"Otto Gross": Ein vergessener Kulturrevolutionär?

Darstellung seines Lebens, seiner kultur-revolutionären Texte und der Pressekampagne deutscher Intellektueller für seine "Freilassung"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

38 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Eine Einführung – Das Leben von Otto Gross als Teil der intellektuellen Utopievorstellungen

3. Otto Gross und seine Kulturanalyse – Textlicher Auszug
3.1. „Zur Überwindung der kulturellen Krise“
3.2. „Die Einwirkung der Allgemeinheit auf das Individuum“
3.3. „Anmerkungen zu einer neuen Ethik“
3.4. „Zur funktionellen Geistesbildung des Revolutionärs“
3.5. „Orientierung der Geistigen“

4. Der Fall »Otto Gross«. Seine Bedeutung für, sowie seine Wirkung auf die intellektuellen Kreise und die Gesellschaft
4.1. Die Hintergründe der Festnahme von Otto Gross
4.2. Vorbemerkung zur Kampagne
4.3. Die Kampagne und ihre Argumentation wie Intention für die Freilassung von Otto Gross
4.3.1. Der Vorwurf des Wahnsinns
4.3.2. Der Vorwurf des lästigen und drogenabhängigen Ausländers
4.3.3. Der Vorwurf des Kurpfuschers und der Euthanasie
4.3.4. Der Vorwurf des Anarchisten
4.3.5. Otto Gross – der Sohn eines Kriminalprofessors

5. Resümee

6. Literaturverzeichnis
6.1. Internetquellen

7. Anhang

1. Einleitung

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewinnen in Deutschland kollektive Publikationsformen immer mehr an Bedeutung, denn gerade die unterschiedlichen literarischen und politischen Strömungen dieser Zeit finden in diesen Medien ihr Gehör. So verwundert es nicht, dass „ein Grossteil der expressionistischen und anarchistischen Debatten in den mehr als einhundert Zeitschriften, die diese Epoche hervorbrachte, ihr Forum Šfand‹.“[1]

In einigen dieser Zeitschriften trifft man gegen Ende des Jahres 1913 bis zum Frühling des Folgejahres auf mehrere Beiträge über einen gewissen „Dr. Otto Gross“ und einem, mit dieser Person verbundenen, publizierten Skandal über den »Fall Gross«.

Wer war dieser Dr. Otto Gross? Und warum kam es zu einem Skandal?

Noch vor mehreren Jahren hätte wohl kaum jemand diese Fragen beantworten können, denn bis in die Mitte der 70er Jahre wurde der Person „Otto Gross“, die in anarchistisch-expressionistischen Kreisen verkehrte, und der dazu gehörigen Pressekampagne deutscher Intellektueller keine gesonderte Betrachtung geschenkt. Erst als die „Neue Subjektivität“[2] der 70er Jahre u. a. das Interesse an „Auseinandersetzungen mit Krankheitsgeschichten und gestörten Beziehungen Šsowie‹ mit patriarchalen Familien- und Gesellschaftsstrukturen“[3] weckte, rückte auch die ehemals berühmt, wie berüchtigte Persönlichkeit Otto Gross in den Mittelpunkt mancher Untersuchungen. Allerdings dauerte es fast weitere 25 Jahre bis 1998 die Internationale Otto Gross Gesellschaft gegründete wurde, die bis heute das Andenken an den Psychoanalytiker Dr. Otto Gross bewahrt und ehrt.

In seiner Persönlichkeit vereinigen sich Charaktere und Eigenschaften, die eigentlich für mehrere Menschen reichen. So war er Psychoanalytiker, Arzt, Kulturwissenschaftler, Intellektueller, Reformer, Anarchist, Drogensüchtiger, Revolutionär und Sohn. Und er sorgte mit seinen Texten über die Psychoanalyse, seiner soziologisch-psychoanalytischen Kulturanalyse, seinen anarchistisch-revolutionären Ideen und dem öffentlich ausgetragenen Vater-Sohn-Konflikt für einigen Wirbel.

