Individualität und Massengesellschaft in sozialpädagogischer Perspektive


Diplomarbeit, 2007

160 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

Vorwort

Einleitung

Erstes Kapitel
Eine erste Annäherung

Zweites Kapitel Bruno Bettelheim
1. Psychoanalyse und Bedeutung der Umwelteinflüsse
1.1 „Extremsituationen“
2. Grundlagen einer integrierten Persönlichkeit
2.1 Freiheitsbewusstsein – Entscheidungsfreiheit
2.2 Entscheidungsfähigkeit
2.3 Autonomie
2.4 Erziehung
3. Massengesellschaft
3.1 Massengesellschaft – ein sozialpsychologisches Übergangsphänomen?
3.2 Strukturen einer Massengesellschaft
3.2.1 Fehlende persönlicher Individualität und die Suche nach verlorener Einzigartigkeit
3.2.2 Macht durch Anonymität
3.2.3 Räumliche Trennung
3.2.4 Zeitliche Trennung
3.2.5 Fremdbestimmung
3.3 Veränderung der Verhaltensweisen – wachsende Unselbstständigkeit
3.3.1 Eltern-Kind Beziehung
3.2.2 Entscheidungsunfähigkeit
3.3.3 Arbeitsplatz – Quelle der Bestätigung?
3.3.4 Freizeit und Privatleben

Drittes Kapitel Hannah Arendt
1. Massen
1.1 Massen und demokratische Freiheit
1.2 Mob und Massen
1.3 Europäische Massen und der Verlust an Selbstwert
2. Gesunder Menschenverstand
3. Bedeutung von Individualität in totalitären Bewegungen
4. Das Politische
4.1 Arbeiten – Herstellen – Handeln
4.1.1 Die Arbeit
4.1.2 Das Herstellen
4.1.3 Das Handeln
4.1.4 Der Raum der Freiheit und das Politische

Viertes Kapitel Erich Fromm
1. Die Furcht vor der Freiheit
2. Ein kurzer Exkurs: Fromm und Freud
3. Der Begriff der Freiheit
3.1 Zunehmende Individuation
3.2 Freiheit von etwas und Freiheit zu etwas
4. Fluchtmechanismen
4.1 Die Flucht ins Autoritäre
4.1.1 Autorität und Gewissen
4.1.2 Der magische Helfer
4.1.3 Das Wesen der Liebe
4.1.4 Die Selbstsucht
4.2 Die Flucht in die Destruktivität
4.3 Der Gegenpart – ein kreativ-revolutionärer Charakter
4.4 Die Flucht in die Konformität
5. Erziehung
5.1 Zum Begriff der Erziehung
5.2 Funktion der Erziehung
6. Die Massengesellschaft
6.1 Die moderne Massengesellschaft

Fünftes Kapitel Ein Vergleich
1. Der Beginn des 20.Jahrhunderts
2. Entstehung des Hitler-Staates

Fazit

Literatur

ANHANG

Vorwort

Den endgültigen Anstoß zu der hier vorliegenden Diplomarbeit, erhielt ich in dem letzten Seminar meines gesamten Studiums durch Prof. Dr. Hans-Ernst Schiller.

Die Beschäftigung mit dem Thema „Individualität“ und den bedeutenden Soziologen, Philosophen und Psychologen dieser und vergangener Zeiten, weckte mein Interesse und veranlassten mich, das Thema meiner Arbeit in diesem Bereich zu suchen. Es ist mir ein Anliegen, nicht nur eine Diplomarbeit zu schreiben um zu beweisen, dass ich ein vorgegebenes Thema in einem begrenzten Zeitrahmen erarbeiten kann oder weil sie den vorgeschriebenen Abschluss des Studiums bedeutet – ich möchte soviel Zeit und Kraft einem Thema widmen, dass mir am Herzen liegt und aus dem ich gewonnene Einsichten auch in mein Leben nach dem Studium sinnvoll einbinden kann.

Mit der Herangehensweise aus einer sozialpädagogischen Perspektive heraus auf das Individuum, die Individualität und die Massengesellschaft, auf die Zusammenhänge und die gegenseitigen Beeinflussungen glaube ich, diesem Anspruch gerecht zu werden.

Um das Themengebiet einzugrenzen, und auch um im Rahmen einer Diplomarbeit zu bleiben, habe ich mich bemüht, die Entwicklung eines Individuums, Grundlagen seiner Persönlichkeitsstruktur und den Bezug zur Massengesellschaft in drei Kapiteln mit unterschiedlichen Schwerpunkten, darzustellen.

Da es in meiner Arbeit um eine sozialpädagogische Betrachtungsweise geht, hat mich bei meinen Recherchen in erster Linie interessiert, was Philosophen, Sozial- und Politikwissenschaftler zu den Begriffen Individuum, Masse, Massengesellschaft oder Massenstaat ausgeführt haben.

Einige von ihnen und eine kleine Auswahl ihrer Ansätze werde ich im 1.Kapitel, gleichsam zur Einführung, mehr oder weniger unkommentiert, vorstellen.

Bewusst habe ich Bruno Bettelheim, Hanna Arendt und Erich Fromm in den Mittelpunkt meiner Arbeit gestellt, um so mein Thema aus drei Richtungen anzugehen: aus der Sicht eines „psychoanalytischen“ Pädagogen, einer politischen Philosophin und Soziologin und eines „soziologischen“ Philosophen, des vielleicht bekanntesten der Neuzeit.

Die anderen großen Denker auf diesem Gebiet mögen mir verzeihen und ich hoffe sehr, dass Umfang und Resultat meiner Arbeit diese vorgenommene Auswahl rechtfertigen und kompensieren.

Jetzt habe ich endlich Gelegenheit, mich öffentlich zu bedanken. Bei einigen Menschen, die mir in den letzten Monaten geholfen haben und bei einigen Menschen, die mich schon lange liebevoll unterstützen.

Und somit bedanke ich mich bei Prof. Dr. Schiller für die Betreuung während der Diplomarbeit. Sein in mich gesetztes Vertrauen war für mich ein großer Ansporn. Ich bedanke mich bei meiner Familie für ihre Geduld und Nervenstärke, besonders bei meinem Mann Jens Peil und meiner Tochter Janis für ihre Hilfe bei den Recherchen zu den Biografien.

Aus diesem Grund bedanke ich mich auch bei meiner Freundin Gabi Meyer, dafür und für die vielen aufmunternden Worte. Bei Bastian Stenzel bedanke ich mich für seine Hilfe bei der Beschaffung unverzichtbarer Bücher und bei Olaf van Treeck bedanke ich mich ganz herzlich für seine spontane Bereitschaft zur Hilfe beim Überlesen der Arbeit.

Ein herzlicher Dank gilt Achim Wagenknecht für ein kurzes, aber interessantes Gespräch über Hannah Arendt am Telefon und für das spontane Überlassen seiner Bücher. Ebenso gilt mein Dank Fr. Wobonin von der Robert-Bosch Stiftung, sie hat für mich noch eines der letzten Exemplare eines Vortrags von Bruno Bettelheim aufgetrieben. Auch bei Fr. Rong bedanke ich mich für ihre verständnisvolle Hilfe.

Auch bei Bruno Bettelheim bedanke ich mich, posthum. Endlich weiß ich, dass mein Vorgarten nichts anderes symbolisiert, als meine integrierte Persönlichkeit.

Nun habe ich mich bei so vielen bedanken dürfen und muss mich bei einer Person entschuldigen, die geboren wurde als ich mit dieser Diplomarbeit begonnen habe.

Lena, von jetzt an hab ich Zeit für dich!

Ach ja, bei mir bedanke ich mich auch. Ich war viel tapferer als ich dachte!

Einleitung

In der hier vorliegenden Diplomarbeit habe ich mich mit der Individualität innerhalb einer Massengesellschaft befasst. Den Anstoß zu diesem Thema erhielt ich durch das Seminar im Fachgebiet Sozialphilosophie bei Herrn Prof. Schiller. Im Laufe des Semesters wurde ich auf die Autoren aufmerksam, die ich dann für meine Arbeit herangezogen habe und mit denen ich mich nachfolgend intensiv befasste: Bruno Bettelheim, Hannah Arendt und Erich Fromm.

Ziel meiner Arbeit ist es, aus der Beschäftigung mit den Werken dieser Autoren ein Verständnis für die Zusammenhänge zwischen dem Individuum und seiner Umgebung zu erlangen. Dieses Verständnis soll mir ermöglichen, sozialpädagogische Perspektiven zu erfassen.

Zu Beginn möchte ich einige Fragen aufstellen, deren Beantwortung mir am Ende der Arbeit, wie ich hoffe, gelungen sein wird.

