Von Petrarca zu Cézanne. Ein kulturgeschichtlicher Reisebericht durch die Neuzeit


Fachbuch, 2020

417 Seiten


Leseprobe

Vorbemerkung zum Thema

1 Die Begegnung

2 Die Reise:

3 Die Natur und das Göttliche : Franz von Assisi (1182 – 1226)

4 Dante und die Überschreitung der Säulen des Herkules

5 Ein zaghaftes Erwachen des Ich- Bewusstseins.

6 Giotto di Bondone.

7 Erwin Panovsky[45] und Max Imdahl[46]. Das beispielhafte Lesen eines Bildes an Giottos Fresko „Die Gefangennahme“ in der Arenakapelle.

8 Boccaccios Novellen und die wiedergefundene Freude am Leben.

Giovanni Boccaccio (1313 – 1375)

9 Eine traumhafte Zugfahrt.

10 Die Entdeckung der geometrisch konstruierbaren Perspektive. (Zentralperspektive)

11 Masaccio und die Heilige Trinität

12 Masaccio und die Brancacci Kapelle

13 Der lachende Adam

14 Die Geburt des „autonomen“ Künstlers.

15 Die absolute Schönheit und die Vollkommenheit des Menschen geraten in Zweifel: Der Manierismus und das Kunstverständnis der Galileo Galilei.

16 Ludovico Ariosts ‚Orlando furioso‘ (Der rasende Roland) und Torquato Tassos ‚Gerusalemme liberata‘. (Das befreite Jerusalem)

17 Columbus und die Begegnung mit dem fremden Anderen. ‚Ich ist ein Anderer‘[104].

18 Columbus – ein moderner Mensch?

19 Bartolomé de Las Casas (1485 – 1566)

20 Die Schule von Fontainebleau – François I.

21 Trinkt! Trinkt! Trinkt!

22 Die Entdeckung des Ichs: Montaigne, der ersten Schriftsteller der Neuzeit.

23 Descartes und der „genius malignus“.

24 Vom dicken Holzschnitzer

25 Descartes und Corneille: Le Cid.

26 Descartes und die Hell-Dunkel Malerei im 17. Jahrhundert.

27 Die Klassik und der Barock in Frankreich

28 Michelangelo Merisi di Caravaggio (1571 – 1610) und Annibale Caracci (1560 - 1609): Naturalismus versus Klassizismus.

29 Das Grand Siècle oder das siècle classique. Das Zeitalter Ludwigs XIV.

30 Charles Luis de Secondat, Baron der La Brède et Montesquieu: „Die persischen Briefe.“

31 Die Jagd nach dem Glück

32 Antoine Watteau – Im Rausch der Leidenschaften – das Rokoko.

Jean Honoré Fragonard

33 Die Aufklärer: Voltaire und Diderot.

34 Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778)

34.1 Der Inhalt des Romans:

35 Auf dem Weg ins 19. Jahrhundert. Der Schwur der Horatier: Jacques Louis David

36 Bewegung versus Stillstand

37 Die Romantik

38 François-René de Chateaubriand. Der edle Wilde und Le mal du siècle (Das Elend des Jahrhunderts).

39 Caspar David Friedrich Der Betrachter selbst tritt in das Bild und wird Teil von ihm.

39.1 Die Geometrisierung des Bildraums

40 Jean Auguste Dominique Ingres (1780 – 1867)

41 Eugène Delacroix (1798 – 1863)

42 Charles Baudelaire, der Dreiviertelnarr. Dandy, Bohème, Flaneur, Voyant und Parnassien. (1821 – 1867)

43 Eine symbolische Bombe (Manet)

43.1 Der Skandal

44 Émile Zola,

45 Ein Roman wird zum Bild.

46 Das Ende der Zentralperspektiv: Cézanne:

47 Eine kopernikanische Wende

48 Die Einsamkeit des Künstlers.

49 Die Rückkehr

Literaturverzeichnis


1 Die Begegnung

Einige wenige Reisende waren es, die am Abend im alten Speisesaal zusammentrafen. Es war das alte Hotel, etwas außerhalb der uralten, noch ummauerten provenzalischen Stadt Carpentras gelegen, wenige Kilometer von Avignon entfernt. In manchen älteren Reiseführern wurde dieses Hotel angepriesen, als wäre es ein verwunschenes Schloss aus vergangenen Zeiten. Die Gänge verzettelten sich wie in einem düsteren Irrgarten, im dem man sich, wollte man die Toilette aufsuchen, verirrt und angstvoll der mangelhaften Notbeleuchtung entlang wieder zurücktastet, in ein Zimmer, dessen knarrender Fußboden eine leichte Schräge aufwies. Man fürchtete stets, irgendwo hinabzustürzen in etwas Unbekanntes, hineingezogen zu werden, in längst vergangene Ereignisse.

Wie man dahin gekommen ist? Ganz einfach. Für viele Gäste dieses Hauses war es der Mont Ventoux, der Windige, den man sehen, besteigen und befahren wollte. Schließlich war die Aussicht vom Gipfel vortrefflich. Man konnte an klaren Tagen bis ans Meer sehen und noch dazu kam das erhabene Gefühl hinzu, so wie Francesco Petrarca am 26. April 1336 es tat, über die französischen Alpen hinwegzusehen, um in der Ferne Italien zu erahnen. Mitbewohner des Hotels waren junge Studierende, die kein festes Ziel vor Augen hatten, außer jenem, sich vom Zufall treiben zu lassen, um durch ihn Besonderes zu entdecken. Mir lag aber anderes im Sinn und so bat ich, als neugieriger Senior und wenn gewünscht als Reiseführer mit ihnen ziehen zu dürfen. Mein Plan sollte sich ihnen so nach und nach enthüllen. Die Grundlage dazu war meine vor einigen Jahren verfaßte Dissertation, die ich für meine „Vorlesungen“ verwenden konnte und die hier in erweiterter Form wiedergegeben werden sollen.

Dass wir aber unsere Reise mit Petrarkist Besteigung des Mont Ventoux begannen, war kein Zufall. Francesco Petrarca war einer der ersten Humanisten, die das beengende Korsett der Scholastik abzulegen begannen und dem Einheitsbrei der mittelalterlichen Gelehrsamkeit, dem immer wiederkehrenden, vorgegebenen und dogmatischen Schulweisheiten eine Welt der Vielfalt und der Neugierde entgegensetzte. Mit der Entdeckung und der Erforschung von bis dahin unbekannten Ländern und Erdteilen, der Begegnung mit fremden Völkern und deren Eigenarten nahm auch der Begriff der Ästhetik eine neue Bedeutung an. Die nach innen gewandte Jenseitsbezogenheit des mittelalterlichen Menschen wich einer positiven Wahrnehmung der äußeren Welt, die – hier und jetzt – im Diesseits ihre Gültigkeit besaß, und nicht erst nach dem Tode.

Der Humanismus, der – mit Petrarca als einem der ersten Wegbereiter – ein neues Lebensgefühl und neue Denkweisen mit sich brachte, ist jene Grundlage, auf der die Neue Zeit, wie Petrarca sie zur Abgrenzung zur Mittleren Zeit nennt, entstehen konnte. Aber natürlich war es nicht nur der Humanismus, der für die Genese der neuen Zeit verantwortlich war. Je nach Gutdünken wurden, um sie beginnen zu lasssen, besondere Ereignisse des historischen Zeitablaufes als Eckdaten genannt, um eine konkrete, leicht vorstellbare Abgrenzung der beiden Zeitalter vorzunehmen. So gilt zum Beispiel die Entdeckung  Amerikas durch Columbus im Jahre 1492 als herausragendes Ereignis, durch das der mittelalterliche Mensch aus seinem statischen Dasein befreit worden sei, um ihn wie einen modernen Astronauten in ein neues Universum zu schleudern. Aber so einfach ist das natürlich nicht, wie wir im Laufe unserer Reise noch sehen werden. Die Geburt der Neuzeit – der modernen Zeit – fand nirgends und niemals von heute auf morgen statt, sondern führte – von den Zeitgenossen kaum erkannt – über den Weg von Entdeckungen und Erfindungen, auf deren Basis immer wieder Neues entstehen konnte, zu dem, was man den Fortschritt nennt. So hat sich auch unsere Reisegesellschaft vorgenommen, den Spuren der Veränderungen in der Wahrnehmung von Wirklichkeit innerhalb dieses Zeitraumes zu folgen und uns neben der zeitlichen Abgrenzung auch an einer symbolträchtigen zu orientieren:

Nicht zwei schreckenerregende oder Abenteuer versprechende Bergriesen sind es, die den Anfang und das Ende unserer Reise durch die Neuzeit begrenzen werden. Es handelt sich um zwei eher bescheidene Felsformationen, die sich aus der Ebene und den Hügeln der Provence erheben, die uns als Symbole gelten können und unsere Reise   von der Geburt der Moderne an bis zu ihrer Infragestellung begleiten werden. Von dem in der Nähe von Avignon sanft aufsteigenden und dann steil abfallenden Mont Ventoux,    der aus der Ferne wie eine schneeverwehte  Winterlandschaft anmutet, wanderten wir, gemeinsam mit Francesco Petrarca, einem erstmals beschriebenen Gipfelsieg entgegen. Sechshundert Jahre später umkreiste dann der Maler Paul Cézanne einen anderen Berg, die Montagne Sainte Victoire, und zwar immer wieder und wieder, um in seiner Malerei all das in eine neue Form zu gießen, was Petrarca für einen kurzen Augenblick auf dem Berg gegenüber erlebte: der Wirklichkeit der äußeren Welt losgelöst von jeder metaphysischen Jenseitsbezogenheit zu begegnen.

Nicht zufällig geschieht die bewusste Wahrnehmung von landschaftlicher Schönheit durch Petrarca in diesem von flimmerndem Licht durchfluteten irdischen Paradies. Nirgendwo erscheinen die Farben klarer, heller und leuchtender wie in der Provence und nirgendwo zaubern die Strahlen der Sonne soviele Konturen und Schatten wie dort. So gesehen könnte man Petrarca als den ersten Impressionisten bezeichnen, weil es auch ihm darum ging, den Lauf der Welt einen Augenblick innezuhalten, um sie so, wie er sie in seinem Inneren sah, im Äußeren    abzubilden. Er trat als einer der ersten Menschen seiner Epoche, aus der Finsternis des  Mittelalters hinaus in das strahlende Licht der neu anbrechenden Zeit, ließ sich kurz von ihm blenden, um sich beim Abstieg vom Berg wieder – wie eine Schnecke – in sein mittelalterliches Gehäuse zurückzuziehen. Aber der Bann war gebrochen. Der Zwiespalt, in dem sich Petrarca befand, nämlich einerseits das Geschenk der neuen, sich ihm offenbarende Schönheit dieser Welt anzunehmen, oder sie im Bewusstsein der Sündhaftigkeit der Augenlust zurückzuweisen, löste sich in einem Werk, das er nach der Besteigung des Berges verfasste – im Secretum meum – eindeutig zugunsten einer Weltoffenheit auf, die es in dieser Form in einem von scholastischer Gelehrsamkeit geprägtem Mittelalter nie gegeben hat.

Der Erzähler dieser und der folgenden radikalen Veränderungen der neuzeitlichen Weltsicht, der gleichzeig auch Leser und Betrachter ist, bewegt sich in jener Zwischenwelt, die keineswegs ein leerer, unbewohnter Ort ist. Es ist jener Ort, an dem alle Bücher dieser Welt und all das, was jemals geschrieben wurde, aufbewahrt werden. Eine unendliche Bibliothek, die gefräßig ist wie ein Ungeheuer und ständig wächst. Schlägt der Leser ein Buch auf den letzten Seiten auf, findet er zahlreiche  Hinweise auf andere Bücher, aus denen der jeweilige Autor den Großteil seines Wissens nahm. Und nimmt er nun eines der in diesem Literaturverzeichnis angeführten Werke zur Hand, so findet er am Ende wieder unzählige Hinweise auf andere Bücher und so geht es fort. Und wenn er weiter so verfährt, wird er gewiss in ferner Zeit auf jenen Hinweis stoßen, der ihn auf das erste Buch, das einst geschrieben wurde, zurückführen wird. So sind all diese Bücher im Grunde genommen nur Symbole, die stets auf andere verweisen.

Aber diese Zwischenwelt ist nicht nur eine Enzyklopädie, sie ist auch ein aus unendlich vielen Sälen – einem Irrgarten gleich – bestehendes imaginäres Museum, ähnlich jener Bildwelt, die Malraux in seinem Buch Psychologie der Kunst, Das unsichtbare Museum beschrieb.[1]

Im ersten Saal dieses Museums staunt der Betrachter über die prähistorischen Felsmalereien, deren Sinn ihm zutiefst rätselhaft erscheinen, weil die Zeichen und Symbole in ihrer Einsamkeit isoliert sind. Natürlich kann der Betrachter Thesen über ihren Sinn erstellen. Aber diese lassen sich nicht beweisen, es fehlt die Möglichkeit einer Hinterfragung, da es keinen Resonanzboden für eine Reflexion gibt. Es gibt keine Querverbindung, aus der man eine paradigmatische Weltsicht dieser Urmenschen ableiten könnte. Aber dennoch bilden diese sinnlichen Zeichen an den Höhlenwänden, die aus einem geistigen Bedeutungsinhalt des steinzeitlichen Künstlers entstanden sind, die ersten symbolischen Formen, der im Laufe der Geschichte unendlich viele andere folgen werden. Dieser Umstand ist dem Betrachter bewusst, aber es ist ihm auch bewusst, dass er, was er eigentlich zu ergründen versucht, nicht allein an den isolierten Zeichen der Bilder zu finden vermag, sondern nur im Zusammenhang mit jener Geschichtlichkeit, die jeder Epoche, in der die Bilder entstanden sind, zugrunde liegt.

 

2 Die Reise:

1. Die Natur als Gegenstand ästhetischen Erlebens: Francesco Petrarca und die Besteigung des Mont Ventoux (1336)

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Petrarca, Ausschnitt eines Freskos von Andrea di Bartolo die Bargilla (um 1450), Uffizien.

Als Francesco die hölzernen Fensterläden öffnete, war draußen noch tiefe Nacht. Aber die Sterne hatten schon ihre funkelnde Kraft eingebüßt und ganz im Osten flimmerte zaghaft ein rötlicher Streifen über die Bergriesen der Alpen. Er tappte über die kühlen Steinfliesen hinüber zur Kammer, in der sein Bruder Gerardo schlief. Der brummte verärgert, angesichts des Rüttelns an seinen Schultern. Er hatte am Abend zu viel von diesem ausgezeichneten Wein getrunken, nachdem sie aus ihrem Heimatort Carpentras, das in der Nähe von Avignon liegt, aufgebrochen waren und am Nachmittag dem 25. April 1336 Malaucène erreichten. Von diesem Ort aus führte ein sanfter Weg weit hinauf, hinein in die Weinberge und darüber hinaus zu weit entfernteren Wiesen, auf denen noch Schafe und Ziegen weideten Dann aber verlor sich der Steig im dichten Gehölz, das soweit hinaufreichte, wie das Auge sah.

Nun sitzen sie, während draußen vor dem Haus der noch schlafende Berg schon sanft vom rötlichen Schleier berührt wird, und frühstücken. Das Krähen des Hahnes wird von jenen der umliegenden Höfen erwidert und sie scheinen Petrarca zum Aufbruch zu drängen, um sich endlich den seit Jahren gehegten Wunsch zu erfüllen, diesen Berg, der die Provence in seiner einsamen und erhabenen Rätselhaftigkeit – dem  Götterberg Olymp gleich – prägt, endlich zu besteigen.

In einem Brief schildert dann Petrarca die Besteigung des Mont Ventoux und begründet darin das für die damalige Zeit außergewöhnliche Unternehmen damit, dass es ihm darum ginge, die Welt nicht mehr nur als Wahrnehmung der Vollkommenheit ihres Schöpfers hinzunehmen, sondern um das Erleben des unmittelbaren Genusses beim Anblick der Schönheit der Natur. Doch stellt er dieses ästhetische Verlangen nicht eindeutig als treibende Kraft für die Wanderung in den Vordergrund. Einzig die Begierde war es, so beginnt er den Brief, die ihn dazu trieb, die für jeden vernünftigen Menschen seiner Zeit unvernünftige und unverständliche Qual des Bergsteigens auf sich zu nehmen. Aber das ist – wie wir noch sehen werden, nur ein Vorwand,  hinter dem sich etwas ganz anderes verbirgt.

Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht unverdientermaßen Ventosus, den Windigen, nennt, habe ich am heutigen Tag bestiegen. Dabei trieb mich einzig die Begierde, die ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kennenzulernen. Viele Jahre lang hatte dieses Unternehmen mir im Sinn gelegen; habe ich doch in der hiesigen Gegend, wie du weißt, seit meiner Kindheit geweilt, wie eben das Schicksal die menschlichen Dinge fügt. Dieser Berg aber, der von allen Seiten weit sichtbar ist, steht mir fast immer vor Augen.

So scheint sich in der Einleitung dieses Briefes ein Unternehmen abzuzeichnen, das in einer konkreten körperlichen Welt abläuft. Daher wurde dieser Brief lange Zeit als das verstanden, was er nicht war, nämlich der Bericht einer Bergbesteigung, die zu nichts anderem dienen sollte als der Befriedigung des sportlichen Ehrgeizes und der Neugierde, die diesseitige Welt in ihrer Schönheit von oben zu betrachten.

Aber so einfach darf der Brief nicht verstanden werden. Grundsätzlich ist nämlich im Brief nicht von einer offenen, von innen nach außen getragenen Landschaftserfahrung Petrarcas auszugehen, sondern muss im Kontext seines Gesamtwerkes gesehen werden, um die Bedeutung des Textes zu verstehen. Obwohl sich das Werk Petrarcas ungemein vielfältig und meist fragmentarisch zeigt, gibt es keine Abhandlung, die sich ausdrücklich und ausschließlich mit ästhetischen Landschaftserfahrungen befassen würde. Die Landschaftsbilder, die Petrarca in seine überlieferten Überlegungen und seine Poetik einfließen lässt, sind niemals losgelöst von einer mittelalterlich christlichen, in ihrer vertikal ausgerichteten, verharrenden Weltbezogenheit denkbar, sondern werden immer wieder – kaum dass die Gedanken an die Schönheit der äußeren Welt fassbar werden – zurückgewiesen. So ist das gesamte Werk Petrarcas nur im Sinne dieses Dualismus‘, dieser Diskrepanz zu sehen, die sich in einer tief verwurzelten, mittelalterlichen, dem Kirchenvater Augustinus zugehörigen christlichen Weltverneinung, jedoch gleichzeitig in einer von ganzem Herzen empfundenen ästhetischen Weltbejahung zeigt.

Für Jacob Burckhardt[2] aber war dieses Missverhältnis nicht gegeben. Für ihn war Petrarca der erste moderne Mensch überhaupt, der die Bedeutung der Landschaft für die erregbare Seele erkannte und als bewusste Erfahrung deutlich gemacht hat und so lässt Burckhardt mit dieser neuen ästhetischen Weltsicht gleichzeitig eine neue Zeit beginnen. Diese Sichtweise Burckhardts muss aus der Perspektive seiner Epoche – dem  19.Jahrhundert – gesehen werden, in der man sich wenig mit der Metaphysik des Mittelalters und der Weltabgewandtheit einer christlichen Heilslehre beschäftigt hat. Die Weltsicht Burckhardts war ganz und gar von einer klaren Abgrenzung der neuen Zeit vom Mittelalter geprägt. Die Absicht in seinem Werk Die Kulturgeschichte der Renaissance in Italien war es, die neue ästhetische Landschaftserfahrung an markanten Ereignissen festzulegen. Was hätte sich dazu besser geeignet als Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux.

Die beiden einheimischen Bauern, die sich bereit erklärt haben, Francesco und Geraldo auf den Berg zu begleiten, betreten das Haus und drängen zur Eile. Francesco selbst hat für die Besteigung keine besonderen Vorkehrungen getroffen. Die beiden Männer, die sich widerwillig, aber, angesichts der versprochenen Belohnung, doch bereit erklärt hatten, an dem – wie sie meinten – unsinnigen Unternehmen teilzunehmen, haben ihre Schultersäcke mit Wein, Käse und Brot vollgepackt. Petrarcas Bruder sieht mit Genugtuung, wie die beiden ihre Säcke über die Schulter werfen und mit schweren Schritten hinaus in den Morgen gehen.

Wenn sich Petrarca aber auch nicht um den Proviant zu kümmern schien, umso penibler ging er bei der Auswahl der beiden Begleiter vor, so als würde er sich auf eine gefahrvolle und lang andauernde Expedition vorbereiten.[3]

Der eine war ihm zu saumselig, der andere zu unermüdlich, der zu langsam, jener zu rasch, der zu schwerblütig, jener zu fröhlich, eine anderer endlich zu stumpfen Sinnes, jener gescheiter, als ihm lieb. [...] All das, so schwerwiegend es ist, erträgt man daheim –, erträgt die Liebe doch alles, und vor keiner Belastung scheut sich die Freundschaft. Schwerer jedoch wird das alles unterwegs. So wog sein empfindsames Gemüt, das auf ein anständiges Vergnügen sann, umsichtig alle Einzelheiten gegeneinander ab, ohne damit irgendein Freundschaftsgefühl zu verletzen.

Aus diesem Zaudern und diesen vorsichtigen Überlegungen heraus lässt sich aber schon die wahre Absicht erkennen, die er mit dem Brief verbindet. Spätestens hier weiß man, was er will: Er kennzeichnet seinen Bericht ganz offen als Allegorie, indem er auf den spirituellen Sinn bestimmter Stellen hinweist und dabei die Richtung seiner Darstellung stets von außen nach innen richtet. So wird der ganze Weg des Aufstieges zu einem Gleichnis für innerseelische Vorgänge.

Nicht der Wunsch also nach einem alpinen Abenteuer liegt der Absicht der Bergbesteigung zugrunde, wie Petrarca in der Einleitung seines Briefes vorgibt, es ist eine andere, viel gefährlichere, nämlich die ungeheure und verbotene Überschreitung der Säulen des Herkules[4]. Damit ist  hier der Drang gemeint, einem verbotenen Genuss nachzugeben, dem der voluptas oculorum, der vom Kirchenvater Augustinus als Sünde gebrandmarkten Augenlust, der Empfindung von Lust angesichts des Erlebens der Schönheit eines Bildes oder der Landschaft. Nicht umsonst sind die heiligen Figuren in ihrer Flächenhaftigkeit in einen Goldgrund eingebettet und strahlten von sich aus hinaus zum Betrachter, um ihn mit der allumfassenden Herrlichkeit Gottes zu erfüllen. Niemals wäre es dem Betrachter in den Sinn gekommen, im dargebotenen Bild etwas anderes zu sehen, als die Botschaft, die es vermittelt. Undenkbar wäre – im Sinne Augustinus‘ – die Betrachtung eines Bildes außerhalb seiner religiösen Bestimmung erlaubt gewesen. Im zehnten Buch der Confessiones spricht Augustinus von dieser Lust des Schauens als der gefährlichsten Sünde. Der Sehsinn ist, im Gegensatz zu den anderen Sinnen, die auf unmittelbare Befriedigung gerichtet sind, ein auf Erkenntnis gerichteter Sinn, folglich eine reflektierende Leidenschaft und daher gefahrbringend für das Leben des von der Diesseitigkeit sich abwendenden christlichen Menschen.[5] Seinen Vorbehalt gegen die Augenlust hat Augustinus mit der unendlichen Größe der menschlichen Seele begründet. Wenn auch die Größe der Berge und der Ozeane Erstaunen hervorrufen mögen, gegen die Größe der Seele ist das alles unbedeutend. Bei geschlossenen Augen vermag sich der Mensch an all das erinnern.

So wird auch das Werk Petrarcas von zwei sich voneinander abhebenden Landschaftserscheinungen geprägt, die unmittelbar mit dieser sündhaften Augenlust in Verbindung stehen und haben mit diesem Zwiespalt zu tun, von dem Petrarca ein Leben lang betroffen war. Einerseits bedeutet Landschaft für ihn einen Umraum[6], das heißt eine Nahlandschaft, die er vor allem in seinem Refugium – dem Ort Vaucluse in der Provence, ein liebliches kleines Tal, von einem klaren grünen Fluss der Sorgue durchzogen – als ruhenden Pol bewohnt hat, eine Landschaft, die in der Form des locus amoenus paradigmatisch bis in die Antike zurückreicht.

Andererseits aber verlässt er diesen Ort immer wieder, um auf seinen zahlreichen Reisen, die ihn nach Italien, Deutschland, Frankreich sogar bis nach Böhmen zu Karl IV führen, den Zauber einer neuen ästhetischen Landschaftserfahrung zu erleben, jenen der Fernlandschaft, mit einem sich nie schließenden Horizont und einer Form des Schauens, die in ihrem perspektivischen Nacheinander über die Grenzen eines gerahmten Ortes hinaus in eine Ferne führte.

Bildergebnis für la fontaine de vaucluse dessein de la main de Petrarque

La Fontaine de Vacluse. Handzeichnung von Petrarca.

Petrarca schildert in seinem Brief weiter, wie er den drei Männern nachfolgte, wie er aus der noch dunklen Stube trat und überwältigt war vom goldenen Glanz des erwachenden Tages. Die Nacht war vorüber und die Geister der Dunkelheit waren verschwunden. Die beiden Männer, die Francesco und seinem Bruder vorangingen, hatten ihre Blicke auf den Boden geheftet. Sie waren in sich gekehrt und der Weg sagte ihnen nichts. Ihr Aufbruch war gekennzeichnet vom Wunsch der Rückkehr. Geraldo war vom Eifer gepackt. Er war plötzlich voller Tatendrang und eilte den anderen durch die Weinfelder und die Schafweiden voraus, bis er atemlos auf einer Anhöhe innehielt und nach oben und dann, den Blick schwenkend, nach unten sah. Noch waren sie an den Abhängen des Gebirges, noch stieg der Pfad sanft zur Höhe und die Morgensonne verbarg lächelnd das Geheimnis einer sengenden Mittagshitze, in der einige Jahrhunderte später halb wahnsinnige Radfahrer einem Gipfel zustreben würden, nur des Ruhms wegen. Sie würden kein Interesse an der Schönheit der Landschaft haben, ihr Interesse würde dem mit Schmerz gepaarten Ruhm gelten.

Die beiden Begleiter waren längst dem Blickfeld Petrarcas entschwunden. Von ihnen ist auch im weiteren Bericht nicht mehr viel die Rede, ebenso wenig wie von erholsamen Pausen und Stärkungen. Aber schon zu Beginn der Wanderung hat Petrarca – wie schon gesagt wurde – den allegorischen Zweck der Wanderung durchblicken lassen. Da spricht er von einer Schlacht, die in seinem Inneren wütet und davon, dass er sich schon im Tal auf Gedankenflügel vom Körperlichen zum Unkörperlichen schwang, und ein Streit ausbrach, wer herrschen soll von den beiden Menschen in ihm[7]: der am Irdischen hängende oder der zur Gotteserkenntnis strebende Francesco. Und während sein Bruder beständig nach oben eilt und bald einen direkten Weg zum Gipfel findet, gelingt es Petrarca nicht, ihm zu folgen. Immer wieder weicht er der Anstrengung aus und folgt den leichten Pfaden, die abwärts führen. So kommt er zur Erkenntnis, dass es nun einmal nicht geschehen kann, dass irgendein körperliches Wesen durch Hinabsteigen zur Höhe gelangt.

So hatte ich mich denn, oft enttäuscht, in einem Tal niedergelassen. Dort schwang ich mich auf Gedankenflügeln vom Körperlichen zum Unkörperlichen hinüber und wies mich selbst etwa mit den folgenden Worten zurecht: Was du heute so oft bei Besteigung dieses Berges hast erfahren müssen, wisse, genau diesen Gipfel zu erreichen gleicht dem Ziel des sittlichen Lebens.[8]

Dieses Herumirren auf den Pfaden, die nur abwärts und in die Irre führen, steht für Petrarcas inneren Zwiespalt. Von irdischen und allerniedrigsten Gelüsten gequält sucht er dann doch den schmalen Weg des Aufstieges, ohne jedoch von seinem inneren Zweifel befreit zu sein. Er befindet sich in jener tiefen Lebenskrise, die er am Mont Ventoux sinngebend zu bewältigen versucht.