Zusätzlich lebte er, entgegen seiner konservativ bürgerlichen Herkunft und zum Entsetzen seines Vaters, ein unstetes Leben in der Bohème. Folglich vertrat er die damaligen Utopievorstellungen von einer „neuen“ Entwicklung der Menschheit, vom Anarchismus und Kommunismus – im aufklärend befreienden Sinne – und von den neuartigen Lebens- und Siedlungsformen.

Die größte Besonderheit seiner Existenz zeigt sich jedoch speziell daran, dass er die intellektuellen Utopievorstellungen wahrhaftig in seine Lebensführung übertragen hat. Wie sich in dieser Arbeit zeigen wird, stellt diese Übertragung den eigentlichen Hauptgrund dafür dar, dass ein Skandal oder der »Fall Otto Gross« entstanden ist.

In seiner Funktion des Psychoanalytikers, brachte Otto Gross den Intellektuellen der expressionistischen Kreise insbesondere den neu entdeckten psychologischen Wissenschaftszweig der Psychoanalyse näher.

Dass, die Person Otto Gross durch diese Tätigkeit, aber auch mit seiner Lebensweise, seinen Texten und Ideen einen entscheidenden Einfluss auf einige anarchistische und expressionistische Kreise ausübte, konnte mittlerweile von den germanistischen Literaturwissenschaften in wenigen Ausarbeitungen bewiesen werden.[4] Und auch diese Arbeit setzt sich mit dieser Thematik auseinander.

Ziel dieser Arbeit ist hierbei, die zwei zuvor gestellten Fragen ausreichend zu beantworten, dementsprechend sind die thematischen Schwerpunkte dieser Arbeit Otto Gross’ außergewöhnliche Lebensführung, im Spagat zwischen Bürgertum und Bohème, seine psychoanalytisch-kulturellen Texte und die Pressekampagne für die Befreiung des Internierten.

Als erstes erfolgt zunächst eine thematische Einführung bzw. eine kurze Darstellung seiner Vita, um die Problematik der Bohème-Existenz in der ehemaligen wilhelminischen Gesellschaft darzustellen.

Hiernach folgt eine Textanalyse von Otto Gross’ fünf kultur- und sozialkritischen Beiträgen. So werden den thematischen Schwerpunkten seiner Arbeit Rechnung getragen und es wird verdeutlicht, mit welchen Ideen und Inhalten Otto Gross seine Zeitgenossen konfrontierte.

Die Antwort der zweiten Frage wird dann zeigen, dass Otto Gross’ Texte und seine ausschweifende Lebensführung letztlich für den bereits angesprochenen Skandal sorgten, da sein ebenfalls berühmter Vater Prof. Hans Gross den Sohn zwangsinternieren ließ. Auf diesen Vorfall folgte eine zwar kurze, aber stürmische Pressekampagne deutscher Intellektueller, die sich vehement für die sofortige Entlassung von Otto Gross einsetzten.

Dementsprechend stellt der dritte Schwerpunkt dieser Arbeit die Argumentation und Intention der Kampagne anhand mehrer Textauszüge der beteiligten Autoren dar.

Die Arbeit schließt mit einer kurzen Zusammenfassung der dargestellten Problematik von Otto Gross’ Lebenswandel, den prägnantesten Thesen von Otto Gross’ Kulturanalyse und einer ergebnisorientierten Kurzdokumentation der Pressekampagne ab.

2. Eine Einführung – Das Leben von Otto Gross als Teil der intellektuellen Utopievorstellungen

Um Otto Gross’ Leben, sein Werk und insbesondere sein Wirken auf die Intellektuellen, Expressionisten und späteren Dadaisten im Deutschland des beginnenden 20. Jahrhunderts zu verstehen, ist es grundlegend seine Biographie genauer zu betrachten. So liegen in der wilhelminisch autoritären Zeitepoche und dem kritischen Verhältnis zum Vater bzw. dem Vater-Sohn-Konflikt die fundamentalen Ursprünge für seine Lebensführung, seine Theorie der Psychoanalyse und seine Kulturanalyse.