Was bedeutet Individualität und welche Voraussetzungen sind nötig um sie zu entwickeln?
Oder ist sie genuiner Bestandteil des „Selbst“ und somit immer vorhanden und lebbar?
Welchen Einfluss hat Erziehung auf Individualität?
Was ist eine Massengesellschaft und wie wirkt sie auf die in ihr lebenden Individuen?
Wie hat sich eine solche Gesellschaftsform entwickelt und warum ist sie entstanden?
Ist Freiheit eine Chance für die Individualität oder eine Gefahr?
Beinhaltet Individualität Entscheidungsfähigkeit und entscheidet das Individuum wirklich selbst?
In welchem Kontext stehen Freiheit und Autonomie?
Und – wie individuell ist ein Individuum in einer Massengesellschaft wirklich?
Um mir diese Fragen zu beantworten, habe ich mich mit verschiedenen Werken Bettelheims, Arendts und Fromms befasst und mit Sekundärliteratur gearbeitet.

Ich habe jedem Autor ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem ich auf den jeweiligen Ansatz zum Hauptthema „Individualität und Massengesellschaft“ eingegangen bin.

Jeder Autor hat, seiner wissenschaftlichen Basis nach, einen anderen Schwerpunkt und diesen habe ich mich bemüht, im Kontext zu meinem Thema, herauszuarbeiten. Die Kapitel drei bis fünf habe ich mit einer kurzen Beschreibung der Autoren begonnen.

Beginnen möchte ich im 1.Kapitel mit einer Heranführung an das Thema Individualität und Massengesellschaft und habe zu diesem Zweck Zitate angeführt, die ich mehr oder weniger unkommentiert so stehen lassen will.

Im 2. Kapitel habe ich mich mit einer Arbeit Bruno Bettelheims im Hinblick auf das Individuum in der modernen Gesellschaft befasst. Hierzu habe ich mich bemüht, in wenigen Worten darzulegen, unter welchen Voraussetzungen sich der Autor dem Thema genähert hat. Im Anschluss bin ich dann auf den Bereich der Entwicklung einer integrierten Persönlichkeit und den Begriff der Massengesellschaft eingegangen. Der Schwerpunkt in diesem Kapitel liegt vorrangig in den Bedingungen, unter denen sich eine integrierte Persönlichkeit entwickeln kann und welchen Einfluss die moderne Massengesellschaft auf diese Persönlichkeitsstruktur hat.

Das 3.Kapitel umfasst eine Arbeit Hannah Arendts in der sie sich mit den Elementen und Ursprüngen totalitärer Herrschaftssysteme auseinander gesetzt hat und Anteilen aus ihrem Buch Vita activa. Ich habe mich in diesem Kapitel auf den Aspekt der Entstehung von Massen und Massengesellschaften, einer Definition von dem Begriff des „gesunden Menschenverstandes“, der Individualität in totalitären Bewegungen sowie der grundlegenden Bedeutung des Politischen konzentriert. Der Schwerpunkt in diesem Kapitel liegt eindeutig im politischen Bereich und ist von Hannah Arendts Orientierung an der klassischen Antike beeinflusst.

Mit Erich Fromms Ausführungen zur Freiheit bzw. der Flucht vor ihr, beschäftige ich mich im 4.Kapitel. Zuerst bin ich kurz auf einige, für die Arbeit in diesem Kapitel relevante Unterschiede, zwischen Fromm und Sigmund Freud eingegangen. Den Kern bildet aber die Frage nach dem Begriff der Freiheit und was sie in negativer und in positiver Hinsicht bedeuten kann.

Dem Bereich der Fluchtmechanismen und seiner Unterpunkte, sowie den Aspekten zur Erziehung, habe ich eine größere Aufmerksamkeit gewidmet. Ich denke, hier erschließen sich viele Rückschlüsse auf das Verhalten der Individuen in einer Massengesellschaft.

Außerdem halte ich gerade den Aspekt der Erziehung bei Fromm, im Hinblick auf den sozialpädagogischen Ansatz, für relevant.

Zu einem Vergleich zwischen den von mir vorgelegten Ansätzen von Bettelheim, Arendt und Fromm möchte ich im 5.Kapitel kommen.

Alle drei Autoren wurden zu Beginn des 20.Jahrhunderts in jüdische Familien geboren und sind, neben ihren beruflichen Qualitäten, Zeitzeugen des aufkommenden Nationalsozialismus. Aus diesem Grund habe ich einige Geschehnisse aus diesem Zeitfenster der Geschichte ausgewählt, um die Ansätzen Bettelheim, Arendt und Fromm gegeneinander zu stellen.

Vorrangig hat es mich interessiert, worin sie die Ursachen für das Aufkommen eines Massenstaates und den Erfolg des Nationalsozialismus sahen.

Den Abschluss meiner Diplomarbeit bildet ein Fazit aus der intensiven Beschäftigung mit dem Thema Individualität und Massengesellschaft. An dieser Stelle möchte ich auf die sozialpädagogische Perspektive und auf die Fragen eingehen

Dem Anhang habe ich die biografischen Zeittafeln der Autoren und Quellen aus dem Internet als Ausdruck beigefügt.

Ich habe mich entschieden, in meiner Arbeit durchgängig die maskuline Schreibweise zu nutzen.

Erstes Kapitel

Eine erste Annäherung

Da es in meiner Arbeit um eine sozialpädagogische Betrachtungsweise geht, hat mich zu Beginn meinen Recherchen, in erster Linie interessiert, was Philosophen, Sozial- und Politikwissenschaftler zu den Begriffen Individuum, Masse, Massengesellschaft oder Massenstaat ausgeführt haben und ich möchte – gleichsam zur Einführung – einige von ihnen und eine kleine Auswahl ihrer Ansätze, mehr oder weniger unkommentiert, vorstellen.

Beginnen möchte ich mit Sigmund Freud, dessen Bedeutung für eine Betrachtung der Begriffe Individuum und Masse mir sehr wohl bewusst ist. Dass ich es dennoch fast ausschließlich bei seinen hier zitierten Worten belasse, begründet sich in dem gesetzten Schwerpunkt meiner Arbeit, nämlich der Betrachtung aus einer sozialpädagogischen und eben nicht aus einer psychologischen Perspektive heraus.

Sigmund Freud (1856 – 1939)

zum Begriff der Masse in Massenpsychologie und Ich-Analyse.

Freud zitiert in seinem Werk Massenpsychologie und Ich-Analyse unter anderem Le Bon (aus dessen Buch Psychologie der Massen) und fügt dessen Aussagen eigene Gedanken, Auslegungen und Theorien bei.

Ich gebe im Folgenden einige, wie ich finde, interessante Gedanken über die Masse und das Verhalten der Individuen in ihr, wieder.

„Die Masse ist impulsiv, wandelbar und reizbar. Sie wird fast ausschließlich vom Unbewußten geleitet. Die Impulse, denen die Masse gehorcht, (…) sind (sie) so gebieterisch, daß nicht das persönliche, nicht einmal das Interesse der Selbsterhaltung zur Geltung kommt.“[1]

Die Masse „geht sofort zum Äußersten, der ausgesprochene Verdacht wandelt sich bei ihr sogleich in unumstößliche Gewissheit, ein Keim von Antipathie wird zum wilden Hass.“[2]

Fehlender Zweifel betreffs des „Wahren oder Falschen“ macht „sie ebenso intolerant wie autoritätsgläubig“ und die Erwartung der Masse an ihre Führer „ist Stärke, selbst Gewalttätigkeit(.)“ um ihrem Verlangen danach, beherrscht und unterdrückt zu werden, gerecht zu werden.[3]

Den Zustand des Individuums innerhalb einer Masse bezeichnet Freud, ebenso wie Le Bon, den er zitiert, als einen hypnotischen Zustand:

„Die Hauptmerkmale des in der Masse befindlichen Individuums

sind demnach: Schwund der bewussten Persönlichkeit, Vorherr-

schaft der unbewußten Persönlichkeit, Orientierung der Gedanken und Gefühle in derselben Richtung durch Suggestion und Ansteckung, Tendenz zur unverzüglichen Verwirklichung der suggerierten Ideen. Das Individuum ist nicht mehr es selbst, es ist ein willenloser Automat geworden.“[4]

Freud spricht hier von einer ‚nicht organisierten’ Masse. Die Aufgabe einer Organisation der Masse

„ besteht darin, der Masse gerade jene Eigenschaften zu verschaffen, die für das Individuum charakteristisch waren und die bei ihm durch die Massenbildung ausgelöscht wurden.“[5]

Zu diesen Eigenschaften gehören Kontinuität, Selbstbewusstsein, Traditionen und Gewohnheiten, besondere Arbeitsleistungen und Einreihung sowie die Einhaltung einer gewissen Distanz anderen gegenüber.[6]

Elias Canetti (1905 – 1994)

zum Begriff der Berührungsfurcht und dem Erhalt der Masse in Masse und Macht.

Bei Canetti findet sich der Begriff der ‚Berührungsfurcht’ des Individuums, der Angst vor der Berührung durch etwas Unbekanntes, durch etwas Fremdes.

