Die Geburt der Heldin - 'Der Tod der Alkestis' von Angelika Kauffmann als Reformulierung eines Mythos


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

34 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Methodisches Vorgehen
2.1. Bilder als Gegenstand der Literaturwissenschaft
2.2. Die Methode der Bildinterpretation nach Erwin Panofsky
2.3. Zum Begriff des Mythos

3. Liebe im 18. und 19. Jahrhundert
3.1. Die sozialintegrierende Funktion von Liebe
3.2. Das Frauenbild im Übergang vom 18. zum 19.. Jahrhundert

4. Das Bild als Affirmation und Revolte
4.1. Zur Geschichte eines Bildmotives
4.2. Angelika Kauffmann - Der Tod der Alkestis
4.3. Darstellungstraditionen
4.3.1. Der klassische Heldentod
4.3.2. Der Marientod

5. Fazit

6. Literatur

1. Einleitung

„Vom Eros ergriffen übertraf sie diese so sehr an Liebe, dass man glauben musste, sie [ die Eltern, TJ ] ständen ihrem Sohne fremd gegenüber und seien ihm nur dem Namen nach verwandt; und nach Vollführung dieser Tat schien sie nicht nur in den Augen der Menschen, sondern auch der Götter ein so herrliches Werk vollbracht zu haben. Dass sie – die Götter – in Bewunderung ihrer Tat ihre Seele aus dem Hades zurückkehren ließen, während sie sonst, angesichts zahlreicher herrlicher Tat mancher anderer, doch nur ganz wenige Auserwählte der Auszeichnung würdigten, ihre Seele aus dem Hades wieder freizugeben. So ehren die Götter den tugendhaften Eifer für die Liebe.“ (Platon 1922: Bd.3, Das Gastmahl S.12)

Der hier in Platons Gastmahl angesprochene Mythos des Opfertodes der Alkestis erzählt die Geschichte einer Frau, die für ihren Ehemann in den Tod geht. Das Motiv für jemanden aus Liebe zu sterben, ist für den Menschen der Antike ebenso wenig unbekannt wie für die Gegenwart. In Platons Gastmahl wird sie in der Reflexion über die Bedeutung der Liebe, des Eros erwähnt, als Liebende, die bereit ist, für ihren Mann Admetos in den Tod zu gehen. Der Gehalt der Mythe liegt auf der Hand: Sich als Mensch für den anderen zu opfern, ist eine Tat, die sogar die Götter beeindruckt und zu ihren Respekt herausfordert. In der Antike ist dies keine Selbstverständlichkeit, die griechische Antike kennt in ihrer Konzeption des Überirdischen und Jenseitigen keine Götter, die als Heilsbringer oder als Hirten wie im Christentum fungieren. Die Götter sind bestimmend über Territorien und können schicksalsbeeinflussend sein. Sie sind jedoch keinesfalls um das Wohlergehen des einzelnen Menschen und um sein Seelenheil bemüht. Der christlichen Auffassung von der Heilserwartung, die in der Befolgung der göttlichen Gebote und in der Sorge des Pastors um die Gemeinde sich ausdrückte, ist dem griechischen Menschen völlig unbekannt: „Der griechische Gott gründet die Stadt, er zeigt ihren Standort, er hilft beim Bau der Mauern, er gewährleistet ihre Solidarität, er gibt der Stadt seinen Namen, er erteilt Orakel und verkündet dadurch seinen Rat. Man konsultiert den Gott, er beschützt, er interveniert, es geschieht, daß er zornig wird und daß er sich wieder versöhnt, doch niemals leitet der Gott die Menschen der Stadt, wie ein Hirte seine Schafe leiten würde.“ (Foucault 2004: 187) Wenn nicht das Göttliche eine für den Menschen leitende Funktion hatte, dann die Mythen, jene Erzählungen, die sich vom diskursiven, logisch begründbaren Sprechen, dem lógos wesentlich unterscheiden. Der Mythos berichtet von Handlungen und Taten anthropomorphisierter Göttergestalten (Apoll), personalisierter Naturphänomene (Gaja) oder von prototypischen menschlichen Gestalten (Prometheus). Mythen sind nicht nur einfach Märchen[1], die zur Erbauung oder zur Lustbefriedigung erzählt wurden. Rene Girard hat herausgestellt, dass die Ursprungsmythen in archaischen Gesellschaften einen funktionalen Charakter haben, nämlich als Gründungsakte spezifischer kultureller Ordnungen anzusehen sind. (Girard 1992: 140) Mythen wurden in der Antike in ritualisierter Form vorgetragen und rezipiert, beispielsweise in der griechischen Tragödie[2] oder im Vollzug eines Opferrituals. Dadurch schienen die Mythen in einem historisch-geographischen Sinne real zu geschehen, historisch-reale Welt und Mythos wurden identisch. Rituell inszenierte Mythen zeitigten reale Auswirkungen, dienten sie doch zur Legitimierung von Macht bei der Einsetzung des Königs, der Existenzsicherung (Stadtgründungen, Eheschließungen) oder der Bewältigung von kollektiven Ängsten um den Fortbestand der Welt (Jahreswendfest) (vgl. Duden Philosophie 2002: 262). Festzuhalten ist, dass Mythen Modelle der Weltdeutung sind. Sie stellen Sinnhorizonte dar, vor denen bestimmte Ereignisse, Geschehnisse und Zustände interpretierbar und in ein ‚Gesamtbild’ der Welterfahrung verortbar werden. Die Welt des Mythos ist darum ebenso auch die reale Welt: „Deshalb erzählen Mythen auch von menschlichem Schicksal, von Geburt, Leiden und Tod“ (Kemper 1989: 8).