Was die Intellektuellen dieser Zeit zudem am meisten an Gross faszinierte, ergibt sich erst in der Synopse seines Lebens: Otto Gross stellt die lebende Antithese seines Vaters dar.

Ebenfalls zeigt sich an seinem Leben und Sterben exemplarisch die Zerstörungskraft der Bohème-Existenz, denn Otto Gross hat nicht nur seine Theorien niedergeschrieben, sondern sie vor allem in signifikanter Form in seine Lebensführung übertragen und tatsächlich gelebt.

Deshalb folgt nun eine kurze Darstellung seiner Vita, seiner Bekannt- und Freundschaften aus dem damaligen psychoanalytischen und expressionistischen Umfeld sowie deren jeweilige Einflüsse auf seine einzelnen Lebensabschnitte.

Otto Hans Adolf Gross (auch Groß, Grosz oder Grohs geschrieben) wurde am 17. März 1877 im österreichischen Gniebing bei Feldbach in der Steiermark geboren. Sein Vater – Professor Hans Gross (1847-1915) – war Strafrechtspsychologe und Begründer der Kriminalpsychologie sowie eine der weltweit führenden Autoritäten auf dem Gebiet der Kriminalistik. So wird er z. B. als Begründer der Daktyloskopie angesehen, der Wissenschaft von der Interpretation und dem Gebrauch von Fingerabdrücken bei der Verbrechensbekämpfung.

Hans Gross genoss unter den kriminalpsychologischen Wissenschaftlern, wie auch politischen Instanzen, großes Ansehen und konnte als „wertvolles“ ehrbares Mitglied der Gesellschaft über seine weit reichenden gesellschaftlichen Kontakte großen Einfluss und Macht ausüben.[5]

Otto Gross’ Mutter hieß Adele, geb. Raymann (1854-1942) und kam aus Retz bei Wien. Sie lebte das Leben einer, der wilhelminischen Zeit angemessenen, „braven“ und folgsamen Ehefrau und Mutter, und so überrascht es nicht, dass die Familienstruktur dem archaischen Bild vom Vater als Oberhaupt und Patriarchen entsprach.

Entsprechend seiner (groß-)bürgerlichen Herkunft wurde Otto Gross während seiner behüteten Kindheit und Jugend größtenteils im Elternhaus von Privatlehrern und zeitweise an Privatschulen erzogen. Anschließend studierte er Medizin in Graz, München und Straßburg und promovierte 1899 zum Doktor der Medizin in Graz.

Um 1900 heuerte Otto Gross zunächst als Schiffsarzt an und unternahm im Rahmen dieser Tätigkeit mehrere Reisen nach Südamerika. Hierbei machte er seine ersten Erfahrungen mit Drogen und beginnender Abhängigkeit. Die Drogensucht zieht sich durch Gross’ gesamtes Leben und wird gerade bei der Zwangsinternierung durch den Vater als Mittel der öffentlichen Kompromittierung genutzt.

Von 1901 bis 1902 arbeitet Gross als psychiatrischer Volontär- und Assistenzarzt in München und Graz, er veröffentlicht seine ersten Arbeiten[6] und muss gegen Ende des Jahres 1902 zu seiner ersten Entziehungskur an die Burghölzli-Klinik in Zürich.[7]

Wahrscheinlich hat Gross zu dieser Zeit erste Kontakte mit Freuds Psychoanalyse gemacht, der Intellektuelle Erich Mühsam bezeichnet ihn in diesem Zusammenhang sogar „als wichtigsten Schüler Sigmund Freuds“.[8] Sigmund Freud selbst bezeichnet Gross als „hochintelligent, hochbegabt und sehr wertvoll“, nur ihm und Carl Gustav Jung spricht er die Fähigkeit zu, seine Psychoanalyse effektiv fortzuführen.[9]