Auf Grund dieser Angst schaffen Menschen Abstände um sich herum und „vermeiden (wir), wenn es irgend geht eine Berührung mit [anderen].“[7]

„Es ist die Masse allein, in der der Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann. Sie ist die einzige Situation, in der diese Furcht in ihr Gegenteil umschlägt. Es ist die dichte Masse, die man dazu braucht, in der Körper an Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung, (…). Sobald man sich der Masse einmal überlassen hat, fürchtet man ihre Berührung nicht.“[8]

Je dichter die Masse, desto sicherer das Gefühl in ihr.

„Die sicherste und oft die einzige Möglichkeit für die Masse, sich zu erhalten, ist das Vorhandensein einer zweiten Masse, auf die sie sich bezieht (…), der Anblick oder die starke Vorstellung einer zweiten Masse erlaubt der ersten nicht zu zerfallen.“[9]

Zu den Eigenschaften der Masse führt Canetti vier Merkmale an:

„1. Die Masse will immer wachsen. Ihrem Wachstum sind von Natur aus keine Grenzen gesetzt.“[10] Innerhalb künstlicher Grenzen, damit bezeichnet Canetti Institutionen, „ist ein Ausbruch der Masse immer möglich und erfolgt auch von Zeit zu Zeit.“[11]

„ 2. Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Sie ist absolut und indiskutabel und wird von der Masse selbst nie in Frage gestellt. Sie ist von so fundamentaler Wichtigkeit, daß man den Zustand der Masse geradezu als einen Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte [und jegliche Ablenkung] wird übersehen.“[12]

Als den dritten Punkt bezeichnet Canetti, dass eine Masse Dichte liebt[13] und es nie zu dicht sein kann und vierten und letzten Punkt führt er aus:

„4. Die Masse braucht eine Richtung. Sie ist in Bewegung und bewegt sich auf etwas zu. Die Richtung, die allen Angehörigen gemeinsam ist, stärkt das Gefühl von Gleichheit. Ein Ziel, das außerhalb jedes einzelnen liegt und für alle zusammenfällt, treibt die privaten, ungleichen Ziele, die der Tod der Masse wären, unter Grund. Für ihren Bestand ist die Richtung unentbehrlich. Die Furcht vor Zerfall, die immer in ihr rege ist, macht es möglich, sie auf irgendwelche Ziele zu lenken. Die Masse besteht, solange sie ein unerreichtes Ziel hat.“[14]

Max Horkheimer (1895 – 1973)

zum Identitätsbewusstsein und den Bedingungen innerhalb einer Massengesellschaft in Zur Kritik der instrumentellen Vernunft.

Zu Beginn des 4. Kapitels spricht Horkheimer von einer Krise des Individuums, in der sich die Krise der Vernunft manifestiert. Die Vernunft, so lesen wir, ist irrational und dumm geworden und das Thema der „Zeit ist Selbsterhaltung, während es gar kein Selbst zu erhalten gibt.“[15]

Um sich der Definition dieses Selbst zu nähern, beschreibt Horkheimer im Folgenden, wie er die Begriffe Individuum und Individualität versteht:

„Wenn wir vom Individuum als einer historischen Kategorie sprechen, meinen wir nicht nur die raum-zeitliche und sinnliche Existenz eines besonderen Gliedes der menschlichen Gattung, sondern darüber hinaus, daß es seiner eigenen Individualität als eines bewussten menschlichen Wesens inne wird, wozu die Erkenntnis seiner Identität gehört.“[16]

„Individualität setzt das freiwillige Opfer unmittelbarer Befriedigung voraus zugunsten von Sicherheit, materieller und geistiger Erhaltung der eigenen Existenz.“[17]

Nur wenn ein entsprechendes Leben möglich ist, geht ein Individuum ein solches Opfer ein und naturgemäß sind die Bedingungen dafür innerhalb einer Massengesellschaft erschwert. „Die Individualität ist demzufolge (…) weit weniger integriert und beständig als bei der so genannten Elite.“[18]

Im Bezug auf eine sich immer schneller entwickelnde Technik gibt Horkheimer zu bedenken:

„Der Umstand, daß die blinde Entwicklung der Technik gesellschaftliche Unterdrückung und Ausbeutung verschärft, droht auf jeder Stufe den Fortschritt in sein Gegenteil, völlige Barbarei, zu verkehren. Sowohl die statische Ontologie als auch die Lehre des Fortschritts (…), vergessen den Menschen“.[19]

Und eher warnend führt er aus:

„Die am höchsten geschätzten persönlichen Qualitäten wie Unabhängigkeit, Wille zur Freiheit, Sympathie und der Sinn für Gerechtigkeit sind ebenso gesellschaftliche wie individuelle Tugenden. Das vollentwickelte Individuum ist die Vollendung einer vollentwickelten Gesellschaft. Die Emanzipation des Individuums ist keine Emanzipation von der Gesellschaft, sondern die Erlösung der Gesellschaft von der Atomisierung, eine Atomisierung, die in Perioden der Kollektivierung und Massenkultur ihren Höhepunkt erreichen kann.“[20]

George H. Mead /1863 – 1931)

Zur Persönlichkeit, Anerkennung und Identitätsentwicklung in Geist, Identität und Gesellschaft.

Voraussetzung für die Veränderung eines „biologischen Individuums in einen von Geist begabten Organismus oder eine Identität (…)“ sind das Vorhanden sein einer bestimmten Gesellschaft und bestimmter physiologischer Fähigkeiten. Unter diesen Umständen wird Sprache zum Werkzeug, welches diese Veränderungen, ebenso wie die Intelligenzentwicklung, erst ermöglicht.[21]

Über die Entwicklung der Identität schreibt Mead an anderer Stelle wie folgt:

„Identität entwickelt sich; sie ist bei der Geburt anfänglich nicht vorhanden, entsteht aber innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses, das heißt im jeweiligen Individuum als Ergebnis seiner Beziehung zu diesem Prozeß als Ganzem und zu anderen Individuen innerhalb dieses Prozesses.“[22]

„Der Begriff >Persönlichkeit< schließt ein, daß der Einzelne bestimmte, allen gemeinsame Rechte und Werte hat, die er in sich und durch sich entwickelt; über diese gesellschaftlichen Ausstattung des Einzelnen hinaus gibt es aber noch das, was ihn von jedem anderen Menschen unterscheidet, ihn zu dem macht, was er ist. Das ist der wertvollste Teil des Individuums.“[23]

Mead stellt im Folgenden die Frage, ob dieser wertvollste Teil des Individuums auch Teil seiner gesellschaftlichen Identität werden kann, oder ob nur die Reaktionen einfließen sollen, die innerhalb einer Gesellschaft allen gemeinsam sind. Er beantwortet diese Frage zugunsten der ersten Alternative:

„Wenn jemand die eigene Identität dadurch verwirklicht, daß er sich von anderen unterscheidet, behauptet er sich selbst gegenüber anderen in einer bestimmten Situation, die ihn dazu berechtigt, sich selbst im Gegensatz zu den anderen zu bewahren. Wenn er diese Eigenheiten der eigenen Persönlichkeit nicht in die allen gemeinsame Gemeinschaft hereinbringen, wenn er sie nicht anerkennen, wenn die anderen seine Haltung nicht in gewissem Sinn übernehmen könnten, so gäbe es keine emotionelle Befriedigung, er könnte nicht jene Identität sein, die er zu sein versucht.“[24]

Nach Mead ist es nicht möglich, eine scharfe Trennungslinie zwischen der eigenen Identität und der Identität andere Menschen zu ziehen, ,„da unsere eigene Identität nur soweit existiert und als solche in unsere Erfahrung eintritt, wie die Identitäten anderer Menschen existieren und als solche ebenfalls in unsere Erfahrungen eintreten.“[25]

Hannah Arendt (1906 – 1975)

zu den Begriffen Masse, Bewegungen und den Merkmalen der Individuen in Massenbewegungen in Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft.

Hannah Arendt beschreibt im dritten Teil ihres Buches eindringlich und ausführlich die Voraussetzungen für totalitäre Herrschaftssysteme. Zu diesen Voraussetzungen gehört das Aufkommen der Masse ebenso wie die damit verbundenen Bewegungen.

Über den Begriff der Masse schreibt sie:

„Der Ausdruck >Masse< ist überall da zutreffend, und nur da, wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die sich, entweder weil sie zu zahlreich oder weil sie zu gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation strukturieren lassen, die auf gemeinsame Interessen an einer gemeinsam erfahrenen und verwalteten Welt beruht, (…).“[26]

Und zur Existenz eben dieser Massen ist zu lesen:

„Potentiell existieren sie in jedem Land und zu jeder Zeit; sie bilden sogar zumeist die Mehrheit der Bevölkerung auch sehr zivilisierter Länder, nur daß sie eben in normalen Zeiten politisch neutral bleiben (…).“[27]

Arendts sieht den Ausgangspunkt europäischer Massen in der Aufhebung sicherer Grenzen, in die das Individuum geboren wurde und in dem es, unabhängig von Erfolg oder Misserfolg im Leben, blieb. Das Gefühl der Verlorenheit und Unsicherheit ist ein grundsätzliches Merkmal der Massen.