Jedoch ist der Mythos der sich für ihren Mann opfernden Alkestis nicht einfach eine der unzähligen Manifestationen einer patriarchalen Geschlechterordnung. Ein besonderes Moment des Mythos ist seine Transformationsfähigkeit, sein Potential, eben auch anders ‚erzählt’ zu werden: „Mythen bedeuten nicht ‚immer schon’, als was sie ausgelegt und wozu sie verarbeitet werden, sondern sie reichern diese an aus den Konfigurationen, in die sie eingehen oder in die sie einbezogen werden. Vieldeutigkeit ist ein Rückschluß aus ihrer Rezeptionsgeschichte auf ihren Grundbestand. Je vieldeutiger sie schon sind, um so mehr provozieren sie zur Ausschöpfung dessen, was sie ‚noch’ bedeuten können, und um so sicherer bedeuten sie noch mehr“ (Blumenberg 1971: 66).

Das Bild von Angelika Kauffmann Der Tod der Alkeste (1790) zeigt zwei Strategien zur Transformation des Mythos: Zwar steht im Mittelpunkt des Werkes wiederum die eheliche Treue, „die sich in der weiblichen Opferbereitschaft und der männlichen Trauer zeigt.“ (Reuter 2006: 2), jedoch akzentuiert die Darstellung der Sterbeszene die totgeweihte Alkestis hier in der Tradition des männlichen Kriegshelden und der heiligen Maria. Beide Darstellungstraditionen, auf die Kauffmann im Tod der Alkestes zurückgreift, brechen mit dem Frauenbild zu Kauffmanns Lebzeiten, eine Revolte der Bilder.

Diskutiert werden soll im Folgenden die Art und Weise, wie der Mythos der Alkestis in Bezug auf eine politische und soziale Gegenwart neu formuliert wurde, und welche vorherrschende Sinn- und Bedeutungshorizonte dadurch in Frage gestellt bzw. gefestigt und bestätigt werden. Nach dem kursorisch die methodologischen Grundannahmen skizziert worden sind, sollen neben einer sozialhistorischen und soziologischen Einordnung der Auffassungen über die Geschlechterrollen in Kauffmanns Epoche die Tradition der bildlichen Repräsentation des Alkestisstoffes nachvollzogen werden. Im letzten Abschnitt steht Kauffmanns Bild selbst im Mittelpunkt der Betrachtung. Hier geht es um den Nachweis der Annahme einer Transformation des Mythos durch die Erschaffung der Heldin.

2. Methodisches Vorgehen

2.1. Bilder als Gegenstand der Literaturwissenschaft

Ein Gemälde als Thema eines literaturwissenschaftlichen Seminars? Haben wir uns da nicht in der akademischen Disziplin vertan? Ist das Bild und Bildinterpretation nicht ein genuiner Gegenstand der Kunstgeschichte und der Kunsttheorie? Was hat ein Bild im Sinne einer visuellen Repräsentation mit einem fiktionalen Text gemeinsam? Können beide als Ausdruck eines künstlerischen Begehrens nach der selben Methode analysiert werden? Oder bestehen doch gravierende Unterschiede zwischen der Macht der Ikonographie und dem Gehalt eines literarischen Textes?