Vielfach greifen Schriftsteller beim Verfassen ihre Lebensgeschichten auf literarische Modelle zurück. Sie formen aus den Ereignissen ihres Lebens eine Erzählung und überschreiten dabei oft die Grenzen der Authentizität. Gerhart Hoffmann lässt zum Beispiel keinen Zweifel aufkommen, dass Petrarca alles unternommen hat, seine Werke als Zeugnisse seines Lebens, als Einheit von Leben und Werk auszugeben.[9] Gleichzeitig ist bekannt, dass er sein Handeln und Schreiben immer wieder nach antiken Vorbildern ausrichtete[10]. So wie sein Vorbild Seneca wechselte er ständig seinen Wohnort, genauso wie er seinen Sohn äußerst schlecht behandelte, so wie auch Cicero es tat. Und ebenso wie bei Petrarca lagen seinen Werken oft antike Vorlagen zugrunde. Ein Beispiel für einen von ihm verfassten autobiographischen Text, dessen Gestaltung auf – wenn auch hier nicht nur antike – sinnstiftende Vorbilder zurückgreift ist jener Brief, den er – nach dem Muster von Ciceros Briefen an Varro – an Francesco Dionigi di Borgo San Sepolcro von der Besteigung des Mont Ventoux schrieb. Als sinnstiftend sind in diesem Text aber nicht nur zwei literarische Vorbilder zu beachten – nämlich Dantes Divina Commedia und Augustinus‘ Confessiones – sondern auch die räumliche Opposition zwischen Oben und Unten, die das Erleben des Besteigen eines Berges zum Sinnbild für das Leben und die Suche nach Gott bedeuten. Damit ist gemeint, dass die Ordnungssysteme der Weltreligionen und die mit ihnen in unmittelbarer Verbindung stehenden Kulturen Modelle bilden, deren wesentlichste Substanz räumlicher Natur ist[11]. Berge sind dazu als sinngebende Instanzen am besten geeignet. Zu allen Zeiten haben sie als heilige Orte und Kultstädten eine wichtige Rolle gespielt: Ararat, Sinai, Tabor und Kalvarienberg sind nur einige Beispiele dafür. Auf den Bergen ist die Nähe zu Gott besonders groß. Gleichzeitig nimmt derjenige, der dort oben steht, aber auch die Perspektive Gottes ein. Schon in der griechischen Antike wohnten die Götter auf einem Berg, dem Olymp, und es steht außer Zweifel, dass es ein Privileg der Götter ist, dort zu leben. Und aus dem elften Gesang der Odyssee ist zu entnehmen, wie sehr die Götter darauf bedacht sind, die von ihnen gezogene Grenze zwischen oben und unten zu beherrschen: Zwei Brüder, Otos und Ephialtes[12], wollen den Olymp bezwingen. Dazu stürzen sie einen anderen Berg um und versuchen über den nun sanft ansteigenden Weg den Olymp zu besteigen. Sie werden vom Sohn des Zeus getötet, weil sie die Grenze zwischen dem irdischen und dem göttlichen Raum überschritten und so die größtmögliche Sünde begangen haben. Die Angst vor dieser Sünde ist es auch, die Petrarca in diesen Zwiespalt und eine tiefe Lebenskrise führen, die den Aufstieg auf den Berg so quälend werden lässt.

Die Wanderer treffen auf einen alten Hirten, der sie innig anfleht, umzukehren. Er selbst, so sagte er, habe schon versucht, den Gipfel zu erreichen. Er habe sich dabei aber die Glieder zerschlagen und die Kleider zerrissen und sei umgekehrt. Seitdem habe niemand mehr einen Versuch gewagt. Aber Petrarca lässt sich nicht beirren und  steigt weiter, bis er den Gipfel erreicht.  

Vergeblich erwartet man nun einen spontanen Ausruf der Begeisterung oder eine Beschreibung der Aussicht; aber nicht, weil der Dichter dagegen unempfindlich wäre, sondern im Gegenteil, weil der Eindruck allzu gewaltig auf ihn wirkt[13]. Zuerst stand er, durch einen ungewohnten Hauch der Luft und durch einen ganz freien Rundblick bewegt, einem Betäubten gleich. Dann aber öffnen sich seine Augen und sein Blick gleitet über die Berge und Landschaften, die sich vor und unter ihm ausbreiten, und er staunt über die irdische Schönheit, die sich ihm darbietet:

Ich schaue zurück nach unten: Wolken lagerten zu meinen Füßen, und schon sind mir Athos und Olymp minder unglaublich geworden, da ich das, was ich über sie gelesen und gehört, auf einem Berge von geringerem Rufe zu sehen bekomme. Ich richte nunmehr meine Augen auf die Seite, wo Italien liegt, nach dort, wohin mein Geist sich so gezogen fühlt. Die Alpen selber – eisstarrend und schneebedeckt –, über die einst der wilde Feind des Römernamens hinüberzog, der, wenn wir dem Gerücht Glauben schenken wollen, die Felsen mit Essig sprengte, sie erschienen mir greifbar nahe, obwohl sie durch einen weiteren Zwischenraum getrennt sind.

Beim Lesen des Briefes fällt auf – wenn man von seinem allegorischen Sinn ausgeht – dass Petrarca das Gesehene stets mit zuvor gelesenen Texten verbindet. Anfangs kommt er von dem unter ihm liegenden Wolkenfeld auf den Olymp zu sprechen und so etwas wie Verwunderung, wenn nicht Enttäuschung klingt in den Worten mit, mit denen er den Götterberg plötzlich als weniger unglaublich beschreibt, wenn er schon von einem Berg von geringerem Rufe die gleiche Aussicht hätte. Der Blick dorthin, wo Italien liegt, ist ein Blick voller Sehnsucht nach dem Ort, wohin sich sein Geist so sehr gezogen fühlt. Und wenn er von den gletscherbedeckten Alpen spricht, dann fällt ihm Hannibal ein, der im Jahr 218 vor Christus mit seinem Heer das für unüberwindlich geltende Gebirge überquerte. Dann aber verdrängt er das theoretische Bücherwissen und überlässt sich der ästhetischen Wahrnehmung. Er vergisst für einen Moment die Schlacht in ihm, von der er am Anfand des Briefes gesprochen hatte, und schildert weiter die ihn überwältigende Aussicht:

Der Grenzwall der gallischen Lande und Hispaniens, der Grat des Pyrenäengebirges, ist von dort nicht zu sehen. Nicht, dass meines Wissens irgendein Hindernis      dazwischenträte – nein, nur infolge der Beschränktheit des menschlichen Sehvermögens. Hingegen sah ich sah sehr klar zur Rechten die Gebirge der Provinz von Lyon, zur Linken sogar den Golf von Marseille, um den, der gegen Aigues-Mortes brandet, wo doch all dies einige Tagesreisen entfernt ist. Die Rhone lag mir geradezu vor Augen.[14]

Möge diese klare Schilderung der Aussicht vielleicht auch dazu dienen, das Gipfelerlebnis authentisch zu gestalten, so drückt sie doch deutlich das Staunen über die empfundene Überschreitung von Entfernung, von Raum und Zeit aus. Aber die Hingabe an das Irdische währte nur kurz.

Dieweil ich dieses eins ums andere bestaunte und jetzt Irdisches genoss, dann, nach dem Beispiel des Leibes, auch die Seele zum Höherem erhob, schien mir gut, in das Buch der Bekenntnisse des Augustin hineinzusehen, […][15]

Er schlägt die Bekenntnisse des Heiligen Augustin auf, die er immer bei sich trägt, und liest im zehnten Abschnitt:

Und da gehen die Menschen hin und bewundern hohe Berge und weite Meeresfluten und mächtig daherrauschende Ströme und den Ozean und den Lauf der Gestirne und verlassen (dabei) sich selbst.

Sein Bruder, dem er diese Worte vorliest, kann nicht verstehen, warum Francesco daraufhin das Buch zuschlägt, auf seine Fragen keine Antwort gibt und schweigt.

Ich war wie betäubt, ich gestehe es, und ich bat meinen Bruder, der weiter zu hören begierig war, mir nicht lästig zu fallen, und schloss das Buch im Zorne mit mir selbst darüber, dass ich noch jetzt Irdisches bewunderte. Hätte ich doch schon zuvor – selbst von den Philosophen der Heiden – lernen müssen, dass nichts bewundernswert ist außer der Seele: Neben ihrer Größe ist nichts groß. Da beschied ich mich, genug vom Berg gesehen zu haben, und wandte das innere Auge auf mich selbst.[16]

Wütend über sich selbst, dabei aber scheinbar geläutert, steigt er, ohne sich um seine Begleiter zu kümmern, den Berg hinab. Es ärgert ihn, Opfer eines leeren Schauspiels geworden zu sein und außerhalb das zu suchen, was innen zu finden gewesen wäre.

Diese Erkenntnis unterscheidet sich von jener des Augustinus nun darin, dass dieser, von den gleichen Seelenqualen wie Petrarca befallen, zur religiösen Umkehr fand, während Petrarca das Schlachtfeld seiner widerstreitenden inneren Seelenzustände nie verließ: Ich liebe. Aber das, was ich lieber nicht liebte, das, was ich zu hassen wünschte[17]. In diesem Seelenkonflikt lässt sich bereits der Weg des neuzeitlichen Denkens ablesen; ein Weg, der sich zwischen Glauben und Zweifel, Selbsterhöhung und Selbstverlust und zum Zweifel an Welt, Gott, den antiken Autoritäten und letztlich an sich selbst, wie es in später in Descartes Denken zur obersten Maxime werden sollte[18].

Dieser Wechsel in der Wahrnehmung weltlicher Erscheinungen, der sich mit Petrarca  anbahnt, ist, so wie immer, wenn sich eine paradigmatische Wende der  gesellschaftlichen Normen abzeichnet, die Wirkung tiefgreifender Veränderungen wirtschaftlicher, sozialer, machtpolitischer, religiöser oder klimatischer Lebensbedingungen und  kein plötzlicher Umschwung. Er ist ein Prozess, in dem sich das Neue wie eine Aura, einem unbewussten Verlangen gleich, um die Menschen legt, bevor es sich zu erkennen gibt, während das Alte aber noch lange und hartnäckig daneben existiert. Dieses unbewusste Verlangen der Menschen nach Erneuerung sprießt also nicht von heute auf morgen hervor, sondern entspringt tiefgreifenden Wurzeln, die weit in die Zeit hinunterreichen. So verschenkte Hundert Jahre vor Petrarca der Sohn eines reichen Kaufmannes seine Kleider an einen Bettler und beschloss von da an in Armut zu leben.

3 Die Natur und das Göttliche : Franz von Assisi (1182 – 1226)

Franz von Assisi ist jener aus dem Bürgerstand entsprossene Jüngling, der aus einem unwiderstehlichen Verlangen den ihm vom Vater vorgezeichneten Weg zu sorglosem Wohlstand verließ und von grenzenloser Liebe zum Menschen, zur Natur und zu Gott erfüllt, einen anderen wählte; nämlich den des Verzichts auf irdische Güter, der ihn zur Verkündung eines neuen evangelischen Christentum führen würde. Papst Innozenz III (1198 – 1216) erkannte die Bedeutung des von diesem positiven Glauben erfüllten Mannes für die Rettung der bedrohten Kirche und gewährte ihm – wie auch übrigens dem Dominikanerorden – das Recht auf freie Predigt. Dieses wiederentdeckte, ursprüngliche Christentum bemächtigte sich des ganzen Volkes und wurde von  neuen, die Phantasie erregenden Vorstellungen begleitet, die durch das Entstehen einer neuartigen gefühlvollen Dichtung, den Laudi und durch die öffentlich aufgeführten Mysterien genährt und befriedigt wurden. Franz von Assisi selbst zog dichtend, singend und  predigend durch das Land und verband darin, voll Liebe und Hingabe, Gott mit der Natur. Menschen, Tiere und Gestirne wurden Geschwister. Das gesamte Volk wurde von einer Welle der Erregung erfasst, die Menschen strömten in die Kirchen, die bald nicht mehr in der Lage waren, die Menge der Gläubigen zu fassen. In den Städten entstanden große Bauten, in denen durch die neuartige gotische Architektur eine der Predigt dienstbare Raumordnung  geschaffen wurde und sich die bis dahin schlicht gehaltene Ausschmückung der Kirchen zunehmend zu Orten auserlesener Kunst wurden.

Das, was Franziskus und seine Brüder erzählten und wovon sie sangen, erregte die Phantasie der Menschen, sie verlangte nach Bildern. Das neue Verhältnis zu den Geschichten des Neuen Testaments führte zu natürlichen Vorstellungen von den biblischen Ereignissen. Die Erzählungen wurden zu Bildern, das Glauben wurde zum Schauen[19].

Zum ersten Mal in der Volkssprache ertönte das Gotteslob im Sonnengesang, den er kurz vor seinem Tode gedichtet hat:

Höchster, allmächtiger, gütiger Herr!

Dein ist das Lob, die Herrlichkeit, die Ehre und jegliche Segnung,

Dir allein gebühren sie

Und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen.

Gelobt sei, mein Herr, mit all deinen Geschöpfen,

Vornehmlich mit unserer Frau Schwester, der Sonne,

Die den Tag wirkt und uns leuchtet durch ihr Licht;

Und sie ist schön und strahlend mit großem Glanze,

Von dir, o Höchster, trägt sie das Sinnbild.

Gelobt sei mein Herr durch unsern Bruder den Mond und die Sterne,

Am Himmel hast du sie gebildet so klar und funkelnd und schön.

Gelobt sei mein Herr durch unseren Bruder den Wind

Und durch die Luft und die Wolken, durch heitere und jegliche Witterung,

Durch welche du deinen Geschöpfen Erhaltung schenkst.

Gelobt sei mein Herr durch unseren Bruder das Wasser,

Das sehr nütz ist und demütig und köstlich und keusch.

Gelobt sei mein Herr durch unseren Bruder das Feuer,

Durch das du die Nacht erhellst,

Und es ist schön und freudig und sehr stark und gewaltig.

Gelobt sei mein Herr durch unsere Schwester die Mutter Erde,

Die uns versorgt und ernährt

Und mannigfache Früchte   hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter.

Gelobt sei mein Herr durch die, welche verzeihen um deiner Liebe willen

Und Schwachheit ertragen und Trübsal.

Glückselig die, welche sie ertragen werden in Frieden,

Denn dir, o Höchster, sollen sie gekrönt werden.

Gelobt sei mein Herr durch unseren Bruder den leiblichen Tod,

Dem kein lebender Mensch entrinnen kann.

Wehe denen, die in Todsünden sterben werden,

Selig die, so sich in deinen heiligsten Willen finden,

Denn der zweite Tod kann ihnen nichts Böses antun,

Lobet und benedeiet meinen Herrn und dankt ihm

Und dienet ihm in großer Demut.[20]

Indem Franz von Assisi die Natur mit dem Göttlichen verband, wurde sie geheiligt. Standen die Menschen zuvor der Natur noch weitgehend feindlich gegenüber und empfanden sie gar als Bedrohung – beim Überschreiten des engen vertrauten Gebietes fürchtete man im angrenzenden Gebüsch die Hexen und weiter im Wald Dämonen und Teufel – so verwandelten sich diese Kobolde nun in singende Vögel in schillernden Farben, in sanfte, schützenswerte Tiere, die den lebenden Heiligen umschwirrten und mit den Gestirnen, den Blumen und Bäumen eine durch Liebe verbundene harmonische Einheit bildeten. Aus dieser Verwandlung des Natürlichen vom bloß Nützlichen und Bedrohlichen, hin zur bewussten und positiven Wahrnehmung der Welt, oder, wie der Kunsthistoriker Henry Thode es ausdrückt, Vereinigung von Gott und Welt und der Sehnsucht der Menschen. Dieses Wunder auch zu sehen, entwickelte sich die künstlerische Inspiration, aus der die Renaissancekunst entsprang[21]. Die Erzählungen, Legenden – die Vitae – der Heiligen wurden nun farbenprächtig auf den Kirchenwänden präsentiert. Die Absicht war es, das, was dem Inneren zugrunde lag, die geläuterte, ausschließlich von Liebe zur gottdurchdrungenen Welt im Äußeren in ihrer Schönheit darzustellen.

So beginnen sich ab dem 13. Jahrhundert die alten verkrusteten Formen aufzulösen: Sowohl in der Literatur als auch in der Kunst drängt das neue, erregende, innere Gefühl die Künstler dazu, die statischen Formen in Bewegung zu setzen, den Figuren und Gesichtern Ausdruck zu verleihen, dem sich die Liebe zu Gott und Gottes Liebe zu den Menschen und der Natur ausdrückt, und so zur Quelle der Schönheit wird, die von nun an die Entwicklung der Dichtkunst und der Malerei bestimmen wird.[22]

Ein besonderer Grund für den Erfolg der Dichtungen und den Predigten des Franziskus lag aber auch darin, dass sie nicht mehr in der gelehrten Kirchensprache, sondern in der Sprache des Volkes erfolgten. Bald eroberte das junge Italienisch – natürlich noch lange neben dem alten Latein – eine neue Form der Schriftsprache, die das Evangelium des Neuen Testaments für die einfachen Menschen zu einer Quelle von Freude und Hoffnung werden ließ. Wenn Franziskus oder seine Brüder predigten, dann empfanden die Zuhörer die Geburt Christi im armseligen Stall zu Bethlehem – und all die folgenden Ereignisse – als wäre das alles gerade erst geschehen. Und, um es vorwegzunehmen, diese neue Zeitlichkeit, nämlich das vor vielen Jahrhunderten zuvor Geschehene aus den Tiefen einer entfremdeten, unverständlichen, klerikalen Symbolhaftigkeit in die Erlebniswelt und in die Sprache des Volkes  zu transformieren, wird dann vor allem bei Giotto – von dem anschließend die Rede sein wird – sichtbar. Dabei ist zu bedenken, dass den meist analphabetischen Menschen des Mittelalters eine bildliche Vorstellung der vergangenen Epochen – wie wir sie heute besitzen – völlig fehlte. Egon Friedell[23] spricht in diesem Zusammenhang davon, dass diese die sie umgebende Welt mit den Augen von Kindern sahen. Sie glaubten bedingungslos an alles, was ihnen ihre Sinne vermittelten, aber auch an alles Übersinnliche, wenn es ihnen von kompetenter Stelle gepredigt wurde. Sie glaubten an Gott und die Engel, an Zauberer, Dämonen, Geister, Hexen und an die Wunder wirkende Kraft der Mariendarstellung in der Kirche, vor allem aber an den Teufel.

4 Dante und die Überschreitung der Säulen des Herkules

So wurde Dantes große Weltfabel Die göttliche Komödie nicht nur als literarisches Meisterwerk betrachtet, sondern als die wahre, die wirkliche Ordnung der Welt. Es wird geschildert, dass Mütter ihren Kindern zuflüsterten – wenn Dante vorüberging – dass das der Mann sei, der als lebender Mensch in der Hölle gewesen wäre. Zum letzten Mal, faktisch als letzte gewaltige Zusammenfassung, wurde in Dantes Commedia die Welt in ihrem vertikalen Aufbau dargestellt, in der wir eine allumfassende, hierarchische Ordnung einer vom göttlichen Willen gelenkten Welt betreten, die auf der Theologie des Thomas von Aquin und die wiederum auf der Philosophie  des Aristoteles beruht. Die mittelalterliche Welt Dantes erstreckt sich entlang der Vertikalen vom Untersten, dort, wo Luzifer kopfüber im ewigen Eis angekettet bleibt, bis hinauf zu den allerhöchsten Höhen, dem Aufenthalt Gottes. Eine Bewegung kann nur von oben nach unten geschehen, oder umgekehrt. Nur auf dieser Vertikalen kann es Vielfalt geben. Unterschiede zwischen den Dingen auf einer Ebene sind ohne Bedeutung. Nur die Hierarchie der Dinge unterscheidet ein Ding vom anderen.[24] Und dennoch wird Dante immer wieder und überall von auseinanderstrebenden Kräften bedrängt, die ihn zu quälenden Zweifeln am Sinn der bestehenden Ordnung führen und  in die Gefahr bringen, sich das Leben zu nehmen. So ist die tiefe Problematik, die der Commedia zugrundeliegt, die ungeheure Spannung auseinanderstrebenden Kräfte, von der das ganze Werk durchzogen ist. Dem ungeheuren Aufwärtsstreben, entlang der Vertikalen, setzt sich die Tendenz entgegen, sich aus der Vertikalen loszureißen, um in einem realen, unbegrenzten Raum und einer historischen Zeit ein eigenes subjektives Schicksal zu begründen und zu begreifen.

Diese Spannung zeigt sich schon bei Adam, dem Urvater, auf den Dante im Verlaufe seiner Weltenreise trifft. Bereits da wird er schon mit dem konfrontiert, was man unter 'Eigenwirklichkeit' des Menschen versteht.[25] Die Vertreibung aus dem Paradies war eine Folge der 'Überschreitung des Zeichens', des trapassar del segno, durch das dem Menschen mitgegebenen ingegno.[26]  So sprach Adam zu Dante:[27]

Or, figliuol mio, non il gustar del legno

fu per sè la cagion di tanto esilio,

ma solamente il trapassar del segno[28]

Nun denn, mein Sohn: nicht dass vom Baum ich schmeckte,

War Grund an sich, der mich solange verbannte,

Nein, nur weil des Grenzbruchs ich mich erkeckte.

Nach Augustinus‘ Auffassung vom Geschlechtsleben wäre Adams Sündenfall – der Grenzbruch – an sich keine Sünde gewesen, wenn er dem Apfelbaum ferngeblieben wäre. Adam und Eva hätten vor dem Sündenfall ohne Lust miteinander verkehren sollen. Adam hätte seine sexuelle Aufgabe erfüllen können – so wie Handwerker bei der Ausübung ihres Berufes ohne Lust ihre Hände bewegen – ohne Lustempfindung, die nun – zur Strafe – zum Geschlechtsverkehr gehören, weil die Geschlechtsorgane nicht mehr dem Willen der Menschen gehorchen. Zur Tugend gehört für Augustinus die vollständige Herrschaft des Willens über den Körper. So rechtfertigt Augustinus auch – im Zusammenhang mit Lucretia, deren Vergewaltigung er nicht als Anlass für ihren Selbstmord gelten lassen wollte – die tugendhaften Frauen, denen das gleiche Schicksal widerfahren war. Für ihn waren sie unschuldig, sofern sie während der Vergewaltigung kein Vergnügen empfunden hätten. Anderenfalls wäre es Sünde gewesen.[29]

Ebenso wie Adam die von Gott gezogene Grenze überschritten hat, war der Turmbau zu Babel, des unvollendeten Werkes des Volkes des Nimrod, jene unglaubliche Vermessenheit, die mit jener zu vergleichen ist, die wir dem elften Gesang der Odyssee entnehmen, in welchem Otos und Ephialtes – wie weiter oben berichtet wurde – den Olymp besteigen wollten. Nimrod, dessen Name 'der Widerstreitende oder der Rebell' bedeutet, war ein Nachfahre Noahs und setzte sich das Ziel, ein Weltreich zu erschaffen, in dem die gesamte Menschheit unter seiner alleinigen Herrschaft vereint gewesen wäre.

Welche unglaubliche, überhebliche Tat: Ein riesiger, bis in den Himmel ragender Turm sollte zum Symbol des Sieges gegen die ihm von Gott auferlegte Knechtschaft werden:

La lingua ch’io parlei fu tutta spenta

Innanzi che all’ovra inconsummabile

Fosse la gente di Nembròt attenta; […][30]

Pieter Bruegel der Ältere: Turmbau zu Babel (Wiener Version), Öl auf Eichenholz, 114 x 155 cm, Kunsthistorisches Museum Wien.

Die Sprache, die ich sprach, war längst verschwunden,

Eh für das Riesenwerk, das unvollendliche,

Der Nimrodvölker Kräfte sich verbunden.

Denn Menschenwerke dauern nicht, sind endliche,

Weil neuerungssüchtig ist der Menschen Walten.

Im Alten Testament wird so der Versuch der Errichtung eines in den Himmel ragenden Turms als Absicht gewertet, Gott gleichzukommen. Der Plan Nimrods, die gesamte Menschheit in seinem Weltreich zu vereinen, scheiterte, indem Gott die bis dahin eine heilige gemeinsame Sprache verwirrte, so dass die Menschen einander nicht mehr verstanden und sich über die ganze Erde verstreuten. Allerdings findet sich das Thema der Sprachverwirrung im Neuen Testament in der Pfingstgeschichte wieder. In dieser ist es der Heilige Geist, der durch eine, von Jesus Christus vorgelebte Gottverbundenheit, ein neues Verstehen über alle Sprachgrenzen hinweg ermöglicht. Bei Franz von Assisi äußert sich dieses neue Verstehen durch die alles umfassende Liebe.

Einem anderen aber begegnet Dante, nämlich Odysseus, der nicht in gefährliche Höhen strebte, sondern sich, nachdem er an den „Säulen des Herkules“[31] angekommen war,

Ercule segnò li suoio riguardi, […][32]

Wo Herkules gesetzt sein Warnungszeichen, […]

auf das offene Meer nach Westen hin über den Atlantik  aufmachte, um den Horizont zu erkunden und dabei fast zu den Paradiesinseln gelangt wäre, wenn nicht Gott selbst einen Sturm geschickt hätte, um das Schiff zum Kentern zu bringen.

[…]

Quando n’apparve una montagna, bruna,

Per la distanza, e parmevi alta tanto,

Quanto veduta non aveva alcuna.

Noi ci allegrammo, e tosto tornò in pianto;

Chè della nuova terra un turbo nacque,

E percosse del legno il primo canto.[33]

Da sah ich [Odysseus] aus des fernen Dunstes Feuchte

Bräunlich auftauchend, einen Berg entragen,

Wie keiner je so hoch und steil mir deuchte.

Wir jauchzten, doch dem Jauchzen folgten Klagen,

Denn her vom Neuland stob mit mächtigem Prallen

Ein Sturmgebraus, des Schiffes Bug zu schlagen.

Aber nicht nur an dieser Stelle tritt uns in der Commedia der vom ingegno getriebene Odysseus entgegen. Er ist immer präsent: schon beim Aufbruch zur Reise ins Inferno ist von ihm die Rede und auch beim Eintritt ins Purgatorio. Daraus wird deutlich, wie sehr in Dantes Commedia die im mittelalterlichen Weltbild verankerte Vertikalität der göttlichen Seinsordnung von einer gegenstrebigen Horizontalität durchdrungen wird.[34]

Dante ist mit Odysseus in einer Weise verbunden, in der die Suche nach dem Paradies über die unumstößliche mittelalterliche Weltordnung hinausgeht und die er immer wieder in Frage stellt, bis aber dann doch am Ende beim Erblicken des Auges Gottes der Zweifel erlischt. Auch Columbus wird später nach dem Paradies suchen, und zwar genauso wie Odysseus wird auch er das Zeichen überschreiten. Die Eigenwirklichkeit des Menschen trieb Odysseus dazu, an den Säulen des Herkules vorbeizusegeln, um in der unbekannten westlichen Ferne das Paradies zu suchen, genauso wie später Columbus. Nur wurde der eine in Dantes Commedia noch von Gott daran gehindert, es zu betreten. Der andere betrat die paradiesischen Inseln, die sich dann aber als allzu weltlich erweisen sollten.

Petrarca hingegen reizt nicht sosehr die unbekannte Welt jenseits des Ozeans, es ist das sagenhafte Thule jenseits der britischen Inseln. Aber trotz aller Bemühungen, das Geheimnis dieses Ortes zu enträtseln, bleibt er ihm verschlossen. Und da er somit mit seiner curiositas, der Weltneugierde, an seine Grenzen stößt, tritt anstelle der Welterforschung die Selbsterforschung. Aber wie die Welt in ihren letzten Horizonten sich dem Wissen entzieht, wird auch die Selbsterforschung nicht an ein Ende kommen. Entdeckung der Welt in ihrer Horizonthaftigkeit und Selbstentdeckung des Subjekts bedingen und steigern sich wechselseitig.[35]

5 Ein zaghaftes Erwachen des Ich- Bewusstseins.

Was die Dichtung Franz von Assisis von jener Petrarcas unterscheidet, ist, dass sich der Prediger mit seinen Liedern ständig nach außen wendet, ähnlich der höfischen Liebeslyrik, die dem Canzoniere  Petrarcas vorausgeht.[36] Die Dichtung der Troubadours stellt ein soziales Phänomen dar, indem sie sich an ein Publikum wendet, stets ein Du oder ein Ihr impliziert und daher Dialogcharakter besitzt. Im Mittelpunkt der Dichtung steht somit nicht die Selbsterforschung des Dichters, sondern das Publikum, an das sich die Dichtung richtet und somit zum eigentlichen Gegenstand des Diskurses wird. Und wenn es somit in der höfischen Liebeslyrik die Geliebte ist, die im Zentrum der Betrachtung steht und sich gleichsam der Sonne um die Erde dreht, so hat sich in der petrarcischen Lyrik das Weltbild verkehrt. Nun ist es das lyrische Ich, das um die Sonne – die Geliebte – kreist. Es ist bekannt, dass Franziskus wie ein Troubadour durch die Lande zog und von der Liebe sang. Natürlich war es bei ihm nicht die irdische Liebe, sonder es war Gott, den er pries und an den er sich mit glühenden Versen wandte. Bei Petrarca aber geht es von nun an darum, dass ein Subjekt darüber nachdenkt, was mit ihm selbst geschieht. Es ist also diese Selbstbefragung, die in der Dichtung als Linie zwischen Mittelalter und Renaissance verläuft.

Da aber scheint sich ein Widerspruch zu Petrarcas sündhaften Empfindung angesichts der von ihm erfahrenen Lust am Betrachten der landschaftlichen Schönheit der Natur zu ergeben. Wie kommt es, dass Petrarca in ein derartiges Dilemma gerät, während fast schon hundert Jahre früher die Natur in all ihrer Pracht besungen und gehuldigt wurde und sich die damals entstehende Kunst harmonisch in die religiösen Darstellungen eingefügt hat, ohne Anstoß zu erregen? Der Grund dafür ist, dass Franziskus die ganze Natur nur als Abglanz der Herrlichkeit Gottes sah und von einer Schönheit – wie auf einer Treppe – zur nächsten, und immer weiter, stieg, bis er auf der letzten – so wie Dante auf dem Läuterungsberg – zur Gottesschau gelangte. Während also Schönheit der äußeren Welt bei Franziskus nie losgelöst von ihrer metaphysischen Bedeutung denkbar war, sah Petrarca am Mont Ventoux die Schönheit der Natur nur um ihrer selbst willen, als eigenständiges Objekt, als Mensch gottgleich am höchsten Punkt eines Berges stehend und hinabblickend auf das, was unter ihm und in der Ferne lag.