„Das Hauptmerkmal der Individuen in einer Massengesellschaft ist nicht Brutalität oder Dummheit oder Unbildung, sondern Kontaktlosigkeit und Entwurzeltsein.“[28]

Zu dem Begriff der Bewegungen schreibt Arendt, dass einer totalitären Bewegung nur unter der Voraussetzung ein totalitäres Regime folgt, das sie Millionen Menschen erfasst.[29] Das Fehlen erforderlichen Menschenmaterials ist also der Grund, warum in kleineren Ländern auf totalitäre Bewegungen nichttotalitäre Regime folgen. Die ungeheuren Verluste an Menschenleben, die der totale Herrschaftsapparat dauernd fordert, sind in Ländern mit relativ kleiner Bevölkerungszahl nicht aufzubringen.[30]

Grundsätzlich gilt:

„Totalitäre Bewegungen sind Massenbewegungen, und sie sind bis heute die einzige Organisationsform, welche die modernen Massen gefunden haben und die ihnen adäquat scheint.“[31]

Bruno Bettelheim (1903 – 1990)

in Aufstand gegen die Masse. Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft

Neben vielen Warnungen vor den Nachteilen und Gefahren der modernen Massengesellschaft, ist bei Bettelheim auch eine Definition eines guten Massenstaates zu lesen.

„Theoretisch würde in einem >guten< Massenstaat die Freiheit des Individuums weder unterdrückt noch einfach durch Manipulationen aus der Welt geschafft werden. Ein solche Massenstaat würde auch nicht zu einem explosiven Verhalten der Menschen und zu einem gesellschaftlichen Chaos führen, weil der Mensch in der Intimsphäre der Familie und durch seine Leistungen genügend Befriedigung finden würde; er würde dadurch trotz der Einflüsse der Massengesellschaft Selbstachtung, Autonomie und wachsendes Freiheitsbewußtsein gewinnen. Die Persönlichkeit des Menschen wäre dann so stark, daß seine inneren Kräfte seine asozialen Tendenzen beherrschen könnten, (…).“[32]

Zu dem für ihn, in seiner Arbeit so wichtigen Aspekt der persönlichen Verantwortlichkeit, findet sich bezüglich der Verwendung von kollektiver Schuldzuweisungen, folgende Aussage:

„Eine der Hauptbedingungen einer unabhängigen Existenz des Individuums ist persönliche Verantwortlichkeit. (…) Wer immer die Doktrin von der Schuld eines ganzen Volkes akzeptiert, hilft mit, die Entwicklung der wahren Demokratie zu zerstören, die sich auf die Autonomie und Verantwortung des Individuums gründet.“[33]

Erich Fromm (1900 – 1980)

zum Begriff der Freiheit und des selbst in Die Furcht vor der Freiheit.

In seinem Vorwort bezeichnet Fromm „die Individualität und Einmaligkeit des Menschen (…)“ als die größte Leistung der modernen Kultur und „die Bedeutung der Freiheit für den modernen Menschen (.)“ als einen wichtigen Aspekt für „die kulturelle und gesellschaftliche Krise unserer Tage (…)“.[34]

Und so schreibt Fromm über die Freiheit:

„Der Mensch hat – je mehr er aus seinem ursprünglichen Einssein mit seinen Mitmenschen und der Natur heraustritt und >Individuum< wird – keine andere Wahl, als sich entweder mit der Welt in spontaner Liebe und produktiver Arbeit zu vereinen oder aber auf irgendeine Weise dadurch Sicherheit zu finden, daß er Bindungen an die Welt eingeht, die seine Freiheit und die Integrität seines individuellen Selbst zerstören.“[35]

Zu diesen Bindungen gehört, „daß der heutige Mensch meint, er sei von seinem Selbstinteresse motiviert, während er tatsächlich sein Leben Zielen widmet, die nicht seine eigenen sind.“[36] Einem wahren Selbst – also einem tatsächlichen menschlichen Wesen, das sich mit all seinen Möglichkeiten bejaht und liebt – steht ein gesellschaftliches Selbst entgegen.

Ein Selbst, „das sich im wesentlichen mit der Rolle deckt, die der Betreffende nach dem, was andere von ihm erwarten, zu spielen hat und die in Wirklichkeit nur eine subjektive Tarnung seiner objektiven Funktion in der Gesellschaft ist.“[37]

Spontane Tätigkeiten verwirklichen das wahre Selbst und der Mensch tritt mit der Welt in eine Beziehung, die ihn aus dem Status eines isolierten Atoms heraus führt. Der Mensch erhält seinen ihm zukommenden Platz, er „und die Welt werden Teil eines strukturierten Ganzen, (…)“[38].

Selbstzweifel und Zweifel am Sinn des Lebens, die auf Grund der Isolierung und der Vereitelung der Möglichkeiten des wahren Selbst entstanden, lösen sich auf, „sobald er es fertig bringt, nicht mehr unter Zwang und automatisch, sondern spontan zu leben.“[39] Der Mensch „erlebt sich dann als tätiges und schöpferisches Individuum und erkennt, daß das Leben nur den einen Sinn hat: den Vollzug des Lebens selbst.[40]

Und warnend:

„Die kulturelle und politische Krise unserer Zeit liegt nicht daran, daß es zuviel Individualismus gibt, sondern daß das, was wir für Individualismus halten, zu einer leeren Schale geworden ist.“[41]

Bewusst habe ich die letzten drei Autoren, Hannah Arendt, Bruno Bettelheim und Erich Fromm, in den Mittelpunkt meiner Arbeit gestellt, um so das Thema aus drei Richtungen anzugehen: aus der Sicht einer politischen Philosophin und Soziologin, eines „psychoanalytischen“ Pädagogen und des vielleicht bekanntesten Sozialphilosophen und Sozialpsychologen der Neuzeit.

Die anderen großen Denker auf diesem Gebiet mögen mir verzeihen und ich hoffe sehr, dass Umfang und Resultat meiner Arbeit diese vorgenommene Auswahl rechtfertigen und kompensieren können.

Zweites Kapitel Bruno Bettelheim

Schon der Versuch, Bruno Bettelheim[42] in ein bestimmtes Arbeitsgebiet einzuordnen ist nicht leicht. So schreibt Robert Wunsch, dass die

„wissenschaftlichen Disziplinen, in denen er tätig und auch zu akademischen Ehren gekommen ist, (…) fast alle Facetten der ‚human science’ (streifen): Sie reichen von Philosophie, Soziologie, Sozialpsychologie über Pädagogik und Humanismus zu Psychologie, Kindertherapie und Psychoanalyse.“[43]

Die Schreibweise in seinen Werken ist dementsprechend: disziplinübergreifend, manchmal ungenau und dabei in einem klaren Stil, der psychoanalytischen Fachjargon weitgehend vermeidet.

Was die vielen Leser seiner Bücher in der Öffentlichkeit schätzen – „eine echte Verständigung mit anderen Menschen von Seele zu Seele (…)“[44], führte zu weitaus weniger Beachtung und Wertschätzung in psychoanalytischen und akademischen Kreisen.

Die Vorwürfe umfassten einen „Mangel an (meta)Theorien, fehlendem Respekt vor den Standards wissenschaftlicher Methodologie und eine anekdotenhafte Dokumentation seiner Berichte“. Die etablierte Psychoanalyse betrachtete Bettelheim als „feindseligen Abtrünnigen“ und „Popularisierer psychoanalytischen Gedankengutes“ – diesen Makel verdankte er seinem Ansehen in der Öffentlichkeit als Vermittler zwischen der psychoanalytischen Gemeinschaft und der Außenwelt.[45]

Fast 30 Jahre leitete Bettelheim die Orthogenic School an der Universität in Chicago. Hier an der Universität hatte er eine Professur für Psychologie und Erziehungswissenschaften inne und hier entwickelte er auch den größten Teil seiner Arbeiten, wie z. B. die Psychologie der Extremsituationen und den Autismus oder auch das Konzept der Milieutherapie.

Vor seinem Freitod 1990 wurde Bettelheim zum angesehenen ‚weisen Erzieher und großen Therapeuten’ empor gehoben, doch kurz nach seinem Tod wurden Stimmen laut, die eher das Bild eines ‚unbeherrschten Tyrannen’ zeichneten.