Diese Fragen sind längst eingeholt von dem sogenannten Pictural Turn oder auch Iconic Turn, der in allen Wissenschaften auf die Rolle von Bilder verweist und Probleme dieser Wissenschaften hinsichtlich ihrer Repräsentationsordnungen neu formuliert. Nicht nur die Geistes- und Sozialwissenschaften haben sich dem Problem des Darstellens gewidmet, selbst die auf ‚Objektivität’ und ‚Rationalität’ besonnenen Naturwissenschaften reflektieren mittlerweile verstärkt u.a. die unterschiedlichen Weisen, wie wissenschaftliche Ergebnisse, und auch ihre Akteure, repräsentiert werden, welche Bilder und eben auch Sprachbilder hier zum Einsatz kommen. Der Pictural Turn, ein Ausdruck des amerikanischen Kunsthistorikers William John T. Mitchell (1994) verweist auf eine gestiegene Bedeutung von Bildern hinsichtlich der Quantität wie auch der Qualität. Für Mitchell löst der Pictural Turn den Linguistic Turn, der auf die Bedeutung der Sprache für das Welterkennen abhob ab: „we may find that the problem of the twenty-first century ist he problem of the image“ (Mitchell 1994: 2).

Der Begriff des Bildes spielt bekanntermaßen insofern eine Rolle in der Literaturwissenschaft, als darunter „alle Formen sprachlich bildhaften Ausdrucks“ (Wilpert 2001: 89) gefasst sind. Die Funktion bildhafter Sprache sind die visuelle Evokation, die Verdeutlichung des Gesagten und Geschriebenen für den Leser. Unterschiedliche rhetorische Elemente kommen dabei zur Versinnbildlichung des Inhaltes zum Einsatz, beispielsweise Metaphern, Vergleiche, Paradoxien oder auch Oxymora.

Wenn wir Literatur als eine ‚Welt der Sprachbilder’ verstehen, dann können wir auch Bilder im Sinne eines Gemäldes zur Betrachtung eines literarischen Stoffs heranziehen. Literatur als verschriftlichte Bilder, das Theater als bewegte Bilder und schlussendlich das Gemälde als ein Moment, in dem die ganze Fülle eines Themas in einem Bild eingefangen ist. Die der Literaturwissenschaften bekannten Probleme der Interpretation sind auch in der Bildinterpretation präsent: Der in Galerien und Kunstausstellung vielfach geäußerte Satz – „Was will uns der Künstler damit sagen“, ist kein Unikum des Kunstbetriebes, sondern auch für Literatur zutreffend. Interpretieren ist ebenso in der Kunstgeschichte sowie in den Literaturwissenschaften als methodologisches Programm verortet, in einem Bereich zwischen Hermeneutik und Semiotik. Sowohl Bild wie auch Text können demnach gedeutet werden, nach der Intention des Schaffenden (Maler, Autor) und in der Tradition der jeweiligen „Schule“, zu der der Künstler sich zugehörig fühlt oder zu der er im Nachhinein zugeordnet wird. Das dabei der historische Kontext, in dem das Bild entstand, zu berücksichtigen ist, ist verständlich. Wie die Diskussion um die Rolle und Funktion des Autors gezeigt hat, ist die Idee der Autorenschaft eine Erfindung der Neuzeit. Michel Foucault (1988) und vor ihm Roland Barthes (1967) haben jeweils auf ihre Art die Rolle des Autors angegriffen, seine strategische Funktion erläutert bis zum dem Versuch, ihn als Interpretationsinstanz zu verwerfen. Dahinter stand die Vorstellung, dass Sprache und Zeichen performativ seien. Sprache wird als performativ gedacht, sie handelt selbst (Beispiel: ich verspreche – Handlung als ein sprachlicher Akt). Der Autor ist unerheblich bei diesem sprachlichen Akt, es geht nicht um ein Repräsentieren, Registrieren, Beschreiben, sondern um Handeln durch die Sprache, bzw. die Sprache handelt. 1950 schreibt Martin Heidegger, auf den sich Barthes und Foucault beziehen: „Es ist die Sprache die spricht, nicht der Autor“. Der Autor bringt also nichts in die Welt, was nicht vorher in der Welt schon da war, damit erübrigt sich der Autor als sinnstiftendes Element. Das bedeutet nun nicht, die Intention des Künstlers völlig zu verwerfen, es geht nur darum, sich derjenigen Konstitutionsbedingungen bewusst zu sein, die eben auch erst den Künstler, und ebenso das Werk hervorbringen.

Im Folgenden soll also das Medium Bild als Mittler von Kommunikation gelten, das als ein Ausdruckmittel einer Epoche oder einer bestimmten Zeit fungiert, in dem sich Weltanschauung, Weltbilder und das spezifische Denken einer historischen Epoche niederschlagen.

