Medien als Krankheitserfinder? - Die Berichterstattung in ausgewählten Printmedien über Testosteronmangel bei älteren Männern


Magisterarbeit, 2006

183 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 ABSTRACT

2 EINLEITUNG
2.1 Themenwahl und Problemstellung
2.2 Aufbau und Vorgehensweise

3 FORSCHUNGSSTAND
3.1 Forschungsstand Medizinjournalismus
3.2 Die „männlichen Wechseljahre“
3.2.1 Karriere einer Krankheit
3.2.2 Medizinische Grundlagen
3.2.2.1 Testosteron
3.2.2.2 Testosteronmangel
3.2.2.3 Testosterontherapie

4 THEORETISCHER TEIL
4.1 Gesundheit und Krankheit
4.1.1 Gesundheit und Krankheit als Begriffe
4.1.2 Gesundheit und Krankheit als soziale Konstrukte
4.2 Medikalisierung
4.2.1 Ursprung und Entwicklung des Begriffs
4.2.2 Der Prozess der Medikalisierung
4.2.3 Die Akteure
4.2.4 Medien und Medikalisierung
4.3 Die Realität der Medien
4.3.1 Realität und Medienrealität
4.3.2 Einflüsse auf die Medienrealität
4.3.2.1 Ereignisbezogene Einflüsse
4.3.2.2 Journalistenzentrierte Einflüsse
4.3.2.3 Medieninterne Einflüsse
4.3.2.4 Medienexterne Einflüsse
4.4 Agenda-Setting
4.4.1 Entwicklung der Agenda-Setting-Forschung
4.4.2 Medienagenda, Publikumsagenda und politische Agenda
4.4.2.1 Medien-Agenda-Setting
4.4.2.2 PR und die Medienagenda
4.4.3 Agenda-Building
4.4.4 Agenda-Setting als Zweistufenfluss der Kommunikation
4.4.5 Agenden im Medikalisierungsprozess
4.4.6 Agenda-Setting im Medikalisierungsprozess
4.5 Der Framing-Ansatz
4.5.1 Begriffsklärung Frames/Framing
4.5.2 Ursprünge des Framing-Ansatzes
4.5.3 Arten von Frames
4.5.3.1 Vertikale und horizontale Einteilung
4.5.3.2 Strategisches Framing der PR
4.5.3.3 Inhaltliche Einteilung
4.5.4 Der Framing-Ansatz in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung
4.5.5 Auswahl der Medienframes
4.5.6 Frame-Building
4.6 Modell zum Prozess der Medikalisierung
4.7 Zusammenfassung

5 EMPIRISCHER TEIL
5.1 Anlage und Durchführung der Untersuchung
5.1.1 Forschungsfragen und Hypothesen
5.1.2 Die verwendeten Methoden
5.1.2.1 Die Inhaltsanalyse
5.1.2.2 Die Frame-Analyse
5.1.3 Auswahl des Untersuchungszeitraums
5.1.4 Auswahl des Untersuchungsmaterials
5.1.4.1 Auswahl der Titel
5.1.4.2 Auswahl der Artikel
5.1.4.3 Auswahl der Pressemitteilungen
5.1.5 Definition der Analyseeinheit
5.1.6 Kategorienbildung
5.1.6.1 Allgemeine Kategorien
5.1.6.2 Kategorien der Frame-Analyse
5.1.7 Reliabilität und Validität
5.2 Ergebnisse der Untersuchung
5.2.1 Die Berichterstattung zum niedrigen Testosteronspiegel
5.2.1.1 Die Berichterstattung im Zeitverlauf
5.2.1.2 Anlass der Berichterstattung
5.2.1.3 PR und Artikel im Zeitverlauf
5.2.1.4 Zusammenfassung zur Häufigkeit der Berichterstattung
5.2.2 Ergebnisse der Frame-Analyse
5.2.2.1 Frames im PR-Material
5.2.2.2 Interpretation des Framings der PR
5.2.2.3 Frames in der Berichterstattung
5.2.2.4 Vergleich der Frames in PR-Material und Berichterstattung
5.2.3 Medikalisierende Frames in den Artikeln
5.2.3.1 Medikalisierung im Zeitverlauf
5.2.3.2 Medikalisierung einzelner Medien/Mediengattungen

6 FAZIT UND AUSBLICK
6.1 Zusammenfassung
6.2 Überprüfung der Hypothesen
6.3 Folgerungen und Ausblick
6.4 Reflexion

7 LITERATURVERZEICHNIS

8 ABBILDUNGSVERZEICHNIS

9 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

10 ANHANG
10.1 Untersuchungsmaterial
10.1.1 Artikel in chronologischer Reihenfolge
10.1.2 Pressemitteilungen in chronologischer Reihenfolge
10.2 Operationalisierung der Frame-Elemente
10.2.1 Ausprägungen in den Pressemitteilungen
10.2.2 Ausprägungen in den Artikeln
10.3 Codierleitfaden
10.3.1 Auswahl der Artikel
10.3.2 Kategorien
10.3.2.1 Formale Kategorien
10.3.2.2 Allgemeine inhaltliche Kategorien
10.3.2.3 Kategorien der Frame-Analyse
10.4 Statistische Ergebnisse
10.4.1 Häufigkeit der Berichterstattung
10.4.1.1 Artikelanzahl von Zeitungen und Zeitschriften im Vergleich
10.4.1.2 Artikelanzahl nach einzelnen Medien
10.4.1.3 Artikelanzahl nach Jahren
10.4.2 Anlässe der Berichterstattung
10.4.2.1 Anlässe der Berichterstattung pro Jahr
10.4.2.2 Anlässe der Berichterstattung pro Quartal
10.4.3 Frame-Analyse der Pressemitteilungen
10.4.3.1 Ergebnisse der Clusteranalyse
10.4.3.2 Mittelwerte der Frames in den Pressemitteilungen
10.4.4 Frame-Analyse der Artikel
10.4.4.1 Ergebnisse der Clusteranalyse
10.4.4.2 Mittelwerte der Cluster/Frames in der Berichterstattung
10.4.5 Medikalisierende Frames
10.4.5.1 Medikalisierende Frames in der Berichterstattung
10.4.5.2 Medikalisierende Frames nach Mediengattungen
10.4.5.3 Medikalisierende Frames in Wirtschaftszeitungen
10.4.5.4 Medikalisierende Frames in Wochenzeitungen
10.4.5.5 Medikalisierende Frames in Männerzeitschriften
10.4.5.6 Medikalisierende Frames in Frauenzeitschriften

1 Abstract

In der vorliegenden Arbeit wird die Rolle der Medien bei der Umdeutung natürlicher Körpervorgänge in Krankheiten untersucht. Als Akteure dieser Medikalisierung werden das Medizinsystem, die Pharmaindustrie, deren Public Relations (PR), die Bevölkerung und die Medien ausgemacht. Da es sich bei der Definition von Befindlichkeiten als Krankheiten um die Konstruktion eines Wirklichkeitsausschnittes handelt, wird darge- stellt, welche Akteure und Faktoren einen Einfluss auf die Entstehung der Medienreali- tät haben. Mit Hilfe des Agenda-Setting- und des Framing-Ansatzes wird ein Modell der wechselseitigen Einflussbeziehungen im Medikalisierungsprozess entwickelt.

Im empirischen Teil wird die Rolle der Medien bei der Medikalisierung am Beispiel der Berichterstattung zu den „männlichen Wechseljahren“ in den Jahren 1997 bis 2005 untersucht. Es werden Artikel ausgewählter Printmedien sowie Pressemitteilungen von Pharmaunternehmen und PR-Agenturen inhaltsanalytisch ausgewertet. Dabei werden die Erscheinungshäufigkeit im Zeitverlauf und die gewählten Frames zum niedrigen Testosteronspiegel miteinander verglichen.

Die Erscheinungshäufigkeit deutet zeitweise auf einen Zusammenhang zwischen PR und Berichterstattung hin. Die Frame-Analyse identifiziert in den Artikeln sieben, in den Pressemitteilungen fünf Frames. Zwei Frames („ Medizinischer Schaden “ und „ Männliche Wechseljahre “ ), kommen in Pressemitteilungen und Artikeln übereinstimmend vor, zwei weitere Frames weisen starke Ähnlichkeiten auf („ Männliche Gesund heitsmuffel “ und „ Sexueller Schaden “ bzw. „ Schaden für Sexualität und Männlich keit “). Gut die Hälfte der in den Artikeln genutzten Frames können als Beitrag zur Medikalisierung des niedrigen Testosteronspiegels aufgefasst werden.

In ihrer Gesamtheit leisteten die Printmedien einen Beitag zur Medikalisierung des niedrigen Testosteronspiegels. Betrachtet man jedoch den Umgang der einzelnen Medien mit diesem Thema, findet man starke Unterschiede. Einzelne Medien verzichteten ganz auf eine Thematisierung oder berichteten nicht medikalisierend. Unterschiede sind auch im Zeitverlauf zu beobachten. Nach dem Erscheinen zweier kritischer Artikel im Spiegel und eines kritischen Buches zum Thema, wird deutlich weniger und kritischer über die „Männlichen Wechseljahre“ berichtet.

Schlagwörter: Medikalisierung, Wirklichkeitskonstruktion, Medienrealität, Agenda- Setting, Framing, Frame-Analyse, Inhaltsanalyse, Printmedien, Testosteron, Andropau- se.

2 Einleitung

Die Wechseljahre des Mannes Von Wechseljahren wei ß der Kenner, dass sie gefährlich auch für Männer. Schon naht - sonst abhold der Verrohung-

der Fachmann mit massiver Drohung: Sie haben Sand in den Gelenken! Sie können nicht mehr richtig denken!

Sie haben Kribbeln in den Beinen! Sie fangen grundlos an zu weinen! Sie sind versucht, sich selbst zu töten,

Sie leiden unter Atemnöten,

Schwei ß rinnt von Ihnen, ganze Bäche! Sie fürchten sich vor Männerschwäche!

Sie haben Angst vor Frauenzimmern! Sie leiden unter Augenflimmern,

Schlaflosigkeit und Nervenzucken, Fu ß kälte, Kopfweh, Schwindel, Jucken

Ihr Herz beginnt zu klopfen, jagen, müd sind Sie, nieder-, abgeschlagen! Der Ä rmste, der dies schaudernd liest, kriegt ´ s mit der Angst und sagt: „ Na, siehst! “

Und nimmt - das war der Warnung Willen - ab heut die guten Knoblauchpillen!

Eugen Roth

2.1 Themenwahl und Problemstellung

Während in Berlin noch über die aktuelle Gesundheitsreform debattiert wird, sorgen die Zahlen des Arzneiverordnungs-Reports 2005 1 bei Experten für Diskussionsstoff: 25,4 Milliarden Euro mussten die gesetzlichen Krankenkassen demnach im vergangenen Jahr allein für Arzneimittel aufbringen. Damit sind die Ausgaben für Medikamente im Ver- gleich zum Vorjahr um 17 Prozent gestiegen. Sie bilden erneut den zweitgrößten Kostenfaktor der Kassen (vgl. Spiegel-Online 2006).

Glaubt man dem Spiegel-Redakteur Jörg Blech, sind diese Zahlen auch das Resultat eines geschickten Marketings von Pharmafirmen, die die Krankheiten zu ihren medizi- nischen Therapien gleich mit vermarkten (vgl. Blech 62004: 158). Im Jahr 2003 sorgte Blech mit seinem Buch „Die Krankheitserfinder - Wie wir zu Patienten gemacht wer- den“ für Aufsehen. Der Spiegel-Redakteur konstatierte einen „Megatrend Medikalisie- rung“, bei dem „natürliche Wechselfälle des Lebens und normale Verhaltensweisen […] systematisch als krankhaft umgedeutet“ werden (Blech 2004: 2). Nach Blechs Ansicht bauschen pharmazeutische Firmen, Gerätehersteller und Ärztegruppen Krankheiten auf oder erfinden sie schlichtweg, um einen Markt für ihre Produkte und Dienstleistungen zu schaffen (vgl. Blech 2003: 20).