Ich bin wie Krummenacker der Meinung, dass sich die Bedeutung der Theorien Bettelheims „an der Sache, nicht an der Person entscheiden [sollten].“[46]

Bettelheims eigenem ‚ Do as I say not as I do ’ -Diktum möchte ich die Worte Nina Hellsteins anfügen, einer ehemaligen Lehrerin der Orthogenic School:

„Er [Bettelheim] hatte eine großartige und seltene Vision von dem, was Kinder brauchen, aber manchmal war er nicht in der Lage das zu tun, was er als das Beste erkannt hatte.“[47]

1. Psychoanalyse und Bedeutung der Umwelteinflüsse

In seinem Buch Aufstand gegen die Masse - die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaf t beschreibt Bettelheim, neben seiner Sichtweise auf Individuum und Massengesellschaft, besonders Erlebnisse und daraus resultierende Erkenntnisse aus seiner Inhaftierungszeit in Dachau und Buchenwald.

Der Kampf um das eigene physische und psychische Überleben so wie die Beobachtung der Geschehnisse und der Häftlinge in den Konzentrationslagern, veränderten seine Einstellungen maßgeblich und so „wird ihm die Frage nach totalitären Strukturen, ihrem depersonalisierenden Charakter und den Möglichkeiten, wie diese wieder umgekehrt werden können von Bedeutung.“[48]

Die selbst erlebte Wirksamkeit einer aufgezwungenen Umwelt auf die Persönlichkeitsintegration, brachten ihn – der bis dato durch „eigene Analyse, das Studium psychoanalytischer Literatur und die praktische Anwendung psychoanalytischer Theorien (…)“[49] der Meinung war, die Psychoanalyse sei die wirksamste Methode entscheidende Persönlichkeitsveränderungen zu bewirken – dazu, umzudenken.

Er gesteht auch weiterhin der Psychoanalyse eine hilfreiche Position beim Lösen persönlicher Probleme im Leben eines Erwachsenen zu, sieht in ihr aber nicht mehr die ausschlaggebende Unterstützung beim Erreichen einer integrierten Persönlichkeit. Um in einer Massengesellschaft autonom zu existieren, bedarf es aber unbedingt einer solch integrierten Persönlichkeitsstruktur.

Bei dem Bemühen, die Ausnahmesituation für Körper, Geist und Seele in einem Konzentrationslager in sein Leben und seine Arbeit zu integrieren, kam Bettelheim zu der Überzeugung, dass der Aufenthalt in einer bestimmten Umwelt und unter bestimmten Bedingungen, die Persönlichkeit eines Menschen sehr viel schneller und tief greifender verändern kann, als die Psychoanalyse.[50]

Eine psychoanalytische Situation stellt, so Bettelheim, eine künstlich geschaffene, spezielle Umwelt dar, die außerhalb einer gewohnten Umwelt gestalten wurde um heilende Persönlichkeitsveränderungen hervorzurufen.[51]

Die Beobachtung eines Menschen in einer solchen speziellen Situation, macht aber auch nur spezielle, dieser Umwelt entsprechenden Entdeckungen möglich und legt so Beschränkungen auf. Nur einige Seiten einer menschlichen Seele können beleuchtet und nur einige Seiten einer Persönlichkeit verändert werden.

Verändern sich Gesellschaft und Umwelt plötzlich oder gar dramatisch, hat der Mensch kaum Gelegenheit sich langsam, organisch und entsprechend seiner Erwartungen auf diese Veränderungen einzustellen.

In einem solchen Fall, sind die Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur eines Menschen, nicht allein auf innere Vorgänge zurückzuführen sondern abhängig von soziologischen Gegebenheiten.

1.1 „Extremsituationen“

Verschärfen äußere Umstände individuelle Belastungen und bedrohen die psychische Integration eines Menschen, kann dieser im schlimmsten Fall genötigt werden Abwehrreaktionen zu ergreifen, die seine psychische Konstitution gefährden. Vertraute Anpassungsmechanismen und Wertvorstellungen helfen nicht mehr – einige davon stellen eher eine Bedrohung für das Leben dar statt es, wie früher, zu schützen.[52]

Eine solche, durch Misshandlungen, Zurückweisungen, Ausgrenzungen und katastrophale Erlebnisse ausgelöste Situation bezeichnete Bettelheim als Extremsituation und er versuchte, die zum Überleben notwendigen psychischen Abwehrstrategien eines Individuums gegen das alles umfassende Gefühl der Ausweglosigkeit innerhalb einer solchen Lage zu erfassen.

Eine Möglichkeit war das Erstellen qualitativer Merkmale einer solchen Extremsituation. Dazu gehören: die Unmöglichkeit einer räumlichen wie auch psychischen Distanzierung, die ungewisse Dauer einer solchen Situation sowie die unmögliche Vorhersehbarkeit kommender Ereignisse.

Diese Definition nimmt eine zentrale Position in Bettelheims Denken ein[53] und das Phänomen der Extremsituation wird, nach einer Differenzierung des Theorems (um so dem Erkennen weit reichender psychischer Störungen nahe zu kommen), zum Ausgangspunkt seiner Arbeit mit psychisch gestörten Kindern.

Eine ausführlichere Darstellung dieses höchst interessanten Themenkomplexes lassen Umfang und Ziel der vorliegenden Arbeit nicht zu. Im Folgenden widme ich mich daher den Ausführungen Bettelheims, welche seine Grundlagen zur Entwicklung einer integrierten Persönlichkeit definieren (2.) und befasse mich dann mit seinen Ausführungen zum Begriff der Massengesellschaft (3.).

2. Grundlagen einer integrierten Persönlichkeit

Bettelheims Ansatz räumt den Aspekten Würde, Achtung und Selbstachtung einen außergewöhnlichen Stellenwert ein und innerhalb seiner Definition geistig-seelischer Gesundheit steht eine „gesunde Selbstachtung“[54] an erster Stelle.

Diese Fähigkeit zur Selbstachtung beginnt mit der Entwicklung des Selbst beim Säugling. Ich möchte kurz Bettelheims Beschreibung des Vorgangs darlegen – gleichsam ist dies der Einstieg in die weiteren Ausführungen in den folgenden Punkten. Eine grundlegende Bedeutung bei der Entwicklung des Selbst gewährt er dabei den Prinzipien Eigenaktivität und Gegenseitigkeit.

Sucht man nach den ersten Erfahrungen, die eine „grundlegende Voraussetzung für die Persönlichkeitsentwicklung“[55] darstellen, so bezeichnet Bettelheim die „gegenseitigen ‚winzigen Anpassungsleistungen’ zwischen Mutter und Kind“[56] als ein solches Fundament. Bettelheim zu Folge entwickelt sich das Selbst in einem interaktionistischen Prozeß. Günstige äußere Bedingungen heben ein rudimentäres Selbst hervor und „in den Interaktionen des Säuglings mit einer empathischen Bezugsperson [entwickelt sich] ein inneres Aktivitätspotenzial.“[57]

Den Anstoß, für die Entwicklung des Selbst, sieht Bettelheim in den Erfahrungen des Säuglings, der erkennt, dass seine Aktionen positive Reaktionen in einem „bis dahin undefinierten Bezirk außerhalb seines Selbsts (…)“[58] bewirken. Eben diese positiven Erfahrungen „ermutigen den Säugling fortzufahren, seine Fähigkeiten zu entwickeln, die äußere Welt zu beeinflussen.“[59] Bettelheim versteht das Selbst somit als aktiv und entwicklungsbezogen.[60]

Stellen sich die Bedingungen dagegen als feindselig dar, kann das Selbst sich kaum entwickeln und verkümmert oder wird zerstört.

Um die Grundlagen einer integrierten Persönlichkeit nach Bettelheim darzulegen, habe ich mich mit dem Freiheitsbewußtsein und der Entscheidungsfreiheit (2.1), der Bedeutung von Entscheidungsfähigkeit (2.2), Autonomie (2.3) und Erziehung (2.4) befasst.

2.1 Freiheitsbewusstsein – Entscheidungsfreiheit

Durch viele und harte Kämpfe befreit von der Aufsicht durch Staat (der über den Körper bestimmte) und Kirche (welche über die Bewusstseinsinhalte bestimmte), gelangte der abendländische Mensch in den letzten Jahrhunderten zu der Freiheit, sein Bewusstsein keinem anderen anzuvertrauen als sich selbst. An diesem Punkt in der Geschichte angelangt, übertrug ihm die gewonnene Freiheit aber auch die Verantwortung zu entscheiden, wie viel Beeinflussung von außen er zulassen sollte und wie viel Gewicht die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse für sein Handeln haben sollte.

So findet sich der Begriff Freiheit bei Bettelheim oft im Kontext mit „Freiheitsbewusstsein“ und „Entscheidungsfreiheit“. Gemeint ist die Freiheit, für das eigene Leben wichtige Entscheidungen immer dort selbst treffen zu können, wo es dem Einzelnen am wichtigsten ist. Es gilt, flexible Grenzen zwischen einem, im Lebenslauf des Individuums sich ändernden Innen (den Bedürfnissen des eigenen Inneren) und einem ebenfalls veränderlichen Außen (den berechtigten Interessen der Gesellschaft), zu errichten und einzuhalten.