Mit Petrarca beginnt sich das Subjekt aus der metaphysischen Bindung zu lösen, um sich im Sinne einer Metamorphose vom goldenen Hintergrund des mittelalterlichen Bildes zu trennen und schließlich zum selbstbewussten, neuen – modernen – Menschen zu werden. Vor allem war es Jacob Burckhardt, der Petrarca – in seinem epochalen Werk Die Kultur der Renaissance in Italien – zu diesem Ruf verhalf. Burckhardt bezeichnet Petrarca als einen der ersten, wenn nicht als den ersten modernen Menschen überhaupt.[37]

Vollständig und mit größter Entschiedenheit bezeugt dann Petrarca, einer der frühesten modernen Menschen, die Bedeutung der Landschaft für die erregbare Seele. (…) Petrarca war nämlich nicht bloß ein bedeutender Geograph und Kartograph – die früheste Karte von Italien soll er haben entwerfen lassen – er wiederholte auch nicht bloß, was die Alten gesagt hatten, sondern der Anblick der Natur traf ihn unmittelbar. Der Naturgenuss ist für ihn der erwünschteste Begleiter jeder geistigen Beschäftigung; auf der Verflechtung beider beruht sein gelehrtes Anachoretenleben in Vaucluse und anderswo, seine periodische Flucht aus Zeit und Welt.[38]

Allerdings war dieser 'moderne' Mensch Petrarca, als den ihn Burckhardt bezeichnet,  noch tief mit dem Mittelalter verbunden, wenn er auch schon mit einem Fuß in der 'neuen Zeit' stand. Seine Hinwendung zu einer humanistisch geprägten Weltsicht und der Loslösung aus der vertikalen, mittelalterlich geprägten Bestimmtheit des Individuums kommt am deutlichsten in seinem – oben erwähnten und wahrscheinlich persönlichsten – Werk Secretum meum zum Ausdruck. Es handelt sich dabei um einen fiktiven Dialog, den er mit Augustinus bestreitet, in welchem – im stillen Beisein der allegorischen Frau Wahrheit – die beiden darüber diskutieren, ob es notwendig sei, den geraden Weg zum Heil ohne Abschweifungen zu beschreiten, oder ob nicht doch die Möglichkeit bestünde, über den Weg des irdischen, literarischen Ruhms dorthin zu gelangen. Wer sich nämlich durch intensives Studium der Geschichte der Menschheit zu einer tugendhaften Persönlichkeit heranbildet und mit den eigenen Schriften und Taten die öffentliche Anerkennung verdient, verstößt – so argumentiert Augustinus – gegen das christliche Demutsverbot und bringt Petrarca damit in ein Dilemma. Obwohl dieser Konflikt im Secretum meum unter verschiedensten Aspekten beleuchtet wird, kommt es   keiner allgemein gültige Lösung. Schließlich beruft sich Petrarca auf die conditio humana, die ihm keine Wahl lässt, gegen seine neu gefundene Menschenwürde zu handeln. Jeder einzelne Mensch ist immer wieder gefordert, selbst zu entscheiden, womit er die Verantwortung für sein Handeln und dessen Konsequenzen für sein Leben übernimmt. Der Mensch beginnt sich in diesem Sinne nicht mehr als ein von Gott abhängiges, sondern als ein unabhängiges, kreatives Individuum wahrzunehmen. Mit dieser revolutionären Argumentation kündigt  sich mit Petrarca ein epochaler Wandel – ein Paradigmenwechsel – an, der allerdings erst ein Jahrhundert nach seinem Tode von Giovanni Pico della Mirandola in seiner berühmten Rede De hominis dignitate (1496) in radikaler Art und Weise formuliert wird[39]. In dieser geht es um die Frage nach dem Wesen des Menschen, nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten, seiner Stellung in der Welt, seiner Würde und um die Willensfreiheit geht.

Endlich glaube ich verstanden zu haben, so beginnt die Rede Mirandolas, warum der Mensch das am meisten gesegnete und daher ein jeder Bewunderung würdiges Lebewesen ist und was für eine Stellung es schließlich ist, die ihm  in der Reihe des Universums zuteil geworden ist und um die ihn nicht nur die vernunftlosen Geschöpfe, sondern die Sterne, die überweltlichen Geister gar beneiden müssen. Die Sache ist unglaublich und wunderbar.

Damit wird bereits ein Menschenbild formuliert, in dem sich, im Hinblick auf die Renaissance, schon etwas Neues herausbildet: Würde und Freiheit. Der Mensch unterliegt in seinem ganzen Wesen und Tun nicht mehr der Allmacht Gottes. Ein in die Moderne weisendes individuelles Verständnis wird geboren. Der Mensch wird nun – im Gegensatz zu den übrigen Geschöpfen – frei und stellt sich selbst in die Mitte der Welt. Er entdeckt etwas Neues an seinem Dasein, nämlich aus sich selbst heraus und ohne die Bevormundung durch Gott, Entscheidungen zu treffen, um sein Leben nach dem eigenen Willen zu gestalten.

Doch ganz so weit ist Petrarca noch nicht, er ist noch ein Suchender. Unermüdlich schreibend reist er im Auftrag mächtiger Fürsten in ganz Europa umher, ist ständig in Bewegung, bringt dabei aber kaum eines seiner Werke in eine endgültige Fassung. Es ist die Vielfalt der Welt, die er bewundert, die Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz, die in der Scholastik jedoch noch nicht als Grundlage menschlichen Seins erfasst wird; bei ihm aber gilt sie als Voraussetzung für ein neues Menschheitsideal. So liegt auch der bei Petrarca sich anbahnenden humanistischen Geisteshaltung – im Zusammenhang mit der Vielfalt der Welt – ein grundlegend philosophisch-theologischer Streit zu Grunde: das Universalienproblem.  Als Ausgangspunkt dieses Streits gilt die Ideenlehre Platons, der die These von einer eigenständigen Existenz der Ideen vertritt. Einfach ausgedrückt, könnte man sagen, dass diese Ideen als Begriffe, mitsamt ihren Eigenschaften bereits vor ihrer Bewusstwerdung durch den Menschen  immer vorhanden waren. Von diesen ewigen und unveränderlichen Formen – nicht nur von Gegenständen, Vorgängen oder Eigenschaften, sondern auch von Regeln, Tugenden oder Werten, also von einem absoluten Ganzen – leiten sich alle Dinge dieser Welt ab. Für die Vertreter des Nominalismus’ dagegen sind alle Allgemeinbegriffe gedankliche Abstraktionen und Konventionen, die von den Menschen erst mit einem Namen bedacht werden müssen. Daraus ergibt sich, dass für Machtkonzentrationen und ihren Legitimierungen – Absolutismus oder dogmatische Kirche – durch die Infragestellung der Idee eines von Gott abgeleiteten Königtums oder der Unfehlbarkeit des Papstes eine ernste Bedrohung entstand. Im Mittelpunkt des mittelalterlichen Universalienstreits stand die Heilige Dreifaltigkeit, in der der Heilige Geist, Gott und sein Sohn in einem Wesen vereint sind, während  die Nominalisten entgegenhielten, dass dann drei Götter existieren müssten, da es für sie den abstrakten Begriff einer Dreifaltigkeit in der Realität nicht geben konnte. Vor allem im Spätmittelalter und in der Folge im Zeitalter der Aufklärung bedeutete die überwiegende Hinwendung zur nominalistischen Geistesshaltung eine zunehmende Emanzipation von Autoritäten, die das Göttliche für sich in Anspruch nahmen, was schließlich zum ungeheuren Aufschwung der Naturwissenschaften und zur Trennung von Kirche und Staat führte.

Über all das sprachen wir, während wir die eher ungewöhnliche Bergwanderung auf den Berg Petrarcas, den Mont Ventoux, unternahmen. Natürlich verlief unsere Besteigung unter völlig anderen Umständen als seine. Kein besorgter Hirte begegnete uns, der uns geraten hätte umzukehren – wegen der Wildheit des Berges –. Auch verirrten wir uns nicht ständig, so wie es Petrarca geschah nach unten, sondern schritten alle, die ganze Gesellschaft, die sich am Abend zusammengefunden hatte, den herrlichen Tag genießend, zügig der Höhe zu. Kein Zweifel mischte sich in unser wunderbaren Gefühl des Gehens, des Schauens und Genießen. Kein Augustinus vermieste uns den Genuss der Bergtour. Wir sind der Ungeduld des Herzens, Verbotenes zu schauen und sie zu genießen längst entwachsen. Zu selbstverständlich erscheint uns das Gehen durch Geröll, Gestrüpp und das Erklimmen von steilen Hängen. Wir sprachen miteinander, lachten, sahen hinauf und freuten uns darüber, das soeben oben Gesehene erreicht zu haben. Manchmal mussten wir die asphaltierte Straße queren und warten, bis uns ein freundlicher Autofahrer den Weg freigab.

Am Gipfel angekommen, sahen wir über die Alpen hinweg, hinüber in die Ferne. Tiefes Blau umfing uns und Ehrfurcht schlich sich in unsere Euphorie, als wir an das Eigentliche unserer Wanderung dachten: Petrarcas Seelenzustände nachzuvollziehen, um dadurch den Anbruch einer neuen Zeit und einer neuen, modernen Ästhetik zu verstehen.

Wir fragten uns aber auch, im Zusammenhang mit Petrarca und seiner Erfahrung, die den Menschen umgebende Landschaft nicht nur nach ihrer Nützlichkeit oder ihren Gefahren, sondern auch wertfrei in ihrer äußeren Schönheit zu sehen und zu erfassen, wie sich denn diese Veränderung der Wahrnehmung von Welt in der Kunst gezeigt hat. Was hat sich denn in jener Epoche, in der Petrarca die Landschaft aus einer völlig anderen Perspektive wahrgenommen hat als die mittelalterlichen Menschen es taten, in der Malerei getan? Bzw. wie haben die Künstler von nun an die Welt nicht nur gesehen, sondern wie haben sie diese auf ihren Bildern gezeigt? Wer aber aus der Zunft der Maler könnte dazu ein besseres Beispiel abgeben, als jener Künstler, der die symbolhafte Handwerkskunst des Mittelalters in eine neue Zukunft führte: nämlich Giotto di Bondone. Daher entschlossen wir uns spontan, die Capella degli Scrovegni – auch Arenakapelle genannt – in Padua aufzusuchen, um dort die einzigartigen Fresken zu bestaunen, die Giotto in den Jahren 1304 bis 1306 schuf. So führte uns die Reise zuerst durch die endlosen, blühenden und duftenden Lavendelfelder der Haute-Provence über Sault, Sisteron und Gap nach Briancon, zur höchstgelegenen Stadt Frankreichs und von dort über die Grenze bei Montgeneve hinüber nach Susa im italienischen Piemont, an Turin, Mailand und Verona vorbei, um endlich, nach dieser langen Fahrt unser Ziel Padua zu erreichen.

6 Giotto di Bondone.

Nach einer längeren Wartezeit, die wir plaudernd auf einer Bank im Park verbrachten, schickten wir uns endlich an, die vor uns liegende Capella degli Scrovegni  zu betreten.

     Außenansicht                

Diese Kapelle, auch Arenakapelle genannt, wurde vom Padueser Bankier Enrico Scrovegni auf den Ruinen eines römischen Theaters in den Jahren 1302 bis 1305 in Gedenken an seinen Vater Rinaldo Scrovegni erbaut und von Giotto mit jenen Bildern versehen, die uns im Folgenden interessieren werden. Zuvor aber kommt unseren Besuchern noch einmal die Commedia in den Sinn, in der Vergil Dante während ihrer Höllenreise an Rinaldo Scrovegni – einem ehemaligen Bankier, Wucherer und Vater des Erbauers der Kapelle – vorbeiführt, der dort mit Tyrannen, Mördern und Straßenräubern in einer Wüste sitzend unter einem glühenden Feuerregen unsägliche Qualen erleidet. Ein Kaufmann nämlich, der im Mittelalter Geld gegen Zinsen verlieh, war des Teufels. In der Höllenikonographie der kirchlichen Kunst fehlt in kaum einer Darstellung, wenn es um die Hölle geht, der Wucherer mit dem Geldsack in den Händen oder um den Hals.

So erhängt zum Beispiel in der Abteikirche von Conques in der französischen Region Okzitanien im Département Aveyron der Teufel den Wucherer am Galgen und ein Fresko in der Pfarrkirche von Chaldon in England zeigt, wie zwei Teufel einem Wucherer mit einer Eisengabel in den Kopf stechen.[40] Solche abschreckende Bilder gibt es zur Genüge, obwohl die Wucherer nicht – wie in Dantes Göttlicher Komödie – in die Hölle gehören, sondern ins Purgatorium, da ihnen die Kirche einen Weg zur Rettung ihrer Seelen offenhalten wollte. Welchen Sinn hätten denn sonst die vielen Spenden, Stiftungen, Ablasszahlungen an die Kirche gehabt, wenn ohnehin jede reuige Tat vergeblich gewesen wäre? Daher nahm auch Rinaldo Scrovegnis Sohn Enrico kein Risiko auf sich und hoffte, mit dem gottgefälligen Bau der Kapelle und deren kunstvollen Ausschmückung dem vielleicht doch im Fegefeuer sitzenden Vater die Zeit der Qualen zu verkürzen. In der Commedia jedenfalls brüllt Rinaldo dem vorübergehenden Dante durch den Höllenlärm folgende Worte zu:

E un che d’una scofra azzurra e grossa

segnato avea lo suo sacchetto bianco,

mi disse:”Che fai tu in questa fossa?

Or te ne va‘; e perquè se‘ vivo anco,

sappi che il mio vicin Vitaliano

sederà qui dal mio sinistro fianco.

Con questi fiorentin son Padavano;

spesse fiate m’intronan gli orchietti,

gridando:Vegna  il cavalier sovrano

che recherà la tasca con tre becchi.”

Qui distorse la faccia, e di fuor trasse

la lingua come bue che il naso lecchi.

Doch einer, der als Wappen eine blaue

Trächtige Sau auf weißem Säckchen führte,

Rief mir:“ Was tust du hier im Höhlenbaue?

Pack dich! Da dich der Tod noch nicht berührte!

Hör: Nachbar Vitalian[41]wird mit mir teilen

Den Platz bald, den er links von mir sich kürte.

Ich muss hier bei den Florentinern weilen,

Die mit Gebrüll mich Paduaner schrecken:

'Her möge aller Ritter Ausbund eilen,

Auf dessen Tasche sich drei Böcklein recken!“

Dann wies die Zunge er aus schiefem Munde

Gleich Rindern, die sich ihre Nase lecken. –

Giotto di Bondone also, der die unvergleichlich schönen Fresken in der Kapelle malte, wurde 1266 – ein  Jahr nach Dante – in einem kleinen Dorf in der Nähe von Florenz geboren. Die beiden Künstler waren später eng befreundet und Dante besuchte auch Giotto in Padua als dieser dort sein Werk vollendete. Nun gibt es zwei erklärende Versionen, die Giottos Weg zum außergewöhnlichen Maler für sich beanspruchen. Die eine – wahrscheinlichere – erzählt davon, dass Vater Bondone seinen Sohn für das Wollweberhandwerk bestimmt hatte. Doch auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle blieb der Junge vor der Werkstatt des Malers Cenni di Peppo, genannt Cimabue (1240 – 1302) stehen, schaute neugierig hinein, bis ihn der damals schon berühmte Mann zu sich in die Werkstatt holte. Als der Vater Giottos eines Tages vom Wollwebermeister Auskunft über das Fortkommen seines Sohnes erbat, meinte dieser, er hätte den Burschen schon länger nicht mehr gesehen. So kam an den Tag, wo der Knabe seine Tage verbrachte und als sein Vater mit Cimabue sprach, lobte der das große Talent des  Sohnes und überredete ihn, Giotto bei ihm in die Lehre zu geben. Von Lorenzo Ghiberti, Bildhauer, Goldschmied und Architekt (1378 – 1455) – von dem wir noch hören werden – stammt dann eine zweite Version, die hundert Jahre später von Giorgo Vasari, Maler, Architekt und Biograph, Architekt der Uffizien und des Palazzo Pitti in Florenz (1511 – 1574), noch ausgebaut wurde, offenbar als Ursache des Verlangens seiner Zeit nach dem Ungewöhnlichen und Genialen.[42] In dieser Version sollte Cimabue, als er auf der nach Bologna führenden Straße unterwegs war, einen Knaben bemerkt haben, der auf dem Boden saß und das Bild eines Schafes auf einen Stein ritzte. Cimabue war außer sich über das Talent des Jungen und war überzeugt, dass es die Natur selbst war, die ihm solche Kunst verlieh und die niemand ihm gelehrt hatte. So nahm er den Knaben als Lehrling zu sich.

Während sich also – in welcher Version auch immer – Giottos Weg zur Kunst erfüllte, waren es im 13. Jahrhunderts drei Themen, mit denen sich die Maler vornehmlich beschäftigten: mit der Darstellung der Madonna, des Kruzifix‘ und dem Leben des im Jahre 1226 verstorbenen Franz von Assisi. Während man für die Darstellung des Letztgenannten aus einigen rohen Porträtversuchen erst einen Typus entwickeln musste (weil es zu jener Zeit lebensecht anmutende Porträts noch nicht gab, wurden an ihrer Stelle Idealvorstellungen gemalt), konnte man bei den beiden ersten Themen auf die vorhergehende – byzantinische – Vorlagen zurückgreifen und diese umgestalten. Diese Umgestaltung kann beispielhaft schon auf jenem Madonnenbild Cimabues beobachtet werden, in dem die Engel – bis dahin nur verkleinert und symbolhaft dargestellt – zu Gestalten von fast gleicher Größe wie die Madonna wurden und, übereinander angeordnet, wie Wächter und Beschützer der heiligen Jungfrau wirken. Dabei strahlt der Ausdruck der Gesichter bereits leidenschaftliches Leben aus:  die Figuren in ihrer Konturenzeichnung vermitteln nämlich schon ansatzweise einen – neuen – ästhetischen Eindruck indem die alte – byzantinische Form – mit einem neuen gärenden Inhalt gefüllt wurde.[43] Cimabue befreite sich von den scharfen, harten Linien und Profile der griechischen Vorbilder und gestaltete die Gewänder und Beiwerke lebendiger, natürlicher und weicher. Schon Vasari – der über die byzantinische Kunst mit Geringschätzung urteilte – spricht über Cimabue als von dem Ersten, der Licht in die erloschene Kunst angezündet und den vorangegangenen starren Kunstformen den Lebensfunken eingeflößt hat: er hat sie sozusagen vom Tode erweckt. Nach ihm folgten dann die anderen, die die Kunst zur freien Entfaltung brachten. Cimabue starb im Jahre 1302 und wurde in Santa Maria del Fiore in Florenz begraben. Sein Grab erhielt folgende Inschrift:

Wie Cimabue glaubte, die Feste der Malkunst zu halten;

Hielt er sie lebend auch; jetzt hält er die Sterne des Himmels.

Auf diese Grabinschrift spielte auch Dante im elften Gesang des Fegefeuers an und meinte damit, dass der Ruhm Cimabues viel größer gewesen wäre, wenn die Leistung seines Schülers Giotto diesen nicht überstrahlt hätte.

Als erster Stern im Kunstgebiet zu funkeln,

Wähnt Cimabue; nun strahlt Giottos Sonne

Den Glanz des Cimabue zu verdunkeln.

Beachten wir, wie sich im folgenden Bild Cimabues die unpersönliche, byzantinische Starrheit der Gesichtsausdrücke aufzulösen beginnt und von einer neuartigen Lebhaftigkeit abgelöst wird.

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/be/Cimabue_Trinita_Madonna.jpg

Cimabue: Thronende Madonna, 1272 – 1274. Tempera auf Holz, 385 cm x 223 cm. Uffizien, Florenz.

Drei Reifeperioden bestimmen das Werk Giottos. Der ersten, der frühen Lernzeit von 1286 bis 1298, folgt die Perfektion während des Aufenthaltes in Rom und den Arbeiten in Assisi und dann – in der Arenakapelle – die Stilvollendung von 1304 bis 1306. Die Aufgabe, die ihm dort gestellt wurde, war gerade die Herausforderung, die er sich nun wünschte, um seine Ideen, die er schon in seinen Fresken in der Oberkirche von Assisi in eine neue Malerei einfließen ließ, weiter zu vervollkommnen. Der ganze Zusammenhang des Erlösungswerkes Christi sollte wie ein großes Bilderbuch die Wände vollständig bedecken und Giottos unglaublich überschwellendes Gefühl und seine Phantasie solcherart zum Ausdruck bringen, wie es zuvor geschah, und in diesem Ausmaß, auch niemals mehr danach geschehen wird.

Die dramatische Gestaltung der den Bildern innewohnenden Motive aus den Mysterien, die in der Überlieferung der historischen Autoren noch keine theatralisch- szenenhafte Bewegungen kannten, erreichte der Künstler in dreifacher Weise: Die Motive der einzelnen Bilder im Zyklus wurden so ausgewählt, dass sie – aneinandergereiht – einen sinnvollen Zusammenhang der in den Evangelien erzählten Geschichten ergeben. Zweitens verdichtete Giotto die Handlungen dieser Geschichten so, dass jede einzelne Gestalt und jeder einzelne Gegenstand im Bildgeschehen zum Verständnis des Geschehens beitragen und zum Ganzen in eine klare Beziehung treten. Drittens wird der Zusammenhang durch die dramatische Steigerung der Gefühlsäußerungen – Gestik und Mimik – in den aufeinanderfolgenden Bildern deutlich gemacht. Die Bilder sind also keine starr eingefrorene Momentdarstellungen – obwohl manche Szenen dem Betrachter das Walten der unabänderlichen Vorsehung als unveränderliches Symbol bewusst werden lassen – sondern sind Verweise, kraft eines in der vorangegangenen Malerei nicht existierenden Stilgefühls, auf jeden Moment, der im Bild gezeigt wird, in dem der jeweils vorausgegangene Moment spürbar ist, und zugleich auch auf das folgende Geschehen. Dadurch wird das räumliche Geschehen im Bild auch in ein zeitliches verwandelt, so dass die aneinandergereihten Bilder beim Betrachten wie in einem Zeitraffer erlebt werden.

Eine weitere Besonderheit an Giottos Ereignisbildern ist also – wie oben schon darauf hingewiesen wurde – die Kunst, Ereignisse, die vor langer, dem Menschen des Mittelalters nicht mehr vorstellbaren Zeit geschahen, so in seine gegenwärtige Welt herüberzuholen, dass er dem dargestellten Geschehen so folgen konnte, als hätte es soeben stattgefunden oder die bekannten Folgen des Geschehens in Kürze eintreten würden. Die Darstellung zieht den Betrachter – der aus den Erzählungen mit dem Motiv vertraut ist – sozusagen in seinen Bann und provoziert durch eine zuvor nicht gekannte Perspektivität und einer dem Theater nachempfundenen szenischen Gestaltung  eine zwingende Miterlebbarkeit.[44]

Ebenso wie in allen Bildern der Heilsgeschichte  die drei Momente 'vorher – jetzt – nachher' den Bildaufbau bestimmen, so können sie auch im eingefügten Bild, Die Gefangennahme, verdeutlicht werden.

File:Giotto - Scrovegni - -31- - Kiss of Judas.jpg

Giotto die Bondone: Die Gefangennahme, Fresko, 1303, Arenakapelle Padua.

 

7 Erwin Panovsky[45] und Max Imdahl[46]. Das beispielhafte Lesen eines Bildes an Giottos Fresko „Die Gefangennahme“ in der Arenakapelle.

Um das zu erreichen wird es aber notwendig sein, mittels einer – von Erwin Panofsky vorgeschlagenen – ikonographisch- ikonologischen Interpretationsmethode drei Ebenen des Bildverständnisses zu unterscheiden, die zwar hier als nicht zusammenhängende Forschungsoperationen erscheinen, miteinander aber zu einem einzigen organischen und unteilbaren Prozess verschmelzen.[47] In der ersten Interpretationsebene spricht Erwin Panofsky von einem primären oder natürlichen Sujet (Bedeutungsebene) oder von einer vor-ikonographischen Beschreibung. Diese beruht auf der praktischen Erfahrung bzw. auf der Vertrautheit mit Gegenständen und Ereignissen. Der Betrachter eines Kunstwerkes weiß zwar, wie unter wechselnden historischen Bedingungen Gegenstände und Ereignisse durch Formen ausgedrückt werden, hat aber noch keine Kenntnis von den Themen oder den Vorstellungen, die durch die Darstellung von Gegenständen und Ereignissen übermittelt werden.

 So sieht er vor allem eine Ansammlung von Menschen mit Helmen, Spießen, Fackeln und Keulen, die von zwei Figuren in der Mitte in zwei Gruppen unterteilt wird, wobei der kleinere Mann den größeren mit seinem Mantel fast vollständig umhüllt und anscheinend im Begriffe ist,  den anderen zu küssen. Rechts von den beiden sieht der Betrachter – kleiner und etwas nach unten versetzt – einen erschrockenen, gleichzeitig aber aggressiv wirkenden Mann, der mit seinem rechten Arm und seinem Zeigefinger auf den größeren, umarmten Mann deutet. Links im Bild steht mit dem Rücken zum Betrachter jemand, der ein Gewand, das ganz links sichtbar ist, festhält. Über ihm ist ein jemand gerade dabei, seinem Vordermann ein Ohr abzuschneiden, das bereits an dessen Wange herabhängt. Wesentlich an der Darstellung der soeben beschriebenen Figuren ist ihre unterschiedliche Ansicht, die als exemplarisch für die Körperlichkeit sämtlicher Figuren Giottos steht. So ist der Mann zur Linken eine Rückenfigur, die beiden sich umarmenden Figuren in der Mitte sind in der Seitenansicht zu sehen und der Mann zur Rechten – unzweifelhaft ein Pharisäer – im Dreiviertelprofil.

In dieser Schilderung wird ein erschrockener, aber gleichzeitig aggressiver Mann beschrieben, so dass zur allgemeinen Tatsachenbedeutung noch eine weitere Bedeutung hinzukommt, nämlich die Einfühlung. Um sie zu verstehen, benötigt man eine gewisse Sensibilität, die jedoch noch immer ein Bestandteil der praktischen Erfahrung ist. So kann man die erste Ebene der Interpretation – jene der primären oder natürlichen Bedeutung – als tatsachenhafte und ausdruckshafte Bedeutung  klassifizieren.

Die zweite, von Panofsky als ikonographische Analyse bezeichnete Ebene – das sekundäre Sujet – setzt bereits die Kenntnis literarischer Quellen voraus, also die Vertrautheit mit bestimmten Themen und Vorstellungen. Das heißt, dass der Betrachter bei der Interpretation unseres Bildes ein Vorauswissen von Evangelientexten besitzt, die es ihm erlauben, die soeben beschriebenen Figuren als bestimmte, ihm aus der Erzählung bekannte Personen zu erkennen.

Er wird wissen, dass es sich um den Judaskuss handelt und dass die größere Figur Jesus ist und der ihn mit dem Mantel umhüllenden Mann Judas. Im Markus- und Lukas-Evangelium ist die Rede von Schergen mit Knüppeln und von einem Begleiter Jesus‘ – es handelt sich um Petrus – der einem Soldaten – Malchus[48] – das Ohr abschlägt. Bei der Figur des Schergen in der Rückenansicht handelt es sich um einen Soldaten, der das Gewand eines Jünglings festhält, der Jesus gefolgt ist: Er aber ließ das Linnen fahren und floh nackt, berichtet der Evangelist Markus und im Lukas-Evangelium Jesus sagt: Judas, mit einem Kuss verrätst du den Menschensohn?

Auf der dritten Ebene, der ikonologischen Synthese, die die eigentliche Bedeutung   bildet, geht es um die Vertrautheit des Betrachters mit den wesentlichen Tendenzen des menschlichen Geistes. Das heißt, wie unter wechselnden historischen Bedingungen wesentliche Tendenzen des menschlichen Geistes durch bestimmte Themen und Vorstellungen ausgedrückt werden.