Der emeritierte Psychiatrieprofessor Klaus Dörner vertritt eineähnliche Meinung. Im Interview mit der Zeitschrift „ Psychologie heute “ erklärt er: „Der Wettbewerb führt zur Erschließung neuer Märkte. Das Ziel ist, Gesunde in Kranke zu verwandeln. Diese Marktausweitung und Umdefinierungen funktionieren in Bezug auf den menschlichen Körper schon ziemlich gut.“ (Dörner 2005: 34).

Als Schuldige an dieser zunehmenden Medikalisierung macht Blech (62004: 53ff.) neben Pharmafirmen, Ärzten und Medizinprofessoren auch Medizinjournalismus aus. Durch Bestechlichkeit, dem Hang zu Übertreibungen und Kritiklosigkeit ließen sich die Journalisten als „Werkzeug der Pharmaindustrie“ einsetzen (vgl. ebd.). Blech betont jedoch selbst, dass „das Ausmaß der Desinformation im Medizinjournalismus […] kaum je untersucht“ wurde (ebd. 54).

Bei der Lektüre dieses Buches und der Rezeption der darauf folgenden Diskussion in der Medienöffentlichkeit entstand die Idee zu der vorliegenden Arbeit. Es stellte sich die Frage, welche Rolle die Medien in diesem Prozess der Medikalisierung einnehmen. Wie berichten Medizinjournalisten über solche „erfundenen Krankheiten“ (vgl. Blech u.a. 2003: 7)? Inwieweit lassen sie sich tatsächlich von Pharmafirmen instrumentalisie- ren, um natürliche Körpervorgänge im Bewusstsein der Bevölkerung als medizinisches Problem zu verankern? Wie groß ist also der Einfluss der Public Relations (PR) von Pharmaunternehmen auf die Berichterstattung? Dies sind die forschungsleitenden Fra- gen der vorliegenden Arbeit. Sie sollen im empirischen Teil am Fallbeispiel der „männ- lichen Wechseljahre“ untersucht werden.

2.2 Aufbau und Vorgehensweise

Um die Rolle der Medien bei der Umdeutung natürlicher Körpervorgänge in Krankheiten zu untersuchen, muss zunächst der Prozess der Medikalisierung analysiert werden. Erst wenn die beteiligten Akteure und ihre gegenseitigen Einflussbeziehungen offengelegt sind, kann der Beitrag der Medien an der Medikalisierung ermittelt und von anderen Faktoren unterschieden werden. Der theoretische Teil der vorliegenden Arbeit hat also das Ziel, ein Modell für den Prozess der Medikalisierung zu entwickeln, das insbesondere die Rolle der Medien berücksichtigt.

Damit sich die vorliegende Arbeit in die kommunikationswissenschaftliche Forschung einordnen lässt, wird in Kapitel 3.1 zunächst der Forschungsstand zum Medizinjournalismus dargestellt. Kapitel 3.2 widmet sich dem notwendigen Hintergrundwissen zu den „männlichen Wechseljahren“. Es liefert eine chronologische Darstellung der „Karriere“ der Erkrankung „altersbedingter Testosteronmangel“ und beschreibt die medizinischen Grundlagen dieses Phänomens.

Da es sich bei der Medikalisierung um eine Umdeutung von „gesund“ zu „krank“ handelt, geht Kapitel 4.1 auf das Verständnis dieser Begriffe in unserer Gesellschaft ein. Kapitel 4.2 widmet sich der Medikalisierung selbst, erklärt den Ursprung des Begriffs und den Prozess mit den daran beteiligten Akteuren.

Bei der Umdeutung natürlicher Körpervorgänge zu Krankheiten handelt es sich um ein Stück Wirklichkeitskonstruktion (vgl. Kap. 4.1.2). Um die Rolle der Medien in diesem Prozess zu klären muss also auch danach gefragt werden, wie die Beziehung zwischen Medien und „Realität“ ist und was die Wirklichkeitskonstruktionen der Medien beeinflusst. Diesen Fragen widmet sich Kapitel 4.3.

Die Kapitel 4.4 und 4.5 stellen zwei kommunikationswissenschaftliche Ansätze vor, mit denen sich der Informationsfluss2 von den Medien zu den Rezipienten beschreiben lässt: das Agenda Setting und das Framing. Sie geben auch Aufschluss über die Rollen der übrigen Akteure bei der Medikalisierung und ihre gegenseitige Beeinflussung. Die Offenlegung des gesamten Beziehungsgeflechts ist wichtig, um den Anteil der Medien an der Medikalisierung von den Beiträgen der übrigen Akteure abgrenzen zu können.

In Kapitel 4.6 wird daher mit Hilfe der Erkenntnisse aus den vorangegangenen Kapiteln ein Modell entwickelt, das die gegenseitigen Einflussbeziehungen verdeutlicht.

Im empirischen Teil der Arbeit wird ein Ausschnitt des zuvor theoretisch analysierten Medikalisierungsprozesses am Beispiel der „männlichen Wechseljahre“ in einer In- haltsanalyse untersucht. Auf der Basis der theoretischen Vorüberlegungen werden Hypothesen aufgestellt und das Instrumentarium zu ihrer Überprüfung entwickelt (Kap. 5.1). Dabei handelt es sich um eine Inhaltsanalyse der Berichterstattung zu Testoste- ronmangel und -therapie der Jahre 1997 bis 2005 in ausgewählten Printmedien. Außer- dem werden Pressemitteilungen, die von Pharmafirmen und in ihrem Auftrag arbeiten- den PR-Agenturen herausgegeben wurden, analysiert. Es wird untersucht, ob es einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Erscheinen von Artikeln und Pressemitteilun- gen gibt. Ein inhaltlicher Vergleich wird mit Hilfe einer Frame-Analyse durchgeführt. Mit dieser Methode wird auch untersucht, inwieweit die Medien einen inhaltlichen Bei- trag zur Medikalisierung des niedrigen Testosteronspiegels geleistet haben.

Die empirischen Ergebnisse der Inhaltsanalyse werden in Kapitel 5.2 vorgestellt. Kapitel 6 fasst die vorliegende Arbeit noch einmal zusammen, zieht ein Fazit und zeigt Perspektiven für zukünftige Forschungsarbeiten auf.

3 Forschungsstand

Um das Thema der vorliegenden Arbeit in die kommunikationswissenschaftliche For- schung einordnen zu können, wird in diesem Kapitel zunächst ein kurzer Überblick ü- ber den Forschungsstand zum Medizinjournalismus gegeben. Dann wird auf die Hinter- gründe zum Thema der empirischen Untersuchung, die „männlichen Wechseljahre“, eingegangen. Zunächst wird dabei chronologisch die Entdeckung des Testosteronspie- gelsälterer Männer als Problembereich der Medizin dargestellt. Dann werden medizini- sche Hintergründe zu Testosteron, Testosteronmangel und -therapie gegeben.

3.1 Forschungsstand Medizinjournalismus

Mit dem Begriff „Medizinjournalismus“ werden Informationsangebote in öffentlich zugänglichen und aktuellen Medien bezeichnet, die sich auf medizinische Themen be- ziehen (vgl. Brichta et al. 2004: 10). In der Kommunikationswissenschaft wird der Me- dizinjournalismus als Sonderform des Wissenschaftsjournalismus verstanden (vgl. Hömberg 1990).

Die Forschung zum Medizinjournalismus lässt sich bis zum Beginn des vergangenen Jahrhunderts zurückverfolgen (vgl. Cattani 1913). Die meisten Veröffentlichungen stammen allerdings aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Fischer 1985: 1). In Deutschland entstand vor allem im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Arbeiten, die sich mit dem Spannungsfeld Medizin-Massenmedien und dabei insbeson- dere mit der populären Presse auseinandersetzen. Der Wissenschaftsjournalismus insge- samt stellt in den letzten zehn Jahren weder in der deutschen noch in der internationalen Kommunikationswissenschaft ein prominentes Thema dar (vgl. Kohring 2005: 181, 193).

Die Arbeiten zum Medizinjournalismus lassen sich nach ihrem Schwerpunkt einteilen in Arbeiten, die sich hauptsächlich mit der Geschichte des Medizinjournalismus, mit der Theorie, den Rezipienten, den Produzenten oder den Produkten des Medizinjournalismus auseinandersetzen. Als wichtige Beiträge zur Historie des Medizinjournalismus gelten die Arbeiten von Cattani (1913), Bäder (1954) und Deneke (1969). Letzterer unternimmt den Versuch, die Medizinpublizistik auf eine kommunikationswissenschaftliche Grundlage zu stellen (vgl. Kohring 2005: 32).

Journalismustheoretisch haben sich bislang nur wenige Arbeiten mit dem Medizinjour- nalismus auseinandergesetzt. Die aktuellste Arbeit stammt von Kohring (2005) und widmet sich hauptsächlich dem Wissenschaftsjournalismus allgemein. Kohring beklagt den Verzicht auf eine „auch nur einigermaßen anspruchsvolle Theorie von Massenkommunikation und Journalismus“ in der medizinjournalistischen Forschung (ebd.: 125). Journalismustheoretisch befände sich die Forschung zur Medizinpublizistik auf dem Niveau ihrer Anfänge in den sechziger Jahren.

Mit den Rezipienten der Medizinberichterstattung befassen sich bislang vergleichsweise wenige Arbeiten (vgl. Zerges 1990: 33). Als Beispiel ist eine repräsentative Erhebung des Meinungsforschungsinstituts EMNID von 1972 zu nennen, die in den 1980er Jahren von Fischer interpretiert wurde. Es zeigte sich, dass das Interesse der Bevölkerung an medizinischen Inhalten mit geringerem Bildungsgrad abnimmt (vgl. Fischer1984: 26). Zu einemähnlichen Ergebnis kommt auch van der Rjit (2000) bei einer Untersuchung zu den Folgen von Gesundheitsproblemen auf das Informationsverhalten. Auf weitere Befunde zu Rezipienten der Medizinberichterstattung soll im folgenden Kapitel einge- gangen werden.

Mit der beruflichen Situation von Wissenschaftsjournalisten setzen sich beispielsweise die Arbeiten von Hömberg (1990) und Schütze (31996) auseinander.3 Beide machen eine personelle Unterbesetzung in den Wissenschaftsressorts aus (vgl. Hömberg 1990: 141, Schütze 31996: 189f.) Die derzeit aktuellste Untersuchung dürfte eine Kombination aus Befragung und Inhaltsanalyse von Blöbaum, Görke und Wied (2004) sein, die sich der Frage widmet, auf welche Quellen Wissenschaftsjournalisten bei ihrer Arbeit zu- rückgreifen. Auf diese Studie soll noch in Kapitel 4.3.2 eingegangen werden.

Die meisten kommunikationswissenschaftlichen Arbeiten zum Medizinjournalismus - wie auch die vorliegende Arbeit - beschäftigen sich mit der Berichterstattung selbst. Seit Anfang der 1970er Jahre werden medizinjournalistische Beiträge in Printmedien inhaltsanalytisch unter die Lupe genommen (vgl. z.B. Kärtner 1972, Merscheim 1978). Eine Veränderung in der inhaltsanalytischen Herangehensweise machen Alheit und Ty- cher (2001: 33) Ende der 1980er Jahre aus. Während bislang die einzelnen Medien mit ihrer breiten medizinischen Berichterstattung im Vordergrund gestanden hatten, widme- ten sich die Autoren nun der Berichterstattung zu einzelnen Krankheiten (vgl. z.B. Bor- chers 1990, Hellmann 1990, Wende 1990, Pietzsch 1991, Boes 1991). Auf eine genaue Beschreibung der einzelnen Studien zur medizinischen Berichterstattung soll hier ver- zichtet werden (vgl. die Überblicke bei Alheit/Tycher 2001: 39ff., Hörning 2002: 40ff. und Kohring 2005).