Wie Bettelheim schreibt, muss ein lebensfähiger Kompromiss zwischen den Anforderungen der Umwelt zum einen und den persönlichen Bestrebungen zum anderen, gefunden werde. Ziel eines erfolgreichen Kompromisses ist eine integrierte Persönlichkeit, der es möglich ist, auch als Teil einer Gesellschaft autonom und dadurch sicher zu leben.[61]

2.2 Entscheidungsfähigkeit

Der Freiheit, sich entscheiden zu können, folgt die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und diese Entscheidungen in Handlungen umzusetzen.

Bettelheim vergleicht die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, mit der Fähigkeit Nerven oder Muskeln zu benutzen – beide Anlagen verkümmern, wenn sie nicht immer wieder benutzt bzw. trainiert werden. Oder psychoanalytisch ausgedrückt sind Entscheidungen „nicht einfach eine Funktion des Ich, sondern im Gegenteil schaffen sie das Ich und erhalten und erweitern es.“[62]

Entscheidungen zu treffen und diese dann in praktische Handlungen umzusetzen, kostet Kraft. Eine notwendige Kraftanstrengung, denn so entwickeln sich Autonomie und Verantwortungsfreudigkeit eines Individuums. Allerdings muss der Nutzen einer solchen Kraftanstrengung erkennbar sein. In einer Lage unter äußerstem Zwang, in dem ein Handeln nur unter Lebensgefahr möglich scheint, oder in Situationen, in denen anscheinend immer jemand besser beurteilen und vorteilhaft entscheiden kann was gut und richtig ist, unterlässt das Individuum die scheinbare Energieverschwendung und weicht den Entscheidungen auch dort aus, wo es möglich gewesen wäre sie zu treffen.

Eine solche Lage unter Zwang kann in einer Gesellschaftsordnung entstehen, in der ein Individuum nicht mehr die Möglichkeit hat, seine soziale und materielle Umwelt zu beeinflussen bzw. über ihre Veränderung zu entscheiden.

In einer als tyrannisch zu bezeichnenden Umwelt, hat ein Mensch dann zwar noch die Möglichkeit Beschränkungen und Zwänge zu analysieren und dann zu entscheiden, in wie weit er diese innerlich ablehnt oder annimmt – praktische Folgerungen werden sich nur gering oder gar nicht ergeben.

Innere Entscheidungen, die vermehrt zu geringen oder keinen praktischen Folgen führen, werden somit immer häufiger als Kraftverschwendungen betrachtet, denen es auszuweichen gilt.

Im zweiten Punkt – dem Ausweichen von Entscheidungen auf Grund der Ansicht, dass es jemand anders besser weiß - spricht Bettelheim zum einen die Persönlichkeitsentwicklung beim Kind und zum anderen die Entwicklung innerhalb einer Massengesellschaft generell an.

Beim Kind kann eine überfürsorgliche Umgebung, Eltern die immer alle wichtigen Entscheidungen für ihr Kind zu seinem Vorteil und Nutzen treffen, ebenso wie eine Umgebung, welche ein Kind seelisch verarmen lässt oder ein durch Zwang bestimmtes Leben die Entwicklung einer starken Persönlichkeit erschweren oder sogar ganz verhindern.

Beim Erwachsenen spricht er die erhöhte Erwartung an, dass Religion oder Regierung ihm sagen, was gut und richtig ist. Auf diesen Aspekt wird in den Punkten 3.2.2 Macht durch Anonymität, 3.2.5 Fremdbestimmung und 3.3.2 Entscheidungsunfähigkeit noch einmal eingegangen.

2.3 Autonomie

Bettelheim bezeichnet Autonomie als „die Fähigkeit des Menschen, innerlich über sich selbst zu bestimmen; (…)“[63] und als „trotz der Erkenntnis, daß das Leben, soweit wir wissen, keinen Zweck hat, eine bewußte Suche nach einem sinnvolleren Leben.“[64]

Eindringlich warnt er davor, Autonomie mit einer absoluten Freiheit des Einzelnen gleichzusetzen. Vielmehr gilt es, einen Ausgleich zu schaffen zwischen „den Ansprüchen des Individuums und dem Gemeinwohl.“[65]

Bettelheim schreibt dazu:

„Wenn die Instinkte des Einzelnen nicht beschränkt würden, könnte die Gesellschaft nicht bestehen. Ständig entgegen gesetzte Bestrebungen im Inneren des Menschen und zwischen ihm und der Gesellschaft in Einklang zu bringen und auszugleichen, die Fähigkeit, dies zu erreichen, ohne die eigene Wertordnung, das wohlverstandene Eigeninteresse und die Interessen der Gesellschaft zu verstoßen, dies führt zu einem wachsenden Freiheitsbewußtsein und bildet die Grundlage einer sich immer stärker ausprägenden Individualität, die Grundlage von Selbstachtung und innerer Freiheit, mit einem Wort, von Autonomie.“[66]

Darauf, dass wachsende Freiheit ohne gleichzeitige Autonomie zu einer Suche nach Sicherheit von außen führt und zu einer Last werden kann, werde ich auch im 4. Kapitel bei den Ausführungen Erich Fromms ausführlicher eingehen.

An dieser Stelle geht es bei Bettelheim darum, darzustellen, welcher Voraussetzungen es grundsätzlich Bedarf, um das selbst bestimmte Zusammenleben innerhalb einer Gesellschaft zu ermöglichen und er geht noch einmal differenzierter auf die einzelnen Bereiche ein, durch die sich ein autonomes Leben definiert.

„Den Kern des autonomen Daseins eines Menschen bilden die

Überzeugung, ein einzigartiges Individuum zu sein, dauernde und bedeutungsvolle Beziehungen zu anderen Menschen, eine besondere Lebensgeschichte, die er gestaltet hat und von der er gestaltet worden ist, Achtung vor der eigenen Arbeit und Freude, dass er sie gut verrichten kann, Erinnerungen an Erlebnisse, wie sie in dieser Form nur er selbst besitzt, Lieblingsbeschäftigungen und Lieblingsaufgaben.“[67]

All dies, so Bettelheim, befähigt das Individuum, „den berechtigten Forderungen der Gesellschaft nachzukommen, ohne seine Individualität zu verlieren (…)“.[68]

Eine solche Basis zu schaffen, den „autonomen Kern“ eines Menschen zu stärken, wird immer notwendiger, da eine immer komplexer werdende Gesellschaft immer höhere Anforderungen an den Einzelnen stellt.

Der Umstand, dass der Fortschritt (naturwissenschaftlich und technisch) dem Menschen heute zum einen viele Probleme abgenommen hat – deren Lösung ihm in vergangenen Zeiten das Überleben sicherte – und zum anderen viel mehr Möglichkeit bietet als früher, führt zu den zwei Seiten einer Medaille.

Auf der einen Seite ist die Verführung in einem modernen Massenstaat. Je weniger Bedeutung die Entscheidung des Einzelnen im Hinblick auf ein angenehmes Leben hat, desto weniger wird dieser es für nötig halten oder bereit sein, Entscheidungsfähigkeit und damit Autonomie zu entwickeln.[69]

Auf der anderen Seite wird dagegen die Notwendigkeit, Autonomie zu entwickeln, umso größer „je weniger man dazu neigt, andere über sein Leben bestimmen zu lassen.“[70]

2.4 Erziehung

Zu Beginn seiner Entwicklung orientiert sich ein Kind in erster Linie an seinen Eltern bzw. an ihm wichtige Menschen. Eine Identifikation mit diesen Personen, sowie das weitgehende anerkennen und übernehmen ihrer Forderungen als Ansprüche an sich selbst, schaffen die Basis einer Persönlichkeitsstruktur.

Es ist für die Entwicklung des Kindes von herausragender Bedeutung, wie authentisch seine Eltern sind. Authentizität meint hier, in wie weit Eltern dem Kind gegenüber Verhaltensweisen zeigen, die ihrem Inneren entsprechen. Oder ob diese von Experten aufgestellte Anweisungen umsetzen, die lediglich übernommen wurden – der eigenen Persönlichkeit aber fremd sind oder sogar mit ihr im Widerspruch stehen. Ein Kind spürt solche Diskrepanzen zwar, kann aber die innerlichen Gründe seiner Eltern – das eine bewusst zu sagen und das andere unbewusst zu denken oder zu empfinden – nicht unterscheiden. Es bemüht sich, sein Verhalten nach beiden Informationen auszurichten – sowohl nach dem Muster der eigentlichen Elternpersönlichkeiten wie auch nach deren oberflächlichen Verhalten zu handeln. Unbestritten ist, dass das nicht möglich ist und für die Entwicklung einer integrierten Persönlichkeit abträglich. So wird, wie jedes Bemühen, welches Bettelheim zu folge zu keinem Ergebnis führt, auch dieses innere Verlangen nach einer eigenen Wertordnung aufgegeben und direkt oder indirekt das eigene Verhalten von der Anweisung der Gesellschaft abhängig gemacht.