Daher ist es zum Beispiel nicht so, wie das Bild  Gefangennahme Jesu oft beschrieben wurde, dass nämlich Jesus angesichts der ihn umringenden Schergen in Machtlosigkeit und Demut erstarrt wäre, weil er durch die Umarmung des Judas und der ihn umgebenden Soldaten nahezu vollkommen vereinnahmt erscheint. Es ist vielmehr so, dass der Betrachter von Giottos Darstellung kaum von einer Mitangst oder von Mitleid ergriffen werden kann, denn der Gestus, mit dem sich Jesus präsentiert, ist der Gestus eines Mannes, der das drohende Geschehen um ihn herum völlig ignoriert. Größer und imposanter erscheinend als alle ihn umgebenden Figuren versenkt er seinen Blick in jenen des Judas. Viel anschaulicher wie der Kunstkritiker Henry Thode kann man diese Szene kaum beschreiben: „Die Nacht bricht herein, und der Augenblick kommt, in welchem er den Feinden überliefert wird. Zum Zeichen des Mordes, erschallt der teuflische Befehl des Pharisäers. Hass und Gemeinheit umbrandet, lodernde Fackeln, Lanzen und Keulen umstarren den Wehrlosen. Schon hat der Verräter sein Opfer ereilt, mit seinem Gewand es umgarnend, schon wird der Gruß der Liebe zum Zeichen des Mordes, erschallt der teuflische Befehl des Pharisäers, rafft sich Petrus zur ohnmächtigen Gewalttat auf, entflieht der andere Jünger. Nur eines aber gewahrt der Dulder: des Verräters Auge, und sein Blick trifft die Sünde.“

Diese dramatische Schilderung der Gefangennahme Jesu' deutet aber über die Qualität des von Panofsky vorgeschlagenen Dreiphasenmodells zur Interpretation von Kunstwerken hinaus. Der Text führt uns zu Max Imdahls Methode der Ikonik, die im Gegensatz zu Panofskys ikonographisch-ikonologischen Modells nicht mehr alleine von historischen Voraussetzungen ausgeht, sondern von der individuellen Sprache des Künstlers. Während die Übertragung literarischer Texte in anschauliche Bilder zu einem wiedererkennenden Sehen führt (die Texte und Erzählungen der Heilsgeschichte sind dem Betrachter bekannt), wandelt sich dieses – so Imdahl – in eine ikonische Sichtweise. Imdahl lehnt das ikonographisch-ikonologische Modell nicht grundsätzlich ab, aber seine Methode bezieht auch das mit ein, was über das rein Gegenständliche hinausgeht. So wird Imdahl wird zu einem der bedeutendsten Interpretatoren gegenstandsloser Kunst, obwohl er – oder besser gesagt weil er sich – über die Fresken in der Arenakapelle erschöpfend mit Panofskys Methode und der Interpretation gegenständlicher Kunst auseinandergesetzt hat.[49] Während bei Panofsky die Interpretation auf eine Analyse der historischen Veränderungen in der Gestaltung von Kunstwerken abzielt und er so praktisch ein historisches Dokument betrachtet, um an diesem die der jeweiligen Epoche entsprechenden symbolischen Revolutionen, Formen und Ordnungen herauszuschälen, geht es bei Imdahl darum, das dem Bild innewohnende, eigentliche, spezielle Künstlerische des Kunstwerkes zu beschreiben. So erschließt die Ikonik jenen Aspekt, der sich maßgeblich für die Analyse der (gegenstandslosen) Kunst des 20. Jahrhunderts eignet, bietet aber auch in der vormodernen und modernen Kunst Einfühlungsweisen an, die in Panofskys Ikonologie kaum berührt werden. Es ist – so Imdahl – der kaum bis ins Letzte in Worte zu fassende Ausdruck eines Kunstwerkes, der sich dem Wittern und Spüren als zielgerichtete Analyse erschließt.[50]

In der Analyse der Fresken Giottos in der Arena Kapelle in Padua geht es Imdahl also vor allem darum, auch das in die Bildanalyse mit einzubeziehen, was über die Übersetzungsleistung Text – Bild hinausgeht, um dabei zu einer Binnenerzählung zu gelangen, die innerhalb des Bildes selbst, und nur durch das Bild, deutlich wird. Imdahl untersucht in seiner Analyse die im Bild vorhandenen Aspekte – wie Bewegungs- und Handlungsabläufe, Positionen, Blickrichtungen usw., die weiter führen, als die von Giotto verwendete Textvorlage. Es handelt sich dabei um die meditationes vitae christi, einer Meditationsliteratur, die die persönliche Anteilnahme – so wie wir sie aus den Predigten des Franz von Assisi kennen – am neutestamentischen Geschehen anregen soll, indem sie die persönlichen Empfindungen hervorhebt auf die Bewegung der Seele appelliert. Auf diese Meditationsliteratur konnte schließlich die Malerei die Funktion der sinnlichen Wahrnehmung am besten erfüllen. Und unter der mannigfachen Meditationsliteratur erfreuten sich die meditationes vitae christi besonderer Beliebtheit. Sie entstand im Bereich der franziskanischen Mystik und erhielt die Bezeichnung Pseudo Buenoventura. 'Pseudo' deswegen, weil am angeblichen Verfasser, dem Heiligen Buenoventura, Zweifel aufgekommen waren. Dennoch erzählen die meditationes in einfacher Sprache vor allem Kindheitsgeschichten und die Passion Jesu. Dabei wird die Schilderung immer wieder von Aufforderungen an den Leser (oder den Zuhörer) unterbrochen und dieser aufgefordert, zu sehen, zu überlegen, wie eine Szene sich abspielt und was die beteiligten Figuren fühlen könnten.

So griff auch Giotto ganz im Sinne der meditationes vor allem jene Motive auf, die die Geschehen emotionalisieren, wie es auch im Bild Darbietung im Tempel deutlich wird: Giotto bezieht sich nicht nur auf die Kernaussage des Kapitels bei Lukas (2.22 – 35), nämlich auf die Prophezeiung, Simon werde erst sterben, wenn er den Messias gesehen habe, stattdessen steht das Verhalten des Kindes im Mittelpunkt, das auf die Arme der Mutter zurückmöchte.[51]

Imdahl macht also deutlich, dass Giotto neben der Textvorlage seine eigene künstlerische Könnerschaft eingesetzt hat, um dem Betrachter einen ihm eigenen emotionalen Zugang zu den dargestellten heilsgeschichtlichen Ereignissen zu ermöglichen. Dieses sehende Sehen, das Imdahl vom wiedererkennenden Sehen abgrenzt, bedeutet, dass der Betrachter beim Sehen den eigentlichen Bildsinn erkennt, der aus der ikonographisch-ikonologischen Interpretation nicht ersichtlich ist. Im wiedererkennenden Sehen  wird dem Betrachter eine ihm – aus Erzählungen – vertraute Geschichte bildlich nahegebracht, während sich das sehende Sehen auf einer dem Künstler selbst entsprungenen Idee beruht, die dem Betrachter eine außerhalb der bekannten Geschichte befindliche Empfindung vermittelt.

Ähnliches Foto

Arenakapelle (um 1305), Padua. Giotto: Darbietung im Tempel. (Das Kind möchte, ganz unheilig (!) auf die Arme der Mutter zurück.)

Eine über die drei Ebenen der ikonographisch-ikonologischen Interpretationsmethode hinausgehende Qualität aller Bilder in der Arenakapelle besteht aber auch darin, dass sie immer zwei grundsätzliche Elemente beinhalten: Zum einen zeigen die Bilder stets ein sinnvolles Ganzes, ein System, in dem sich die Figuren und die Dinge nicht unabhängig – wie zuvor in den Aggregatbildern der mittelalterlichen Kunst – voneinander präsentieren, sondern nur in ihrer Gesamtheit einen Sinn ergeben und zweitens liefert diese Gesamtheit jeweils eine komplexe szenische Komposition. Um diese beiden Aspekte zu gestalten, bediente sich Giotto grundlegender, neuer, bis dahin unbekannter Mittel. In der 'Gefangennahme' ist es – wie es im Bild oben verdeutlicht wurde – eine schräge Linie, die vom Zeigefinger des Pharisäers ausgeht, durch die Köpfe von Judas und Jesu hindurch und über eine Keule führt. Gäbe es diesen Zeigegestus nicht, wäre das Bild seiner szenischen Darstellung und seiner Ganzheitsstruktur beraubt, denn gerade der Zeigegestus ist es, der den Betrachter selbst in das Bild hineinführt und zum Miterleben und Mitfühlen drängt. Diese Schräge bedingt aber noch etwas anderes, nämlich eine neuartige Perspektivität: Jesus überragt Judas an Körpergröße und blickt in überlegener Weise auf diesen hinab.

Jede einzelne, in den Bildern in der Arenakapelle dargestellte Szene erzählt nicht nur in ihrem gesamtheitlichen Aufbau eine Sequenz der Heilsgeschichte, sondern gipfelt gleichzeitig in einem einzigen dramatischen Augenblick: In der 'Gefangennahme' sieht der Betrachter wie Judas offensichtlich im Begriffe ist, Jesus zu küssen, ohne dass der Kuss vollzogen wird. Und inmitten der aufgewühlten Aktivität um die beiden Gestalten herum spürt der Betrachter einen bedrückenden Moment des Stillstandes im Zentrum des Geschehens. So werden nun die drei zeitlichen Elemente – vorher-jetzt-nachher –, die am Beginn der Bildbetrachtung angesprochen wurden, deutlich. Hatte es vor diesem Moment, in dem Jesus seinen Blick in die Augen des Judas senkte, den Anschein, Jesus würde sich demütig und Mitleid erregend in die unvermeidliche Gefangenschaft ergeben, so schlägt die Aktivität des Judas, im wahrsten Sinne des Wortes, augenblicklich in Passivität und die, zuvor Jesus angedachte Schwäche in Stärke um. So aktualisiert Giotto mit diesem Moment des Stillstandes die im Vorhinein schon bestimmte und ewig dauernde Unbezwingbarkeit Jesu.[52]

Es betrifft also den Aspekt einer neuartigen Ästhetik, den Imdahl als den ikonischen bezeichnet. Das ist jener Bereich, der nicht mit dem Vorauswissen des Betrachters in Verbindung gesetzt werden kann, sondern sich in der künstlerischen Qualität äußert. Nachdem sich zuerst Cimabue, zaghaft und nach ihm, Giotto von der reinen Nachahmungsmalerei, beziehungsweise von der symbolischen Bildgestaltung des Mittelalters, entfernt haben, entströmt ihren Geistern eine eigenständige Qualität der Bilder und deren Formgestaltung. Giotto bringt den Betrachtern das ihnen Bekannte in ihrer eigenen Zeitlichkeit nahe, indem er die Figuren nicht nur in einer jedem verständlichen Form malt, sondern er zeichnet sie in allen Ausformungen ihrer Emotion. Da zeigt sich seine Kunst, neben der ausdrucksvollen Mimik und Gestik der Figuren, auch im Gebrauch und der bewussten Verwendung von Farbigkeit, den Schatten und der Ausarbeitung eines Vorder- und Hintergrundbereiches, der die mittelalterliche Zweidimensionalität in der Malerei – der Zentralperspektive vorauseilend – ablöst und den Betrachter, wie durch ein Fenster hindurch, in den Bildraum blicken lässt. Dieser ästhetische Aspekt, der sich von der vorausgehenden, nur Vorbilder nachahmenden, byzantinischen und symbolhaften Kunst durch ein künstlerisches Wollen eines freien und unabhängig denkenden Individuums unterscheidet, veranlasst nun der Frage nachzugehen, warum sich dieser Wandel, der sich nicht nur in Giottos Kunst, sondern auch in Petrarcas Subjektbezogenheit und in Boccaccios unerhörten Geschichten zeigt, vollzogen hat. Es wurde schon oben ein Paradigmenwechsel angesprochen, der sich auch schon in Dantes Ausbruchsversuchen aus der mittelalterlichen, vertikalen und universalistisch geordneten Welt hin zu einem von Kontingenz geprägten Wesen des Universums angedeutet hatte,  sich nun aber – ein halbes Jahrhundert später –  bei Petrarca in einer nominalistischen Hinwendung zu einer innerweltlichen Vielfalt der menschlichen Existenz, in der jedes Individuum einen eigenen Willen und ein eigenes freies Wollen innehat – wie es Pico della Mirandola formulierte – äußerte. Abgesehen von einem soziologischen Aspekt, der sich vor allem – wie erwähnt – in dem immer selbstbewusster werdenden bürgerlich-kaufmännischen Stand zeigte, der immer mehr an Einfluss gewann,  ist auch eine philosophische Deutung angebracht.

Eines der wesentlichsten Merkmale dieser vom Nominalismus geprägten neuen Zeit – wobei das universalistische Denken keineswegs als überwunden zu bezeichnen ist, sondern noch weit in bis ins 19. Jahrhundert hineinreichte – war, dass die starre Form oder die Idee der Dinge, die unveränderlich zum letzten Grund zurückführte, ihre Berechtigung verloren hatte. Die festgefügte Verallgemeinerung der Dinge bröckelte und wurde durch besondere, freie Individualitäten ersetzt, die nun selbständig – wie aus einem Gefängnis befreit – durch eigene ursprünglich-geistige Aktivitäten neue Formen und damit auch neue Wirklichkeiten schufen.

 

8 Boccaccios Novellen und die wiedergefundene Freude am Leben.

Es steht außer Zweifel, dass die soeben beispielhaft präsentierten Taten und Werke des heiligen Franz, des Malers Giotto, des höllenreisenden Dantes und Petrarcas, Geburtshelfer einer neu anbrechenden Zeit waren. Da gesellt sich aber noch einer hinzu, nämlich Giovanni Boccaccio, der mit seinen Novellen, die sich nicht mehr mit Höllenqualen und Jenseitsängsten befassen, sondern im Unterschied zu Dantes Werk die irdischen Verirrungen, Verstrickungen und Verwirrungen einer, im 13. und 14. Jahrhundert entstandenen, neuen bürgerlich-kaufmännischen Schicht in unterhaltsamer, komischer Weise darstellen. Die Bilder Giottos und Boccaccios Novellen werden von einer Gemeinsamkeit geprägt, die es vorher in der Kunst und in der Literatur nicht gab: beide entfalten ihre  Erzählungen in Erlebnisräumen, die der Betrachter mit seinen Augen betreten und so zum unmittelbaren Miterleben, im Sinne von hier und jetzt, gedrängt werden. Während aber bei Giotto die Kenntnis des Evangeliums vorausgesetzt werden muss und im Erlebnisraum schon Gelesenes oder Erzähltes nun bildlich dargestellt wird, erzählen die Novellen etwas zuvor noch nicht Dagewesenes, etwas Neues und spiegeln das Verhalten einer neuen Gesellschaft wieder, die im Erlebnisraum des Erzählten – einem Reagenzglas gleich – sich selbst erkennt. 

Giovanni Boccaccio (1313 – 1375)

Vom Vater in das, von Karl von Anjou beherrschte, Königreich Neapel geschickt, um dort Kirchenrecht zu studieren, lernt der junge Giovanni den Glanz des königlichen Hofes kennen, an dem humanistisches Denken, die Wissenschaften und die Künste genau gepflegt und hochgehalten wurden. Das war ganz das, was den jungen Florentiner mehr begeisterte, als das trockene Studium juristischer Gelehrsamkeit. In der königlichen Bibliothek von Neapel liest er mit Leidenschaft die antiken Autoren und lernt dort auch die Werke Dantes und Petrarcas kennen. Aber nicht nur diese beiden größten Dichtergestalten ihrer Zeit haben es ihm angetan, sondern auch deren – der Konvention dieser Epoche gemäßen – Musen, wie Dantes Beatrice, was soviel wie die Seligmachende heißt, oder Petrarcas Laura, deren Name auf den Lorberkranz hinweist, der ihn in Rom zum Dichterfürsten gekrönt hat. Boccaccios Muse heißt Fiametta – das Flämmchen – und ist im Gegensatz zu den beiden gerade genannten Damen, die von einer überirdischen, göttlichen Aura umgeben sind, eher irdischer Natur. Im Jahre 1338 sieht der 25-jährige Giovanni die schöne Neapolitanerin zum ersten Mal und entflammt augenblicklich in unsterblicher Liebe zu ihr. In Wirklichkeit hieß das Flämmchen Maria und war angeblich eine Königstochter und noch dazu verheiratet. Das war – so wird berichtet – kein Problem für das Liebespaar, denn Boccaccio erwarb sich die Freundschaft ihres Gemahls und einer ménage á trois stand nichts im Wege, bis sich das Flämmchen einer neuen Liebe zuwandte und Giovanni in tiefsten Liebesschmerz stürzte. Er litt entsetzlich unter diesem Trennungsschmerz;  in all seinen Erzählungen der folgenden Jahre kehrte das Flämmchen zurück, es war das Licht, das sein Leben erhellte, irdisch und hitzig und nicht unerreichbar wie Dantes Beatrice oder, die der Ruhmsucht Petrarcas gewidmete, Laura.

So war auch Fiametta das weibliche Sinnbild einer neu anbrechenden Zeit – einer Zeitenwende – die sich von der höfischen-feudalen Welt hin zu einer städtisch-bürgerlichen veränderte. Entstammten die beiden großen Dichter Dante und Petrarca doch noch zwei über ihm stehenden sozialen Schichten – Dante hatte seine Wurzeln im (niederen) Adel, Petrarca kam aus der Gelehrtenwelt und beide beherrschten neben dem Latein auch das Griechische und verfassten ihre Werke auch noch zum größten Teil in diesen Sprachen – war Boccaccio ein (noch dazu unehelicher) Spross eines bürgerlichen Kaufmannes. Dann aber, im Jahre 1348 veränderte sich das Leben der Menschen in Florenz radikal. Die Beulenpest, der schwarze Tod, fiel über die Stadt her und soll dabei mehr als die Hälfte aller Einwohner dahingerafft haben. Auch Boccaccios Vater fiel der Pest zum Opfer, Giovanni aber blieb verschont, weil er sich zu dieser Zeit in Neapel aufhielt. Dabei lernte er auch Petrarca kennen, mit dem ihn in der Folge eine tiefe Brieffreundschaft verband. Petrarca versuchte ihn dabei immer wieder zu überreden, seine Werke in Latein zu verfassen, um so in der Gelehrtenwelt mehr Aufmerksamkeit zu erlangen. Aber Boccaccio fühlte sich nicht so sehr zur hohen Kunst der Dichtung hingezogen, zur Verherrlichung der Klassik oder zur Darstellung hochgeistiger Themen. Das, was ihn bewegte, waren die Ereignisse der Gegenwart, das Leben selbst, wie es sich ihm in der Stadt präsentierte; so wie das Bild, das er von dem  pestverheerten Florenz in sich trug. Dieses Bild führte ihn zum Meisterwerk  Il Decamerone, das er 1349 zu schreiben begann. Den Rahmen dazu bildet dazu das von der Pest heimgesuchte Florenz, in dem sich eines Morgens drei jung Männer und sieben Mädchen treffen, um dem Schrecken der  Pest zu entfliehen und sich in eine arkadisch anmutende Hügellandschaft über Florenz zurückziehen, um dort das Ende des Grauens abzuwarten. Hier verbringt man die Zeit mit Spiel und Tanz und, um diese heillose Zeit möglichst erbaulich zu gestalten, beschließt man, sich Geschichten zu erzählen. Jeden Tag wird aus der Gruppe der zehn jungen Menschen eine Königin gewählt, die den Ablauf des Tages und die Reihenfolge der jeweils zehn GeschichtenerzählerInnen bestimmen würde. So sind es am Ende hundert Geschichten und der Titel des Werkes Decamerone ergibt sich demnach aus den griechischen Wörtern deka (zehn) und hemera (Tag). Allerdings entstammen diese Geschichten auch nicht nur der Erfindungskraft der Erzähler, sondern sind auf klassische oder zeitgenössische Volkserzählungen zurückzuführen. Sie wurden aber von Boccaccio in eine völlig neue Form gebracht, die in ihrer ungeheuren Freizügigkeit völlig im Gegensatz zu den bekannten  hochgeistigen  Geschichten und immer wieder erzählten Erlebnissen von Heiligen, ihren Martyrien oder ihren Klostergründungen (in den von wilden Tieren bevölkerten Gebirgen Italiens zum Beispiel) standen.

Der Reigen der Geschichten wird zwar auf der Grundlage der klassischen Heiligenlegenden eröffnet. Dann aber führt Boccaccio den Leser von den Heiligen schnell zum Thema geheuchelter Beichten, es geht um kriminelle Notare und um naive wie leichtgläubige Mönche. Es geht um religiöse Konflikte und um die Verkommenheit des Papsttums, aber auch um den in jener Zeit unbestimmten Begriff der Toleranz. Da geht es in einer der Geschichten um die, heute wieder unglaublich aktuell gewordene Frage, welche der Religionen denn die wahre sei. Wir kennen das Thema aus Lessings Drama Nathan der Weise. Und immer wieder feiert die Schönheit des irdischen Lebens Triumphe, immer wieder siegen die jungen Ehefrauen über ihre eifersüchtigen, meist alten Ehemännern und genießen mit ihren jungen Liebhabern, mit viel Schläue, List und Klugheit, das neu entstandene Selbstbewusstsein einer fast modern zu bezeichnenden  Freiheit.

So geht es in den Erzählungen eigentlich drunter und drüber: alles ist aus dem Leben gegriffen. Da betrügt ein krimineller Notar einen Mönch und wird trotzdem nach seinem Tod heiliggesprochen. In der nachfolgenden Erzählung will ein christlicher Kaufmann seinen jüdischen Freund zur Konversation überreden. Nach langem Zögern erklärt sich der Jude zu diesem Schritt bereit, will sich aber vorher noch in Rom einen Eindruck des obersten Christen, des Papstes, verschaffen. Der Jude reist trotz der Bedenken seines Freundes – dem, wie eigentlich jedem gebildeten Christen seiner Zeit, die römischen Zustände bewusst waren – nach Rom und berichtet nach seiner Rückkehr von den Zuständen, die er dort antraf: Lug, Trug, Unzucht, Gier und Korruption. Aber dann erfolgt die jeder Geschichte des Dekamerone unterlegte Paradoxie, dass nämlich hier der Jude, ob dieser Ungeheuerlichkeiten der Christen, nicht entsetzt das Weite suchte, sondern derart von der Macht des Heiligen Geistes beeindruckt war, der mit  seiner überirdischen Kraft die Anzahl der Gläubigen stets vermehrte und nicht verminderte, dass er sich auf der Stelle taufen ließ. Aber das, was die Leser und Leserinnen am meisten in ihren Bann zieht, sind vielleicht nicht nur diese religiösen oder politischen Themen, sondern der in den meisten Geschichten enthaltene erotische Witz. Es geht quer durch die Betten der Bürger, der Bauern, der Nonnen und Grafen. Boccaccio formte – wie wir schon erwähnten – aus vielen, schon vorgegebenen, Erzählungen echte Novellen, beispielhafte Geschichten, geprägt vom Geist der Klugheit, Schläue, List und Weisheit des, dem Tode trotzenden, Menschen seiner Zeit. Daher ist Il Decamerone – was ihn von der jenseitigen Höllenreise Dantes unterscheidet – ein Buch gegen den Tod, er feiert die Schönheit des irdischen Lebens, die Freude am Dasein.[53]

Nachdem wir die Arenakapelle verlassen und uns vorgenommen hatten, die Stadt Padua und ihre Sehenswürdigkeiten – vor allem die Cathedrale di Santa Maria Assunta,  in der Petrarca einige Jahre bis zu seinem Tode Domherr gewesen war – zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal zu besuchen, führte uns unser Reisebus durch die vielbesuchten Thermenorte Abano und Montegrotto hinein in die unglaublich reizvolle Landschaft der Euganeischen Hügeln. Ihren Namen verdankt diese liebliche Landschaft vulkanischen Ursprungs dem Volk der Euganeer, eine halb-mythische, vor-italienische Volksgruppe. Dem römischen Geschichtsschreiber Titus Livius zufolge, sollten diese Ureinwohner von den Venetern und Trojanern vertrieben worden sein und besiedelten daraufhin das Gebiet um den Gardasee. Natürlich probierten wir auch den Wein den man in dieser Region trinkt. Er hat seine Wurzeln in Frankreich und so gedeiht auch hier ein hervorragender Merlot. Und, wo es Merlot gibt, kann auch ein Cabernet Sauvignon nicht weit sein. Eher rein italienischen Ursprungs ist aber der weiße Serprino, der hauptsächlich unter dem Namen Glera (Prosecco) als Basis für einen eigenen Schaumwein dient. So erreichten wir, vom Verkosten der Weine bestens gelaunt, nach kurvenreicher Fahrt durch die grünen, eng aneinander geordneten Weinberge, das eigentliche Ziel unseres Ausflugs:  jene Ortschaft, in der Francesco Petrarca die letzten vier Jahre seines Lebens, von 1370 – 1374, wohnte und dessen wenige übriggebliebenen Gebeine auch dort gegenüber der Kirche Santa Maria Assunta in einem mächtigen Sarkophag verschlossen sind.

Im Jahre 1630 wurde der Sarkophag gewaltsam geöffnet und Teile des Skeletts geraubt. Auch in den folgenden Jahrhunderten ist die Grabstädte mehrmals aufgebrochen worden und einzelne Knochen sind verschwunden. Anlässlich einer letzten Öffnung im Jahre 2004 stellte man fest, dass die verbliebenen Gebeine tatsächlich von Petrarca stammen, der Schädel aber offenbar zu den sterblichen Resten einer Frau gehörte!

Arquá Petrarca

Grabmal Petrarcas

Nun drängte die Zeit. Unser Reisebus hatte dringend eine Wartung nötig und unser Fahrer führte ihn in eine der nächsten Werkstätten, während wir in Monselice den Zug bestiegen. Unser Ziel war nun Florenz. Dort würde auch unser Bus wieder auf uns warten.

 

9 Eine traumhafte Zugfahrt.

Es war nicht nur eine Reise durch den Raum, die wir nun unternahmen, es war vielmehr eine Zeitreise, die uns vom ausgehenden Mittelalter hinüberführte in eine neu anbrechende Epoche, der Renaissance entgegen. Ich saß mit dem Rücken gegen die Fahrtrichtung und ließ die Welt vorüberziehen. Für den Bruchteil einer Sekunde nahm ich Dinge und Menschen vor dem Fenster in ihrer natürlichen Größe wahr und beobachtete bewusst deren Verkleinerung und ihr Verschwinden in der Ferne. Nur die Dinge am Horizont, die Berge, Meere und Wälder, schienen mit mir mitzureisen und behielten noch lange ihre gleichbleibenden Formen und ihre dunklen Farben. „Wir werden später sehen“, sagte ich zu meinen Begleitern, „welche Bedeutung das Dunkel der Farben bei Cézanne bekommt.“ Und ich meinte, dass dieses Hinübergleiten mit der Eisenbahn dem Leben selbst gleicht, wie der Mensch von Sekunde zu Sekunde mit seinem Denken und Handeln die Welt verändert, ohne sich dessen bewusst zu sein. Die alltägliche Begegnung von Dingen und Menschen gleicht den vorüberhuschenden Masten beim Blick aus dem Fenster des Zugabteils. Nur der ferne Horizont des Lebens verändert sich kaum, solange nicht, bis der Betrachter plötzlich und erstaunt erkennt, dass sich das bis jetzt Selbstverständliche in seinem Inneren verändert hat.

Aber nicht nur der Mensch allein, sondern die Gemeinschaft, der er angehört, unterliegt demselben Prozess. Unzählige kaum beachtete Entscheidungen, die getroffen werden und ebenso rasch wieder aus dem Bewusstsein verschwinden, wie die Dinge vor dem Fenster des Zugreisenden, scheinen lange den fernen Horizont nicht zu verändern, da sie nichts anderes sind, als pure Nachahmungen innerhalb eines ‚Paradigmas‘. Und dann – anfangs kaum wahrgenommen, wie ein Wetterleuchten am Horizont – kündigt  sich das Neue an, eine wahrnehmbare Veränderung – ein Paradigmenwechsel – kann aber nur stattfinden, wenn sich der gesamte Lebensbereich einer Gesellschaft – jener der  Kunst, der Politik, der Wirtschaft, der Bevölkerung, der Wissenschaft und der Theologie – verändert. Aber nicht nur die Welt selbst, in ihrem Sein, verändert sich; es sind die Bilder von ihr, die andere Bedeutungen – eine andere Symbolhaftigkeit – erlangen.

In seinem Buch Grundlagen der modernen Kunst zitiert Werner Hofmann[54] den bedeutenden Pädagogen, Theologen und Philosophen Friedrich Daniel Schleiermacher (1768-1834), der das Symbol als dasjenige beschreibt, worin ein anderes erkannt wird.

Das Symbol ist demnach nicht an eine äußere Form gebunden, es erscheint dem Wahrnehmenden so, wie er es mit einer ihm innewohnenden Assoziation verbindet. Es handelt sich um die Einstellung – die Perspektive – wie der Betrachter zum Beispiel einem Kunstwerk, entgegentritt. Kann er die Gegenstände, die in einem Bild gezeigt werden auch auf die Bedeutung außerbildlicher Gegenstände übertragen, so wird jedes Kunstwerk zu einem Symbol. Es wäre aber falsch anzunehmen, nur in der abstrakten, symbolischen oder kubistischen Kunst würden die Gegenstände im Bild auf nicht-bildliche Bedeutungen hinweisen: auch in der nachahmenden Kunst werden uns Scheinbilder vorgeführt, in denen etwas anderes erkannt wird, als die Wirklichkeit vorgibt zu sein. Aber die Nachahmungskunst konstruiert sich keinen eigenen Raum, das wirkliche Symbol dagegen begründet eben diesen eigenen Raum, indem es die Nachahmung verwirft und ein Zeichen setzt, das nicht die Absicht hat, auf etwas schon Bestehendes auf dieser Seite der Wirklichkeit hinzuweisen, sondern sich auf ein anderes, hinter der Nachahmungswirklichkeit Stehendes bezieht. Hofmann bedient sich – um diesen Sachverhalt zu erläutern – der Steinstudien Adalbert Stifters. Wer das religiöse Weltbild Stifters kennt,[55] wird sich kaum mit der unglaublichen Naturnähe der gemalten Steine begnügen und lediglich ihren ästhetischen Ausdruck bewundern. Sondern er wird die scheinbar ästhetische Darstellung überschreiten und sie auf eine andere, vieldeutigere Ebene heben. Vielleicht dachte Stifter wie Johannes Scotus Eriugena, der im 9. Jahrhundert folgendes feststellte:

Dieser Stein und jener Holzklotz sind mir ein Licht. Und fragst du mich, wie dies zu verstehen ist, dann mahnt mich die Vernunft, dir zu antworten, dass mir beim Betrachten dieses oder jenes Steines vieles einfällt, was meine Seele erleuchtet. Ich bemerke nämlich, dass es wesenhaft gut ist und auf seine eigene Art schön, durch seine Verschiedenheit in Gattung und Art von den übrigen Gattungen und Arten abweicht, durch seine Zahl, durch die jedes Ding als Einheit bestimmt wird, zusammengehalten wird, nicht aus seiner Ordnung heraustritt und nach der Beschaffenheit seiner Schwere seinem natürlichen Platz zustrebt. Wenn ich nun beim Anblick dieses Steines diese und ähnliche Betrachtungen anstelle, dann werden sie mir zum Licht, das heißt sie erleuchten mich.[56]

Es ist aber nicht so, dass jeder Betrachter hinter dem auf einer flachen Leinwand gemalten runden Steines nach einer assoziierten Bedeutung suchen wird. Ein religiöser Mensch wird sich in der Heiligen Schrift wiederfinden, ein Geologe in einer wissenschaftlichen Theorie, doch der durchschnittliche Betrachter wird lediglich die Kunst bewundern, die es möglich macht, einen Stein so naturgemäß zu malen.