3.2 Die „männlichen Wechseljahre“

Im Folgenden werden die Hintergründe zur Andropause dargestellt. Zunächst wird ein chronologischer Überblick über die „Entdeckung“ der männlichen Wechseljahre gegeben. Dann werden die medizinischen Hintergründe zu Testosteron, Testosteronmangel und -therapie dargestellt.

3.2.1 Karriere einer Krankheit

Das Phänomen der Andropause, des männlichen Pendants zur weiblichen Menopause, wird spätestens seit 1997 unter unterschiedlichen Namen diskutiert. Altersbedingter Hypogonadismus, PADAM (progressives partielles Androgenmangel Syndrom), Tes- tosteronmangel-Syndrom, Klimakterium virile, Aging-Male-Syndrom - die Bezeich- nungen sind vielfältig. Auf einer vom Pharmaunternehmen Jenapharm gesponserten Expertenkonferenz der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie im Sommer 1997 in Weimar stellte der Endokrinologe Bruno Lunenfeld (1997) fest: „Es muß ein Bewußt- sein für das Phänomen ,der alternde Mann‘ geschaffen werden.“ Und: „Die Gesellschaft muß überzeugt werden, daß wir einige Symptome und Folgen des Alterns reduzieren können“.

Dabei ist die Hormonersatztherapie für Frauen in und nach den Wechseljahren Vorbild für die Idee, angeblich jung erhaltende Hormone zu substituieren (vgl. Kap 4.2.3). So betont Lunenfeld (1997): „Die Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens ist kein weibliches Vorrecht“. Außerdem fehle es an qualifizierten Ärzten, „die mit dem Problemfeld des alternden Mannes umgehen“ könnten (ebd.).

Anfang Februar 1998 iniitiert Lunenfeld den ersten Weltkongress „The Aging Male“ in Genf. Er macht auch hier sein Anliegen deutlich: Die Männer müssten lernen, bei Be- schwerden den Arzt aufzusuchen, an Früherkennungsprogrammen teilzunehmen, den Kopf nicht in den Sand zu stecken (vgl. Leinmüller 1998: 796). Im April 1998 kommt in Deutschland das erste Testosteronpflaster, „Testoderm“ von Ferring, auf den Markt (vgl. Abda 2006).

Im September 1999 erklärt Jenapharm auf einer Pressekonferenz in Weimar, dass das Unternehmen „dem Hormontief [des alternden Mannes] auf der Spur“ sei (Jenapharm 1999). Es präsentiert sein neues Forschungs- und Entwicklungsprogramm „Der Mann im Alter“, das dazu beitragen soll, „dass der Rückstand zur Hormontherapie bei der Frau aufgeholt wird“. Lothar Heinemann vom Zentrum für Epidemiologie und Gesund- heitsforschung in Berlin stellt auf dieser Konferenz die „Aging Male’s Symptoms Ra- ting Scala“ vor, einen Test mit dem sich „Hormontief-Beschwerden“ ermitteln lassen sollen (vgl. ebd.).

Im Februar 2000 findet der zweite Weltkongress „The Aging Male“ in Genf statt. Hier präsentiert sich auch die Gesellschaft für Männergesundheit und zur Förderung des Männerarztes „Hommage“, die gerade ihre ersten Zentren in Konstanz und Hamburg eröffnet hat. Im März 2000 findet der erste europäische Kongress zur Andrologie statt. Im April 2000 kommt die Endocryne Society auf einer Konferenz zum Thema Andro- pause zu dem Ergebnis, dass der Nutzen von Testosterongaben nicht erwiesen ist (vgl. Blech 62004: 163).

Trotzdem empfiehlt sie, bei allen Männern über 50 Jahre den Hormonspiegel zu ermit- teln und legt einen Grenzwert von 10,4 Nanomol Testosteron pro Liter Blut fest. Alle Männer, deren Testosteronwert unter dieser Schwelle liege, würden vermutlich von einer Testosterontherapie profitieren (vgl. ebd.). Nach Jerome Groopman von der Har- vard Medical School war der Pharmahersteller Unimed/Solvay, der in den USA gerade die Zulassung für das Testosterongel „AndroGel“ erhalten hatte, der einzige Sponsor dieser Konferenz (vgl. Groopman 2002: 34). Unimed/Solvay schlug auch Mitglieder der Konferenz vor. Von den 13 Ärzten haben neun signifikante finanzielle Verbindungen zu der Pharmafirma (vgl. ebd). Sechs Wochen nach der Konferenz kommt das Gel auf den amerikanischen Markt.

Im Dezember 2000 beschreiben erstmals zwölf deutsche Professoren für Urologie und Endokrinologie das Syndrom des „alternden Mannes“ in einem „Konsensuspapier“. Sie legen den Grenzwert auf zwölf Nanomol Testosteron pro Liter Blut fest. Männer, deren Testosteronspiegel unter diesem Wert liege, litten unter Testosteronmangel (vgl. Blech 62004: 162). Einer der Teilnehmer, Herman Behre, hält mittlerweile gut bezahlte Vor- träge für Pharmafirmen (vgl. ebd.). Ein anderer, Gerd Ludwig, beurteilt den festgelegten Grenzwert mittlerweile als völlig willkürlich. Die Werte stammten von jungen Männern und seien einfach aufältere Männer übertragen worden. Vieleältere Männer hätten aber Werte von unter bis zu fünf Nanomol, ohne Symptome zu zeigen (vgl ebd.: 164, vgl. Kap. 3.2.2.2).

Im März 2001 erscheint die erste Ausgabe des Magazins „The Aging Male“, herausge- geben von der „International Society for the the study of aging male“ (ISSAM). Der Präsident der Gesellschaft ist Bruno Lunenfeld (s.o.). Ein Link auf der Website der Ge- sellschaft verweist direkt auf Schering, eine 100-prozenzige Tochter von Jenapharm (vgl. ISSAM 2006).

Im August 2002 wird auf einem Strategietreffen bei Dr. Kade/Besins in einer Präsenta- tion festgehalten, dass „Androtop Gel nur dann erfolgreich sein wird, wenn Nachfrage geweckt wird“ (vgl. Blech 62004: 161). Im Oktober 2002 erteilt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Zulassung für das Testosterongel „Androtop“ von Dr. Kade/Besins und Solvay Arzneimittel (vgl. Schuster 2002a). Dabei handelt es sich um ein farbloses Gel, das jeden Morgen auf Brust, Schultern und Armen verteilt wird. In einer Pressemitteilung zitiert die PR-Agentur Schuster Public Relations & Media Consulting eine Umfrage des Nürnberger Marktforschungsinstituts GfK Healthcare, nach der zwei Drittel der Männer „in den besten Jahren“ Gesundheitsbe- schwerden (Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen, andere „klimakterische Be- schwerden“) haben (Schuster 2002b). Die Umfrage war von Dr. Kade/Besins in Auftrag gegeben worden (vgl. Blech 62004: 157).

In Deutschland kommen im April 2003 zwei Testosterongele auf den Markt: „Andro- top“, das von den Firmen Dr. Kade/Besins und Solvay Arzneimittel gemeinsam vertrie- ben wird, und „Testogel“ von Jenapharm. Eine Monatspackung kostet je nach Dosie- rung mehr als 65 Euro (vgl. Blech 62004: 160). Die Pharmafirmen organisieren Presse- konferenzen, schalten Anzeigen, geben Patientenratgeber und Ärztebroschüren heraus, in denen sie über die „Andropause“ informieren, Pharmareferenten statten Ärzten Besu- che ab (vgl. ebd.: 159, 167). Das „Testosteron-Mangel-Syndrom“ wird dabei als weit verbreitete Krankheit dargestellt: „Epidemiologische Studien gehen von mindestens 2,8 Millionen Betroffenen allein in Deutschland aus“ (Jenapharm 2003).

Testosteron wird als Anti-Aging-Mittel beworben: „Androtop Gel. Und Männer leben wieder los“ steht auf einer Patientenbroschüre. Dr. Kade/Besins erklärt den Ärzten auch, wie sie Testosterongel an Männer verordnen können, deren Testosteronspiegel oberhalb des Grenzwertes liegt. Dem Patienten kann „der Vorschlag einer dann privat zu liquidierenden Behandlung unterbreitet werden“ (Abrechnungsleitfaden, zitiert nach Blech 62004:167). Im September 2003 findet die Jahrestagung der „Deutschen Gesell- schaft für Andrologie“ statt. Sponsoren sind u.a. Jenapharm und Kade/Besins.

Im September 2004 findet der dritte europäische Kongress zur Andrologie in Münster statt. Im November kommt eine neue Drei-Monats-Spritze zur Testosterontherapie, „Nebido“, von Jenapharm auf den Markt. Im gleichen Monat überträgt Dr.Kade/Besins die Vertriebsrechte für „Androtop“ Gel ganz an Solvay Arzneimittel. Eine weitere Tes- tosteronspritze, „Galen“ von Galenpharma, wird im Oktober auf den deutschen Markt eingeführt.

Im Januar 2005 kommt ein neues Testosterongel, „Testim“, auf den deutschen Markt. Es wird hierzulande vom Pharmahersteller Ipsen vertrieben. Im August 2005 bringt Ardana Biodcience „Striant“, ein neues Präparat in Tablettenform, heraus.

Von 1999 bis 2004 soll sich die Zahl der Anwender von Testosteron in den USA ver- doppelt haben. Nach Angaben der pharmazeutischen Beratungsfirma IMS Health nah- men dort im Jahr 2003 zwei Millionen Männer Testosteron (vgl. Pearson 2004: 500). Auch in Deutschland hat die Verschreibung des Wirkstoffs durch die Zulassung der Testosterongels 2003 stark zugenommen. Im Jahr 2004 gehörte das Präparat „Testogel“ erstmals zu den 3000 am häufigsten verordneten Arzneimitteln (vgl. Schwabe/Rabe 2005: 891).

3.2.2 Medizinische Grundlagen

In diesem Kapitel werden die medizinischen Hintergründe zu Testosteron, Testoste- ronmangel und -therapie dargelegt. Zunächst wird das Hormon allgemein vorgestellt. Dann wird auf Formen des Testosteronmangels eingegangen. In diesem Zusammenhang werden auch Forschungsergebnisse zur Existenz oder Nichtexistenz des Testosteron- mangels beiälteren Männern präsentiert. Schließlich wird die Testosterontherapie vor- gestellt und im Hinblick auf ihren potenziellen Nutzen und Schaden bewertet.

3.2.2.1 Testosteron

Testosteron ist das wichtigste männliche Geschlechtshormon (Androgen) des Men- schen. Für die Entwicklung des männlichen Individuums ist es von ausschlaggebender Bedeutung, da es zur Ausbildung der sekundären männlichen Geschlechtsmerkmale führt (vgl. Pschyrembel 2571994: 1519). Testosteron kommt aber bei beiden Geschlech- tern vor.

Beim Mann wird es hauptsächlich in den Hoden, zum Teil auch in den Nebennieren gebildet. In der Pubertät steigt die Testosteronproduktion der Hoden plötzlich rasant an und verbleibt bis zum 40. Lebensjahr auf diesem Level. Ab dann sinkt es etwa um ein Prozent pro Jahr (vgl. Pearson 2004: 50). Die Gründe dafür sind eine Abnahme der Funktion der Leydig-Zellen in den Hoden und eine veränderte Ausschüttung des lutei- nisierenden Hormons, das die Leydig-Zellen stimuliert (vgl. Blech 62004: 158). Das zirkulierende Testosteron ist zu einem Großteil an das sexualhormonbindende Globulin (SHBG) gekoppelt. Den Zielgeweben steht also nur ein kleiner Bruchteil zur Verfügung (vgl. Kirby 2002: 227). Man unterscheidet also zwischen dem zirkulierenden und dem bioverfügbaren Testosteron.