Kurz darauf heiratet Otto Gross am 23. Februar 1903 Frieda Schloffer, mit der Hochzeit folgt er zunächst noch dem Druck seines Vaters, die patriarchalen Familien- und Gesellschaftsstrukturen zu erfüllen. Charakteristisch für seine Lebensführung ist aber bereits zu diesem Zeitpunkt seine innerliche Zerrissenheit zwischen wilhelminisch-väterlichen Unterdrückungsformen und gesellschaftlichen Ausbruch bzw. Ausstieg. So steht seiner bürgerlichen Hochzeit bereits 1907 sein Glauben und öffentliches „Ausleben“ an die „freie“ Ehe gegenüber.[10]

1906 erhält Gross eine Privatdozentur an der Grazer Universität für das Fach Psychopathologie und verhilft Lotte Chattemers in Ascona zum Selbstmord. Bereits in diesem Jahr zieht Gross nach München um, dort hält er sich überwiegend in der Münchner Bohèmen- und Anarchistenszene auf. Er macht u. a. Bekanntschaft mit Max und Alfred Weber und pflegt intensive Kontakte mit Erich Mühsam, Franz Werfel, Karl Otten, Leonard Frank und Franz Jung.

Bereits 1908 muss er sich erneut, auf Anweisung seines Vaters bzw. durch dessen erbetene Überweisung von Sigmund Freud, einer Entziehungskur an der Burghölzi-Klinik unterziehen. Gross wird vom dortigen Oberarzt C. G. Jung behandelt und analysiert. Unter den beiden Psychoanalytikern entsteht eine innige, diskussionsintensive Freundschaft, bei der Gross vom Analysierten zum Analytiker C. G. Jungs aufsteigt. Zur Bestürzung von C. G. Jung flieht Gross aus der Anstalt, woran letztlich auch ihre Freundschaft zerbricht.[11]

Ebenfalls wird in diesem Jahr seine uneheliche Tochter Camilla geboren, die aus der „freien“ Verbindung mit der Schweizer Schriftstellerin Regina Ullmann hervorgeht.

Im Sommer 1910 zieht Gross mit seiner Frau und seinem ehelichen Sohn Peter nach Ascona. Hier verhilft er ein zweites Mal einer Frau – Sophie Benz – zum Selbstmord, obwohl er zuvor eine Psychose bei ihr diagnostizierte. Daraufhin wird er 1911 ein weiteres Mal auf Anweisung seines Vaters in der Anstalt Mendrisio interniert. Im Herbst verlässt er die Klinik, kehrt nach Ascona zurück und plant dort die Gründung einer freien Hochschule gegen die westliche Zivilisation – eine Anarchistenschule.

Zu diesem Zeitpunkt ist das Verhältnis zwischen Vater und Sohn derart zerrüttet, dass Hans Gross seinen Sohn in Ascona von einem ansässigen Arzt überwachen lässt. Die Überwachung des Sohnes geht im folgenden Jahr dann so weit, dass der Vater in seinem Testament festhält, über seinen „geisteskranken“ Sohn, der zwar gegenwärtig in Deutschland, Italien und der Schweiz von Justiz- und Polizeibeamten überwacht wird, solle, sobald er – Hans Gross – stürbe, eine Kuratel verhängt werden, damit dieser vor seinen „angeblichen“ Freunden aus den Bohèmen- und Anarchistenkreisen geschützt sei.[12]

1912 ist Otto Gross in mehrere politische Affären verwickelt und wird zeitweise steckbrieflich gesucht. Im Februar 1913 zieht er nach Berlin und schließt sich dem Literatenkreis um Franz Pfemfert und Franz Jung an. Hier übt er einen entscheidenden Einfluss auf die Künstler und Schriftsteller aus, die in Berlin Dada schufen, da er sie in der eigens erweiterten Psychoanalyse „unterrichtet“. In der Zeitung »Die Aktion« von Franz Pfemfert veröffentlicht er daraufhin auch mehrere psychoanalytisch-politische Publikationen. Ebenfalls fechtet er hier eine Kontroverse mit Ludwig Rubiner und Gustav Landauer über den Stellenwert der Psychoanalyse aus.[13]