Die Vielfältigkeit und Verschiedenheit des Seienden rast am Zugfenster vorbei, verkleinert sich bis zur Unkenntlichkeit und verschwindet am Horizont. Dieser Horizont, diese gleichbleibende dunkle Masse, lässt nun eine Einheit erwachsen, aus der die Dinge – alles Seiende – entspringen. Wenn man mit dem Gesicht zur Fahrtrichtung sitzt, verschwindet dieses Seiende; wenn man ihr aber den Rücken zukehrt, ist es in seiner Einheit an den Horizont gebunden, welche Begriffe man ihm auch zukommen lässt, und greift nicht über sich selbst hinaus. So sind es in der Philosophie der alten Griechen die Vorsokratiker, die einen konkreten Urstoff als letzten Grund für die Gesamtheit aller Erscheinungen annahmen: der letzte Horizont könnten die Erde, das Wasser, die Luft sein. Doch bedeuten diese sinnlichen Elemente als ursprünglichen Grund eben auch nur einen ausgewählten Stoff innerhalb der Vielfalt, der über die Gesamtheit der Erscheinungen nicht hinausgeht. Da kommen die Pytagoräer mit ihren Zahlen, oder Demokrit mit seinem Atom der Sache schon näher. Aber auch diese ideellen Ansätze werden noch sehr von einer stofflichen Urform geprägt, obwohl sie sich schon weit von den wahrnehmbaren Stoffen getrennt haben. Trotzdem war bei allen das Prinzip der Idee – aber nur als immanenter Begriff – vorhanden. Immanent bedeutet hier, es wurde versucht, den Ursprung des Seins zu finden, um so endlich dieses Rätsel zu lösen, damit das Geheimnis der Welt durchschaut und diese in sich harmonisch geschlossen wäre. Erst Plato hat nicht nur nach dem letzten Grund gesucht, sondern sich, darüber hinaus, die Frage gestellt, was dieses Prinzip eines letzten Grundes denn überhaupt bedeute. Und diese Frage ist die entscheidende Differenz zu den Vorsokratikern, die ein einzeln Seiendes als Ausgangspunkt in Betracht zogen, während von Plato das Sein als solches als Problem erkannt worden ist. Plato fragt also nicht mehr nur nach der natürlichen Beschaffenheit des Seins, sondern nach der Bedeutung, die über dessen inneres Wesen hinausgeht. Er fragt nach dem Sinn und will den Weg sichtbar machen, der zu ihm führt. Von nun an wird nicht mehr nur über einen letzten Urgrund – über das Sein – nachgedacht, sondern über das Problem, das sich aus seiner innersten Existenz ergibt. In der Folge verwirft dann, wenn eine realistische Weltanschauung glaubt, eine letztgegebene Beschaffenheit der Dinge (auch in den Einzelwissenschaften) gefunden zu haben, der Idealismus diese Auffassung und verwandelt sie in einen neuerlichen Akt des Denkens. Somit ist das Sein kein unzerlegbarer und starrer Begriff mehr, sondern jedesmal scheint er seine Bedeutung – wenn er von einer neuen Perspektive aus betrachtet wird – grundlegend zu verändern.

Die Gesamtheit der vor dem Zugfenster vorüberhuschenden Erscheinungen gleicht demnach einem Fluss in unaufhaltsamer Bewegung, in der die Einheit des Seins nicht als Anfang, sondern als Ziel – dem Horizont – denkbar ist. Wenn nun an unserem Reisenden ein Baum vorüberzieht, dann drückt dieses Bild nicht nur die nachbildende Kraft einer Erscheinung aus:  ihr wohnt eine zweite ursprünglich-bildende inne, der eine eigene bestimmte – ideelle – Bedeutung hat. Der Reisende kann nun wie ein Kind sagen: das ist ein Baum, oder er ist sich der ideellen Bedeutung bewusst und wird sagen: das nennt man Baum, denn erst durch die symbolische Form des Wortes – der Sprache – erhält der Baum vor dem Fenster seinen begrifflichen Sinn, der nun als Symbol für alle Bäume dieser Welt zu begreifen ist. Schlösse der Reisende seine Augen und jemand würde Baum sagen, er sähe in seiner Vorstellung einen Baum, auch wenn keiner vor dem Fenster vorbeizöge. Somit wird dem Wirklichkeitsbegriff einer naiven Abbildungstheorie der Boden entzogen. Sowohl die Grundbegriffe in den Wissenschaften, als auch das, was Kunst ausmacht, erscheinen, im Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit, nicht mehr als passive Abbilder eines gegebenen Seins, sondern als selbstgeschaffene intellektuelle Symbole. Die Erscheinungen vor dem Fenster werden also stets mit der Vorstellung – dem zum Symbol gewordenen Zeichen – verbunden: sprachlich oder bildlich. Würde aber der Begriff Baum die Vorstellungskraft des Reisenden überschreiten, dann gäbe es ihn in seiner Wirklichkeitswelt nicht. So sind Worte symbolischen Formen für die Dinge, so wie Bilder symbolische Formen für Ideen sind.

Über diese Gedanken bin ich dann – wie es in Zügen leicht passieren kann – eingeschlafen und lausche im Traum dem Gespräch mehrerer Herren, die im selben Abteil mit mir zu reisen scheinen.

„Lieber Cassirer[57], sagt einer von ihnen, „da liegen schon einige Jahre zwischen uns. Aber es freut mich, dass sie meiner Spur gefolgt sind! Was führt sie denn nach Florenz, wenn man fragen darf?“

„Sie dürfen, verehrter Kant. Ich begleite meinen Kollegen Panofsky, der da neben mir sitzt und scheinbar etwas eingenickt ist, dorthin, um an einem Experiment teilzuhaben, das ein gewisser Filippo Brunelleschi vor dem Dom durchzuführen beabsichtigt.“

„Sind Sie da nicht etwas spät dran?“, meinte Kant spöttisch.“ Brunelleschi lebte doch schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts!“

„Was ist schon Zeit, werter Kollege. Sie ist doch nur eine äußere Hülle, in der sich die Lebenden bewegen; Ein Begriff, ein Wort, eine symbolische Form, vielleicht ein Raster, um Ordnung in ihre Welt zu bringen.“

„Tatsächlich. Ich selbst habe ja in meinem System der 'transzendentalen Logik' schon deutlich gesagt, dass die geistigen Vermögen der Menschen selbst als mit einer strukturierenden Kraft oder einem 'Schema' ausgestattet  sind, einem Schema, das nicht nur der natürlichen Welt eine subjektive Ordnung auferlegt, sondern auch die beiden traditionellen Aspekte des Denkprozesses, nämlich sinnliche Anschauung und begriffliches Denken, integriert. Vor allem aber ist zu bedenken, dass der Mensch kein absolutes Wissen von der Welt besitzt. Er kann von der wirklichen Welt nur soviel Kenntnis haben, als es sein geistiges Vermögen erlaubt.“

Wie wahr, denke ich, an diese Folgerungen habe ich ja soeben gedacht, aber ich mischte mich nicht in das Gespräch ein, wahrscheinlich würde man mich gar nicht wahrnehmen.

„Es ist ja nicht so“, fährt Kant fort, „dass, durch die Fähigkeit des Denkens, eine rohe sinnliche Information von vornherein in eine Form verwandelt wird, sondern deren Prägung geschieht gleichzeitig durch die sinnliche Wahrnehmung, indem sie die Informationen in Wissen verwandelt.“

„Tatsächlich“, pflichtet Cassirer begeistert bei. „Ich stimme ihrer These ja vollkommen zu, nur erschien sie mir – sie verzeihen – angesichts der zwischen unseren beiden Epochen fortschreitenden Erkenntnistheorien zu allgemein. Meine Absicht war es daher, ihre 'transzendentale Logik' auf den gesamten Bereich der menschlichen Kultur zu erweitern: auf Geschichte, Sprache, Mythos und Kunst. Ich wollte eine neue Kulturphilosophie begründen, in der die neuesten Theorien der Psychologie, Anthropologie und Linguistik miteinander vereinbar wären.“

„Wenn ich Sie richtig verstehe, waren Sie, ebensowenig wie ich, an der Suche nach einer nackten Wahrheit interessiert, sondern…“

„Sondern“, fiel ihm Cassirer ins Wort, „daran, wie der menschliche Geist es anstellt, die subjektive wirkliche Welt so zu ordnen, dass sie seinem eigenen Zweck dienstbar wäre.“

„Und wie stellt er das letzten Endes an?“

„Indem er, durch die Energie seines Geistes, einen geistigen Bedeutungsinhalt an ein konkretes sinnliches Zeichen knüpft und diesen Bedeutungsinhalt diesem Zeichen innerlich zuordnet. So tritt eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbständiger und ursprünglicher Kraft.“

(Genau das habe ich ja vorhin gemeint, als ich an dem Baum dachte, den ich bei geschlossenen Augen sehe, auch wenn gar keiner vor mir steht, wenn ich die Augen geöffnet habe.)

„Das haben Sie fein gesagt, Kollege! Es freut mich außerordentlich, dass Sie meiner Überzeugung von einer 'ursprünglichen Kraft' so eifrig gefolgt sind. Aber sagen Sie mir, wie kommt denn bei Ihnen die symbolische Form in Kunstwerken zum Ausdruck?“

„Nun, genauso wie Sprache, Religion, Mythos und Recht als symbolische Formen zu bezeichnen sind, offenbart sich auch die Kunst als geistige Grundfunktion, durch die wir in der Form des eigenen Tuns, das erblicken, was wir Wirklichkeit nennen. Kunstwerke sind demnach komplexe Zeichen, die mit menschlichen Ideen und sinnlich wahrnehmbaren Formen verbunden werden….“

„und dabei stets einem kulturellen Wandel unterworfen sind“, mischte sich plötzlich der aus dem Schlaf erwachte Panofsky ins Gespräch. „Daher sind Kunstwerke folglich nicht nur Abbilder von Inhalten anderer symbolischer Formen, sondern stets selbst symbolische Formen, in der Weise, wie sie ihre Gegenstände präsentieren.“

 „Leider erreichen mich in meinem gegenwärtigen, jenseitigen Aufenthaltsort nur wenige Informationen aus der diesseitigen Welt“, meint Kant bedauernd. „Dennoch ist mir ihr Essay mit dem Titel 'Die Perspektive als symbolische Form' bekannt. Wollten Sie durch ihn nicht klarstellen, dass jede historische Epoche in Europa eine eigene bestimmte symbolische Form hatte, in der sich eine bestimmte 'Weltanschauung' ausdrückte? Würden Sie mir Ihre These näher erläutern?“

„Sehr gerne lieber  Kant, noch dazu, da Cassirer und ich auf dem Weg zu einem Experiment sind, dessen Ergebnis – die Zentralperspektive – zu einem der bedeutendsten Ereignissen des Anbrechens einer neuen Zeit werden sollte, in  der, durch das reine Vernunftdenken und durch die absolute Wissenschaftsgläubigkeit, alle den Sinnen nicht zugänglichen Kräfte ausgeschlossen werden.“

Kant, dessen Miene sich bei diesen Worten Panofskys verdüsterte, unterbrach ihn. „Das ist doch nicht neu, das habe ich selbst schon zur Genüge erörtert. Bleiben Sie doch bei der Sache. Sie wollten doch über die epochalen Veränderungen der Perspektive als symbolisch Form erzählen!“

„Natürlich, verehrter Kant. Grundsätzlich ist anzumerken, dass mit dem Begriff der Perspektive das Problem der Raumdarstellung gemeint ist. In der Antike zum Beispiel wurde der Raum als ein zusammenhangloses Nichts zwischen den Dingen verstanden und nicht als etwas, das sie zusammenführen würde. Zwar kannte man die Begriffe des Oben, Unten, Vorne und Hinten, aber die so in das Bild gemalten Dinge wurden ohne Zusammenhang eingefügt, ohne den Betrachter über eine relative Distanz zwischen den Dingen zu informieren, wie wir es heute von perspektivischen Bildern gewohnt sind. Die Raumanschauung einer Epoche geht immer Hand in Hand mit der jeweils geltenden Weltanschauung. Für Demokrit, zum Beispiel, bestand die Welt aus kleinsten Teilchen, die sich ständig in einer unendlichen Leere bewegten. Platon führte die ihn umgebende Welt auf geometrische Körperformen zurück, denen der Raum als gestaltlos gegenübertritt; während Aristoteles unter Raum nur die Grenze eines allergrößten Körpers, nämlich der äußeren Himmelssphäre, verstand. Den antiken Denkern war es also nicht möglich, zwischen Körper und Nichtkörper zu unterscheiden. Körper waren lediglich aufeinandergefügte, systemlose Inhalte eines begrenzten Gefäßes. Weder für die Künstler, noch für die Philosophen war ein 'Systemraum', wie ihn die Renaissance kannte, denkbar. Zwar wuchs in der Spätantike das Interesse am kontinuierlichen Raum, vor allem in den Landschaftsdarstellungen, der sich aber, vor allem mit dem Anbruch des christlichen Zeitalters, in einer Lichtmetaphysik darstellte, in der sich die Körper in der Atmosphäre aufzulösen schienen. Raum war nichts anderes als feinstes Licht, durch das der Betrachter ein Bild wie ein Fenster zu sehen hätte. Dieses Fenster wich in der romanischen Epoche der Konzeption der geschmückten tiefen- und richtungslosen Oberfläche, in der der Raum durch einen, jede Tiefenandeutung verhindernden Goldgrund verschwand. Raum und Körper wirkten in ihrer einförmigen Flachheit zusammengepresst, nicht mehr unterscheidbar; Und waren so völlig gleichwertig, so wirkte die Fläche absolut.

Ravenna, S. Vitale. .Abraham die Engel bewirtend. Mosaik gegen Ende des 6. Jhd. n.Chr.

Unter dem am Ausgang des Altertums immer bedeutender werdenden orientalischen Einfluss verwandelten sich teils Inhalte, teils Komponenten in eine zusammengehörige Räumlichkeit, in Formen, die nur mehr in der Ebene gegenwärtig sind, sich vom hintergründigen Gold abheben und aneinandergereiht werden. Der Durchblick, der im antiken Aggregatraum – wenn auch in einem ganz anderen Sinn als im neuzeitlichen Systemraum – noch verbunden ist, bleibt nun geschlossen. Diese Entwicklung – die sich zwischen dem zweiten und dem sechsten Jahrhundert abspielt – kann man exemplarisch am Abrahammosaik in S. Vitale in Ravenna beobachten, in dem ein vollständiges Zurückdrängen jeder Raumillusion zu sehen ist. 

Erst in der Gotik gewann das Einzelding wieder an Gewicht. Vorerst waren es Statuen, die man in den freien Raum stellte und nicht mehr mit anderen Figuren zusammenpresste. Es war ein freier Raum, den sie nicht mehr mit den Nachbarstatuen teilten. Das gleiche geschah dann zu Beginn des 14. Jahrhunderts mit den Bildern, in denen die Künstler begannen, mehrere Figuren mit ihren eigenen Räumen an einem einzigen Ort zu vereinen. Diese eigenen Räume, oder anders ausgedrückt, diese unterschiedlichen Darstellungen von Räumlichkeit in den einzelnen Bildräumen gefüllt mit den aus verschieden zusammengesetzten Elementen, nenne ich nun den aus der Antike stammenden 'Aggregatraum', in welchem jedes Ding und jede Figur aus einem eigenen Blickwinkel aus betrachtet werden muss und das Bild ein Ganzes bildet, das auch ebensogut über den Bildrand hinausreichen könnte, ohne dabei einen geschlossenen Zusammenhang zu ergeben.

Sehen Sie, lieber Kant“, unterbrach sich Panofsky selbst und reichte ihm ein Bild, das er aus einer Mappe entnahm. „Sehen Sie, wie sich in diesem Bild Das Paradiesgärtlein die Handlungen der einzelnen dargestellten Gruppen auflösen, jede ihren eigenen Raum besitzt, ohne Verbindung zum nachbarlichen?“

Aggregatbild: Oberrheinische Meister: Das Paradiesgärtlein. Szene: Maria im geschlossenen Garten mit Heiligen, um 1410.

In diesem hier gezeigten Aggregatraum werden innerlich nicht verbundene Teile – wie zufällig – angehäuft, wobei die Zusammensetzung nicht auf einer, sondern auf einer Mehrzahl von Perspektiven beruht. Trotzdem lässt sich in der Gotik beinahe schon voraussagen, dass sich da, wo sich in der Architektur, und speziell in der Plastik, bruchstückhaft byzantinische Architektur- und Landschaftsformen bewahrt haben, eine neue Einheit entsteht, in der sich die große Synthese des Gotischen mit dem Byzantinischen vollzieht, die zur modernen perspektivischen Raumanschauung geführt hat. Allmählich, um die Wende zum 14. Jahrhundert ließen die Künstler die Individualräume, wie wir es am Beispiel des Paradiesgärtlein beobachten können, ineinander übergehen und begannen, mehrere Figuren mit ihren Räumen an einem einzigen bühnenartigen homogenen Raum zu vereinen und szenenartig darzustellen.

Vor allem Duccio di Buoninsegna und Giotto di Bondone waren es, die das Prinzip der mittelalterlichen Raumdarstellung überwanden. Hier ist die Darstellungsfläche nicht mehr eine zweidimensionale, sondern wird bereits als eine der Zentralperspektive vorauseilende, 'durchsichtige Ebene', also als Fenster, bezeichnet, durch das wir in einen Raum hineinzublicken glauben. „Sehen Sie“, sagte Panofsky und holte aus seiner Mappe ein weiteres Bild hervor, um es Kant hinüberzureichen, „ wie Duccio bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts in einem geschlossenen Innenraum eine perspektivisch konstruierte Kassettendecke darstellte:

Siena, Dom-Opera. Duccio di Buoninsegna: Abendmahl vom Hochaltar 1301-1308. Nach Panofsky, S. 115

Noch weiter gingen die Brüder Lorenzetti, die zum ersten Mal die rechtwinkelig angeordneten Flächen der Grundebne – dargestellt  am Fliesenmuster – nach einer mathematischen Methode und auf einen Punkt hin ausrichteten.“ Wieder entnahm Panofsky seiner Mappe ein Bild und reichte es Kant.

Ambrogio Lorenzetti: Verkündigung 1344, Siena Akademie. Nach Panofsky, S. 719.

„Es war“, so fügte er hinzu, „das erste Beispiel eines Koordinatensystems, das den modernen Systemraum in einer künstlerisch konkreten Sphäre zeigt, noch ehe die Zentralperspektive, mit ihrer mathematischen Verkürzungsmethode, erfunden war. Meiner Meinung nach“, fuhr er fort, „unterliegt die Raumvorstellung stets zwei Aspekten. Einem ästhetischen, und damit ist jene Empfindung gemeint, die der Anblick einer Raumdarstellung hervorruft, und einem vom zeitgenössischen Denken bedingten Aspekt, in dem der Raum wissenschaftlich erklärt wird. Diese beiden untrennbar miteinander verbundenen Faktoren des Wahrnehmungsprozesses von Raum bedeutet – wie ich schon deutlich ausführte – dass jede Epoche ihre bildlichen Darstellungen in speziellen symbolischen Formen ausdrückt, in denen sich eine bestimmte Weltanschauung ausdrückte. So war es auch im frühen Mittelalter, bis hin zum späten des 13. Jahrhunderts, in dem die christlichen Theologen Aristoteles zum Vorbild nahmen, für den das gesamte Universum in einer gewaltigen, endlichen Kugel mit der Erde im Zentrum angeordnet war, während die Sterne und die Planeten an konzentrischen Sphären befestigt waren und innerhalb der Gesamtsphäre rotierten. Alles in diesem Universum hatte an der richtigen Stelle zu sein, aber nicht in Bezug aufeinander, sondern in Bezug auf die Erde, dem Zentrum des Universums.

In der Kathedrale Santa Maria Nuova in Monreale, unweit von Palermo auf Sizilien, werden an den Goldgrund-Mosaiken am Mittelschiff und der Westwand Szenen aus dem Buch Genesis – dem ersten Buch des Alten Testaments – die Schöpfungsgeschichte dargestellt. In jener Darstellung, in dem Gott beim Erschaffen des Universums gezeigt wird (Die Erschaffung der Gestirne: Lichter sollen am Himmel sein – Gen. 1.14), wird das Problem deutlich erkennbar, das sich aus der Tätigkeit eines Schöpfergottes ergibt, der sich außerhalb des 'endlichen' Universums befindet. Der unbekannte sizilisch-byzantinische Künstler glaubte das Paradox dadurch lösen zu können, dass er Gott mit einem Goldhintergrund umgab, der den Raum 'außerhalb' zu einer mystischen Sphäre werden ließ, während er den Raum 'innerhalb' blau gestaltet.

Detail aus Die Erschaffung der Gestirne. Mosaik in der Kathedrale von Monreale. Unbekannter Künstler, Sizilien, ca. 1175.

Allmählich wurde aber das Phänomen eines außerhalb des christlich-theologischen Universums existierenden Gottes zu einem Problem, das man dadurch aus der Welt zu schaffen versuchte, dass man im Jahre 1277 die aristotelischen Schriften mit dem Bann belegte. An die Stelle der Metaphysik des aristotelischen Raums trat nun der – wie ich ihn nenne – psychophysiologische Raum. Die Künstler sehen und malen den Raum von nun an losgelöst von allen metaphysischen Andeutungen oder mathematischen Strukturen. In der neuen Malerei ist der Raum weder homogen, noch unendlich, noch isoliert. Er erscheint so, wie ihn Kinder in ihren ersten Büchern erleben: naiv, voller ästhetischer Harmonie, obwohl in ihrer Einfachheit keinerlei geometrisch-perspektivische Einheit vorhanden ist. Der Mond ist dabei kein hunderttausende Kilometer entfernter Körper und kein göttliches Wesen, sondern ein natürliches Ding in der Größe eines Fußballs, der, würde er herunterfallen, in der gleichen Größe wie am Himmel aufspringen würde. Und – wie wir gesehen haben – waren es Duccio und Giotto, welche die Verwirklichung des psychophysiolgischen Raumes erfolgreich handhabten. Die Linearperspektive war noch nicht erfunden. Noch stand der Betrachter staunend vor Giottos 'hedonistisch-naiven' Erlebnisbildern, die zwar noch ein ‚hier‘ und ‚jetzt‘ erzählten, dabei aber ahnungsvoll tief aus der Vergangenheit schöpften und diese, über eine anschauliche Gegenwart, in eine nahe und gleichzeitig ferne Zukunft verwiesen.“

„Das gefällt mir“, sagte Kant. „Das gefällt mir außerordentlich. Ich selbst habe ja über die Raumvorstellung gesagt, dass man von den Dingen, die uns die Sinne vermitteln, einzelne ihnen anhaftende Eigenschaften abstrahieren kann. So kann man von der Rose ihren Geruch, ihre Farbe oder anderes wegdenken, eines aber nicht: ihre Ausgedehntheit im Raum. Sie ist von vornherein vorhanden. Raum ist also nichts anderes als die Form, in der uns alle Erscheinungen der äußeren Sinne gegeben werden. Der Raum haftet nicht an den Dingen selbst, sondern wir sind es, die die Raumvorstellung an die Dinge heranbringen. Diese Erscheinungen, die wir Dinge nennen, müssen in irgendeiner Form vorhanden sein und von außen auf unsere Sinne einwirken, sonst würden sie uns keine Empfindungen liefern. Mehr lässt sich aber über diese Erscheinungen nicht sagen. Niemals kann ich darüber hinwegkommen, dass das Äußere mir nur in jener Form 'erscheinen' kann, wie es mir meine Sinne übermitteln. Was aber hinter den Erscheinungen – die Dingen an sich – steht, das kann ich nicht wissen.“

„Nun wird aber immer wieder“, warf Cassirer ein, „argumentiert, dass, wenn alle Menschen dieses Außen gleichermaßen empfinden, es nicht notwendig ist, herumzurätseln, was hinter den Erscheinungen verborgen sei. Wenn alle das gleiche sehen, dann muss es doch einer objektiven Wahrheit entsprechen.“

„Könnte man meinen“, antwortete Kant. „Aber diese einfache Formel ist Unsinn. Dass die Menschen alle das gleiche sehen – wie es bei den Tieren ist, wissen wir nicht –, liegt daran, dass sie alle die gleiche Struktur der Sinnlichkeit besitzen. Alle Dinge die uns erscheinen, können demnach nur im Zusammenhang mit dem Raum, in dem sie eingeordnet werden, wahrgenommen werden. Ob die Dinge an sich im Raum sind, das können wir nicht wissen. Das heißt, der Raum ist in dem Augenblick ein Nichts, in dem wir alle Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens angesammelt haben, weglassen. So hat der Raum – wie ich es nenne –  'transzendentale Identität' und ist als solcher nicht objektiv erfassbar. Daraus ergibt sich genau das, was Sie gesagt haben, verehrter Kollege. Dass nämlich die Raumvorstellung in den verschiedenen Epochen niemals eine gleichbleibende sein kann, sondern stets mit der jeweils herrschenden Pragmatik in Verbindung zu bringen ist. Aber erzählen Sie weiter, Panofsky! Wie kam es im ausgehenden Mittelalter zum Übergang von diesem leicht fassbaren und naiven Raumempfinden der Menschen ihrer Zeit, zum illusorisch-geometrischen Systemraum der Renaissance?“

Der Wandel vollzog sich ja nicht ohne Übergang; er geschah zögernd. Und heute weiß man, dass die Zentral- oder Linearperspektive auch nichts anderes war, als eine neue symbolische Form, in der sich in diesem historischen Moment des Anbruchs einer neuen Zeit, eine neue Weltsicht des italienischen Volkes ausdrückte.

Ich musste mich immer weiter zu Panofsky hinüberbeugen, um die letzten Worte zu verstehen, denn seine Stimme wurde immer schwächer und bald zu einem unverständlichen Gemurmel, in dem sich die Philosophen in einem rauchigen Nebel aufzulösen begannen und ich langsam aus diesem eigenartigen Traum erwachte.[58]

Während dieser Fahrt durch Raum und Zeit, die von Giottos Malerei in Padua (1304) zu Brunelleschi und der Erfindung der Zentralperspektive in Florenz führte (1425), und ich im Traum dem Gespräch der Philosophen lauschte, glitt nicht nur die Vielfalt der äußeren Erscheinungen am Zugfenster vorbei, auch der Horizont begann sich zu verändern. Seine aus dem Jenseits herüberreichenden dunklen, angsteinflößenden Farben begannen sich aufzuhellen, eine neue Gesellschaft schickte sich an, die starren Gefüge des mittelalterlich-abendländischen Geistes mit seinen geheimnisvollen Mysterien hinter sich zu lassen. Dies um sich der Antike und einem neuen Naturgefühl zu besinnen. Die bildende Kunst orientierte sich – im Gegensatz zur Dichtung, in der dieser Aufbruch nur zaghaft deutlich wurde – an einem realistischen, wirklichkeitsverbundenen und freudigen Lebensgefühl eines sich neu formierenden Bürgertums. In der bildenden Kunst ist die große Wendung des abendländischen Geistes und die Rückkehr vom Gottesreich zur Natur, am deutlichsten sichtbar. Es bedarf keiner jenseitigen Legitimation mehr, um die Erfahrungs- und Alltagswirklichkeit, das heißt das Organische und Lebendige, zum Gegenstand künstlerischer Darstellung werden zu lassen. Allerdings kann im Zeitalter der Gotik bei weitem noch nicht von einer vollständigen Verdrängung der mittelalterlichen Jenseitszuwendung gesprochen werden, ebensowenig wie neben dem Entstehen einer neuen bürgerlichen Ordnung die feudalen Herrschaftsformen oder die Aufhebung der geistlichen Herrschaft der Kirche zu Ende gewesen wären. Der gotische Naturalismus in der Kunst ist demnach ein, sich die Waage haltender, Ausgleich zwischen weltbejahenden und weltverneinenden Tendenzen, in denen die gesellschaftlichen, religiösen und künstlerische Widersprüche zum Ausdruck kommen und der, ewig sich im Kreise bewegenden, scholastischen Universalität entschlüpft.