Ohne eine solche Wertordnung ist ein Mensch aber nicht in der Lage, aus einer Überfülle von Möglichkeiten die auszuwählen, die ihm entsprechen und wirklich Bedürfnisse befriedigen.

Einen zweiten wichtigen Schritt stellt die Bewältigung der Umwelt dar, die für das Kind ausgewählt und gestaltet wurde.

Auch hier sollten die Anforderungen an das Kind der Überzeugung des Erziehers entsprechen und nicht nur auf dem Rat von Sachverständigen basieren und schon gar nicht aus lediglich übernommenem Bücherwissen bestehen.

Bettelheim nennt eine sonst entstehende Situation eine widersprüchliche, die im Inneren des Kindes eine derartige Verwirrung entstehen lassen kann, das es nicht mehr in der Lage ist, diese Anforderungen der Umwelt mit seinen Fähigkeiten, seinen Interessen und seiner Herkunft in Einklang zu bringen. Eine solche Situation verhindert, dass Anforderungen der Umwelt „eine Quelle inneren Wachstums und innerer Reife des jungen Menschen werden.“[71] und einem derart geprägten Menschen wird es, wenn er erwachsen ist, an persönlicher Individualität und Selbstbeherrschung fehlen. Er wird beides an anderen Stellen zu finden hoffen und handelt so, „wie ihn die Gesellschaft sonst zu handeln gelehrt hat: er sucht Belehrung und Anleitung bei anderen.“[72] Und das in jedem Bereich seines Lebens. (siehe auch 3.2.5 Fremdbestimmung und 3.3.1 Eltern-Kind Beziehung)

Aus Unsicherheit nicht in der Lage, individuell auf seine Umwelt zu reagieren, ist er auf Beispiele anderer angewiesen. Beim Lösen innerer Aufgaben die ihm seine Instinkte stellen, versucht er durch übernehmen von Beispielen oder erlangen der Billigung von z.B. Nachbarn, ‚Sachverständigen’ oder eines Psychiaters, ein Mindestmaß an Sicherheit zu erlangen.

Eine Beherrschung seiner Selbst erlernt ein Mensch aber eben „nur auf der Grundlage unmittelbarer menschlicher Beziehungen und nicht, in dem er den Forderungen der Gesellschaft nachkommt.“[73]

Ein junger Mensch muss immer wieder die Erfahrung machen können, dass er die Fähigkeit besitzt, innere Schwierigkeiten und Probleme zwischen ihm und der Gesellschaft, selbstständig zu lösen.

Somit ist die Pubertät mitsamt ihrer Konflikte eine wichtige und absolut unverzichtbare Phase auf dem Weg zu einer integrierten Persönlichkeit. Das Kind entwindet sich mit Bedauern der Kindheit und nähert sich neugierig der Welt der Erwachsenen, die es ängstigt. Auf der einen Seite noch Kind und auf der Suche nach Schutz, reagiert es verängstigt wenn es wie ein Erwachsener behandelt wird. Auf der anderen Seite erntet jeder Erwachsene, der diesen jungen Menschen wie ein Kind behandelt, Empörung über solche Respektlosigkeit. Der wichtigste Ratschlag scheint für die Eltern zu sein, Geduld zu haben und sich an die eigene Zeit zu erinnern.[74]

Am Ende all dieser Bemühungen soll ein Mensch stehen, der in der Lage ist eigene Entscheidungen zu treffen, nach einer inneren Wertordnung zu entscheiden und so die Sicherheit und Freiheit zu erlangen, die ihm ein befriedigendes, erfülltes Leben ermöglicht – eine Sicherheit, die aus einer integrierten Persönlichkeit erwächst, ist nie mit der Sicherheit aus einer bestimmenden Umwelt heraus zu kompensieren.

Oder frei übersetzt nach den Worten Benjamin Franklins:

„Wer die Sicherheit auf Kosten der Freiheit garantieren will, wird

am Ende beides verlieren.“[75]

Mit diesem Gedanken wende ich mich dem zweiten Begriff in dem Titel meiner Arbeit zu, der Massengesellschaft.

3. Massengesellschaft

Bettelheim beschreibt, welchem Mechanismus eine Masse bzw. eine Massengesellschaft folgt, wie sie zustande kommt und welche Ansprüche ein Massenstaat an seine Bürger stellt. Er führt generelle Gründe an, die es für Menschen geben kann, ihre Freiheit und Autonomie aufzugeben und zeigt auf, dass der Erhalt von beidem immer schwieriger wird, je mehr Veränderungen in Umwelt und Gesellschaft in immer kürzerer Zeit erfolgen. Ein Gefühl von Sicherheit, welches sich ehemals durch fortwährendes Wiederholen von gleichem Handeln auf gleiche oder ähnliche Situationen ergab, also durch Traditionen, ist in der Gegenwart kaum noch möglich. Die Welt wandelt sich und das Individuum muss sich und seine Handlungen darauf einstellen – ohne deren Folgen vorhersehen zu können.[76]

Insbesondere auf die Gefahren innerhalb einer Massengesellschaft im „Maschinenzeitalter“ weist Bettelheim hin und zeigt auf, welche Auswirkungen diese auf die Persönlichkeit des Individuums haben. Immer mehr Mittel zur Manipulation ermöglicht die moderne Naturwissenschaft den ‚Gesellschaftsorganisatoren’ auf den verschiedensten Gebiete zur Beeinflussung – Bettelheim führt politische, wirtschaftliche, soziale und psychologische Mittel an – und das Zusammenarbeiten von immer mehr Menschen erfordert immer mehr Zwang. Bettelheim bemüht sich darzulegen „welche Eigenschaften der modernen Massengesellschaft den Prozeß der Integration behindern.“[77]

Doch er sieht nicht nur Gefahren sondern durchaus auch Vorteile einer technologischen Massengesellschaft und gibt Hinweise, in welcher Weise Menschen heute seiner Meinung nach an sich arbeiten müssen, um diese Vorteile sinnvoll nutzen zu können.

Beginnen möchte ich mit den positiven Aspekten, die Bettelheim innerhalb der Massengesellschaft sieht und der Frage, ob eine solche Massengesellschaft eine vorübergehende Erscheinungsform ist (3.1). Dem folgt eine Betrachtung über die Strukturen innerhalb einer Massengesellschaft (3.2) und in wie weit sich Verhaltensweisen verändern (3.3)

3.1 Massengesellschaft – ein sozialpsychologisches Übergangsphänomen?

Immer wieder weißt Bettelheim darauf hin, dass er die derzeitige bestehende Gesellschaftsform einer Massengesellschaft, für einen vorübergehenden Zustand hält.

In seinem Buch „Aufstand gegen die Masse“ schreibt er z.B. vom Nachlassen der zügelnden inneren Kräfte und der inneren Befriedigung von Generation zu Generation und nennt diese Entwicklung eine „vorübergehende Folge der gewaltigen von der Technik bewirkten Veränderungen (…)“[78]

An einer anderen Stelle ist davon zu lesen, dass wie „in allen großen Revolutionen in der Gesellschaft der Menschheit (…) auch in dieser technischen, industriellen und sozialen Revolution(…)“[79] der Mensch mit einer gewissen Verzögerung „einmal mehr die erforderliche innere Struktur und die größere Fähigkeit entwickelt, eine innere Integration zu erreichen, die Hand in Hand mit unseren neuen Lebensbedingungen gehen muss.“[80]

Im zweiten Kapitel ist von der „einzigen Gefahr des Maschinenzeitalters“[81] zu lesen und das diese „jedoch weder unabwendbar noch notwendiger Bestandteil dieses Zeitalters [sei]“[82]

Und zum Abschluss des dritten Kapitels betont Bettelheim, dass er „die Hitlersche Version des Massenstaates für eine vorübergehende Erscheinung halte.“[83] und nicht für den Vorboten kommender Ereignisse.

In einem Vortrag, den Bettelheim im April 1986 innerhalb einer Vortragsreihe innerhalb der Robert Bosch Stiftung hielt, sprach er über die Persönliche Autonomie in der Massengesellschaft.

Auch hier ging er auf die, seiner Meinung nach, durchaus vorhandenen Vorzüge einer solchen Gesellschaftsform ein.

Nicht allein, dass wissenschaftlicher und technischer Fortschritt in unserer Gesellschaft große Hungersnöte verhindern und unsere Lebenszeit verlängern – der Einsatz von Maschinen um so ein Maximum an Freiheit von täglich notwendigen Arbeiten zu erhalten, ist sinnvoll.[84] Und auch Angelegenheiten der Verwaltung in gewissen Bereichen in die Verantwortung der Gesellschaft zu legen ist sowenig unvernünftig wie die Auswahl von Vertretern, welche wichtige Entscheidungen für die Menschen treffen sollen.[85]

Beides gut und richtig – solange das Individuum nicht der Versuchung unterliegt, sich von ‚Experten’ immer weitere Teile seiner persönlichen Freiheit bestimmen zu lassen.