Auf Anweisung seines Vaters wird er im 9. November 1913 u. a. als gefährlicher Anarchist von Berliner Polizeibeamten in der Wohnung von Franz Jung festgenommen, aus dem preußischen Staatsgebiet ausgewiesen, an die österreichische Grenze deportiert, den österreichischen Polizeibeamten übergeben und in der privaten Anstalt Tulln bei Wien interniert. Seine Freunde starten daraufhin nach dem Vorbild der Dreyfus-Affäre[14] eine internationale Pressekampagne, um den “unschuldig Internierten“ aus der väterlichen und staatlichen Gewalt zu befreien. Während die Kampagne läuft, wird über Otto Gross im Januar 1914 eine Kuratel verhängt und der Vater als Kurator eingesetzt.

Am 8. Juli wird er als geheilt entlassen und begibt sich gleich darauf zu einer Nachbehandlung nach Bad Ischl.

Während des Krieges arbeitet er in verschiedenen Epidemie- und Barackenspitalen. Sein Vater Hans Gross stirbt im Dezember 1915.

1916 ist Gross Mitarbeiter und Mitherausgeber der expressionistisch-dadaistischen Zeitschrift „Freie Straße“ in Berlin. Er beginnt eine Beziehung mit Marianne „Mizzi“ Kuh, der Schwester des österreichischen Schriftstellers und Feuilletonisten Anton Kuh. Kurz darauf wird Tochter Sophie geboren.

Allerdings muss er sich von Juni 1916 bis Mai 1917 erneut einer Entziehungskur unterziehen, er wird abermals als geheilt entlassen und bewirkt im September die Umwandlung der Wahnsinnskuratel in eine beschränkte Kuratel. Er reist viel, befindet sich in Berlin, Budapest und Prag, wo er Franz Kafka kennen lernt und mit ihm und Franz Werfel die Herausgabe einer gemeinsamen Zeitschrift plant.

Von 1918 bis 1920 ist er erneut Mitherausgeber der Zeitschriften »Die Erde« und »Das Forum«.

Am 11. 2. 1920 wird Otto Gross halbverhungert und fast erfroren in einem Berliner Lagerhaus von Freunden gefunden. Er hatte sie zuvor im Streit verlassen, da sie sich weigerten, ihm bei der Beschaffung weiterer Drogen zu helfen. Mit einer Lungenentzündung und wahrscheinlich extremsten Entzugserscheinungen wird er in ein Sanatorium in Pankow eingeliefert. Zwei Tage später, am 13. 2. 1920 stirbt Otto Gross.

3. Otto Gross und seine Kulturanalyse – Textlicher Auszug

Mit seinen Texten und Theorien hat Gross die junge, expressionistische Generation entscheidend mitgeprägt. Er vermittelte insbesondere in den Literaten- und Bohèmenkreisen in München, Ascona, Berlin, Wien und Prag die Freudsche und eigens erweiterte Psychoanalyse in einer kulturrevolutionären Version. Man könnte dies als seinen größten theoretischen Verdienst bezeichnen, denn er entwickelte eine umfassende Kulturanalyse mit sozialen, psychischen, existentiellen und religiösen Aspekten.[15]

So beinhaltet seine Kulturanalyse eine bis dato einzigartige Mischung zwischen anarchistisch-bohèmehaften und psychoanalytischen Einflüssen. Hierdurch offenbart Gross den Intellektuellen nicht nur die Psychoanalyse, sondern bietet ihnen auch eine Basis, auf der das anarchistisch revolutionäre Gedankengut gekonnt mit einer wissenschaftlichen Fundierung gekoppelt ist. Dementsprechend stellen seine Beiträge die damals vorherrschenden ethischen und sozialen Problemlagen basierend auf rein wissenschaftlich-experimentellen oder psychoanalytischen Forschungsergebnissen dar.[16]

