

Titel
Das Bilderbuch im Literaturunterricht der Grundschule
Untertitel
Möglichkeiten, Ziele und Anwendungsbeispiele
Hochschule
Pädagogische Hochschule Heidelberg
Note
1,5
Autor
Jahr
2007
Seiten
82
Katalognummer
V88072
ISBN (eBook)
9783638015011
ISBN (Buch)
9783638917698
Dateigröße
1687 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bilderbuch, Literaturunterricht, Grundschule
Arbeit zitieren
Theresa Linnéa Müller (Autor:in), 2007, Das Bilderbuch im Literaturunterricht der Grundschule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88072

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Titel: Das Bilderbuch im Literaturunterricht der Grundschule



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