3.2.2.2 Testosteronmangel

Unter Hypogonadismus versteht man die unvollkommene oder fehlende Ausbildung oder die Rückbildung der primären oder gegebenenfalls auch sekundären Geschlechts- merkmale auf Grund einer fehlenden oder unzureichenden Funktion der Hoden (vgl. Pschyrembel 2571994: 688). Er kann angeboren sein, wie etwa beim Klinefelter- Syndrom, einem Erbleiden, bei dem die betroffenen Männer über zwei oder mehr x- Chromosome verfügen.

Hypogonadismus kann aber auch im Laufe des Lebens erworben werden. Auslöser ist dann eine Zerstörung des Hodens z.B. durch Unfall, Krebs oder eine virale Entzündung. Die Auswirkungen sind je nach Stärke des Hormonmangels verschieden. Die Betroffe- nen können über infantile Geschlechtsorgane, eine helle dünne Haut, hohe Stimme und eine unterentwickelte Muskulatur verfügen, sie setzen eher Fett am Bauch an und haben kaum oder wenig Bart und Körperbehaarung. Hypogonadismus ist ein eher seltenes Leiden, nur etwa 80.000 Männer leiden beispielsweise in Deutschland am Klinefelter- Syndrom (vgl. Blech 62004: 161).

Im Zusammenhang mit der so genannten Andropause ist häufig von einem altersbeding- ten Hypogonadismus die Rede. Wie stark die Testosteronkonzentration ab dem 40. Le- bensjahr aber tatsächlich abnimmt, kann nur geschätzt werden. So stammen die meisten Angaben, die über einen altersbedingten Rückgang des zirkulierenden Testosterons be- richten, aus Querschnittsstudien und sind daher nur bedingt aussagekräftig (vgl. Kirby 2002: 227). Die Wissenschaftler haben dabei die Hormonwerte alter und junger Männer miteinander verrechnet. Dieses Verfahren ist recht ungenau, da die persönlichen Testos- teronwerte von Mann zu Mann sehr unterschiedlich ausfallen können. Viele gesundeältere Männer haben Testosteronspiegel, die über denen junger Männer liegen (vgl. Pu- rifoy/Koopmans, Mayes 1981, Harman/Tsitouras 1980: 36). Außerdem können Krank- heiten, eine ungesunde Lebensführung und Stress das zirkulierende Testosteron senken (vgl. ebd.: 506). Querschnittsstudien können also durch altersbedingte Erkrankungen verfälscht werden (vgl. Harman/Tsitouras 1980: 38).

Präziser wäre es, das Hormonprofil eines Mannes über viele Jahrzehnte hinweg zu mes- sen (vgl. Kirby 2002: 227). Es gibt bislang nur wenige dieser Longitudinalstudien. In der New Mexico Aging Process Studie, einer relativ kleinen Erhebung, wurden über einen Zeitraum von 14 Jahren die Hormonänderungen bei Männern im Alter zwischen 61 und 87 Jahren verfolgt. Das Ergebnis war ein durchschnittlicher Rückgang von 110 Nanogramm pro Deziliter Blut innerhalb eines Jahrzehnts. Diese Abnahme ist so marginal, dass sie „unter Umständen nicht aufscheint, wenn sie nach dem Body-Mass-Index korrigiert wird“ (ebd.).

Selbst wenn man, wie in den meisten Arbeiten angenommen, von einem durchschnittli- chen Rückgang des zirkulierenden Testosterons von einem Prozent pro Lebensjahr aus- geht, ist nicht klar, inwieweit dieser Rückgang überhaupt mit Beschwerden einhergeht. So schreibt Pearson (2004: 500) in der Fachzeitschrift Nature: „One of the fiercest de- bates among medical specialists is whether the natural decline in testosterone produc- tion has any ill effects“. Einige Forscher schreiben dem Rückgang des Testosterons so- gar eine lebensverlängernde Wirkung zu. Sie sehen Testosteron als Ursache für den relativ frühen Tod der Männer im Vergleich zu den Frauen an (vgl. Blech 62004: 171).

Im Jahr 2001 veröffentlichte ein Gremium des amerikanischen Instituts für Altersfor- schung einen Report, nach dem das Konzept der Andropause fragwürdig ist. Darin heißt es: „The evidence for associations of measures of serum T with health outcomes are inconsistent and inconclusive“ (Thorner et al. 2001). T’Sjoen und Kollegen (2004) un- tersuchten, ob es einen Zusammenhang zwischen den Symptomen, die in dem von Hei- nemann entwickelten Test zur Abklärung von Hormonmangelbeschwerden (Aging Ma- le’s Symptoms Rating Scale, s. Kap. 3.2.1) genannt werden, und den tatsächlichen Hor- monspiegeln gibt. Dabei fanden sie heraus, dass weder die Werte des freien noch die des bioverfügbaren Testosterons mit den Punktwerten des Tests korrelieren (vgl. ebd.: 201). Umgekehrt hat die überwältigende Mehrheit der Männer mit Müdigkeit, Depres- sionen, Reizbarkeit, Hitzewallungen, Impotenz und Libidoverlust einen normalen Hor- monspiegel (vgl. Kirby 2002: 235).

Um der Andropause auf die Spur zu kommen, versuchte Crowley vom Massachussetts General Hospital, zunächst zu definieren, bei welchen Werten ein gesunder Testoste- ronspiegel liegt (vgl. Groopman 2002: 34). Dafür begutachtete er gesunde junge Män- ner nach Hodengröße, Körperbehaarung, Erektionsvermögen, Spermienanzahl, Kno- chendichte, Muskelmasse und Funktion der Hirnanhangsdrüse. Alle Probanden lagen diesbezüglich im Normbereich. Außerdem maß er über einen Zeitraum von 24 Stunden alle zehn Minuten den Testosteronspiegel der Probanden. Das Ergebnis: 15 Prozent lagen mit ihren Werten zum Teil weit unterhalb des zuvor von amerikanischen Ärzten als normal festgelegten Bereichs (vgl. ebd.).

Daraus lässt sich schließen, dass Männer über unterschiedlich effiziente Rezeptoren, also Andockstationen für Testosteron, verfügen. Einige benötigen nur sehr geringe Mengen des Hormons im Blut (vgl. ebd.). Ein Hormonmangel lässt sich also nicht allein anhand des Blutwertes ablesen (vgl. Blech 62004: 165). Genauso wichtig sind Zahl und Zustand der Rezeptoren im jeweiligen Zielgewebe, die sich anscheinend durch Messun- gen des zirkulierenden Testosterons nicht ermitteln lassen (vgl. Kirby 2002: 228f). Kir- by kommt zu dem Schluss, dass „der diagnostische Gebrauch des Begriffs ,Hypogonadismus‘ bei der überwältigenden Mehrheit der Männer vielleicht ohne gro- ßen Wert“ ist.

Hinzu kommt, dass die Tests, die üblicherweise zur Messung des Testosteronspiegels verwendet werden, unzuverlässig sind (vgl. Pearson 2004: 500). „If you assayed blood samples from normal men with one prorietary test, you might find values between 300 and 900, while another test would give you values between 160 and 700 (Groopman 2002: 34). Tests, die das freie Testosteron messen, scheinen noch weniger akkurat zu sein (vgl. ebd.).

Der Endokrinologe McKinlay, der über einen Zeitraum von zehn Jahren die Hormon- spiegel von 2000 Männern zwischen 39 und 70 Jahren gemessen hat, kommt zu dem Fazit, dass es keine epidemiologischen, wissenschaftlichen oder klinischen Beweise gibt, die die Existenz einer Andropause belegen. Gegenüber dem Observer äußert er: „The whole notion of the andropause ist the medicalisation of normal ageing“ (Brown/Comer-Calder 2002). Ebenso wie Blech (62004) deutet Groopman (2002: 34) an, dass es sich bei der Andropause um eine gezielte Erfindung der Pharmafirmen han- deln könnte: „The pharmaceutical industry is, of course, in the business of inventing treatments. Some people wonder wether it may help invent diseases, too“.

3.2.2.3 Testosterontherapie

Bei der Substitution von Testosteron handelte es sich ursprünglich um eine Therapie, die bei Männern angewandt wird, die auf Grund eines Erbleidens oder durch die Zerstörung des Hodengewebes durch Unfall oder Krankheit unter einem klinischen Hypogonadismus leiden (vgl. Kap. 3.2.2.2). Bis zur Zulassung von Testosteronpflastern im Jahr 1998 wurde Testosteron als Spritze oder in Tablettenform verabreicht.

Beide Darreichungsformen sind mit einer Reihe negativer Effekte verbunden. So wird Testosteron per Tablette verabreicht zu 80 Prozent von der Leber abgebaut, was zur Schädigung des Organs führen kann (vgl. Blech 62004: 160). Wird das Hormon inji- ziert, verteilt es sich ungleichmäßig im Körper und es kommt zu starken Schwankungen der Hormonkonzentration zwischen den einzelnen Injektionen, was mit jähen Stim- mungsumschwüngen einhergeht (vgl. ebd.). Im Jahr 1998 wurden in Deutschland die Testosteronplaster „Androderm“ (AstraZeneca) und „Testoderm“ (Ferring) eingeführt, die sich jedoch nicht durchsetzen konnten. Bei „Androderm“ traten zum Teil starke Hautreizungen auf. Das auf den rasierten Hodensack aufzubringende Pflaster „Testoderm“ knisterte und zwickte lästig (vgl. ebd.).

Bereits Tabletten, Spritzen und Pflaster waren neben ihrem eigentlichen Einsatzgebiet auch anältere Männer mit vermeintlichen Hormonmangelbeschwerden verschrieben worden. Einen regelrechten Boom erlebte dieses Anwendungsgebiet im Jahr 2000 durch die Zulassung von „AndroGel“ in den USA (vgl. Kap. 3.2.1). Für eine solche massenhafte Verordnung waren die Präparate ursprünglich nicht zugelassen worden. Die amerikanische FDA (Food und Drug Administration) legte in ihrer Zulassung genau fest, für welche Indikationen das Gel angewandt werden soll. „The F.D.A. never approved AndroGel for andropause. We’re not sure what ‚andropause’ is“, sagt der Direktor der Abteilung für Reproduktive und Urologische Medikamente der FDA gegenüber dem Magazin The New Yorker (vgl. Groopman 2002: 34).

Auch in Deutschland wurden die Gele ausdrücklich zur Anwendung bei „nachgewiese- nem Hypogonadismus, das heißt Unterfunktion der Hoden“ zugelassen (vgl. Blech 62004: 162). Aufgrund der Therapiefreiheit können Ärzte ein einmal zugelassenes Me- dikament jedoch auch außerhalb der eigentlichen Indikation verschreiben. Von den Me- dizinern wird diese Freiheit häufig genutzt: „In der Praxis werden 70 bis 90 Prozent aller wegen erektiler Dysfunktion und klimakterischen Beschwerden verschriebenen Androgene ohne jegliche Voruntersuchung gegeben“ (Kirby 2002: 233).

Trotz des großen Erfolgs dieser Präparate „ist die klinische Wirksamkeit einer Andro- gensubstitution im Hinblick auf eine verbesserte Stimmungslage, mehr Energie, ein allgemein besseres Aussehen und eine höhere Libido weitgehend nur in Einzelfallschil- derungen belegt“ (Kirby 2002: 231, vgl. Thorner 2001). Fasst man die Ergebnisse der Studien zur Hormonsubstitutionstherapie zusammen, lässt sich sagen, dass die Ergeb- nisse außer bei schwer hypogonadalen Männern variabel und oft enttäuschend sind (vgl. Kirby 2002: 232). So traten in einer Studie beim Wechsel zwischen Plazebo- und Ve- rumgruppe4 keine messbaren Unterschiede in den Serumtestosteronkonzentrationen auf, was dafür sprechen könnte, das die beschriebene Wirksamkeit häufig auf einem Plazeboeffekt beruht.