Hierin liegt, möglicherweise auch nur für das heutige Textverständnis, die Schwierigkeit, die psychoanalytischen Tendenzen vom nahtlos einfließenden revolutionären Gedankengut eindeutig zu trennen. Denn beginnt man mit der Lektüre der Gross’ Texte erschlägt einen zunächst die Komplexität der Psychoanalyse, die in einem das Gefühl erweckt, erst ein separates Psychoanalyse- oder Psychologiestudium zu beginnen, um zu allererst diesen Teil zu verstehen. Eine Voraussetzung, um die – hinter und vermischt mit seiner Psychoanalyse – politisch kritischen Strömungen isolieren zu können.

Hilfreich ist hierbei, sich zunächst die sozialen und politischen Einflüsse, die auf Gross einwirkten, zu vergegenwärtigen. So war Otto Gross, wie auch die meisten expressionistischen Intellektuellen des beginnenden 20. Jahrhunderts, von Friedrich Nietzsches „Zarathustra“[17] und dem dazugehörigen „neuen“ Menschenbild stark beeinflusst. Hinzu kam noch Darwins Evolutionstheorie, die einen zusätzlichen Einfluss auf das „neue“ expressionistische Menschenbild bzw. die „neue evolutionäre Menschheit“ ausübte.[18]

In Zusammenschau dieser Theorien entstand bei den Intellektuellen der Traum „von einer neuen solidarischen Gemeinschaft geläuterter Individuen […], einer gewalt- und herrschaftsfreien Gesellschaft ohne gesetzliche Zwangsordnungen und Autoritäten (und) einem Miteinander in natur- und vernunftbestimmter Harmonie“.[19] Neben diesem Traum hofften die Intellektuellen aber auch auf eine dazugehörige „neue Wissenschaft“ und Otto Gross’ Kulturanalyse sowie die damit verbundene „Erziehungslehre“ muteten an, diese Hoffnung zu erfüllen.

[...]


[1] Jung, Claudia: Aber wir wollen Otto Gross wieder haben.“ Eine Pressekampagne, in: Der Fall Otto Gross: Eine Pressekampagne deutscher Intellektueller im Winter 1913/14, hg. v. ders./Thomas Anz, Marburg a. d. Lahn 2002, S. 34-68, S. 36.

[2] Anz, Thomas: Einleitung, in: ebd., S.9-12, S. 11.

[3] Ebd.

[4] Man vergleiche nur die umfangreiche Arbeit von Claudia Jung und Thomas Anz, die eine explizite Zusammenstellung aller Pressekampagne-Artikel für Gross’ Befreiung aus der Zwangsinternierung vorlegten. Mit dieser ausführlichen Dokumentation ermöglichen die Autoren den bisher besten Einblick in das Wirken von Otto Gross’ Einfluss auf seine intellektuellen Zeitgenossen. Vgl. Jung/Anz (Anm. 1).

[5] Insbesondere auf seinen Sohn bezogen, übte er diese gesellschaftliche Macht ausdrucksvoll zu den beiden Zeitpunkten aus, in denen er versuchte seinen Sohn entmündigen und in eine Anstalt einweisen zu lassen. Hierzu unter Punkt 4.1. mehr.

[6] Seine ersten Beiträge erschienen noch im „Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik“, dessen Herausgeber sein Vater war.

[7] Emanuel Hurwitz arbeitete 1967 als Assistenzarzt an der Burghölzi-Klinik und stieß bei seinen Nachforschungen auf die Krankenakte von Otto Gross, 1988 veröffentlichte er dann die bisher umfassendste Vita von Otto Gross. Siehe Hurwitz, Emanuel: Otto Gross. Paradies-Sucher zwischen Freud und Jung, Suhrkamp Taschenbuch 1504, erste Aufl. 1988, Zürich 1979.