Ich öffnete den Kunstband, aus dem vorhin Panofsky in meinem Traum beispielhaft Reproduktionen einiger Bilder präsentierte und die, wie ich erheitert feststellte, meine eigenen waren. Ich blätterte darin und stellte fest, wie sehr diese Veränderung, die vom mittelalterlichen Realismus, von der abgeschlossenen Einheit hin zur Vielfältigkeit des Nominalismus, an der Architektur beobachtet werden kann. Während die romanische Kirche – wie Arnold Hauser[59] in seiner „Sozialgeschichte der Kunst und der Literatur“ schreibt – ein in sich abgeschlossenes, in sich ruhendes, stabiles Raumgebilde darstellt, mit einem verhältnismäßig weiten, repräsentativen, nüchternen Innenraum, der den Blick des Beschauers auf sich ruhen und in vollkommener Passivität verharren lässt, befindet sich der gotische Kirchenbau hingegen in einem Zustand des Werdens: er entsteht gleichsam vor unseren Augen und stellt einen Prozess, nicht ein Ergebnis dar. Die Vorliebe für die neue Zeit, für das Unvollendete, Skizzenhafte, Fragmentarische – dessen Ansätze man schon bei Petrarca beobachten kann – hat hier ihren Ursprung. Das Mittelalter fasste den Raum als etwas Zusammengesetztes und in seine Einzelteile Zerlegbares auf, wie man es am Beispiel des Aggregatraum-Bildes Das Paradiesgärtlein weiter oben sehr gut erkennen kann. Das Bild würde in seiner Aussage keinen Schaden erleiden, wenn man einen Teil davon eliminierte. Der oder das Einzelne hatte im Mittelalter keine Bedeutung. Wenn der Betrachter eine Sequenz des Bildes ins Auge fasste, nahm er von den anderen Teilen keine Notiz. Nicht das subjektiv gestaltende Wollen des Künstlers ist in der gotischen Kunst das Wesentliche, sondern die der Thematik des Werkes verstreuten Einzelteile. Die Kunst der Renaissance dagegen erlaubt dem Betrachter kein Verweilen bei irgendeinem Detail oder, ein Element des Bildes vom Ganzen abzutrennen. Er wird gezwungen, es als Ganzes zu erfassen.

So stellt auch Arnold Hauser die Frage[60], warum und wo denn dieser Wandel eigentlich eingetreten ist und warum man sich auf einmal zu derselben Sache anders gestellt hat als zuvor. Es war Italien, in der die Frührenaissance – im Gegensatz zur Hochrenaissance und zum Manierismus, die gesamteuropäisch in Erscheinung traten – zu einer wesentlichen Bewegung wurde. Italien hatte, gegenüber anderen europäischen Ländern, einen bedeutenden Vorsprung, weil von hier aus – nach der Stagnation im Mittelalter – die  Wiederbelebung der Wirtschaft ausging, die Kreuzzüge organisiert wurden, der freie Wettbewerb und das erste europäische Bankenwesen entstanden und sich – früher als im übrigen Europa – ein freies städtisches Bürgertum entwickelte und der Landadel sehr früh stadtansässig wurde und weil in Italien die antike Tradition – angesichts der überall noch verstreut sichtbaren Denkmäler – nie ganz verlorenging. Daher hatten die Vertreter des neuen Zeitalters – der Renaissance – bereits das bewusste Gefühl einer Wiedergeburt aus dem Geiste der Antike. Dieses Gefühl wurde ihnen nicht erst viel später zugesprochen, denn dieses Gefühl war ja schon früher im 12. und 13. Jahrhundert vorhanden, wie es am Beispiel Dantes und Giottos gezeigt wurde oder auch schon an der franziskanische Bewegung mit der Geburt einer neuen innigen Religiösität, einer lyrischen Sensibilität und einem aufkeimenden Naturgefühl am Vorbild Petrarcas. Daher ist es vorteilhafter, die Geburt des neuen Zeitalters nicht an einigen wenigen Persönlichkeiten festzumachen, sondern den mittelalterlichen Ursprung des Wiedergeburtsgefühls zu suchen, die Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance herauszuarbeiten, die, wie  aufgezeigt,  in ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung begründet ist. Die im späten Mittelalter sich entwickelnde Geldwirtschaft wurde zu einem frühen kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, in dem alles Unberechenbare und Unkontrollierbare abgelehnt wird, alles nach ihrer Plan-, Zweck- und Rechenmäßigkeit ausgerichtet ist und sich nicht nur in einer rationalistischen Organisation der Arbeit, des Handels, dem Bankwesen und der doppelten Buchführung äußert, sondern auch in der Politik, der Diplomatie, im Kriegswesen und nicht zuletzt in der Kunstentwicklung. Auch in der Kunst werden sämtliche Gesetze rationalisiert, als 'schön' wird nunmehr nur die logische Übereinstimmung der einzelnen Teile eines Ganzen empfunden und sämtliche Kriterien der künstlerischen Qualität werden Vernunftgründen unterworfen, wobei die Erfindung der Zentralperspektive als das wesentlichste Ereignis dieser Entwicklung bezeichnet werden muss.

10 Die Entdeckung der geometrisch konstruierbaren Perspektive. (Zentralperspektive)

Der Zug fuhr in den Bahnhof von Florenz ein, kam mit einem Ruck zum Stehen und riss mich aus meinen Gedanken. Es wäre schön, dachte ich, Panofsky und Cassirer wiederzusehen, die sich während ihrer zeitlosen Wanderung ebenfalls in Florenz aufhalten müssten. So beschloss ich, mich in die Kirche Santa Maria Novella zu begeben, die sich in der Nähe des  Bahnhofs befindet und jenes Fresko bewahrt, an dem Masaccio[61] Brunelleschis Theorie der Zentralperspektive meisterhaft in die Praxis umsetzte: Die Heilige Trinität. Denn, so meint auch Edgar Hertlein in seinem Buch Masaccios Trinität, man versteht eine Epoche jeweils nur so tief, wie man in ein Einzelwerk dieser Zeit eingedrungen ist. Wohl kaum ein anderes Kunstwerk des früheren Quattrocento erlaubt so exemplarischen Einblick in die politischen, religiösen und geistigen Strömungen und Zusammenhänge der florentinischen Frührenaissance.[62]

Rund 600 Jahre vor meiner Ankunft in Florenz ist im Jahre 1429 ein anderer Reisender durch die Stadttore von Florenz getreten: Leon Battista Alberti[63], der in einem Traktat das erste Mal überhaupt von der Malerei anders, als von einer handwerklichen Tätigkeit, gesprochen hat. Vor allem aber wurden in diesem „Traktat über die Malerei“ – den Alberti in zwei Sprachen (lateinisch de pictura und italienisch della pittura), in den Jahren 1435 bis 1436, verfasste – die Methoden der von Filippo Brunelleschi[64] erfundenen perspektivischen Konstruktionen das erste Mal ausführlich dargestellt.

Als Leon Batista Alberti – dessen Familie vor Jahrzehnten von den damals an der Macht befindlichen Albizzis aus Florenz verbannt worden war, aber unter der neuen Herrschaft Cosimos de Medici zurückkehren konnte – den Boden der Heimatstadt seiner Väter betrat, war er überwältigt von dem, was er sah. Neben der im Bau befindlichen Domkuppel, die ohne Gerüst in den Himmel ragte, stand der berühmte, von Brunelleschi selbst konstruierte, furchteinflößende Hebekran; in der Brancaccikapelle hatte der, schon in jungen Jahren verstorbene, Maler Masaccio ein Fresko gestaltet, das – wie man noch sehen wird – von einer unglaublich neuen Darstellungsweise geprägt war. Am Baptisterium vor dem Dom war bereits eine jener Bronzetüren angebracht, deren Gestaltung im Jahre 1400 Lorenzo Ghiberti zugesprochen wurde, was den Verlierer des Wettbewerbes, den 23-jährigen Filippo Brunelleschi veranlasste, der Bildhauerei zu entsagen und wütend nach Rom abzureisen.

Allerdings enthält Albertis Traktat keinerlei Hinweise auf die Erfindung der Zentralperspektive durch Brunelleschi. Sein Name scheint zwar in der folgenden Würdigung auf, nicht aber im Zusammenhang mit dessen Experimenten vor dem Dom zu Florenz. So schrieb Alberti:

Dann aber, als ich nach langer Verbannung in der wir Alberti gealtert sind in unser von allen anderen ausgezeichnetes Vaterland zurückgekehrt war erfuhr ich es dass in vielen besonders aber in Dir o Filippo[Brunelleschi] und in dem uns so befreundeten Donato [Donatello] dem Bildhauer und in jenen anderen Nencio und Luca und Masaccio ein Geist lebt der zu jeder rühmlichen Sache fähig ist und der durchaus keinem der Alten wie berühmt er auch in diesen Künsten gewesen sein mag, nachzusetzen ist. […] So bekenne ich Dir denn wenn es jenen Alten bei dem tatsächlichen Reichtum dessen wovon sie lernen und was sie nachahmen konnten, minder schwer war zur Kenntnis jener höchsten Künste deren Ausübung uns heute so mühsam wird zu gelangen so muss deshalb unser Ruhm umso größer sein wenn wir ohne Lehrer und ohne Vorbilder Künste und Wissenschaften von welchen man früher nichts gesehen und nichts gehört auffinden.[65]

Dass sich das Prinzip der mathematisch konstruierten Linearperspektive am Beginn der Neuzeit als Grundlage allen fortschrittlichen Denkens erwies, war nicht eine aus dem Nichts, sondern aus einer Notwendigkeit heraus entstandene Errungenschaft. Viele Humanisten in Florenz waren überzeugt, dass die Welt des Sehens von mathematischen Gesetzen beherrscht war und die Stadt selbst einem Mikrokosmos der göttlichen Ordnung zu entsprechen hatte.[66]

Zwar war die höhere Bildung der Florentiner zur Zeit Brunelleschis auf die Oberschicht beschränkt, doch gab es auch für die Kinder weniger begüterter Bürger durchaus Bildungsmöglichkeiten, denn auch die Bediensteten der Kaufleute und der Banken waren genötigt, die für ihren Beruf erforderlichen Kenntnisse zu erwerben. Daher gab es sechs Schulen in Florenz, in denen eine große Anzahl von Schülern vor allem die Grundbegriffe der Arithmetik erlernte. Diese Schulen hießen abacchi – benannt nach dem Verfasser des berühmten Trattato dell‘ aritmetica von Paolo dell‘ Abbaco (1282 - 1374) –, in  denen ein Schulbuch zur Anwendung kam, das sich auf diesen Traktat bezog. Das in italienischer Sprache verfasste Buch war geschmückt mit reizvollen Illustrationen, in denen der Geldwechsler am Bankschalter, das Abwägen von Waren auf dem Markt oder die Landvermessung gezeigt wurden. Anzunehmen ist, dass auch Brunelleschi eine dieser Schulen besuchte. Dermaßen ausgebildete Leute waren – wie die meisten  Humanisten dieser Zeit – freiberufliche Alleskönner, die von reichen Auftraggebern – den Medici in Florenz, den Este in Ferrara, den Sforzas in Mailand oder den Carreras in Padua – für die verschiedensten Projekte bezahlt wurden. Diese allseitig ausgebildeten Leute – Leonardo da Vinci war einer der berühmtesten unter ihnen – benötigten neben ihrer Vorstellungskraft vor allem zwei weitere Talente: mathematische Fertigkeiten und zeichnerisches Können. Um ihre Ideen, sei es beim Festungsbau, Entwicklung von Maschinen, der Fertigung neuer Waffen, oder Gestaltung unterhaltsamer Wasserspiele, den Fürsten zu unterbreiten, war es nötig, die in den Köpfen der Erfinder entstandenen, abstrakten und komplexen Erfindungen illusionistisch und dreidimensional zu Papier zu bringen. So stellte sich auch für Brunelleschi das Problem, wie er das einzigartige Wissen, das er sich während seiner Romreise angeeignet hatte, seinen Zeitgenossen verständlich machen konnte. Daher galt nicht der Stadt Rom selbst sein Interesse – der Stadt, die durch die lange Abwesenheit der Päpste verarmt und durch ständige grausame Kriegshändel zerstört und heruntergekommen war – sondern dem antike Rom, das er in den Trümmern wiederfand. In Rom eignete sich Brunelleschi jenes mathematische Fundament an, mit dem er im Jahre 1418 den Wettbewerb um den Bau der Kuppel des Domes zu Florenz gewann.

Die Schwierigkeit, die es dabei zu bewältigen galt war, dass der bereits 1302 begonnenen Bau des Domes derartige Dimensionen angenommen hatte, dass man keine Ahnung hatte, wie die zu einem Oktagon ausgebaute Grundmauer zu überdachen war.

Aber dieses Problem war schon 1401 bekannt, als Brunelleschi nach Rom aufbrach und es ist anzunehmen, dass er diese Reise schon im Hinblick auf einen zukünftigen Auftrag für die Kuppelkonstruktion ins Auge fasste; zumal es nur in Rom in Gestalt des Pantheons einen antiken Bau gab, dessen Kuppeldimension derjenigen des Doms zu Florenz gleichkam. Es ist denkbar, dass die Auftraggeber in Florenz die Dimension ihres Domes mit Absicht wählten, um sich mit der Antike zu messen.

In diesem Zusammenhang vollbrachte Brunelleschi neben der Konstruktion der Domkuppel noch eine weitere Großtat, die, im Grunde genommen, als eines der bedeutendste Ereignisse der anbrechenden Neuzeit – mit ungeheuren Auswirkungen auf die Entwicklung der folgenden Jahrhunderte – gesehen werden muss: Die Konstruktion der Zentralperspektive. Von Brunelleschi selbst gibt es über das Experiment, das wir anschließend nachvollziehen werden, keinerlei Aufzeichnungen. Und auch die Bildtafeln, die er zu diesem Zweck angefertigt hat, sind verschollen. Aber es gibt eine ausführliche Beschreibung der Abläufe des Experiments in Antonio Tuccio Manettis[67] Brunelleschibiographie, die später Alberti als Grundlage für seinen Traktat diente. Der Grund dafür, dass Brunelleschi keinerlei Aufzeichnungen hinterlassen hat, dürfte in der besonderen zeitlichen Position zu suchen sein, in der er lebte; einer Zeit nämlich, in der die mittelalterliche Bauhüttenpraxis erst allmählich von einer modernen, von einer mathematisch geprägten Planarchitektur abgelöst wurde.

Hätten der Philosoph Cassirer und der Kunsthistoriker Panofsky aus meinem Traum tatsächlich frühmorgens an einem nicht bekannten Tag in einem Jahr vor 1425 die Piazza zwischen dem Dom und dem Baptisterium betreten, dann hätten sie einen  kleinwüchsigen Mann beobachten können, der – nachdem er unter den neugierigen Blicken der frühen Passanten das Baptisterium vermessen hatte – im Haupteingang des unvollendeten Doms stand und dort auf einer Staffelei einen relativ kleinen ungefähr 30 x 30 cm großen Spiegel befestigt hat. Es ist Brunelleschi, der dem Baptisterium den Rücken zukehrt und jenen Teil der Piazza sieht, den sein Auge im Spiegel wahrnehmen kann. Er zieht die wichtigsten Punkte des Bildes, das er im Spiegel sieht, nach und verbindet sie so, dass sich Linien ergeben. Dann kopiert er diese Vorzeichnung im Spiegel auf eine, in gleicher Höhe neben dem Spiegel befestigte, Tafel.

Wendet er sich zur Seite, so sieht er das Baptisterium vollständig im Spiegel. Dann sieht er aber das Gebäude vom falschen Punkt aus. Richtig sieht er das Bild nur, wenn er sich wieder vor den Spiegel stellt. Dabei verdeckt er aber wieder Teile des zu zeichnenden Objekts. Vervollständigen kann er das Bild nur, wenn er abwechselnd die Fixierung des Augenpunktes wechselt, sich nach rechts wendet und dann nach links. Damit erhält er ein seitenverkehrtes Bild des Baptisteriums.

(Aus Edgerton, Samuel Y: Die Entdeckung der Perspektive. Fink, München 2002.)

Ganz neu ist die Rahmung des Blickfeldes. In einem Ausschnitt wird eine größere Aufmerksamkeit des Auges hervorgerufen. Paul Klee zum Beispiel schnitt in einen Karton ein Quadrat und blickte, wie durch einen Rahmen hindurch, wenn er malte. Die Sehschärfe wird ungemein verstärkt, wenn alles, was keinen unmittelbaren Bezug zum Motiv hat, im Dunkeln bleibt. Um die Verkehrung wieder aufzuheben, zwingt Brunelleschi den Betrachter denselben Regeln zu folgen, wie der Maler, indem er durch die Tafel, genau in Augenhöhe, ein Loch bohrt. Der Betrachter – es könnte ein neugieriger Passant sein, den Brunelleschi aufgefordert hat, an seinem Experiment teilzunehmen – hält nun, und zwar im selben Abstand, den der Maler benötigte, um das Bild zu malen, den Spiegel. Er steht mit dem Rücken zum Hauptaltar des Domes und blickt in Richtung des Baptisteriums, das er aber nicht sehen kann weil es vom Spiegel verdeckt wird. So blickt er von hinten, durch das kleine Loch der gezeichneten Tafel, in den Spiegel und erblickt tatsächlich das Baptisterium. Um aber die Illusion zu vollenden, gestaltet Brunelleschi den oberen Rand derart, dass sich in ihm die wirklich über dem Bau vorbeiziehenden Wolken spiegeln. Der Betrachter ist nun mit dem eigenen Auge im Abbild und das Größenverhältnis ist aufgehoben. Der Betrachter glaubt, wirklich das Baptisterium zu sehen und hat gleichzeitig eine schockierende Begegnung mit seinem eigenen Auge im Spiegel: er ist als aktives Subjekt selbst im Bild.[68]

Bildergebnis für die erfindung der zentralperspektive edgerton

Auch wird der Betrachter, der durch das kleine Loch auf der Rückseite des Bildes blickt, bemerken, dass auf dem Spiegel, den er mit einer Hand vor sich hält, alle Linien des Platzes und des Baptisteriums und der noch erkennbaren Gebäude, die Brunelleschi nach hinten laufen ließ, an einem Punkt zusammenlaufen, der mit dem Ort seiner Augen identisch war: das Fluchtpunktprinzip war bewiesen!

Lässt man aber den Spiegel weg, dann werden alle zentralperspektivisch gemalten Bilder so betrachtet, dass das, auf einer zweidimensionalen Malfläche gemalte, Bild wie ein Fenster zwischen Betrachter und Objekt wirkt. Das heißt, dass die Sehstrahlen unterbrochen werden und das Bild des Objekts hinter dem Fenster plötzlich wie eine illusionistische dreidimensionale Miniaturdarstellung auf der Oberfläche festgehalten wird. Ebenso, wie der Betrachter in Brunelleschis Experiment mit dem eigenen Auge im Abbild ist und sich beim Betrachten selbst betrachtet – was in der Malerei späterer Epochen von eminenter Bedeutung sein wird – kann er nun mit Hilfe der zum Fluchtpunkt verlaufenden Sehstrahlen visuell einen illusionistischen Raum betreten.

11 Masaccio und die Heilige Trinität

Wir stehen nun – auch unser Chauffeur ist mit dem Bus wieder in Florenz eingetroffen – im Halbdunkel der Kirche S. Maria Novella vor dem sanft beleuchteten Fresko der Heilige Trinität, das Masaccio um 1425 schuf. Das Trinitätsfresco gilt in der Kunstgeschichte als das erste Werk der Malkunst, das nach den wissenschaftlichen Prinzipien der Zentralperspektive konstruiert wurde und das Motiv des Gnadenstuhls zeigt, in dem der thronende Gottvater mit beiden Händen das Kreuz hält, auf dem Christus hängt. Der heilige Geist als Taube ist über Christus gegenwärtig; Maria und Johannes flankieren die Trinität. Auf einem Absatz kniend werden die Stifter dargestellt, die aber – entgegen der mittelalterlichen Tradition – im Figurenmaßstab nicht von den biblischen Gestalten abweichen.

Einerseits wird also in Masaccios Gemälde das neu entstehende Selbstbewusstsein der Menschen sichtbar. Der Maler scheut sich nicht mehr, die Stifter in gleicher Größe wie die heiligen Figuren abzubilden, andererseits verweisen das Skelett und die Inschrift im unteren Bildteil auf die Vergänglichkeit allen menschlichen Seins. Noch sind die Maler tief mit dem Mittelalter verbunden und ihre Bilder entstehen alle im Dienste Gottes. Aber mit der Entdeckung der Zentralperspektive werden immer mehr Veränderungen sichtbar, die schließlich zur Loslösung aus der mittelalterlichen Metaphysik führen. Vor allem kündigt sich, wie man es an der Trinität Masaccios beobachten kann, eine neue Ästhetik an, die sich in der bewundernswerten harmonischen Einordnung der Figuren in das Kompositionsdreieck ausdrückt. Noch dazu waren in der traditionellen Bildtradition klassische Bauformen keinesfalls Kreuzigungsmotive. Die Darstellungen waren in einen Goldgrund eingebettet und nicht von klassischer Architektur umgeben, wie es in Masaccios Trinitätsfresko zu sehen ist. Daher zeigt dieses nicht nur einen naturgetreuen Ausschnitt einer angenommenen Wirklichkeit – also nicht nur den Blick durch ein Fenster – sondern auch dieses wird dargestellt. Man denke dabei wieder an die von Augustinus angeprangerte sündhafte 'Augenlust' und an Petrarcas ängstliche und zwiespältige Reaktion beim Anblick der ihn umgebende Schönheit der Welt. Die Bilder des Mittelalters waren von Symbolhaftigkeit und Naturferne geprägt; nun aber gibt Masaccio mit größter Gewissenhaftigkeit die geometrische Anordnung von klassischen Formen wieder. Völlig neu – im Gegensatz zur Tradition – war, dass es durch die zentralperspektivische Gestaltung des Freskos möglich ist, den Ort der Figuren in der Kapelle zu bestimmen, um damit aus der zweidimensionalen Malfläche eine dreidimensionale Illusion zu gestalten. Es musste ein wahrer Schock für die Zeitgenossen Masaccios gewesen sein, als sie im Halbdunkel der Kathedrale plötzlich eine neue Kapelle gewahrten, die es am Vorabend noch gar nicht gab. Das Bild darf ja nicht mit unserem modernen Blick betrachtet werden, der an illusionistischen Raumdarstellungen gewöhnt ist. Man muss sich in den spätmittelalterlichen Menschen versetzen, für den raumschaffende Darstellungen völlig unbekannt waren. Sein Blick ging, wie wir in Dantes Inferno gesehen haben vertikal von unten nach oben und war nicht in die Ferne gerichtet.

Masaccio, 1425 – 1428, Fresco, 677 x 317 cm, Santa Maria Novella, Florenz.

Bei dem so gestalteten Bildinhalt und dessen Aufbau handelt es sich um eine, neu konstruierte, Nachahmung der Golgatha-Kapelle in Jerusalem und war daher auch von Masaccio als Grabmal gedacht. Zu dessen Zeit waren Nachahmungen heiliger Stätten keine Seltenheit, man bemühte sich, durch solche Darstellungen Heiligkeit in die Städte zu holen. Das illusionistische Grabmal ist dort angebracht, wo eigentlich eine wirkliche Kapelle hätte stehen müssen. Das war aber nicht möglich, denn hinter der Wand, auf dem sich das Fresko befindet, liegt der Chiostro verde[69], sodass Masaccio die Kapelle gleichsam durch eine gemalte Illusion ersetzte.

Der Bildaufbau ist als Pyramide gestaltet. Im untersten Teil des Bildes stellt das Skelett Adam dar, als Sinnbild der Vergänglichkeit und Verwesung; es dient aber gleichzeitig als Symbol für den Übergang der Seele zum ewigen Leben. Im Mittelalter stand der Mensch, mit seiner geringen Lebenserwartung, dem Tod – nicht zuletzt bedingt durch allgegenwärtige, verheerende Kriege, Hungersnöte oder grauenvolle Pestepidemien – stets gegenüber. So scheint es nicht verwunderlich, dass sich das Sterben auch in Kunst und Literatur niederschlug. Die Darstellung des menschlichen Gerippes in der Sepulkralkunst – Transi genannt – ist seit dem Ende des 14. Jahrhunderts, vor allem in Frankreich, verbreitet. Während aber die meisten dieser Darstellungen den verwesenden, von Würmern zerfressenen Leichnam zeigen, stellt Masaccio das erste Mal – ein halbes Jahrhundert vor Leonardo da Vinci – ein wissenschaftlich exakt nachgebildetes Skelett dar. Die Inschrift auf dem Sarkophag vermittelt, gleichsam als Bindeglied die Vergangenheit mit der Zukunft.

IO – FU – GÀ  – QUEL – CHE – VOI – SETE: E – QUEL – CHI – SON – VOI – ACO – SARETE

                    (Ich war, was ihr seid und was ich bin, werdet ihr sein.)

Dieses Momento mori, über dem Skelett Adams mahnt, dass sein Schicksal das eines jeden Menschen sein wird – auch jener Familien, die in der Kirche S. Maria Novello bestattet sind –, gleichzeitig aber, durch den Kreuzestod Christi, zur Erlösung führt. Allerdings ist die Deutung des Grabes nicht unbedingt bewiesen. Der Tote ist mit keinem sichtbaren Verweis auf seine Persönlichkeit verbunden. Er erscheint eher anonym, was durch den Spruch über dem Grab noch betont wird, der einer geläufigen Redensart dieser Epoche entspricht.

Dieser untere Teil des Freskos wird nun durch einen Querbalken, auf dem das Stifterpaar – außerhalb der heiligen Szene, in der Kapelle auf dem Boden kniend – mit der oberen heiligen Szene verbunden. In der Mitte des Querbalkens, der Zentralebene, befindet sich der zentralperspektivische Fluchtpunkt, von dem die geometrisch konstruierten Linien systematisch, sowohl nach oben, als auch nach unten, auseinanderstreben. Nach Brunelleschis Methode muss der Betrachter einen genau bestimmten Standort vor dem Fresko einnehmen, um der räumlichen Illusion teilhaft zu werden. Der Betrachter steht nun genau an jenem festgelegten Standort vor dem Fresko, der heute noch durch eine Bronzescheibe am Boden gekennzeichnet ist und er folgt im Geiste jenen Schnüren, die Masaccio von genau gewählten Punkten im Gemälde – deren Nagellöcher noch heute zu sehen sind – zum zentralen Punkt des Betrachters, dem Augenpunkt führte.

Das in Masaccios Gemälde verwirklichte System der Zentralperspektive war aber nicht nur eine technische Erfindung – eine geometrisch-mathematische Konstruktion, um Naturnähe, Zeitlichkeit und Räumlichkeit darzustellen – sondern gleichzeitig eine neue 'symbolischen Form'. Obwohl man nämlich einerseits durch die Darstellungsmittel der Zentralperspektive, eine greifbare Wirklichkeit zum Ausdruck bringen konnte, signalisierten, andererseits die Künstler durch Außerkraftsetzen des Prinzips zentralperspektivischer Gesetzmäßigkeiten überirdische Erscheinungen.[70] Das heißt, dass nunmehr, anstelle des mittelalterlichen Goldrahmens, die irdische Umwelt als Hintergrund des Jenseitigen diente. So bildet auch in Masaccios Fresko die Kapellenarchitektur den 'wirklichen Hintergrund' für ein 'unwirkliches Geschehen'. Das wird dem Betrachter bewusst, wenn er die Stellung Gottvaters im Bild zu bestimmen versucht. Die Kunstexperten sind dazu unterschiedlicher Meinungen: Einige gehen davon aus, Gott stünde auf dem roten Kasten, dann aber dürfte sein Haupt – perspektivisch gesehen – nicht unter dem Kassettendeck zu sehen sein, denn, würde er sich nach vorne neigen, so hätte Masaccio den Kopf tiefer ansetzen müssen. Wird von dieser Lösung ausgegangen, dann liegt ihr ein weitgehend rationaler Bild- und   Architekturraum ( wie Abb. 1 zeigt)

zugrunde. Gott würde auf dem Grab Jesu stehen. Die Gestalt Gottvaters ist aber aufrecht. Daher ist anzunehmen, die Verklärung der Gestalt Gottes, die im Raum zu schweben scheint sei beabsichtigt, sie sei quasi ortlos, um auf das Überirdische der Erscheinung hinzuweisen, die nicht den Regeln des Diesseits unterworfen ist. Da aber Masaccio die Perspektive ohne Zweifel beherrschte, ist von einer bewussten Rauminszinierung auszugehen. (Abb. 2)[71]

Fast gleichzeitig wie Masaccio hat Jan van Eyck – um 1425 – eine Kirchenmadonna dargestellt, die als übergroße Gestalt in einer nach zentralperspektivischen Gesetzen wiedergegebenen Kathedrale steht.[72] (Dabei ist der Fluchtpunkt rechts außerhalb des Bildes zu finden.)

Jan van Eyck: (1390 – 1441), Madonna in der Kirche (1426). Staatliche Museen, Preußischer Kulturbesitz, Berlin.