Auch der langfristige Nutzen einer Hormonsubstitutionstherapie bei Männern ist noch nicht bekannt (vgl. ebd.: 233). In Bezug auf Testosteron wurde auch diskutiert, ob gesunde mittelalte Männer von einer Anhebung des Testosteronspiegels profitieren. Bei Männern, die bereits über ausreichend Testosteron verfügen, sind aber bereits die meisten Rezeptoren besetzt. Das zusätzliche Testosteron kann also nicht im Körper andocken. (vgl. Blech 62004: 167f.).

Problematisch ist die Testosterontherapie aufgrund der ungeklärten Risiken und Ne- benwirkungen, die durch die Hormongabe auftreten können. Bislang gibt es keine klini- schen Daten, anhand derer sich die Risiken abschätzen lassen (vgl. Pearson 2004: 500). In der Tat sagen Experten, dass Patienten, die Testosteron nehmen, mit ihrer Gesundheit experimentieren. Denn die bislang durchgeführten Studien sind zu klein, um sich adä- quat mit den vielen potenziellen Nebenwirkungen auseinanderzusetzen (vgl. Thorner et al. 2001).

Mögliche Risiken sind: eine erhöhte Blutbildung mit der damit verbundenen Gefahr von Thrombosen und Embolien, eine Veränderung des Fettstoffwechsels, Schlaf-Apnoe5, Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis zum Herzinfarkt, Leberschäden, ein verstärktes Brust- wachstum, eine Abnahme der Fortpflanzungsfähigkeit6 und eine Verminderung der kör- pereigenen Testosteronbildung, die mit dem Schrumpfen der Hoden einhergeht (vgl. Kirby 2002: 233f., Blech 62004: 168f.). Für Frauen und Kinder besteht die Gefahr der Vermännlichung bzw. verfrühten Pubertät, wenn sie mit dem Gel in Berührung kom- men, Schwangere können ihr ungeborenes Kind schädigen (vgl. ebd.).

Die wohl stärksten Sicherheitsbedenken beziehen sich auf das Prostatakarzinom7 (vgl. Kirby 2002: 234). Aus Studien an Tieren und im Reagenzglas ist bekannt, dass Testos- teron das Wachstum eines Prostatakarzinoms fördert (vgl. ebd.). Mindestens ein Drittel aller Männer über 40 Jahre hat in der Prostata mikroskopische, schlafende Krebsherde, die so langsam wachsen, dass die Männer zu Lebzeiten nichts davon merken (vgl. ebd., Groopmann 2002: 34, Franks 1954). Es wird befürchtet, dass Testosteron den Ausbruch von Prostatakrebs forcieren könnte (vgl. Kirby 2002: 234, Pearson 2004: 500).

Vor allem die Langzeitfolgen einer Testosteronsubstitution sind unbekannt. Um mehr über die Andropause und ihre Therapie zu erfahren, plante die amerikanische Regierung eine über sechs Jahre gehende Langzeitstudie mit 6000 Männern an 40 medizinischen Zentren. Das 210 Millionen Dollar teure Projekt wurde allerdings im Jahr 2002 kurz vor seinem Start gestoppt, da die Ärzte Bedenken hatten, ihre Probanden den möglichen Risiken des Testosterons auszusetzen (vgl. Pearson 2004: 500, Blech 62004: 170).

Das fehlende Wissen über den Nutzen und die Risiken haben mittlerweile eine breite Debatte über die Testosterontherapie ausgelöst. Soäußerte die FDA bereits ihre Beden- ken darüber, dass Testosteron Männern verschrieben wird, deren Testosteronspiegel im Rahmen des normalen Alterungsprozesses gesunken ist (vgl. Groopman 2002: 34). Im- mer wieder wird die derzeitige massenhafte Verschreibung des Hormons als großes, unkontrolliertes Experiment beschrieben, dessen Ausgang unsicher ist (vgl. Pearson 2002: 34).

4 Theoretischer Teil

4.1 Gesundheit und Krankheit

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Umdefinition natürlicher Körpervorgänge zu Krankheiten. Um den Prozess dieser Medikalisierung zu verstehen, muss also zunächst geklärt werden, was in unserer Gesellschaft unter „Gesundheit“ und „Krankheit“ verstanden wird. Dieser Frage widmen sich die folgenden Kapitel.

4.1.1 Gesundheit und Krankheit als Begriffe

„Gesundheit ist die Fähigkeit, lieben und arbeiten zu können“. Was Siegmund Freud so kurz und prägnant formulierte, beschäftigt Angehörige verschiedener Forschungstraditionen seit langem. Was ist eigentlich „gesund“ und was ist „krank“? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat mit ihrem Verständnis von Gesundheit das Ziel recht hoch gesteckt. Nach ihrer Definition ist Gesundheit nicht nur ein Freisein von Krankheit oder Gebrechen, sondern ein Zustand des völligen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens (vgl. Brockhaus 41997a: 332).

Einen völlig anderen Ansatz verfolgt die Definition von Dubos (1969, zitiert nach Siegrist 41988: 184): „Gesundheit kann als jener Zustand des Lebens betrachtet werden, der auf der Basis eines relativ stabilen physiologischen Gleichgewichts bzw. intakter Organfunktionen dem Menschen ermöglicht, selbst- und fremdgesetzte Ziele durch eigenes Handeln zu verfolgen“. Diese großen Unterschiede im Verständnis davon, was Gesundheit ausmacht, machen deutlich, dass es stark vom Blickwinkel des jeweiligen Betrachters abhängt, was als „gesund“ oder „krank“ angesehen wird.

Nach Siegrist (41988: 181) müssen Gesundheit und Krankheit immer in mindestens drei Bezugssystemen definiert werden: 1. im Bezugssystem der betroffenen Person, als indi- viduelles Gefühl von Gesundheit bzw. Krankheit, 2. im Bezugssystem der Medizin, „als Erfüllung bzw. Abweichung von objektivierbaren Normen physiologischer Regulation bzw. organischer Funktionen“ und 3. im Bezugssystem der Gesellschaft, speziell des Sozialversicherungssystems, „unter dem Aspekt der Leistungsminderung bzw. der Not- wendigkeit Hilfe zu gewährleisten“. Viele gesellschaftliche Probleme träten auf, wenn es zu Diskrepanzen zwischen den einzelnen Bezugssystemen käme (vgl. ebd.: 181).

In unserer Gesellschaft gibt es daher eine ganze Reihe unterschiedlicher Gesundheits- und Krankheitskonzepte (vgl. auch im weiteren Appel 2000: 97f.). Das biomedizinische Modell ist wesentlich an Krankheit orientiert, die sich mit naturwissenschaftlichen Mit- teln diagnostizieren und vor allem mit Eingriffen von außen, z.B. durch Medikamente und Operationen, bekämpfen lässt. Dieses Konzept unterscheidet klar zwischen Exper- ten und Laien, deren Rolle es ist, sich als Patienten behandeln oder instruieren zu las- sen.

Eine Erweiterung des biomedizinischen Modells stellt das Risikofaktorenkonzept dar. Auch hier stehen Krankheiten im Zentrum der Betrachtung, vor allem Zivilisations- krankheiten, deren Entstehung auf das Fehlverhalten der Patienten zurückgeführt wird. Gesundheit lässt sich nach diesem Konzept erreichen, indem Risikofaktoren minimiert werden. Dies gelingt dem Einzelnen mit Hilfe der kundigen Anleitung von Experten.

Einen völlig anderen Ansatz verfolgt das psychosomatische Konzept. Es orientiert sich nicht an der Krankheit, sondern an kranken Menschen, deren psychische Befindlichkeit und ganze Lebensgeschichte als Auslöser für die Krankheit angesehen werden. Das Verhältnis zwischen Experten und Laien wird als gleichberechtigt verstanden.

Auf dem bereits beschriebenen Gesundheitsbegriff der WHO basiert das Public Health- Konzept. Es interessiert sich weniger für das Schicksal des einzelnen Menschen, son- dern orientiert sich vielmehr an der Gesundheit der gesamten Bevölkerung und an den krankmachenden Verhältnissen in der Gesellschaft. Im Mittelpunkt steht daher nicht die Therapie, sondern die Prävention, wobei die Laienkompetenz gestärkt werden soll.

Als Gegenkonzept zur in der Medizin üblichen Orientierung an der Pathogenese wurde das Ressourcenkonzept entwickelt. Es fragt nicht nach den Ursachen für Krankheit, sondern danach, wie Gesundheit entsteht (Salutogenese), und beachtet dabei sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Einflüsse. Nach Morris (2000: 12) dominiert in westlichen Gesellschaften nach wie vor das biomedizinische Modell. Grund dafür sei zum einen seine feste Verankerung im Gesundheitssystem, zum anderen eine ganze Reihe von Erfolgen, auf die es zurückblicken kann.

Um Handlungsfähigkeit zu erlangen, ist es im Bezugssystem der Medizin notwendig, Grenzen zwischen „gesund“ und „krank“ zu ziehen, eine Krankheit also als solche zu definieren (vgl. Siegrist 41988: 184). Als Krankheit wird hier „das Vorliegen von Sym- ptomen und/oder Befunden bezeichnet, welche als Abweichung von einem physiologi- schen Gleichgewicht interpretiert werden können und welche auf definierte Ursachen (innere oderäußere Schädigungen) zurückgeführt werden können“ (ebd.: 183f.)8. Was jedoch als eine solche Abweichung gelten kann, ist häufig schwer feststellbar, da die biologischen Normen zum Teil extremen Schwankungen unterliegen können und das Wissen über die pathophysiologische Bedeutung mancher Abweichungen in einigen Fällen begrenzt ist (vgl. ebd.: 184). Zwischen den Polen „sicher gesund“ und „sicher krank“ gibt es demnach einen großen Zwischenbereich grenzwertiger Phänomene.

Zola (1966) berichtet von zwei Studien, in denen scheinbar Gesunde auf das Vorliegen von Krankheiten untersucht wurden. Bei 90 Prozent der Probanden lag in Wirklichkeit irgendeine physische Abweichung oder unbehandelte Störung vor. Zola zieht aus diesen Ergebnissen den Schluss, dass Krankheit, definiert als das Vorliegen klinisch relevanter Symptome, nicht wie weithin angenommen ein relativ seltenes oder abnormales Phänomen ist, sondern die statistische Norm (vgl. Zola 1966: 616). Dieses globale Konzept von Krankheit lässt die Frage aufkommen, inwieweit Krankheit eine objektive Realität, ein subjektiver Zustand oder ein soziales Konstrukt ist, das hauptsächlich in den Kognitionen seiner sozialen Betrachter liegt (vgl. Fox 1977: 11f.).

4.1.2 Gesundheit und Krankheit als soziale Konstrukte

Im vorherigen Abschnitt ist bereits deutlich geworden, dass „Krankheit“ - und auch „Gesundheit“ -äußerst relative Begriffe sind. Was sie beinhalten, hängt von der individuellen Wahrnehmung, aber auch von gesellschaftlichen Übereinkünften und der jeweiligen Kultur ab, oder wie Morris (2000: 79) es formuliert:

„ Krankheit ist grundlegend biokulturell zu verstehen - sie ist immer sowohl ein biologisches als auch ein kulturelles Phänomen -, angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Biologie und Kultur “ (Hervorhebun gen im Original, Anm. d. Verf.).