2.2. Die Methode der Bildinterpretation nach Erwin Panofsky

Die Frage nach einer angemessenen Interpretation von Bildern hat der Kunsthistoriker Erwin Panofsky (1892 – 1969) aufgegriffen. 1932 schlug Panofsky ein dreistufiges Interpretationsschema vor, welches das einzelne Bild in den Mittelpunkt einer interpretativen Analyse stellt. Er vertrat die Ansicht, dass der Sinn eines Bildes als Ausdruck einer vielfältig bedingten, vor allem auch von außerkünstlerischen Faktoren beeinflussten, historischen Konstellation zu begreifen ist.

Er unterscheidet dabei in drei qualitativ differierende Stufen. Die erste Stufe ist die "vorikonographische Beschreibung". Dafür sind praktische Erfahrung, d.h. Vertrautheit mit den Gegenständen und Ereignissen erforderlich. Das Kunstwerk wird auf seine tatsachen- und ausdruckshaften Aussagen hin befragt, d.h. faktische Bedeutung und emotionaler Gehalt werden erfasst. Hierbei geht es um die Identifizierung der reinen Formen, des Zusammenspiels der künstlerischen Elemente, von Farb- und Formgebung. Beschrieben werden gleichfalls Wahrnehmungen des Ausdrucks kognitiver oder emotionaler Zustände von dargestellten Personen, zum Beispiel den Charakter einer Pose oder einer Geste (vgl. Panofsky 1975: 36f.).

Daran schließt sich die "ikonographische Analyse" an. Die ikonographische Analyse erfasst und entschlüsselt die konventionelle Kodierung von Bildgegenständen. Sie leitet das Thema aus historisch vermittelten Motiven ab. Dafür ist die Vertrautheit des Betrachters mit bestimmten Themen und Vorstellungen erforderlich, ebenso die Kenntnis schriftlicher Quellen. Panofsky spricht hier von einem sekundären oder konventionalen Sujet, „das die Welt von Bildern, Anekdoten und Allegorien bildet“ (Panofsky 1975: 50, Hervorheb. i. O.): „Es wird durch die Erkenntnis erfaßt, daß eine männliche Gestalt mit einem Messer den heiligen Bartholomäus repräsentiert, daß eine weibliche Gestalt mit einem Pfirsich in der Hand eine Personifikation der Wahrhaftigkeit ist, daß eine Gruppe von Personen, die in einer bestimmten Anordnung und mit bestimmten Posen um eine Speisetafel sitzen, das letzte Abendmahl darstellen oder daß zwei Gestalten, die auf bestimmte Weise gegeneinander kämpfen, für den Kampf von Laster und Tugend einstehen“ (ebd.: 39). Der Betrachter ist aufgefordert, die dargestellten Motive mit bestimmten Themen oder Konzepten zu verbinden. Eine Aufgabe, die nicht nur eine genauere Identifizierung der dargestellten Sachverhalte beinhaltet, sondern auch eine gute Kenntnis der jeweiligen Motive, Anekdoten oder Geschichten. Panofsky erläutert dies an dem Beispiel des Heiligen Bartholomäus, der nur durch das dargestellte Messer zu identifizieren ist: „Falls das Messer, das es uns ermöglicht, einen heiligen Bartholomäus zu identifizieren, kein Messer, sondern ein Korkenzieher wäre, handelte es sich bei der Figur nicht um einen heiligen Bartholomäus“ (ebd. 40). Die interpretative Frage nach dem, was die dargestellten Personen, Dinge oder Sachverhalte bedeuten, generiert einen Sinnzusammenhang, der in vielen Fällen wiederum zu einem Narrativ führt. Die identifizierten Gegenstände oder Personen oder Motive werden mit einer Geschichte (Erzählung, Mythos, Märchen, Fabel etc.) in Verbindung gebracht. Das Gesehene verbindet sich mit den Deutungshorizonten der Zuschauer. Bei Panofsky finden wir häufig historische Quellen und Geschichten aus der Bibel, die verdeutlichen, dass die „ikonographische Analyse“ ein spezifisches Vorwissen bedingt, wie Panofsky im Folgenden recht drastisch und kritikwürdig schildert: „Sie [die ikonographische Analyse] setzt eine Vertrautheit mit bestimmten Themen oder Vorstellungen voraus, wie sie durch literarische Quellen vermittelt wird, sei es durch zielbewusstes Lesen oder durch mündliche Tradition. Unser australischer Buschmann wäre außerstande, das Sujet des letzten Abendmahls zu erkennen; ihm würde es nur die Vorstellung einer erregten Tischgesellschaft vermitteln. Um die ikonographische Bedeutung des Bildes zu verstehen, müßte er sich mit dem Inhalt der Evangelien vertraut machen. Wenn es sich um Darstellungen anderer Themen als biblischer Geschichten oder historischer und mythologischer Szenen handelt, die dem durchschnittlichen 'Gebildeten' zufällig bekannt sind, sind wir alle australische Buschleute“ (ebd. 45).