Durch die Verwendung verschiedener Maßstäbe bei Figuren im Raum wird das Wunderbare der Erscheinungen sichtbar gemacht. Anders ausgedrückt, es wird neben der illusionistischen Räumlichkeit der Zentralperspektive eine zweite, dem Mittelalter zugehörende Bedeutungsebene eingefügt.  Bedeutungsebene heißt, dass die Darstellung der Figuren im Bild nicht in ihrer natürlichen Größe nachgeahmt werden, sondern nach ihrer heilsgeschichtlichen oder gesellschaftlichen Bedeutung. Die Heiligenfiguren (und, nach ihnen, die Kaiser, Könige und Fürsten) werden, je nach ihrer Bedeutung, größer oder kleiner dargestellt.[73]

Nachdem wir die Kirche Santa Maria Novella mit dem Fresco Masaccios verlassen und darauf noch das von Giotto gemalte Kruzifix und die von Nardo di Cione[74] gemalten Fresken in der Strozzi Kapelle bewundert hatten, die Dantes Hölle und das Paradies schildern, wandten wir uns der Via de‘ Tornabuoni zu und verweilten kurz in der Kirche Santa Maria Maggiore beim Grab des Brunetto Latini, des Lehrers Dantes, der ihm beigebracht haben soll, wie der Mensch sich eigenen Ruhm erwirbt. Nun schmort sein Lehrer in der Hölle, in der ihn Dante später besuchte und klagte:

Denn wehmutsvoll, doch treu im Herzensgrunde /Wird euer gutes Vaterantlitz leben, /Das teure, da ihr droben Stunde um Stunde /Mich lehrtet, ewigen Ruhme nachzustreben.

(Inferno XV, 82 – 85).

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Gemälde von Giotto die Bondone in der Kapelle des Bargellopalastes in Florenz. Dies ist das älteste Porträt von Dante, es wurde gemalt, noch bevor er ins Exil verbannt wurde. (Ursprünglich war der Bargellopalast Sitz des Capitano del Populo und Hinrichtungsstätte, heute befindet sich im Innenhof dieses Palastes eine der bedeutendsten Skulpturensammlungen der Welt mit Werken von Michelangelo, Donatello und vielen anderen Künstlern der Renaissance.)

Am Ende der Straße Tornabuoni betreten wir die Kirche S.Trinità am gleichnamigen Platz, in der frühere Besucher wahrscheinlich die Maestà von Cimabue (die wir weiter oben schon dargestellt haben) bewundert hatten. Heute hängt sie in den Uffizien. Wir wenden uns nach rechts und wandern das Arnoufer entlang zum Ponte Vecchio mit dem Turm der Armidei. Diese Adelsfamilie – die ursprünglich aus Rom stammte und der Partei der Welfen angehörte – lebte im Streit mit der Fiorentiner Sippe der Buondelmonte, den Gibellinen zugehörig. Im Jahre 1215 ermordete ein Mitglied der Familie Armidei, namens Mosca, einen Buondelmonte, der einem adeligen Fräulein der Amidei die Ehe versprochen hatte, sein Wort aber nicht hielt. Daraus war ein ständiges Verjagen entstanden: erst verjagten die Gibellinen die Welfen aus Florenz, dann war es wieder umgekehrt. Florenz war in zwei Gruppen von unheilbarer Zwietracht gespalten. Diese Spaltung und die todbringende Feindschaft der beiden Parteien, der Welfen und der Gibellinen, betraf auch Dante selbst. Auch er wurde aus Florenz verbannt, das er nie mehr wieder betreten würde. Diesen Umstand verewigte er auch in der „Commedia“. Dort treffen im 28. Gesang die beiden Wanderer Vergil und Dante im neunten Sektor des achten Höllenkreises die Seelen jener, die ein heiles Ganzes (Die Stadt Forenz) durch Spaltung oder Teilung zerstört haben. Ihre Strafe besteht darin, dass sie selbst gespalten werden.[75] Da erkennt Dante auch Buondelmontis Mörder Mosca, dem ein Teufel, in ewiger Wiederkehr, die Hände abhackt: Und einer, dem man beide Hände stutzte, / Die Stummel in die dunkle Luft erhoben, / Das Blutgerinnsel sein Gesicht beschmutzte, / Rief aus: „Gedenke auch des Mosca droben, / Der ach! Einst sprach: Was sein muss, muss geschehen! / Was Unheil viel, die Tusker ließ erproben – „ / „Und dein Geschlecht“, ergänzt ich, „untergehen!“ (Hölle, XXVIII, 103 – 109) Den ermordeten Buondelmonte versetzte Dante jedoch ins Paradies, wo er ihn auch besuchte, um dort um den verlorenen Frieden in Florenz zu klagen. (Paradies, XVI, 136 – 147.)

Wir gehen weiter durch die Gassen, am Palazzo Vecchio vorbei, in dem Dante an Ratssitzungen teilgenommen hat, schlendern den Borgo dei Greci entlang und erreichen die Piazza S. Croce. Auf der Treppe vor der gleichnamigen Kirche steht die von Enrico Pazzi im Jahre 1865 geschaffene Dantestatue. Wir wandern wieder zurück, bis zur Via del Corso, dem Wohnort Beatrices – der Muse Dantes –, biegen, durch einen Bogen hindurch  in die Via S. Margherita ein und erblicken zuerst eine kleine Kirche und dann das Geburtshaus Dantes. Vor dieser kleinen Kirche erscheint ihm, wie Dante in seinem Prosawerk La Vita Nova (Das neue Leben) schreibt, Beatrice mit neun Jahren zum ersten mal. Er verliebt sich unsterblich in das Mädchen und damit beginnt für ihn ein neues Leben: Incipit vita nova, so überschreibt er die Schilderung dieser Begegnung. Sein ganzes Leben begleitet ihn diese unerfüllte Liebe und wird, wie es die Forschung sieht, zur Grundlage von Dantes Hauptwerk, der Göttlichen Komödie. Durch den frühen Tod der, in den Himmel entrückten Beatrice habe sich Dante nämlich berufen gefühlt, sie dort wiederzufinden.

Während sich also unsere Gespräche wieder einmal um Dante drehten, überquerten wir den Arno auf dem Ponte Vecchio mit seinen zahlreichen Schmuckläden, und gelangten schließlich zur Kirche Maria del Carmine, in der sich die Brancacci Kapelle mit den berühmten Fresken Masaccios befindet.

 

12 Masaccio und die Brancacci Kapelle

Santa Maria del Carmine wurde im Jahre 1268 im romanischen Stil erbaut, im Jahre 1771 aber durch Brandstiftung fast völlig zerstört. Glücklicherweise blieb die Corsini Kapelle auf der linken und zum Teil die Brancacci Kapelle auf der rechten Seite   verschont. Der in dieser Kapelle zu bestaunende Freskenzyklus, der von Masolino da Panicale im Jahre 1425 begonnen, von seinem Schüler Masaccio weitergeführt und schließlich von Philippo Lippi 1485 beendet wurde, war von dem wohlhabenden Kaufmann und Politiker Felice Brancacci gestiftet worden und stellt das Leben des Apostel Petrus in 15 Bildern dar.

Das Fresko war von einer unglaublichen, alles bisher in den Schatten stellenden Expressivität und in Perspektive und Ausdruck derart zukunftsweisend, dass noch Jahrhunderte später viele jungen Maler – unter ihnen Michelangelo – die Kapelle besuchten, um dort Studien zu betreiben. Masaccio unterbrach aber die Ausgestaltung der Kapelle, um eine Reise nach Rom anzutreten, wo er im Jahre 1428, im Alter von 27 Jahren überraschend starb. Nachdem Masolino – schon unter dem Einfluss seines hochbegabten Schülers – Die Versuchung von Adam und Eva, Heilung des Krüppels und die Auferstehung von Tabitha geschaffen hatte, trat er überraschend eine Reise nach Ungarn an. Anscheinend fühlte er sich seinem Schüler nicht mehr gewachsen. Daher führte Masaccio (bevor er nach Rom abreiste) die Arbeit am Fresko selbständig fort und schuf als Gegenstück zur Malweise Masolinos, die noch unverkennbar vom alten gotische Stil gekennzeichnet ist, im neuen Stil die Vertreibung von Adam und Eva sowie das Herzstück des Zyklus‘, das Bild der Zinsgroschen.

Bild:Masaccio - Der Zinsgroschen

Dabei geht es um eine Stelle im Matthäus-Evangelium, in der es heißt:

Als sie nach Kapernaum kamen, traten sie zu Petrus und sprachen: Pflegt euer Meister nicht den Tempelgroschen zu geben? Er sprach: ja. Und als er hineinkam, kam Jesus ihm zuvor und fragte: Was meinst du, Simon? Von wem nehmen die Könige auf Erden Zoll oder Steuern: von ihren Kindern oder den Fremden? Als er antwortete: Von den Fremden, sprach Jesus zu ihm: So sind die Kinder frei. Damit wir ihnen aber keinen Anstoß geben, gehe hin an den See und werfe die Angel aus und den ersten Fisch, der heraufkommt, den nimm und wenn du sein Maul aufmachst, wirst du ein Vierteldrachmenstück finden, das nimm und gib es für dich und mich.[76]

Besonders beachtenswert ist in dieser Darstellung die von Samuel Edgerton so benannte – und von ihm selbst als etwas umständlich bezeichnete – 'Horizont-Isokephalie'. Damit ist jenes Phänomen gemeint, dass ein, auf einer horizontalen Ebene stehender, Beobachter, der geradeaus auf andere, von gleicher Größe und auf gleicher Ebene stehende, Personen blickt, diese immer auf einer gleichbleibenden Horizontlinie wahrnimmt, wenn die perspektivische Verkleinerung von unten nach oben stattfindet. Vor 1425 hat – so Edgerton – kein Künstler in irgendeiner Kultur der Welt ein Bild angefertigt, in dem dieses Phänomen bewusst dargestellt wurde. Man nehme ein Lineal und ziehe eine Linie durch die Köpfe aller dargestellten – stehenden – Personen, um den Beweis zu erhalten.[77]

Das Bild selbst ist in drei zeitlich aufeinanderfolgenden Szenen eingeteilt. In der ersten, der mittleren Szene, ist Jesus zu sehen, der mit seiner rechten Hand auf Petrus neben ihm weist und ihn beauftragt, einen Fisch zu fangen. Jesus zugewandt steht der Zöllner und daneben hat sich Masaccio, mit einem roten Mantel bekleidet, selbst dargestellt. In der zweiten Szene auf der linken Seite des Bildes kniet Petrus, der damit beschäftigt ist, aus dem Maul des gefangenen Fisches ein Geldstück zu entnehmen, das er in der dritten Szene – rechts am Bildrand – dem Steuereinnehmer übergibt. Diese beiden Personen stehen im Vordergrund eines antiken Gebäudes, dessen Linien der perspektivischen Gestaltung ihren Fluchtpunkt im Kopfe Jesu finden.

Es ist aber eine andere Sequenz, die uns am Fresko in der Brancacci-Kapelle besonders in ihren Bann zieht, da sie über die bildliche Nacherzählung einer biblischen Geschichte hinausführt: und zwar dadurch, dass Masaccio in einem Ausschnitt des Petrusfreskos eine neue, einzigartige 'Symbolische Form' zum Ausdruck bringt und wir unweigerlich an die – zuvor erläuterte – Theorie der Ikonik von Imdahl erinnert werden. Es handelt sich um die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies.

Was aber ist denn das Besondere an dieser Szene, die unsere Aufmerksamkeit erregt? Darstellungen zu diesem Thema gibt es genug, man könnte sie bloß im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Stilepochen betrachten und vergleichen; vor allem mit dem im Fresko gegenüberliegenden Bild von Masolini Der Sündenfall. Man kann ohne Zweifel bei – der Gegenüberstellung der beiden Paare – den Stilwandel beobachten, den die Kunst von Masolini zu Masaccio genommen hat. Sind die Figuren bei Masolini noch demütig mittelalterlich gezeichnet, wie es im Bild links dargestellt ist, so prunkt die Darstellung Masaccios, mit ihren zur Schau gestellten Renaissancefiguren, mit dem prallen Leben.

Masolini: Der Sündenfall.

Masaccio: Die Vertreibung.

Evas Gesicht ist – so analysiert Leonhard Schmeiser – schmerzverzerrt, ihre Hände bedecken Brust und Scham. Adam hingegen präsentiert sein Geschlecht auf geradezu aufdringliche Weise, die Hände hält er vor das Gesicht. Von diesem Gesicht ist daher kaum etwas zu sehen: die unbedeckte Augenbraue ist auf eine Weise hochgezogen, die, für sich genommen, auf Schmerz schließen ließe. Der Mundwinkel (einschließlich Wangenpartie) ist jedoch – und das würde, wenn es denn um Schmerz ginge, den Erwartungen widersprechen – nicht herab-, sondern hochgezogen. Der Betrachter, der die dargestellte Geschichte nicht kennt, könnte meinen, es handle sich hier nicht um zwei Figuren, die sich lediglich in ihrem Ausdruck von derselben inneren Katastrophe unterscheiden, sondern um eine Kontraposition von Gefühlszuständen: Eva zeigt ihren Schmerz, Adam hingegen verberge ein Lachen.[78]

https://www.kunstkopie.at/kunst/masaccio_378/adam_and_eve.jpg

Masaccio: Die Vertreibung aus dem Paradies.

13 Der lachende Adam

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Auszug aus der Vertreibung aus dem Paradies aus Masaccios Fresko in der Brancacci Kapelle.

Dass es schließlich das Ziel der Renaissancekünstler war, nicht nur die verlorene Pracht der Antike wiederzubeleben, sondern diese noch zu überbieten, hat einen Ursprung im christlichen Heilswerk, das stets als eine Erneuerung – einer Renovatio – verstanden wurde.[79] Sie betrifft die Wiederherstellung der alten Ordnung, die nach dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies zu einer dunklen Zeit des Niederganges führte. Diese wurde schon von Petrarca in einem ähnlichen Sinn als Zwischenzeit – als media tempus – bezeichnet; Und daher alle besitzergreifenden Maßnahmen der neuen Kaiser – beginnend mit Karl dem Großen – als ungerechtfertigt und verachtenswert verdammt. Heilsgeschichtlich gesehen, ist das Paradies die 'heile' Alternative zu unserer realen Welt. Zwei Symbole spielen dabei die zentrale Rolle: der Baum und die Schlange. Die Früchte des Baumes bergen die Erkenntnis von Gut und Böse, daher verbietet Gott den Verzehr dieser Früchte, um das Entstehen einer moralischen Instanz im Menschen zu verhindern, die sich selbständig eine Trennung von Gut und Böse anmaßen könnte. Noch dazu lockte die Schlange mit der Verheißung, dass durch den Verzehr der Früchte für den Menschen – so wie für Gott – alles erreichbar wäre. Er, der Mensch, wäre ihm gleichgestellt. Während der Vertreibung erleben Adam und Eva das Gefühl von Nacktheit, Scham und Elend, das aber keinen sexuellen Hintergrund in sich birgt, sondern für arm und verlassen steht. Dieser Abfall von Gott ist jene Sünde, die durch die Hybris (gr: Übermut, Trotz, Frevel) entstanden ist, gleichzeitig aber die Wahl beinhaltet, sich für oder gegen Gott zu entscheiden. Der Mensch befindet sich so im Zustand der Sünde und somit, heilsgeschichtlich gesehen, in der zweiten – dunklen – Phase seiner Existenz. Das aber sollte nicht das Ziel Gottes sein, denn er strebt nach einer, aus ihm heraus existierenden harmonischen Welt. Einer wird diese Botschaft zum Inhalt seines Lebens machen, nämlich Jesus Christus, der mit dem Kreuzestod die dritte Phase der Heilsgeschichte begründet: In Masaccios Trinität hält Gott das Kreuz, auf dem Christus hängt, über das Grab Adams.

Die Idee der Wiederherstellung der verlorenen Pracht, oder vielmehr, noch deren Überbietung, kommt in einer Formel der römischen Osterliturgie zum Ausdruck, einem Preisgesang, der in der heiligen Osternacht erklingt und vom Kirchenvater Augustinus stammt. Da ist nämlich von der felix culpa die Rede, der glücklichen Schuld, und beinhaltet den Gedanken, dass der Sünder sich durch die Vergebung in einem glücklicheren Zustand befindet als vor der Sünde. Der Ausdruck felix culpa gehört in den Kontext „O certe necessarium Adamae peccatum, quod Christi morte deletum est. O felix culpa quae talem ac tantum meruit habere Redemtorem!“ (O wahrlich notwendige Schuld Adams, die durch Christi Tod getilgt worden ist. O glückliche Schuld, die es verdient, einen solchen und so großen Erlöser zu haben!) Daraus ist zu schließen, dass, in diesem Gedanken der Wiederherstellung und Überbietung des ursprünglichen Zustandes, jenes Optimierungspotenzial zu suchen sei, das die Neuzeit mit ihrer Überzeugung von der 'Machbarkeit' aller Dinge, mit ihrem absoluten Fortschrittsglauben, bis zu seiner Infragestellung mit aller Kraft ausgeschöpft hat.[80]

Bringt man nun die Szene der Vertreibung aus dem Paradies in Masaccios Fresko mit diesem tieferen Sinn der felix culpa in Verbindung, dann ist es angebracht, die dunklen Strahlen der Stimme Gottes und das im Dunkeln liegende Tor des Paradieses, durch das das Paar soeben hinausgejagt wird, zu beachten: Adam und Eva eilen dem Lichte zu, in einen hellen Raum hinein, einer neuen Zeit entgegen. Sie verlassen kein strahlendes, unübertreffbares Reich Gottes. Sie fliehen zwar vor dieser dunklen Stimme und dem drohenden Schwert über ihnen, aber gleichzeitig eilen sie der Welt entgegen, um von neuem Mensch zu werden. Felix culpa: man könnte annehmen, dass es die glückliche Schuld ist, die Adam veranlasst, hinter vorgehaltener Hand zu lachen. 

Wie aber ist dieses Lachen – wenn es von Masaccio wirklich so beabsichtigt war – im Sinne einer symbolischen Form zu deuten? Wollte er mit dem sinnlichen Zeichen – der Darstellung des Lachens – etwas Erhabenes ausdrücken? Man muss davon ausgehen, dass das Erhabene einer Idee gleichzusetzen ist, einem geistigen Bedeutungsinhalt, der, da er von keiner der Erfahrung angehörigen Wirklichkeit erkannt werden und daher gar nicht dargestellt werden kann. Es wird die Abwesenheit von Form sein, mit der man später, in der modernen Malerei, versuchen wird, dieses Phänomen zu begreifen.[81]

In der Epoche jedoch, in der wir uns befinden, im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, stehen wir der Idee nicht formlos gegenüber. Es sei vorweggenommen, dass das Erhabene, im Gegensatz zum Sublimen, das mit einer positven (moralischen) Erhöhung verbunden wird, durchaus auch negativ besetzt sein kann. Es kann auch die Idee des absolut Bösen sein, die dem Erhabenen zuzuordnen ist. Das Erhabene kann aber auch eine Idee sein, die bis zum Augenblick ihrer symbolischen Darstellung undenkbar und daher auch in irgendeiner als solche erkennbare Form darstellbar ist. Während aber die Bilder des späten Mittelalters in ihrer Bildhaftigkeit eine Geschichteerzählen, die den Betrachtern bekannt sein musste, um die Botschaft zu verstehen, so sehen wir mit der Darstellung des lachenden Adams – neben der allen bekannten Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies – eine Idee dargestellt, die weit von der Vorstellungskraft der Zeitgenossen Masaccios entfernt war. Unvorstellbares war geschehen: Adam lacht im Augenblick der Strafe Gottes und in der Kirche Santa Maria Novella öffnet sich dort, wo eigentlich eine Wand sein sollte, eine Kapelle. Die Form ist dabei nicht abwesend. Sie ist künstlerisch, auf der Grundlage von Brunelleschis Erfindung der Zentralperspektive konstruiert und erschüttert den Glauben. Der Glaube an die Wirklichkeit der Wirklichkeit schwindet.

Das Lachen Adams ist eine aus dem Transitorischen und Flüchtigen entstandene Anspielung auf die Idee eines neuen Zeitbewusstseins, einer Idee, die avantgardistisch zu sehen ist, und sich in der räumlichen Metapher der Vorhut ausspricht, die, einem Kundschafter gleich, in ein ihm unbestimmtes Gebiet vorstößt, der sich den Risiken plötzlicher, schockierender Begegnungen aussetzt, der eine noch nicht besetzte Zukunft erobert, der sich orientiert, also eine Richtung finden muss, in einem noch nicht vermessenen Gelände.[82]

Es scheint also durchaus möglich, dass Masaccio das Vertreibungsfresko mit einem, über die Bibelgeschichte hinausweisenden, Denkbaren verflochten hat, das neben der handwerklichen Kunst eine in die Zukunft gerichtete Komponente besitzt und sich dabei ein Blick in die Moderne öffnet.[83] Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Moderne immer dann entsteht, wenn ein alter, bis dahin geltender Wirklichkeitsglaube zurückgewiesen wird und neue symbolische Formen des Darstellbaren und Denkbaren entstehen. Bringt man die Vertreibung aus dem Paradies mit Baudelaires paradis perdu (verlorenes Paradies)  in Verbindung – das sich zwar in erster Linie auf seine Kindheit bezieht und eine der Ursachen seiner Melancholie war, die sein ganzes Werk durchzieht –, dann ist es die Sehnsucht nach dem Unwiederbringbaren, der Schmerz des Verlustes, des Ausgestoßenseins und dem Gefühl der Entfremdung, die sich in Evas verzweifelter Gestik ausdrücken. Auch Adam hält sich – scheinbar entsetzt – die Hände vors Gesicht, aber es ist nicht das Entsetzen, das Eva verspürt, das ihn zu dieser Geste veranlasst. Im Gegenteil. Adam hat von der verbotenen Frucht gekostet und kaum jemand wird daran zweifeln – wenn man die erotische Deutung der Vertreibung bemüht – dass ihm ihr Genuss unangenehm gewesen wäre.

Baudelaire lebte fünfhundert Jahre später als Masaccio, kannte die Vertreibungsszene nicht und doch lässt sich eine denkwürdige Betrachtung anstellen, wenn man das eigentümliche Lachen Adams mit den Überlegungen Charles Baudelaires in seinem Essay Vom Wesen des Lachens in Verbindung bringt.[84] In diesem Essay geht es um einen theologischen Diskurs, der sich schon früh bei Augustinus[85] um die Legitimation von Bildern im religiösen Kultus dreht. Es geht dabei um die Gefährdung der Seele, die der bloßen Augenlust (voluptas oculorum) entspringt. Mit dieser Sünde ist eine Neugierde gemeint, die am sakralen Bild die sinnhafte Erscheinung mitgenießt und sich dann mehr und mehr in ihr verfängt.[86]

Das Bild hat ja, wie schon erwähnt, im Mittelalter und im heilsgeschichtlichen Sinn keine andere Funktion, als dem Betrachter Gott näherzubringen und es durfte in seiner stofflichen Eigenschaft  gar nicht wahrgenommen werden. Verschwinden die Bilder im Auge des Betrachters nicht und werden sie als solche wahrgenommen, indem der Blick in ihnen bleibt, sind diese das, was Baudelaire als das Böse fasst.[87] Er bezieht sich dabei auf die theologische Auslegung, in der das Lachen Folge und Ausdruck des Sündenfalls ist. Dieses Phänomen deutet auf Seelenkräfte hin, die sich der rationalen Kontrolle der Hinwendung zum Guten und dem Transzendenten entziehen.

Das Lachen ist satanisch, also ist es zutiefst menschlich. Es entspringt im Menschen aus der Vorstellung seiner eigenen Überlegenheit; und, in der Tat, da das Lachen durchaus von Grund auf menschlich ist, ist es auch von Grund auf widersprüchlich, insofern es zugleich Anzeichen einer unendlichen Größe und eines unendlichen Elends ist, eines unendlichen Elends im Vergleich mit dem absoluten Wesen, von dem sein Geist eine Vorstellung besitzt, einer unendlichen Größe im Vergleich mit den Tieren. Aus dem unaufhörlichen Widerstreit dieser beiden Unendlichkeiten entsteht das Lachen.[88]

Das gespaltene Wesen des Menschen, die Spaltung zwischen zwei Größen, seiner Überheblichkeit und seinen Hochmut und gleichzeitig seines Elends, in das er nach der Vertreibung aus dem Paradies gestürzt war (Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen) bringt das Lachen hervor, mit dem er sich bis zur Revolte gegen Gott erhebt.

Das Lachen Adams kommt somit einer Abgrenzung von der absoluten Verfügbarkeit Gottes über den Menschen gleich. Das Lachen im Bild Masaccios ist also, im Grunde genommen, eine symbolische Darstellung des Erhabenen im Sinne des Bösen in der Auflehnung gegen Gott. Daran kann auch die Darstellung Evas, die schamhaft ihre Blößen zu verdecken sucht, nichts ändern. Im Gegenteil. Auch dadurch kann keine Annäherung an Gott gelingen, weil Eva gerade durch ihre Schamhaftigkeit den Blick auf sich zieht und der Betrachter im Bild hängenbleibt und im Sinne von Augustinus‘ voluptas oculorum sündig wird.

So ist das Lachen Adams, wenn man sich aus der theologischen Tradition löst, der erhabene Ausdruck einer erwachenden Individualität, die sich im neuen Menschen zeigt und Ausdruck eines eigenen Willens und Wollens ist.

Aber noch eine Besonderheit ist in diesem Bildausschnitt zu entdecken. Betrachtet man die Haare auf dem Kopf Adams näher, dann sind  zwei Höcker zu entdecken, so als würden sich dort zwei Hörner verbergen und Satan selbst im Körper Adams stecken und sich teuflisch darüber freuen, dem Allmächtigen einen Streich gespielt zu haben.

14 Die Geburt des „autonomen“ Künstlers.

Während dieses ereignisreichen 15. Jahrhunderts löste sich die bildende Kunst allmählich von ihrem bisherigen Hauptauftragsgeber, der Kirche und erlangte im wachsenden Maße Unabhängigkeit. Der Adel und das aufstrebende Bürgertum erkannten, wie sehr sie die, von ihnen finanzierten, Kunstwerke als Zeichen ihrer Macht und zur Darstellung ihres Reichtums einsetzen konnten. Daher beschäftigte sich der Künstler nicht mehr ausschließlich mit religiösen Motiven, sondern wandten sich auch weltlichen Themen zu und begannen eigenständige Ideen zu verwirklichen, die eigenen geistigen Energien entsprangen. Dadurch werden Maler, Bildhauer und Architekten mehr und mehr als Künstler betrachtet und nicht mehr als Handwerker. Schon in der Mitte des 15. Jahrhunderts stellte einer der bedeutendsten Humanisten seiner Zeit, Masillio Ficino[89] fest, dass ein Kunstwerk das Ergebnis einer Idee sei und nicht bloß eine Kopie der Natur. Die individuelle Kreativität der Künstler wurde von nun an zu einer hochgeachteten Tätigkeit. Vorbereitet haben diese Konzeption, nämlich die von einer Idee ausgehenden Malerei, Giotto und Cimabue schon im späten 13. und im 14. Jahrhundert. Giotto brach mit der Symbolik des Mittelalters und der Darstellungsform des Mosaiks und brachte in seinen Werken der Wirklichkeit entsprechende Elemente in Verbindung mit der Idee entsprungene Ausdrucksformen ein. Dabei verzichtete er auf das bisher vorherrschende byzantinische Mosaik und bediente sich der Kunst des Freskos, das von nun an die bevorzugte Darstellungsform der Renaissance wurde. Daneben entwickelte sich aber auch die Tafelmalerei, die, neben ihrer Verwendung als Kult- oder Altarbild, bald zur geeigneten Technik für die nun hoch aktuell gewordene Porträt- und Landschaftsmalerei wurde. Dabei stand der Mensch im Zentrum der sichtbaren Welt und zeigte in Mimik und Gestik das Bewusstsein, aus eigener Kraft sich die Welt zu unterwerfen..

Während also die Malerei der Früh- und Hochrenaissance seit der Erfindung der Zentralperspektive mit Malern wie Paolo Ucello, Piero della Francesca, Masaccio, Leon Battista Alberti, Michelangelo, Giorgone, Tizian u. a. bis zu Raffael, kontinuierlich ihrem Höhepunkt zustrebte und ihre Suche nach der absoluten Schönheit mit dem Tod Raffaels im Jahre 1520 ihr Ende fand, gab es in der Literatur seit Dante, Petrarca und Boccaccio für fast hundert Jahre lang kaum eine nennenswerte Weiterentwicklung. Sie war weitgehend geprägt von einer Verdrängung der volkssprachlichen Dichtung hin zu einer lateinischen, die Antike nachahmende, humanistischen Literatur, in der ein Latein verwendet wurde, das mit dem mittelalterlichen Vulgärlatein nichts zu tun hatte. Es war an der Sprache der klassischen Autoren Cicero und Vergil orientiert. Trotzdem existierte daneben eine volkssprachliche Literatur, die sich aber, im Gegensatz zur lateinischen, von Region zu Region anders entwickelte. Daher kann man fast das gesamte 15. Jahrhunderts als eine Zeit des Experimentierens, ja sogar als literarisch-anarchistische Epoche bezeichnen. Dann aber, zu Beginn des 16. Jahrhunderts, bahnt sich mit dem Beginn der Hochrenaissance eine Wende an.