Die amerikanische Medizinjournalistin Lynn Payer (1989) hat die nationalen Eigentümlichkeiten der Engländer, Franzosen, US-Amerikaner und Deutschen im Umgang mit Krankheit zusammengetragen. Während beispielsweise Franzosen ihrer Beobachtungen nach besonders häufig der Leber die Schuld für Beschwerden geben, steht bei den Deutschen das Herz im Mittelpunkt der Sorge. Letzteres erklärt Lynn mit dem langen Einfluss der Romantik im Land der Dichter und Denker, also mit kultureller Prägung. Niedriger Blutdruck und Schwindelgefühle seien in Deutschland eine Diagnose wert, in England würden sie als „german disease“ belächelt.

Die Folgen dieser unterschiedlichen Vorstellungen von Krankheit ließen sich direkt in den Verschreibungsraten ablesen. So hätten die Franzosen einen vergleichsweise hohen Verbrauch an leberschützenden Medikamenten, die Deutschen nähmen prozentual sechsmal so viele Herzmedikamente ein wie Franzosen oder Engländer. Niedriger Blut- druck wiederum würde in Deutschland mit 85 verschiedenen Medikamenten und mit Hydrotherapie behandelt, während sich amerikanische Patienten, die darunter leiden, über niedrigere Lebensversicherungsraten freuen können (vgl. Payer 1989: 15). Besonders deutlich zeigen sich die kulturspezifischen Unterschiede bei psychosomatischen Erkrankungen.9 So leiden einzig westafrikanische Studenten gelegentlich unter „brain fog“ (Hirnnebel), einer lähmenden Konzentrationsschwäche (vgl. Eberle 2002). Koro hingegen, die Wahnvorstellung, der Penis verschwinde im Körper, befällt nur Männer aus China, Malaysien und Thailand (vgl. ebd.).

Krankheit kann also als soziales Konstrukt10 verstanden werden, als Ergebnis einer Ü- bereinkunft zwischen mehreren Individuen (vgl. Rogers et al. 1995). „Social construction is the process which meanings are given to objects and events by individuals through communication with other individuals. Meanings are created and modified through an interpretive process“ (Rogers et al. 1995: 665).

4.2 Medikalisierung

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem Phänomen der Medikalisierung. Zunächst wird eine Klärung des Begriffs vorgenommen. Dann wird der Prozess der Medikalisierung näher erläutert und auf die beteiligten Akteure eingegangen.

4.2.1 Ursprung und Entwicklung des Begriffs

Der Begriff „Medikalisierung“ wurde bereits in den 1960er Jahren verwendet, aber erst viele Jahre später von den Wörterbüchern übernommen (vgl. Aronson 2002: 904). Im Jahr 1997 definierte das Oxford English Dictionary den Begriff „ Medicalisation “ als „to give a medical character to; to involve medicine or medical workers in; to view or interpret in (esp. unnecessarily) medical terms“ (zitiert nach Aronson 2002: 904).

Bekannt wurde der Begriff vor allem durch Ivan Illichs 1975 erschienenes Buch „Die Nemesis11 der Medizin“. Illich macht in unserer Gesellschaft drei Phänomene aus: 1. die klinische, 2. die soziale und 3. die strukturelle oder kulturelle Iatrogenese12. Unter klinischer Iatrogenese versteht er Krankheiten, die aufgrund der Behandlung von Krankheiten durch den Ärztestand entstehen (vgl. Illich 41995: 17ff.).

Die soziale Iatrogenese zeige sich in verschiedenen Symptomen einer sozialen Übermedikalisierung der Gesellschaft, die sich in einer „Enteignung der Gesundheit“ summierten (ebd.: 28). „Die lebenslangeärztliche Beaufsichtigung mache das Leben „zu einer ununterbrochenen Folge gefährlicher Altersstufen, von denen jede ihre eigene Form der Bevormundung braucht“ (ebd.: 56f.). Als Beispiel nennt Illich das Alter, das genau in dem historischen Augenblick medikalisiert worden sei, als es aus demographischen Gründen zum allgemeinen Phänomen wurde. Immer mehr Menschen hätten nun den Anspruch „von ihrem Alter kuriert“ zu werden (ebd.: 59).

Unter struktureller oder kultureller Iatrogenese schließlich versteht Illich die entstande- ne Unfähigkeit der Menschen, ihre Realität und damit auch Leid zu ertragen (vgl. ebd.: 91). „Die Menschen verlernen es, das Leiden als unvermeidlichen Teil ihrer bewußten Auseinandersetzung mit der Realität zu akzeptieren, und sie lernen, jeden Schmerz als Zeichen ihres Bedürfnisses nach Schonung und Rücksichtnahme zu deuten“ (ebd.: 94). Diese von ihm beschriebenen Entwicklungen lassen Illich zu der Einsicht kommen, dass sich „die etablierte Medizin zu einer ernsten Gefahr für die Gesundheit entwickelt“ hat (ebd.: 9).

Obwohl Illich für sein Buch von mehreren Seiten kritisiert wurde (vgl. z.B. Lenzen 1991: 15f., Fox 1977: 9f.)13, und sein Buch ohne Zweifel ein gewisses Maß an Polemik enthält (vgl. Heim 1992: 6), kann man ihm zu Gute halten, dass er neuen Schwung in die medizinkritische Diskussion brachte. Mittlerweile hat der Begriff der Medikalisie- rung seinen Weg in die soziologischen Lehrbücher gefunden (vgl. Joas 2001: 379ff.). 95ff.). Konstruktion wird hier nicht als bewusst geplantes, absichtsvolles Handeln verstanden, son- dern als Prozesse, in deren Verlauf sich Wirklichkeitsentwürfe herausbilden (Schmidt 1994: 7).

4.2.2 Der Prozess der Medikalisierung

Nach Joas (2001: 379) ist die Medikalisierung ein „Prozess, in dessen Verlauf es den Gesellschaftsmitgliedern immer selbstverständlicher geworden ist, die Behandlung ge- sundheitlicher Probleme einer expandierenden Medizinkultur zu überantworten“. Es lassen sich zwei Dimensionen der Medikalisierung unterscheiden: 1. Die Ausweitung des Marktes für medizinische Dienstleistungen. Diese steht in enger Verbindung mit der Professionalisierung der Medizin und strukturellen Dominanz der Ärzteschaft bei gleichzeitiger Zurückdrängung der Laienkompetenz. Medikalisierung bedeutet daher auch 2. die enorme Ausweitung dessen, was überhaupt als medizinisches Problem beg- riffen und folglich zum Gegenstand medizinischer Intervention und Verhaltensregulie- rung gemacht wird (vgl. Joas 2001: 379f.). Immer mehr Verhaltensweisen und Ge- wohnheiten werden als Krankheiten definiert, so dass ihre Behandlung als in den Zu- ständigkeitsbereich der Medizin fallend angesehen wird (vgl. Fox 1977: 11).

Der empirische Teil der Arbeit, der die Rolle der Printmedien im Prozess der Medikalisierung am Beispiel des altersbedingt sinkenden Testosteronspiegels beiälteren Männern untersucht, beschränkt sich auf die zweite Dimension von Medikalisierung.

Von Reibnitz und List machen eine veränderte Werthaltung in der Bevölkerung aus. Krankheit und Leiden würden nicht mehr als Schicksal betrachtet. Viel mehr wachse das Verlangen nach einer Verbesserung der Lebensqualität (vgl. von Reibnitz/List 2000: 191f.). Mit dem zunehmenden Wissen über Krankheiten und darüber, wie sie vermieden werden können, wächst aber auch die Sorge des Einzelnen um den eigenen Körper.

„The general belief these days seems to be that the body is fundamentally flawed, subject to disintegration at any moment, always on the verge of mortal disease, always in need of continual monitoring and support by health care professionals “ (Thomas 1977: 43).

Das Ergebnis ist ein Zustand des „doing better but feeling worse“ (Wildavsky 1977).

Besonders deutlich zeigt sich der expansive Charakter der Medikalisierung nach Joas in der Bemächtigung privater Probleme (vgl. Joas 2001: 380). Das medizinische System leiste vielfältige Anpassungshilfen, um Abweichungen von sozio-kulturellen Normen oder den eigenen Wunschvorstellungen zu beheben. Dabei bediene sich die Medizin gesellschaftlicher Normal- und Idealvorstellungen des körperlichen Erscheinungsbildes (z.B. Schönheitsoperationen, Behandlung von Akne) und der individuellen Leistungs- und Genussfähigkeit (z.B. Behandlung von Schlaflosigkeit, chronischer Müdigkeit, Konzentrationsmängeln, Lustlosigkeit, Impotenz). Gottschlich (1994: 181) schreibt da- zu:

„ ,Gesundheit ‘ - das hat nichts mehr mit dem Erlebnis innerer undäußerer Harmonie zu tun, sondern mit dem billigen Glücksversprechen einer glitzernden, strahlend jungen, erfolgverwöhnten Werbewelt, einer Werbewelt, in der Gesundheit erst trickreich zum ,Erlebnis ‘ hochstilisiert werden muß, um sie dann auch teuer verkaufen zu können“.

Von vielen Autoren wird eine aktuelle oder zukünftige grundlegende Veränderung des Medizinsystems thematisiert. So vermutet Porter (2004: 228) die Medizin an der Schwelle zu „einer der tiefgreifendsten Veränderungen“ ihrer Geschichte: weg von der Bekämpfung von Krankheiten, hin zur Erfüllung von Lifestyle-Wünschen, Körperper- fektionierung und weiterer Lebensverlängerung. Auch Duden (1994: 181) sieht den Schwerpunkt der Medizin verlagert vom Heilen der Kranken auf das „Einstellen“ der Gesunden, von der Behandlung durch den Fachmann auf die biologische Optimierung im Rahmen eines multiprofessionellen Gesundheitssystems, von der Therapie zur Prä- vention.

Wie aber können normale Körperprozesse zum Zuständigkeitsbereich der Medizin ge- macht werden? Am Beispiel der weiblichen Umbruchphasen (Pubertät, Geburt, Wech- seljahre) hat Kolip (2000: 18ff.) diesen Medikalisierungsprozess näher beleuchtet und drei wichtige Aspekte herausgearbeitet: die Normierung, Pathologisierung und Regulie- rung normaler Körpervorgänge. Die Normierung kann auf zwei Arten erfolgen: Entwe- der wird aus dem statistischen Durchschnitt die zu erreichende Norm14 abgeleitet, wie etwa ein weiblicher Zyklus von 28 Tagen, oder es wird das Ziel formuliert, dass ein mehr oder weniger willkürlich festgelegter Idealwert erreicht werden soll. So werde der Hormonspiegel vor der Menopause als „normal“, der postmenopausale Hormonspiegel als normabweichend definiert (vgl. ebd.: 19). Als weiteres Beispiel für diese willkürli- che Normierung kann die Festlegung des Grenzwertes für Serumcholesterin genannt werden, durch die „erhebliche Teile der Bevölkerung per definitionem krank gemacht wurden“ (Lenzen 1991: 24, vgl. auch ebd.: 121ff., Blech 62004: 78ff.).

Aus der Normierung ergibt sich nach Kolip (2000: 19) die Pathologisierung, d.h. die Abweichungen von den zuvor aufgestellten Normen werden als krankhaft und behand- lungswürdig definiert. Normale körperliche Vorgänge, wie etwa die Menopause oder die altersbedingte Abnahme der Knochendichte, würden so zur Krankheit. Als dritte Stufe des Medikalisierungsprozesses nennt Kolip schließlich die Regulierung: die Behandlung mit Medikamenten oder Operationen, also der Versuch „etwas zu regulieren, was in vielen Fällen keiner Regulierung bedarf“ (ebd.: 20).