[8] In der germanistischen Forschung wurde zeitweise erwogen, dass Otto Gross tatsächlich Sigmund Freuds Assistent gewesen sei, einen Beweis hierfür blieb sie allerdings bis heute schuldig. Wahrscheinlicher ist, dass sich hinter solchen Aussagen eher „expressionistische Übertreibung“ bzw. „Propaganda-Mittel“ für Gross’ Freilassung verbergen.

[9] Vgl. hierzu Anz, Thomas: Zwischen Freud und Schwabing. Otto Groß: ein vergessener Kulturrevolutionär im Wilhelminischen Deutschland, in: Jung/ders. (Anm. 1), S. 13-22, S. 13.

[10] 1907/8 unterhält Gross mit den beiden Richthofen Schwestern Else Jaffé und Frieda Weekley „ehefreie“ Beziehungen. Aus der Verbindung mit Else Jaffé geht im Jahre 1907, in dem auch sein ehelicher Sohn Peter Gross geboren wird, sein unehelicher Sohn Peter Jaffé hervor.

[11] Vgl. Hurwitz (Anm. 7), S. 132-167 und 183ff.

[12] Vgl. Hurwitz (Anm. 7), hier S. 219.

[13] In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist die Psychoanalyse noch eine ganz „neue“ Wissenschaft und noch längst keine etablierte Disziplin, dementsprechend standen viele Wissenschaftler, wie auch Intellektuelle diesem Forschungszweig äußerst kritisch gegenüber.

[14] In den Neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde der jüdische Offizier Alfred Dreyfus fragwürdig verurteilt. Die französischen „Intellectuels“ bewirkten durch ihre publizistische Kampagne die Revision des Prozesses und erzwangen letztlich den Freispruch. Die liberale französische Linke sah die erfolgreiche Intervention der Intellektuellen als Beweis für die Unglaubwürdigkeit staatlicher Macht. Die Wahrheit und Gerechtigkeit hatte zum Sieg geführt und der Prozess vor aller Öffentlichkeit wurde zum Modellfall gemacht. Vgl. hierzu den Einleitungstext von Thomas Anz (Anm. 2), S. 9f.

[15] Vgl. hierzu Anz, Thomas: Jemand mußte Otto G. verleumdet haben… Kafka, Werfel, Otto Gross und eine „psychiatrische Geschichte“, in: Jung/ders. (Anm. 2), S. 23-33, S. 26.

[16] Vgl. Baackes-Haase, Alfons: „Der neue Mensch“ – ein Erziehungsentwurf der Moderne: Der Fall Otto Gross, in: Hofmannsthal 2 (1994), S. 333-358, S. 338.

[17] Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen, Frankfurt a. M. 2000 (Insel-Taschenbuch 2676)

[18] Zur Erziehung des „neuen Menschen“ und den dazugehörigen philosophischen, biologischen und sozialkritischen Theorien und Strömungen, vgl. Baackes-Haase, (Anm. 16), S. 333ff.

[19] Anz (Anm. 9), S. 14.

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
"Otto Gross": Ein vergessener Kulturrevolutionär?
Untertitel
Darstellung seines Lebens, seiner kultur-revolutionären Texte und der Pressekampagne deutscher Intellektueller für seine "Freilassung"
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Abteilung für Neuere Germanistik)
Veranstaltung
Utopien der Jahrhundertwende
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
38
Katalognummer
V88484
ISBN (eBook)
9783638024778
ISBN (Buch)
9783638924344
Dateigröße
575 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine sehr detailreiche und stringent aufgebaute Arbeit. Gute Textkenntnis und wissenschaftliche Aufarbeitung. Kleinere Unsicherheiten fallen beim Umfang der Arbeit nicht weiter ins Gewicht, da sehr engagierte Arbeit.
Schlagworte
Otto, Gross, Kulturrevolutionär, Utopien, Jahrhundertwende
Arbeit zitieren
Magistra Artium Andrea Böhle (Autor:in), 2005, "Otto Gross": Ein vergessener Kulturrevolutionär? , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88484

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