Mit Ariosts Orlando furioso knüpfte die italienische Literatur wieder an die Werke der drei großen, eine literarische Neuzeit begründenden Dichter (Dante, Petrarca und Boccaccio) an. Ariosts Orlando entstand während jener kurzen Epoche der von 1500 bis 1520 dauernden Hochrenaissance, in welcher Maler wie Michelangelo, Leonardo da Vinci und Raffael jene Bilder vollendeten, die dem angestrebten Ziel der Kunstentwicklung der Renaissance entsprachen. (Dabei ging es nicht nur darum, die nachgeahmte Natur so darzustellen, dass beim Betrachten des Bildes der illusionistische Effekt mit dem Nachgeahmten identisch zu sein hatte, sondern sie – wie gesagt – sogar noch zu übertreffen. Das Ende der Hochrenaissance ist im Zusammenbruch der Illusion von der Vollkommenheit des Menschen zu suchen, der eine Reihe von Ursachen hat, die weiter oben schon erwähnt wurden: die Entdeckung Amerikas, der Verlust des geozentrischen Weltbildes, die politischen Ereignisse in Italien – hier vor allem der sacco di roma[90] – und nicht zuletzt das Auftreten der Pest.)

Vom vielen Wandern hungrig geworden verließen wir die Kirche S. Maria del Carmine, überquerten den gleichnamigen Platz,  eilten durch enge geschäftige Gassen, bis wir auf der Piazza S. Spirito in einem der zahlreichen Restaurants im Freien einen Platz fanden.  Vor uns erhob sich die Chiesa S. Spirito mit ihrer typisch einfachen, geometrisch konstruierten Fassade, das letzte, im Jahre 1444 begonnene Werk Brunelleschis.

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Basilica di Santa Maria del Santo Spirito in Florenz.

Es wurde schon erwähnt, dass Brunelleschi in den Trümmern des antiken Roms nicht nur nach der klassischen Architektur suchte, um sie in ihrer alten Pracht wiedererstehen zu lassen, sondern er vermischte sie in seinen Entwürfen für Paläste, Kapellen und Kirchen mit dem traditionellen gotischen Stil. So konstruierte er zum Beispiel geradlinige, mehrstöckige Gebäude, rundete aber die gotischen Spitzbogenfenster ab und versah sie mit Säuleneinrahmungen im klassischen Stil.

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Palazzo Pitti, Florenz

Man kann also nicht von einer totalen Zurückweisung der Tradition sprechen, sondern von einer Wiedergeburt der antiken Bauformen, auf der Grundlage der mittelalterlichen Architektur. Alle Gebäude, die Brunelleschi plante – wie die Kirchen S. Spirito und S. Lorenzo, das Findelhaus oder die Pazzikapelle und andere – waren geprägt von diesem geometrischen, schmucklosen, strengen und  unaufdringlichen Baustil, bei dem alle Elemente, die bisher als Dekoration dienten, wegfallen. Mit dem Beibehalt der gotischen Tradition und der Verbindung mit den klassischen, antiken Formen entstand die für die Frührenaissance typische neue, moderne Architektur. Sie erscheint typisch für das, was man als modern bezeichnet, nämlich nicht die vollkommene Zurückweisung des Alten, sondern dieses als brauchbares Material für das Neue zu verwenden. Dieses ergibt sich fortwährend aus der Veränderung der gesellschaftlichen, sozialen, politischen und sozialen Verhältnisse. Diese Veränderungen werden gleichzeitig als symbolische Formen in Kunst, Architektur und Literatur sichtbar.

15  Die absolute Schönheit und die Vollkommenheit des Menschen geraten in Zweifel: Der Manierismus und das Kunstverständnis der Galileo Galilei.

Später dann, gesättigt und zufrieden, aber etwas benommen vom Wein, spazierten wir gemächlich unserem neuen Ziel, der Villa Galileis in Arcetri entgegen, einem Stadtteil von Florenz, in den Hügeln südlich des Zentrums. Unweit der Villa befindet sich, im Schatten eines Baumes, eine einladende Steinbank, auf der wir uns  niederließen und zur Villa hinüberblickten, deren ziegelgedeckten ockerfarbigen Dächer im Lichte des zu Ende gehenden Tages golden aufzuglühen begannen. Galilei selbst konnte dieses Leuchten am Ende seiner Tage nicht mehr sehen, denn er war erblindet. Er wurde im Jahre 1564 geboren, im Todesjahr Michelangelos. Er hatte in seiner Kindheit, durch das Elternhaus und in hervorragenden Schulen, eine ausgezeichnete sprachliche Ausbildung genossen und zeigte schon sehr früh großes Interesse am Zeichnen, der Malerei und der Literatur. Einer, der uns am ausführlichsten über Galileis Leben berichtet – er war in den letzten Lebensjahren Assistent und Pfleger des erblindeten Greises – war  Vincenzo Viviani, der im Jahre 1654 eine Biographie Galileis, in Form eines Briefes an den Prinzen Leopoldo de Medici vorgelegt hat, die – obwohl in manchen Punkten ungenau und unkritisch – die Grundlage der Beschäftigung mit Galilei geblieben ist.[91] Als Vorbild für diese Biographie dienten Viviani die Viten Giorgo Vasaris[92], aus denen er sich Anregungen holte und sich so, bei der Lebensbeschreibung Galileis von jener Giottos inspirieren ließ. Dabei geht es um den, der frühen Renaissance entsprungenen, Geniebegriff, mit dem sich die Begabung einzelner Menschen als göttliche Bestimmung schon in der Kindheit zeigt. Es soll ja – wobei ich mich wiederhole – Cimabue, Giottos Lehrmeister eines Tages den Knaben am Wegesrand beim naturgetreuen Zeichnen eines Tieres beobachtet und seine Begabung erkannt haben. Indem Viviani die bedeutendsten Künstler zu Galileis Lebzeiten – Cigoli, Bronzino, Passignano, Empoli und andere aus der Elite der Florentiner Malerei – als dessen liebste Freunde in einem Atemzug nannte, hob er ihn auf dieselbe Stufe, zwar nicht als Maler, aber doch als denjenigen, dessen Urteil über Gemälde und Zeichnungen dem eigenen vorgezogen wurde. Vor allem aber berichtet Viviani von der Beziehung Galileis zu Cigoli.[93] Die Freundschaft mit dem im Jahre 1559 geborenen Lodovico Cardi, genannt Cigoli, der um 1600 zu den bedeutendsten Maler Italiens zählte, entstand während ihrer gemeinsamen Ausbildung an der Academia del Disegno; einer Schule, welche die Zusammenführung aller Künste und Techniken durch die Zeichnung zum Ziele sowie die Mathematik und die Physik als Grundlage hatte. Wesentlich für die Weiterentwicklung der beiden Freunde war aber, dass sie in den Genuss kamen, am Privatunterricht teilnehmen zu dürfen, den Ostilio Ricci, Hofmathematiker am Hofe des Großherzogs Cosimo I., für dessen Sohn Giovanni de Medici abhielt. Gefestigt wurde aber ihre Freundschaft vor allem durch ihre gemeinsame Abneigung gegen den, nach dem Ende der Hochrenaissance – mit Raffaels Tod – sich ausbreitenden, Malstil des Manierismus: ebenso, wie im Falle Galileis der manieristischen Literatur, repräsentiert durch Torquato Tassos „Das befreite Jerusalem“. Diese Abneigung wird schon in Cigolis erstem Gemälde „Die Kreuzabnahme“ deutlich. Er hatte dabei gewiss die Kreuzabnahme Rosso Fiorentinos[94] vor Augen, die als Manifestation des manieristischen Malstils gesehen werden kann.

Cigoli: Kreuzabnahme 1579

Rosso Fiorentino: Kreuzabnahme 1521

Die in Rossos manieristischen Gemälde in ein grelles Rot gehüllte Maria, die gelb und grün gekleideten Frauen am Fuße des Kreuzes, die lebhafte und hektische Tätigkeit der sich um die Leiter drehenden und windenden Männer, die mit  ausdrucksvoller Mimik ihre Arbeit verrichten, lösen im Betrachter jene Spannung aus, wie sie für den Manierismus charakteristisch ist. Es hat den Anschein, als könnte den Männern jeden Augenblick der Leichnam entgleiten und nach unten stürzen. Es ist eine Malerei der Extreme, sie verweist auf das Krisenhafte und das Hybride. Man beachte die strenge Abgrenzung der Figuren voneinander: jede einzelne scheint nur für sich selbst zu existieren. Es ist diese Geste der Zerrissenheit, die dem Glauben an der Vollkommenheit des Menschen widerspricht. In Lodovico Cigolis Kreuzabnahme dagegen ist die Farbgebung gebändigt und besänftigt. Die Personen existieren nicht mehr in einer expressiven Art losgelöst und isoliert von den anderen, jede in ihrer szenenhaften Rolle verharrend, sondern gehen im Ganzen des Bildes auf, die sanften Grenzen ihrer Erscheinungen verwischen sich in einem Hell – Dunkel-Spiel, das Bild erscheint dem Betrachter so harmonisch wie eine sanfte Melodie.

Bildergebnis für cigoli bilder

 Cigoli: Die Unbefleckte Maria, Deckengemälde in der Basilika Santa Maria Maggiore in Rom.

Besonders beeindruckt von dieser Stilausformung war Galileo Galilei von Cigolis Darstellung der Unbefleckten Maria in der Basilika Santa Maria Maggiore in Rom. Cigoli stellte – als Huldigung an seinen Jugendfreund Galilei – in seinem Deckengemälde die Jungfrau Maria auf dem Mond stehend dar, und zwar genauso wie Galilei ihn kurz zuvor in Padua durch das Fernrohr beobachtet hatte: also mit seinen Gebirgen und Unebenheiten und nicht wie eine perfekte Kugel. Es ist nachvollziehbar, dass Cigoli damit gefährlichen Boden betrat: ein mit Flecken übersäter Mond, auf dem Maria stand, war nicht gerade ein passender Vergleich mit Ihrer Unversehrtheit.

Vielfach wird vorgeschlagen[95], den Begriff Manierismus für alle literarischen und Komplementärerscheinung zu verwenden. Im Besonderen hat sich – wie wir gesehen haben – das Kunstgeschehen, das wir heute Manierismus nennen, mit dem Ende der Hochrenaissance nach dem Tod Raffaels im Jahre 1520 bis zum Hochbarock zwischen 1660 und 1750 gefestigt. Ihren tieferen Ursprung hat der manieristische Stil in der schon oben beschriebenen Krise der Renaissance durch weltsichtverändernde Ereignisse, sei es der Verlust des geozentrischen Weltbildes und die damit verlorengegangene Geborgenheit innerhalb eines bis dahin unbezweifelbares Weltbildes, sei es der Einfall der plündernden Söldnerheere in Italien, das Einsetzen der Gegenreformation oder das Elend einer schweren  Wirtschaftskrise und, nicht zuletzt, die Pestepidemie von Florenz im Jahre 1555. Aber schon während der nur kurz andauernden Hochrenaissance, in der man mit den Mitteln der Kunst versuchte, der durch die einsetzende Krise gefährdete Denk- und Gesellschaftsordnung durch ruhige, glanzvolle und unbewegte Meistergemälde, wie sie vor allem Raffael malte, zu begegnen, wird aber auch schon bei ihm, wie auch bei Michelangelo und Leonardo da Vinci sowie anderen Künstlern ein Widerspruch deutlich. Das Auseinanderfallen der Einheit Mensch und Welt zeigt sich bei Raffael besonders in den Entwürfen für die Fresken der vatikanischen Loggien. Nicht nur Schönheit wird dargestellt, sondern das Grauen in der Sintflutdarstellung verweist auf das Neue, auf die Ambiguität und das Paradoxe des Menschseins. Auch bei Michelangelo wird im Jüngsten Gericht (1541) in der Sixtinischen Kapelle die expressive Kraft sichtbar, durch die sich das Harmoniestreben der Hochrenaissance in schockierende Szenendarstellungen verwandelt, in denen nicht mehr die absolute Schönheit dargestellt wird, sondern die der Schönheit und der Harmonie entgegengesetzte Seite, die Zerrissenheit der Welt und des Menschen. Im folgenden Detail aus dem jüngsten Gericht wird das Entsetzen deutlich, von dem der Mensch angesichts der ihm drohenden Verdammnis ergriffen wird:

Michelangelo Buonaroti, Detail aus dem Jüngsten Gericht.

Wie sehr Michelangelo von dieser Zerrissenheit selbst betroffen war, offenbaren seine letzten Gedichte, in denen er sich als Gescheiterter und Bettler in einem Elendsquartier darstellt und alles um ihn herum zutiefst hasst. In diesen späten Jahren Michelangelos wächst aber in Florenz mit den florentinischen Frühmanieristen – Pontormo, Rosso, Beccafumi, Bronzino u.a. – schon so etwas wie eine moderne Avantgarde heran, die allerdings erst viel später als Maler von Rang anerkannt wurden. Dies, weil sie zu ihrer Zeit, noch von Vasari unkritisch so dargestellt wurden, als malten sie alla maniera di Michelangelo: als Nachahmungstäter. Pontormos Malerei zum Beispiel geriet lange Zeit – nicht zuletzt durch die schädigende und abwertende Kritik Vasaris – in Vergessenheit. Er wurde sehr spät, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in seiner Bedeutung als einer der aufregendsten und wagemutigsten Maler des 16. Jahrhunderts wiederentdeckt. Er, wie auch Rosso Fiorentino, waren mit dem mystischen Gedankengut ihrer Zeit bestens vertraut, sie befassten sich mit Esoterik und kabbalistischer Literatur und übertrugen die in solchen Texten beinhalteten Hinweise auf eine geheimnisvolle andere Welt in ihre Bilder. Sie malten diese in bisher nicht bekannten, radikalen und expressionistisch anmutenden Farbtönen, verbunden mit der dramatischen Gestik der Figuren, wie man es in ihren beiden Gemälden der Kreuzabnahme erkennen kann.[96]

So wie Michelangelo sich, mit zunehmendem Alter von der Welt enttäuscht und Menschen verachtend, in seine geistige Einsamkeit zurückzog, so litt auch Pontormo unter einem selbstzerstörerischen Verfolgungswahn. Er wohnte in seinem Atelier auf einer erhöhten Plattform und zog die Aufstiegsleiter wie eine Zugbrücke zu sich hinauf, damit ihm dorthin niemand folgen konnte. Charakteristisch für den Manierismus ist auch in Pontormos Kreuzabnahme die Isoliertheit der Figuren zu erkennen. Es existiert  kein einziger Blickkontakt und keine einzige persönliche Bindung, die zueinander führen könnte. Jede Figur wird im Schmerz auf sich selbst zurückgeworfen und die Blicke verlieren sich im irgendwo.

Pontormo, Jacopo: Altargemälde der Capponi-Kapelle in Santa Felicita in Florenz, Szene: Kreuzabnahme Christi

Pontormo: Kreuzabnahme (1525) Florenz, Santa Felicità.

16 Ludovico Ariosts ‚Orlando furioso‘ (Der rasende Roland) und Torquato Tassos ‚Gerusalemme liberata‘. (Das befreite Jerusalem)

Aber noch einer, der von der Krise seiner Zeit und der Entfremdung von sich selbst und der Welt erfasst wurde – nicht Maler, sondern Dichter – verfiel so wie Pontormo dem Wahn: Torquato Tasso, der ebenso, aber ein halbes Jahrhundert später als Ludovico Ariost, am Hofe der Este in Ferrara lebte. Den beiden – Tasso und Ariost – ist trotz ihrer stilistisch so unterschiedlichen Werke eines gemeinsam: sie überwanden das, fast ein Jahrhundert dauernde, literarische Durcheinander in Italien und knüpften in ihrer Bedeutung an ihre drei großen Vorgänger Dante, Petrarca und Boccaccio an. Trotzdem lehnte Galilei Tassos Werk Das befreite Jerusalem vehement ab und lobte Ariosts Der rasende Roland in überschwänglicher Art und Weise. Er kannte das Werk fast auswendig und bezeichnete Ariost auch als den Vollender der Renaissance. Galilei vergleicht das, während der Hochrenaissance entstandene, Epos Ariosts mit Cigolis Malstil, der sich bewusst vom Manierismus abwandte. Er fügte schon mit der Kreuzesabnahme die einzelnen Teile des Gemäldes wieder harmonisch zusammen und löste mit einer, die Konturen verwischenden, Technik das Gefühl der Zerrissenheit und der Abgrenzung der Figuren voneinander auf. Nun erscheint aber die Vorliebe Galileis, Cigoli mit Ariost zu verbinden und auf das Höchste zu loben, den Dichter Tasso und den manieristischen Maler Rosso dagegen aufs Heftigste zu kritisieren etwas seltsam, wenn man sich die Entstehungsdaten der einzelnen Werke vor Augen führt. Ariosts – der Hochrenaissance zugehörige – Epos entstand zwischen 1500 und 1520, Rossos – im manieristischen Stil gemalte – Kreuzabnahme fast zeitgleich im Jahre 1521 und trotzdem scheinen sie, im Sinne ihrer symbolischen Aussagekraft, grundverschieden zu sein. Ebenso verhält es sich mit Tassos Gerusalemme liberata, das um 1580, gleichzeitig wie Cigolis Kreuzabnahme, entstand. Während Cigoli sich mit seinem Gemälde vom Manierismus entfernte und in eine Phase des Neoklassizismus‘ eintrat, kann man Tassos Werk ohne weiteres dem literarischen Manierismus zuordnen. Um diesen Sachverhalt zu verstehen, ist es angebracht, die beiden Epen gegenüberzustellen, um so, wie bei den beiden unterschiedlichen Gemälden der Kreuzabnahme die Symbolik zu erkennen, die ihnen innewohnt. Ariosts Epos der Orlando furioso/Der rasende Roland ist in seiner Idee keine Originalität, sondern eine Fortsetzung von Matteo Boiardos Orlando innamorato / Der verliebte Roland[97]und knüpft an die Tradition der Ritterepik an, wie sie bei Boiardo Ausdruck gefunden hat. Dieser konnte sein Werk aber nicht vollenden, er fand, als glühender Patriot, im Jahre 1494, beim Einfall Karls VII in Italien, den Tod. Aber schon in diesem unvollendeten Werk erahnt man eine neue, sich anbahnende Wahrnehmung von Wirklichkeit, die sich von der vertikalen, gotischen, von unten nach oben gerichtete, hin zu einer horizontalen, die Säulen des Herakles überschreitende Weltsicht ausdrückt. Die Welt wird nun auf die Ebene bezogen, das Maß aller Dinge ist von nun an der Mensch, wie man es auch an   der Architektur Albertis sehen kann. Ebenso gleicht Boiards Epos nicht einer aufsteigenden Bewegung hin zum Ganzen, sondern einer Aneinanderreihung von Episode: also einer Welt, die horizontal zu erkunden ist und der keine Grenzen gesetzt sind. Bei Boiard scheint der gewandelte geistesgeschichtliche Augenblick bereits durch, bei Ariost wird er zur Realität.

Es ist aber nicht leicht, das Werk Ariosts zusammenfassend zu beschreiben. Drei Handlungsstränge können herausgelöst werden: Die Schlacht um Paris, die mit der Niederlage der Mauren endet, dann die Geschichte einer orientalischen Prinzessin, die am Hofe Karls des Großen allen Rittern den Kopf verdreht und auch von Orlando so geliebt wird, dass er darüber den Verstand verliert – der dann auf dem Mond wiedergefunden wird. Ferner die Liebe der Prinzessin – welche Ironie – zu einem einfachen Fußsoldaten, den sie mit sich ins Morgenland nimmt und schließlich die Geschichte von Ruggero und Bradamante, die zum Lob und zur Preisung von Ariosts Mäzenen, den Estes in Ferrara, eingeschoben wird und von deren Abstammung abgeleitet wird. Für Galilei erfüllt also Ariosts Werk neben der – seiner Meinung nach – unübertrefflichen Dichtkunst die Kriterien einer vollendeten Malerei. Er beschreibt Ariost als einen Dichter, der seine Sätze abrundet und die Wörter so sanft ausklingen lässt, weil ihm in seiner Kunst Wörter, Sätze, Ausdrücke und Begriffe in Hülle und Fülle zur Verfügung stehen Um solche sanfte Übergänge zu formulieren und, trotz der unglaublich sprunghaften Handlung ein harmonisches Ganzes zu gestalten; genauso, wie es in Cigolis Bild der Kreuzesabnahme geschieht. Auch hier kann man erkennen, wie sich die Farben harmonisch in das Ganze fügen, zu einer verschliffenen Klarheit führen und, im Gegensatz zur manieristischen Malerei, die extrem gezeichneten Grenzen der Dinge und Figuren weich ineinander verschmelzen.

Während also Galilei Ariosts Sprache mit Cigolis neoklassischer und schon auf den Barock hinweisenden Malstil vergleicht, wird Tasso für ihn – ebenso wie man es in Rossos Kreuzesabnahme  sieht – zum Intarsienleger, der statt Steine und Holzstücke Worte und Sätze zu Einlegearbeiten montiert. Galilei ist aber mit seiner Abneigung gegen den Manierismus nicht alleine. Schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts kann man eine Abwendung vom manieristischen Stil erkennen. Mit einer, durch die Gegenreformation entstandenen neuen Frömmigkeit wandte sich auch die Literatur und die bildende Kunst wieder den an Gottes Herrlichkeit orientierten Themen zu. Auch die von Ariost so nostalgisch beschriebene – wenn auch immer in eine feine Ironie eingebettete – Ritterwelt  wandelte sich vom abenteuerlichen, 'egotistischen'[98] Heros, der nur auf der Jagt nach seinem eigenen Glück kreuz und quer durch die Welt galoppiert, bei Tasso zu einem, auf ein edles Ziel zustrebenden, aber ständig von Unruhe und innerer Zerrissenheit gequälten Helden. Dieser Stil Tassos', den Galilei so kritisiert, begründet aber dennoch zwei verschiedene Strömungen der italienischen Literatur. Einerseits lebt in Tassos Dichtung ein erhabener, heroischer Stil, der in einem erlesenen höfischen Wortschatz zum Ausdruck kommt, andererseits sind es die lyrischen Töne, die in ihrer schwermütigen, pathetischen Tonalität die weiche, gefühlvolle Seite Tassos wiedergeben. Dadurch vermengen sich diese beiden Stile. Einerseits Unruhe mit vielen Pausen und Brücken mit Ecken und Kanten – eben die erwähnte Intarsienkunst – andererseits Ariosts entspannte und harmonische Dichtung. Horst Bredekamp bringt zur Verdeutlichung dieses Stils eine einzige Strophe, in der die manieristisch anmutende Zerrissenheit der Epoche Tassos erkennbar wird:[99]

Nun aber ist die Schicksalsstunde da, / In der Clorindas Leben enden soll. / Er stößt das Schwert in ihren schönen Busen. / Es taucht hinein, es trinkt ihr Blut begierig. / Und das Gewand von schönem Gold durchwirkt, / Das ihre Brüste leicht und zart umschnürte, / Begießt ein heißer Strom. Sie fühlt sich schon / Dem Tode nah, die Füße, matt, versagen.

Mit bewegten Worten unterstreicht Tasso zuerst Clorindas Schönheit in eben dem Augenblick, in dem sie vergeht; fügt aber gleichzeitig mit grausamen Worten eine sinnliche, wollüstige Note hinzu, wenn das Schwert gierig Clorindas Blut trinkt. Der Erfolg des Epos' liegt denn auch in der Begeisterung der jüngeren Zeitgenossen Tassos, die in ihm ihre eigene innere Unruhe und Zerrissenheit wiederzuerkennen glauben. Dazu verweist die gebrochene Struktur des Werkes voller Ecken und Kanten schon auf das Spiel von Licht und Schatten, von Rauheit und Glätte, das für die barocke Architektur so charakteristisch werden solle.

Diese Unausgeglichenheit und Unruhe, die in Tassos Versen spürbar sind, lassen auch seinen Weltschmerz erkennen. Torquato Tasso wurde 1544 in Sorrent geboren und studierte – woran seine Unrast erkennbar ist – in Neapel, Rom, Bergamo, Urbino, Padua und Bologna. 1565 trat er in die Dienste von Kardinal Luigi d’Este im Herzogtum Ferrara, woraus sich eine sein Leben bestimmende Verbindung mit dem Hof der d’Este um Herzog Alfonso und damit die Prinzessinnen Lucrezia und Eleonora ergab. Die aufreibende Arbeit an seinem Epos Das Befreite Jerusalem und eine nach der Veröffentlichung einzelner Teile davon aufkeimende breite Kritik an seinem Werk strapazierte die physischen und psychischen Kräfte Tassos so sehr, dass er – ähnlich wie Pontormo – von einem Verfolgungswahn ergriffen wurde. Nachdem er einem Diener, von dem er sich ausspioniert wähnte, ein Messer nachgeworfen hatte, wurde er vorerst in einem Kloster eingeschlossen. Er flüchtete und kehrte nach Ferrara zurück, wo er zwar geduldet, aber nach einem rasenden Zornesausruch in das Ospedale di St. Anna  gebracht wurde. Später begab er sich, immer mehr an seiner Krankheit leidend, 1595 nach Rom, weil ihm Papst Clement VIII versprochen hatte, ihn zum Dichterkönig krönen zu lassen. Dort verstarb er im April 1595 am Vorabend dieser außergewöhnlichen Ehrung.

Die Themenwahl seines Hauptwerkes Gerusalemme liberata / Das befreite Jerusalem ist auch von besonderer historischer Bedeutung. In einer Zeit nämlich, in der die katholische Kirche von zwei Seiten bedroht wurde – im Orient von den Türken und dem Islam sowie im Okzident von den Protestanten – entspricht der gewählte historische Stoff dem Interesse des zeitgenössischen Lesers weit mehr als die amourösen und unterhaltsamen Fiktionen des nach alten Mustern verlaufenen Ritterromans Ariosts. Seine romanhafte Thematik konnte jederzeit, nach Gutdünken des Autors – oder den Zurufen anderer, am Hof von Ferrara lebenden, edlen Damen, Herren und Künstlern – umgearbeitet werden. Diese Thematik wird bei Tasso von einem mehr oder weniger getreuen, historischen Hintergrund abgelöst und lässt kaum Möglichkeiten, nach Belieben von einer Episode zu einer anderen zu springen. Die historischen Fakten – das Vorrücken der Türken im Mittelmeerraum und die vielen Auseinandersetzungen und Niederlagen bis zum Sieg von Lepanto im Jahre 1571 – erlaubten es Tasso nicht, sich ohne weiteres irgendwelchen Eingebungen des Augenblicks zu überlassen, die vom eigentlichen Thema abweichen würden: Das Ziel und Ende der Geschichte ist die Eroberung Jerusalems und alles Geschehen hat sich diesem Ende unterzuordnen. Passiert es aber dennoch, dass – wie Galilei oft genug kritisiert –, Tassos Phantasie ihn dazu verleitet, vom vorgesehenen Plan abzuweichen, dann bereitet einem solchen neuen Handlungsstrang ein abruptes Ende, um den vorgegebenen Faden wieder aufzunehmen. Das fehlende Holzstückchen der Handlung wird in die Intarsie eingefügt und steckt nun übergangslos, kantig und farblich von den anderen Teilen abgehoben, im Gesamtbild.

Natürlich war Galileis Abneigung gegen Tassos manieristische Erzählweise und Rossos Malstil, im Gegensatz zu seiner Begeisterung für Ariost und Cigolis klassischer  Renaissancekunst, rein ästhetischer Natur, wenn man sie in einen Zusammenhang mit Galileis bahnbrechenden, wissenschaftlichen Denkstil bringt. Sieht man sich Cigolis Kreuzesabnahme doch genauer an, wird man bemerken, dass zwar die expressiven, kontrastierenden Farben verschwunden sind und die Übergänge zwischen den einzelnen Figuren und Gegenstände fließend verlaufen, die Körper aber dennoch jene Drehungen und Windungen aufweisen, die dem Manierismus so eigen sind. Und auch im Rasenden Roland wird nicht nur eine unterhaltsame Geschichte erzählt, die für die Leser dieser Epoche höchst reizvoll war, sie war auch im Sprachstil von einer, das ganze Werk durchziehende, Ironie geprägt, durch die der Leser ständig gefordert wird, zwischen dem wörtlich Gesagten und dem eigentlich Gemeinten zu differenzieren. Dadurch begründet Ariost jenen Augenblick, in dem die Renaissance in eine Phase der Reflexion eintritt und sich das 'naive' Renaissance-Weltgefühl zu spalten beginnt. So kommen gelegentlich merkwürdige, fast schizophrene Vorstellungen in den Vergleichen zustande: Der Ritter Ronaldo kommt, anstatt auf einem Pferd sitzend, zu Fuß daher:

Und leichter lief er durch den Wald

Als der halbnackte Bauer zum roten Bischofsmantel

Obwohl eigentlich die feine Ironie, wie sie Ariost beherrscht, als idealer Ausdruck der italienischen Hochrenaissance gelten könnte, ist sein Werk, gerade durch diese Ironie und Zweideutigkeit, schon von der von Galilei geforderten, 'verschliffenen Klarheit' entfernt und trägt bereits den Keim jener Zwiespältigkeit und Verzerrung  - Galilei nennt sie die schräge Andeutung – in sich, die sich bald darauf im Manierismus zeigen wird.

Ende der Leseprobe aus 417 Seiten

Details

Titel
Von Petrarca zu Cézanne. Ein kulturgeschichtlicher Reisebericht durch die Neuzeit
Autor
Jahr
2020
Seiten
417
Katalognummer
V888913
ISBN (eBook)
9783346213020
ISBN (Buch)
9783346213037
Sprache
Deutsch
Schlagworte
cézanne, neuzeit, petrarca, reisebericht
Arbeit zitieren
Werner Kogelnig (Autor:in), 2020, Von Petrarca zu Cézanne. Ein kulturgeschichtlicher Reisebericht durch die Neuzeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/888913

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