4.2.3 Die Akteure

Es ist bereits deutlich geworden, dass am Prozess der Medikalisierung eine ganze Reihe von Akteuren beteiligt ist. Auf die Rolle der Gesellschaft bzw. der Patienten wurde be- reits hingewiesen. Sie werden häufig als Verlierer der Medikalisierung beschrieben, zum einen weil sich ihr Verhältnis zu Gesundheit, Krankheit und zum eigenen Körper verändert (vgl. z.B. Blech 62004: 217, Thomas 1977: 43f.), zum anderen aber auch we- gen der handfesten Gesundheitsrisiken, die überflüssige Therapien und Operationen haben können (vgl. z.B. Blech 62004: 31, 135, 218; Lademann/Kolip 2005: 84f.).15 Hin- zu kommen die Kosten, die jeder Einzelne verursacht und über hohe Beiträge wieder in das Gesundheitssystem einzahlt.

Angesprochen wurde auch die Ärzteschaft als wichtiger Akteur der Medikalisierung und die Rolle ihrer Professionalisierung. Als Motivation für ihre Teilnahme am Medika- lisierungsprozess werden Machtorientierung (vgl. Heim 1992: 12), der Statusgewinn durch die Eroberung eines neuen Territoriums für die Medizin (vgl. Blech 62004: 20) und ökonomische Interessen genannt (vgl. ebd., von Reibnitz/List 2000: 192).

Die gezielte Medikalisierung menschlicher Probleme bilde für etliche Ärztegruppen (wie auch für etliche Pharmafirmen und Gerätehersteller) die Geschäftsgrundlage (vgl. Blech 62004: 20). Beträchtliche Extraeinnahmen könnten angesehene Professoren ein- streichen, indem sie auf Pressekonferenzen der Pharmaindustrie „offen Werbung für die entsprechenden Krankheiten und die dazu passenden Produkte“ machen (ebd.).16

Als weitere wichtige Akteurin im Medikalisierungsprozess gilt die Pharmaindustrie. Bereits Illich (41995: 47ff.) machte als einen Aspekt der sozialen Iatrogenesis die „pharmazeutische Invasion“ aus. Seiner Meinung nach liegt die Schuld am Überkonsum von Medikamenten aber nicht bei den Pharmafirmen selbst, sondern in der Ideologie der Gesellschaft begründet (vgl. ebd.: 53). Blech sieht die Pharmafirmen als wichtige Ak- teure im Medikalisierungsprozess: „Pharmazeutische Unternehmen sponsern die Erfin- dung ganzer Krankheitsbilder und schaffen ihren Produkten auf diese Weise neue Märk- te“ (62004: 13, vgl. 19ff.). Zu diesem Zwecke engagierten sie Meinungsforschungsinsti- tute, PR-Unternehmen, Werbeagenturen und Medizinprofessoren (vgl. ebd.: 13).

Eine „nie da gewesene Kontrolle über alle Aspekte der Medizin“ schreibt Meika Loe der Pharmaindustrie zu (Steele-Saccio 2004). In ihrem Buch „The Rise of Viagra: How the Little Blue Pill Changed Sex in America“ beschreibt sie die Strategie der Pharmain- dustrie bei der Vermarktung des Potenzmittels. Die potenzsteigernde Wirkung war vom Pharmaunternehmen Pfizer zufällig bei klinischen Tests als Nebenwirkung eines Medi- kaments gegen Angina entdeckt worden. Um einen Markt für Viagra zu schaffen, „lan- cierte [es] also eine keimfreie mit Wissenschaft und Statistik voll gestopfte Kampagne und deutete ,sexuelle Unzufriedenheit‘ zu ,sexuelle Dysfunktion‘ um“ (ebd.). Zunächst seien dabeiältere Herren die Zielgruppe gewesen, mit der Zeit habe sich die Kampagne dann vermehrt an junge Männer gerichtet. Die Argumentationsform der Pharmafirma beschreibt Loe im Interview mit der Schweizer Wochenzeitung so: „Solche PR- Kampagnen propagieren eine sehr enge Vorstellung von Normalität. Der Mann wird auf sein erektiles Potential reduziert“ (ebd.).

Von Reibnitz und List (2000) haben bereits früher am Beispiel der weiblichen Wechsel- jahre beschrieben, wie Pharmafirmen für Nachfrage sorgen. Ihrer Ansicht nach setzten Pharmafirmen bewusst die Umdeutung des Klimakteriums in eine „Hormonmangel- krankheit“ ein, um Frauen zur Einnahme von Hormonen zu bewegen (vgl. ebd.: 200). Eine andere Strategie war es, einzelne Symptome, die der Östrogenabnahme zuge- schrieben werden, als Krankheit zu deuten (Hitzewallungen, Schlafstörungen, Osteopo- rose etc.). „Damit wird jede Frau automatisch zur Patientin oder Konsumentin“ (ebd.).

Da sich aber nicht alle Frauen zu Kranken machen lassen wollen, hätten neue Verkaufs- strategien die Konservierung von Jugendlichkeit, und damit sexueller Attraktivität und behauptungen, Diffamierung Andersdenkender, interessegeleitete Kommunikationsstrategien und Zensur vor (Kohring 2005: 124, Hervorhebung im Original, Anm. d. Verf.).

Leistungsfähigkeit, einbezogen werden müssen. In den vergangenen Jahren sei außer- dem die Propagierung des Präventionsgedankens (Vermeidung von Osteoporose) als Strategie der Verkaufsförderungen ausgebaut worden (vgl. von Reibnitz/List 2000: 200). Diese Strategie scheint zumindest bis zur Veröffentlichung der Studienergebnisse zu den beträchtlichen Nebenwirkungen der Substitutionstherapie erfolgreich gewesen zu sein. Allein in den Jahren 1990 bis 2000 hatte sich die Verordnung von Hormonprä- paraten in den Wechseljahren mehr als verdreifacht (vgl. Kolip 2000: 11). Ab dem Jahr 1996 wurde bei der Verordnung von Sexualhormonen ein Plateau erreicht (vgl. von Reibnitz/List 2000: 206). Aus ökonomischen Erwägungen scheint die Entwicklung ei- ner neuen Zielgruppe (Männer) daher logisch.

Als Akteure im Prozess der Medikalisierung werden immer wieder auch die Medien genannt. So sprechen von Reibnitz und List (2000: 202) von einem mediengesteuerten Nachfrageverhalten verunsicherter Frauen, ohne diesen Zusammenhang allerdings zu belegen. Auch Gottschlich (1994: 184) stellt die These auf, dass im „ Zusammenspiel von Medien- und Pharmaindustrie, von Redaktionsmarketing und strategischer Kom- munikation [ … ] ,Gesundheit ‘ zur Ware [wird] “ (Hervorhebungen im Origingal, Anm. d. Verf.). Blech (62004: 16) sieht die Mitarbeit der Medien bei der Medikalisierung zum einen in der gelegentlichen Funktion als „Medienpartner“ der Meinungsmacher. Zum anderen würden viele der lancierten Geschichten „von den Journalisten völlig unkritisch übernommen und verbreitet“ (ebd.: 54).

Als Grund für die Mitarbeit der Medien bei der Medikalisierung sieht Blech nicht nur fachliche Mängel der Journalisten, sondern auch deren eigene Interessen. „An dem Spott, Medizinjournalisten lebten davon, die Hypochondrie im Volke zu schüren, liegt ja viel Wahrheit. Die vermeintlich schlechten Nachrichten der Krankheitserfinder sind die guten Nachrichten der Medien“ (ebd.: 56). Inwieweit diese Kritik zutrifft, soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Zunächst werden im folgenden Kapitel Forschungsergebnisse zum Medizinjournalismus präsentiert, die bereits Hinweise auf eine mögliche Rolle der Medien im Medikalisierungsprozesss geben

4.2.4 Medien und Medikalisierung

Die Kritik, der Medizinjournalismus verstärke durch seine sensationalistische und unlautere Berichterstattung Krankheiten oder löse sie gar aus, reicht bis in die Anfänge der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Berichterstattung in Publikumsmedien zurück. So warnt bereits Oeter (1953: 184):

„ Was nach dem Gesetz der Natur unbewu ß t abläuft, soll der Mensch nicht ohne zwingenden Grund an die Oberfläche des Bewu ß tseins zerren, weil sonst, wie die Erfahrung beweist, sogar krankhafte Reaktionen ausgelöst werden können “ .

Wenn es um die Rolle der Medien bei der Medikalisierung geht, ist zunächst einmal interessant, ob und wie Rezipienten die Medien nutzen, um sich über medizinische Themen zu informieren. Wright (1975) fand in einer Befragung heraus, dass sich die Probanden vor allem in nichtmedizinischen Magazinen über Gesundheitsthemen infor- mieren. Auf den Einfluss von soziodemographischen Merkmalen auf die Informations- beschaffung wurde bereits in Kapitel 3.1 eingegangen. Bei einem Experiment mit 40 Studenten konnte Bishop (1974) erkennen, dass sich auch Angst auf den Konsum ge- sundheitsbezogener Informationen auswirken kann. Studenten, die in Bezug auf ihre Gesundheit als sehrängstlich eingestuft wurden, neigten eher dazu, beruhigende Artikel zu lesen (vgl. ebd.: 40).

Entscheidend für eine Einschätzung der Rolle der Medien im Medikalisierungsprozess ist natürlich auch, wie diese über gesundheitsbezogene Themen berichten. Vorgeworfen wird dem Medizinjournalismus immer wieder, dass er dem medizinischen System zu unkritisch gegenübersteht (vgl. Fisher/Gandy/Janus 1981: 256, Kohring 2005: 124). So kamen Fisher und Kollegen bei einer Inhaltsanalyse von Artikeln zum Thema Herzer- krankungen in den Titeln Ladies Home Journal, Reader ’ s Digest und Time Magazine aus den Jahren 1859 bis 1974 zu dem Befund, dass alle Artikel mehr oder weniger das medizinische Establishment unterstützten (vgl. Fisher/Gandy/Janus 1981: 256). Wenn sie eine Veränderung im System unterstützten, dann unterstützten sie die Einführung teurer Technologien (vgl. ebd.: 255f). Außerdem bemerkten die Autoren „a tendency to describe heart disease in terms of physiological malfunction - a view consistent with the engineering approach to health care“ (ebd.: 256).

Schließlich gibt es auch eine Reihe von Arbeiten, die sich mit der Wirkung des Medi- zinjournalimus auf die Rezipienten befassen. Insgesamt können die Wirkungen des Me- dizinjournalismus immer noch als umstritten eingestuft werden (vgl. Appel 2000: 96). Gandy (1982: 101) sieht es als sehr wahrscheinlich an, dass der Medieninhalt zu Ängs- ten in Bezug auf die eigene Gesundheit beiträgt. Dies hätte wiederum die Suche nach gesundheitsbezogenen Informationen und die Inanspruchnahme von medizinischen Fachleuten zur Folge, was die Bereitschaft zum Konsum medizinischer Produkte erhöhe (s. auch sein Modell ebd.: 102). Eine Studie von Vogt (1999), die sich mit der Rezepti- on medizinjournalistischer Inhalte im Hamburger Abendblatt befasst, konnte die These, dass medizinjournalistische Texte Angst auslösen, nicht bestätigen (vgl. ebd.: 92).

Aus kulturwissenschaftlicher Sicht nähert sich Elaine Showalter (1977) der Medikalisierung durch Medien. In ihrem Buch über „hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien“ beschreibt sie Krankheitskarrieren wie die des „Chronischen Müdigkeitssyndroms“ (vgl. ebd.: 161ff.).

„ Hysterie-Epidemien werden durch Geschichten verbreitet, die wiederum durch die Ratgeberliteratur, Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehserien und Talkshows, Spielfilme, das Internet, ja sogar durch die Literaturwissenschaft in Umlauf gebracht werden “ (Showalter 1997: 14).