Bettelheim spricht in seinem Vortrag u. A. die Theorie vom ‚außengeleiteten Menschen’ des Soziologen David Riesmann[86] an und geht im folgenden auf seine eigene, dessen Ausführungen widersprechende, Ansichten ein. Er versteht – im Gegensatz zu Riesmann – gerade die Möglichkeiten dieser modernen technologischen Massengesellschaft als die Basis, die entgegen früherer Zeiten, einer großen Anzahl von Menschen zumindest theoretisch die Chancen eröffnen, „persönliche Autonomie und eine individuelle Persönlichkeit zu erlangen.“[87]

In der Vergangenheit waren es nur wenige Menschen die in eine privilegierte Gesellschaftsschicht geboren wurden und so ein ererbtes „Vorrecht auf die höheren und besten Dinge im Leben“[88] hatten. Das Aufkommen der Massengesellschaft zerstörte diese rigiden Klassenschranken und Vorrechte weniger wurden – mehr oder weniger – plötzlich vielen zugänglich.[89]

Robert Wunsch definiert Bettelheims Aussagen in dem Vortrag folgende maßen.

Die Massengesellschaft bildet einen vorübergehenden Zeitraum innerhalb der Geschichte. Sie steht zwischen der Auflösung einer Gesellschaft, in dem die Zugehörigkeit zu einem Stand bzw. einer Klasse von Geburt an festgelegten war, und dem Erreichen einer Gesellschaftsform innerhalb der die Freiheit und Selbstverwirklichung ihrer Bürger die Struktur bilden.[90]

Eine zukünftige Struktur einer solchen Gesellschaftsform lässt Bettelheim offen, einzig die Forderung nach einem „guten Leben“ liegt fest. Diese

Idee vom guten Leben, mit den unveräußerlichen Rechten jedes Individuums auf Freiheit und Selbstbestimmung, stellt die Basis für das neue Ordnungsmuster. Innerhalb selbstständiger Kleingruppen und Interessengemeinschaften sollen sich autonome (in sich sicher und unabhängige) Individuen zusammenschließen um ihre jeweiligen Interessen vertreten zu können.[91]

[...]


[1] S. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse; Die Zukunft einer Illusion, Frankfurt a. M., 1975, S. 16

[2] Ebd., S. 17

[3] Vg. ebd.

[4] Le Bon zit. in Freud, Massenpsychologie, a.a.O., S. 15

[5] Ebd., S. 26

[6] Vgl. ebd.

[7] E. Canetti, Masse und Macht, Frankfurt a. M., 1980, S. 9

[8] Ebd., S. 10

[9] Ebd., S. 66

[10] Ebd., S. 26

[11] Ebd.

[12] Ebd.

[13] Vgl. ebd.

[14] Ebd., S. 26f

[15] M. Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 6: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft; Notizen 1949-1969, Frankfurt a. M. 1991, S. 136

[16] Ebd., Hervorhebungen von mir.

[17] Ebd., S. 137

[18] Ebd.

[19] Ebd., S. 141

[20] Ebd., S. 142, Hervorhebung von mir

[21] G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1973, S. 23

[22] Ebd., S. 177

[23] Ebd., S. 373

[24] Ebd.

[25] Ebd., S. 206

[26] H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 2. Auflage, München 1991, S. 668

[27] Ebd., S. 668

[28] Ebd., S. 682

[29] Vgl. ebd., S. 663ff

[30] Vgl. ebd., S. 665

[31] Ebd., S. 663

[32] B. Bettelheim, Aufstand gegen die Masse. Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1989, S. 112

[33] Ebd., S. 310

[34] Vgl. E. Fromm, Die Furcht der Freiheit, Frankfurt/Main 1980, S. 7

[35] Ebd., S. 24

[36] Ebd., S. 98

[37] Ebd.

[38] Ebd., S. 209

[39] Ebd.

[40] Ebd.

[41] Ebd., S. 215

[42] Nähere Angaben zu Bruno Bettelheims Leben und Werken bitte ich der Zeittafel I im Anhang zu entnehmen.

[43] R. Wunsch, Das Konzept der höheren Integration. Eine pädagogische Studie über den Zusammenhang von Gesellschaft, Psychopathologie und Erziehungsinstitution in den Schriften Bruno Bettelheims, Münster 1998, S. 5f

[44] D. J. Fisher, zit. in F.-J. Krummenacker, Bruno Bettelheim. Grundpositionen seiner Theorie und Praxis, 1998, S. 11

[45] Vgl. alle Zitate ebd., S. 11f

[46] Ebd., S. 34

[47] N. Hellstein, zit. ebd., S. 32

[48] Wunsch, Konzept, a.a.O., S. 8

[49] Bettelheim, Aufstand gegen die Masse, a.a.O., S. 19

[50] Vgl. ebd., S. 24

[51] Vgl. ebd., S. 28

[52] Vgl. N. Sutton, Bruno Bettelheim. Auf dem Weg zur Seele des Kindes, Hamburg 1996, S. 210

[53] Vgl. Wunsch, Konzept, a.a.O., S. 57

[54] Krummenacker, Bruno Bettelheim, a.a.O., S.62

[55] Bettelheim zit. in Krummenacker, Bruno Bettelheim, a.a.O., S. 44

[56] Ebd.

[57] Krummenacker, Bruno Bettelheim, a.a.O., S.45

[58] Bettelheim zit. in Krummenacker, Bruno Bettelheim, a.a.O., S. 45

[59] Ebd.

[60] Vgl. Krummenacker, Bruno Bettelheim, a.a.O., S.45

[61] Vgl. Bettelheim, Aufstand gegen die Masse, a.a.O. S. 256

[62] Ebd., S. 77

[63] Ebd., S. 80

[64] Ebd.

[65] Ebd.

[66] Ebd., S. 80

[67] Ebd., S. 80 f.

[68] Ebd., S. 81

[69] Vgl. ebd., S. 79

[70] Ebd., S. 79

[71] Bettelheim, Aufstand gegen die Masse, a.a.O., S. 108

[72] Ebd., S. 104

[73] Ebd., S. 107

[74] Vgl. G. Sorman, Denker unserer Zeit. 28 Gespräche, 1993, S.148

[75] Jimpoz.com (2007): The repository contains 54 quotes by Benjamin Franklin. WWW-Dokument vom 22. Juni 2007: (http://www.jimpoz.com/quotes/speaker.php?speakerid=29)

Benjamin Franklin schrieb diese Zeilen am 11. September 1773 in einem Brief an Josiah Quincy. „They that can give up essential liberty to obtain a little temporary safety deserve neither liberty nor safety.“ (Wer grundlegende Freiheiten aufgibt, um etwas Sicherheit zu gewinnen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit)

[76] Vgl. Bettelheim, Aufstand gegen die Masse, a.a.O., S. 41

[77] Ebd., S. 85

[78] Ebd., S. 113

[79] Ebd., S. 322

[80] Ebd.

[81] Ebd., S. 71. Die Gefahr, die Bettelheim hier anspricht, sieht er in einem – das Maschinenzeitalter kennzeichnenden – Wohlstand, der jedem Individuum eine zumindest grundlegende materielle Sicherung ermöglicht. Dieser Wohlsstand soll oft emotionale Zufriedenheit ersetzen und es kann sich eine Sucht nach immer mehr ‚Ersatz’ entwickeln, die in der Folge nach immer weiteren technischen Fortschritten verlangt

[82] Ebd.

[83] Ebd., S. 117

[84] Vgl. B. Bettelheim, Persönliche Autonomie in der Massengesellschaft. In: Ein Jahrhundert wird besichtigt. Vortragsreihe der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart 1987, S. 15

[85] Vgl. Bettelheim, Aufstand gegen die Masse, a.a.O., S. 78

[86] David Riesmann, amerikanischer Soziologe. In seinem Hauptwerk ‚Die Einsame Masse’ (1958) stellte er u. a. die These von dem ‚gleichgültigen Menschen’ auf, der sich allen jeweils herrschenden Meinungen anzupassen weiß.

[87] Bettelheim, Persönliche Autonomie, a.a.O., S.15

[88] Ebd.

[89] Vgl. Ebd., S. 17

[90] Vgl. Wunsch, Das Konzept der höheren Integration, a.a.O., S. 44

[91] Vgl. Ebd., S. 45

Ende der Leseprobe aus 160 Seiten

Details

Titel
Individualität und Massengesellschaft in sozialpädagogischer Perspektive
Hochschule
Fachhochschule Düsseldorf
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
160
Katalognummer
V88963
ISBN (eBook)
9783638025140
ISBN (Buch)
9783638921954
Dateigröße
914 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Individualität, Massengesellschaft, Perspektive
Arbeit zitieren
Diplom Sozialpädagogin (FH) Petra van der Vegte (Autor:in), 2007, Individualität und Massengesellschaft in sozialpädagogischer Perspektive, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88963

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