Als dritte und höchste Interpretationsstufe nennt Panofsky die "ikonologische Interpretation". Hier greift die interpretative Deutung weiter aus. Ein Kunstwerk soll als Ausdruck der jeweiligen politischen und sozialen, geistigen, religiösen und kulturellen Bedingungen und Ideen seiner Entstehungszeit interpretiert werden: „Er wird erfaßt, indem man jene zugrunde liegenden Prinzipien ermittelt, die die Grundeinstellung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen oder philosophischen Überzeugung enthüllen, modifiziert durch eine Persönlichkeit und verdichtet in einem einzigen Werk“ (ebd. 40). In der „ikonologischen Interpretation“ sollen die beobachteten und entschlüsselten Phänomene in den jeweiligen geistesgeschichtlichen Zusammenhang eingebunden werden, aus der erst die Vorstellung eines Epochencharakters resultiert. Diese Stufe der Bildinterpretation schließlich erfordert mehr als nur eine Vertrautheit mit bestimmten Themen und Vorstellungen, wie sie durch literarische Quellen übermittelt wurden. Dieses Verfahren soll insofern den gesamten Deutungshorizont eines Kunstwerkes erschließen, als dass es damit als Ausdruck der symbolischen Werte (Ernst Cassirer) seiner Zeit gelesen werden kann. Das Dargestellte wird hier Ausdruck für eine Person, ein Milieu, eine Gesellschaft oder eine ganze Zeit gesehen. Das Werk ist Ausdrucksform für eine historisch bedingte Geisteshaltung, man weiß, welches das Wesen einer Epoche ist und nimmt dieses Wissen, um zu sagen, dass dieses Werk in dieser und jener Hinsicht typisch ist: „Im 14. und 15. Jahrhundert beispielsweise (...) wurde der traditionelle Typus der Geburt Christi mit der im Bett liegenden oder auf einer Liege ruhenden Jungfrau Maria häufig durch einen neuen ersetzt, der die Jungfrau in Anbetung vor dem Kind kniend zeigt. Unter dem Blickwinkel der Komposition bedeutet dieser Wandel cum grano salis die Einführung eines Dreieck- anstelle eines Rechteck-Schemas; unter ikonographischem Blickwinkel bedeutet er die Einführung eines neuen Themas, das schriftlich von solchen Autoren wie dem Pseudo-Bonaventura und der heiligen Brigitta formuliert werden sollte. Doch zugleich enthüllt er eine neue, den späteren Phasen des Mittelalters eigentümliche emotionale Einstellung“ (ebd.).

[...]


[1] Susanne K. Langer bemerkt zur Differenz zwischen Märchen und Mythos, dass „[d]er große Schritt vom Märchen zum Mythos erfolgt, wenn nicht nur soziale Kräfte – Personen, Gebräuche, Gesetze, Traditionen - , sondern auch die die Menschheit umgebenen kosmischen Kräfte in der Fabel zum Ausdruck kommen; wenn nicht nur Beziehungen eines Einzelnen zur Gesellschaft, sondern auch die der Menschheit zur Natur durch die spontane Metaphorik der poetischen Phantasie begriffen werden“ (Langer, zit. nach Kemper 1989: 9).

[2] Die Bürger der jungen Demokratie der griechischen Polis standen vor der Frage, „wie man einen solchen Bruch göttlich sanktionierter Ordnung im herkömmlichen Weltbild unterzubringen hatte“ (Meier 1988: 11). Christian Meier vertritt die These, das die griechische Tragödie ein Modus der Selbstvergewisserung der Athener Bürger darstellt, in der die Unsicherheiten, die der Umbruch von göttlicher Autorisierung hin zum demokratischen Gemeinwesen mit sich brachte, in ritualisierter Form bearbeitet wurde.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Die Geburt der Heldin - 'Der Tod der Alkestis' von Angelika Kauffmann als Reformulierung eines Mythos
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Germanistsik II)
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
34
Katalognummer
V88628
ISBN (eBook)
9783638028578
ISBN (Buch)
9783638948821
Dateigröße
529 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geburt, Heldin, Alkestis, Angelika, Kauffmann, Reformulierung, Mythos
Arbeit zitieren
MA Torsten Junge (Autor:in), 2006, Die Geburt der Heldin - 'Der Tod der Alkestis' von Angelika Kauffmann als Reformulierung eines Mythos, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88628

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