Showalter macht bei ihrer Entstehung ein immer gleiches Muster aus: Die Patienten „haben aus den Medien von den Krankheiten erfahren, entwickeln unbewußt Symptome und ziehen erneut die Aufmerksamkeit der Medien auf sich - ein endloser Kreislauf“ (ebd.: 16).

Die Beobachtungen Showalters decken sich mit der Aussage von Fisher, Gandy und Janus (1981, s.o.), dass die Medien bei der Definition von Krankheit und Gesundheit eine Rolle spielen. Sie beeinflussten z.B., ob eine Herzerkrankung eher als mechani- scher Defekt oder als soziokulturelles Problem aufgefasst wird und wie die Behandlung auszusehen habe.

Eine ganze Reihe von Untersuchungen deutet auf einen direkten Einfluss der medizini- schen Berichterstattung in den Massenmedien auf das Verhalten der Rezipienten hin. Besonders eindringlich ist eine Studie von Braun et al. (2001) zur Einführung von Vi- agra. Die Autoren ermittelten bei Urologen und Allgemeinärzten in Köln und im Erft- kreis die Zahl der Patienten, die sich wegen erektiler Dysfunktion bei ihnen vorstellten - vor und unmittelbar nach der von den Medien sehr aufmerksam begleiteten Zulassung von Viagra. Nach der Zulassung von Viagra auf dem US-amerikanischen Markt und der massiven Berichterstattung der deutschen Medien gab es einen signifikanten Anstieg der Patientenkontakte (vgl. ebd.: 146). Zum letzten Befragungszeitpunkt waren die Konsultationen wieder zurückgegangen, was nach Ansicht der Autoren auf die ebenfalls nachlassende Berichterstattung zurückgeführt werden kann, aber auch auf einen zunehmenden Medikamentenhandel über das Internet (vgl. ebd.: 148).

Einähnlicher Effekt lässt sich auch am Erfolg des Antidepressivums „Prozac“ in den USA (vgl. Nelkin 1995: 71ff.) und an der Fußpilz-Kampagne in den 70er Jahren able- sen, die den Absatz von Antimykotika enorm ansteigen ließ (vgl. Westhoff 2000: 284). Auch Fisher, Gandy und Janus fanden in ihrer bereits erwähnten Fallstudie einen Zu- sammenhang zwischen der Berichterstattungshäufigkeit zum Thema Herzerkrankungen und den Ausgaben für Operationen (vgl. Fisher/Gandy/Janus 1981: 256). Andere Stu- dien zeugen von einem kausalen Zusammenhang zwischen der Medienberichterstattung zu den Nebenwirkungen der Pille und der Zahl von Frauen, die diese hormonelle Verhütungsmethode absetzten (vgl. Karpf 1988: 221).

Bei all diesen Studien muss jedoch immer bedacht werden, dass die Medien nicht ursächlich verantwortlich sein müssen. Es könnten auch andere Faktoren zu den beobachteten Ergebnissen geführt haben: etwa eine gewiefte PR-Aktion, die sich direkt an die Patienten richtete, die Beeinflussung durch Familienangehörige oder durch den Arzt. Rumpf (1982) kommt in ihrer bereits in Kap. 2.2.3.4 angesprochenen medizinischen Dissertation in einer Bevölkerungsumfrage zu dem Ergebnis, dass die Massenmedien im Vergleich zurärztlichen Kommunikation einen geringen Einfluss auf das konkrete Gesundheitsverhalten der Bevölkerung haben.

Nelkin (1995: 72) schränkt außerdem ein, dass die Bemühungen von Dritten, die Medien für die Verbreitung ihrer Anliegen zu nutzen, nicht zwangsläufig Erfolg haben müssen. „Although people seek information from the press to guide even the most personal decisions (such as choice of birth control technique), they use such information mainly when it corresponds to their prior views and inclinations“ (ebd.). Die Einstellung und die bisherigen Erfahrungen der Rezipienten haben also ebenfalls einen Einfluss auf die Wirkung der medizinischen Berichterstattung (vgl. Kap 4.5.3).

4.3 Die Realität der Medien

Es ist bereits deutlich geworden, dass es sich bei der Definition eines Phänomens als Krankheit um die Konstruktion eines Ausschnitts der Realität handelt. Wenn es um die Rolle der Medien im Medikalisierungsprozess geht, muss also zunächst danach gefragt werden, wie sich das Verhältnis zwischen Medien und Realität darstellt. Im Anschluss werden die Einflüsse auf die Entstehung der Medienrealität dargestellt.

4.3.1 Realität und Medienrealität

„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (Luhmann 21996: 9). Dieses Zitat von Niklas Luhmann macht deutlich, welche entscheidende Rolle die Medien in modernen Gesellschaften einnehmen: Sie können als Hauptkontaktmittel des einzelnen Menschen mit seiner Umwelt verstanden werden (vgl. Schenk 22002: 399, Funkhouser 1973: 7417 ), sie fun- gieren als „mächtiger Ersatz für eigene Erfahrung“ (Rolke/Wolff 1999: 14). „Von al- lem, was der Einzelne weiß, beruhen heute höchstens 20 Prozent auf eigener Erfahrung. 80 Prozent werden ihm vor allem durch die Medien zugetragen“ (ebd.: 14f.).

Dass erst die Medien es den Menschen ermöglichen, sich in ihrem Kopf „Bilder von der Realität“ zu machen, erkannte bereits in den 1920er Jahren Walter Lippmann (1990: 243). In der kommunikationswissenschaftlichen Literatur wurden sie daher auch als unsere intellektuellen Fenster zur Welt oder als Spiegel zur Welt beschrieben (vgl. Weaver et al. 1981: 3). Nach Schmidt (1994: 14) spielen die Massenmedien „für unsere Sozialisation, unsere Gefühle und Erfahrungen, unser Wissen, unsere Kommunikation, für Politik und Wirtschaft usw. eine entscheidende Rolle […]“. Umso entscheidender erscheint die Frage, wie sich Realität und Medienrealität gegeneinander verhalten. Es war ebenfalls Walter Lippmann, der dies bezweifelte, indem er anmerkte: „News and truth are not the same thing, and must be clearly distinguished” (Lippmann 1992: 358).

In der Kommunikationswissenschaft gibt es in Bezug auf das Verhältnis zwischen Realität und Medienrealität zwei Auffassungen (vgl. auch im Folgenden Schulz 1989, Bentele 1992)18. Vertreter der ersten Position betonen den Gegensatz zwischen Massenmedien und Gesellschaft (vgl. Burkart 31998: 269). Die Aufgabe der Medien besteht demnach darin, als Spiegel für die Wirklichkeit zu fungieren, wobei die Gefahr der Verzerrung besteht. In einem Überblick über die Kommunikationsforschung zu der Frage, ob die Medien die Realität angemessen repräsentieren, kommt Schulz (1989: 139) zu dem Schluss, dass sie die Wirklichkeit in der Regel verzerrt wiedergeben, ihre Weltsicht sei manchmal ausgesprochen tendenziös und ideologisch eingefärbt.

Der zweite Ansatz versteht die Massenmedien als integralen Bestandteil der Gesell- schaft, der über Selektion und Sinngebung aktiv in die gesellschaftliche Konstruktion19 von Wirklichkeit eingreift (vgl. Weischenberg 21995: 61, Schmidt z.B. 2002). Die Me- dien sind demnach an einem sozialen Prozess beteiligt, aus dem eine Vorstellung von Realität hervorgeht (vgl. ebd.: 269f.), sie leisten also einen Beitrag zur Realitätskon- struktion der Gesellschaft (vgl. Luhmann 21996: 183, vgl. Tuchman 1978: 12, vgl. Schmidt 1994). Nach Schmidt (1994: 14) spielen die Massenmedien „für unsere Sozia- lisation, unsere Gefühle und Erfahrungen, unser Wissen, unsere Kommunikation, für Politik und Wirtschaft usw. eine entscheidende Rolle [...].

[...]


1 Seit 1985 analysiert der Arzneiverordnungs-Report jährlich den deutschen Arzneimittelmarkt. Ermittelt werden die Daten durch die Auswertung von rund 400 Millionen Kassenrezepten.

2 Der Begriff „Informationsfluss“ ist bildlich zu verstehen.

3 Da Wissenschaftsjournalisten häufig auch Medizinthemen bearbeiten, wird hier nicht zwischen den beiden Feldern unterschieden (vgl. Hömberg 1990, Blöbaum/Görke/Wied 2004).

4 (lat. placebo: ich werde gefallen), so genanntes Scheinmedikament, pharmakologisch unwirksame, indifferente Substanz. Plazebos werden u.a. in der klinischen Erprobung neuer Medikamente an- gewendet. Dabei erhält eine Probandengruppe das eigentliche Medikament, die andere ein Plazebo. Um Verfälschungen zu vermeiden, wissen die Probanden im Blindversuch nicht, ob sie zur Placebo- oder zur Verumgruppe gehören. Im Doppelblindversuch kennt auch der Versuchsleiter die Zuordnung nicht (vgl.: Pschyrembel 2571994:1205, 194).

5 Anfallsweises Auftreten von mehr als zehn Sekunden dauernden Atemstillständen während des Schlafens (vgl. Pschyrembel 2571994: 1377).

6 Da Testosteron die Zahl der Spermien reduziert, wurde es bereits als Verhütungsmittel erprobt (vgl. Pearson 2004: 500).

7 Bösartiger Tumor der Prostata (vgl. Pschyrembel 2571994: 1247).

8 Syndrome sind in Abgrenzung dazu „Symptom- bzw. Befundkomplexe, für die eine definierte Ursache (noch) nicht bekannt ist bzw. die mehrere Ursachen haben können (ebd. 184).

9 Im weiteren Sinne können alle psychogenen Erkrankungen, die zu somatischen Symptomen und a- natomisch-pathologischen Veränderungen führen, als psychosomatische Erkrankungen verstanden werden (vgl. Pschyrembel 2571994: 1264, zum psychosomatischen Konzept vgl. Kap. 2.1.1).

10 Die seit Peter L. Berger und Thomas Luckmann in der Soziologie anerkannte Richtung des Sozial- konstruktivismus sieht soziale Tatbestände nicht als einfach gegeben, sondern als erzeugt an, also als von Menschen hervorgebracht und weitergegeben. Der „radikale Konstruktivismus“ in der ge- genwärtigen Erkenntnistheorie behauptet, dass Kognitionen (Wahrnehmungen etc.) die Wirklich- keit nicht abbilden. „Das die Sinnesempfindungen verarbeitende Gehirn repräsentiere nicht dieäu- ßere Realität, vielmehr konstruiere es sie“ (Fuchs-Heinritz et al. 1995: 363). In der Kommunikati- onswissenschaft wurde der Konstruktivismus vor allem vom Funkkolleg „Medien und Kommuni- kation“ (Merten et al. 1990) in die Grundlagendiskussion eingebracht. Als programmatischer Schlüsselsatz gilt hier: „Medien konstruieren Realität“ (Bentele 1997: 122, vgl. auch Merten 1990:

11 „Gr. Religiöse Vorstellung und Göttin, die göttliche Zuweisung dessen, was einem zusteht, bes. Vergeltung, Strafe, dann die Mißbilligung (auch durch Menschen) von allzu großem Glück und zu hoher Selbsteinschätzung“ (Brockhaus 41997c: 343).

12 Der Begriff „Iatrogenese“ leitet sich von den griechischen Wörtern iatros für Arzt und genesis für Ursprung ab (Illich 41995: 9). Als iatrogen werden in der Medizin vom Arzt verursachte Beschwerden oder Erkrankungen bezeichnet (vgl. Pschyrembel 2571994: 697).

13 Lenzen (1991: 15f.) wirft Illich Dramatisierungen, „holzschnittartige Vereinfachung“ und Behauptungen vor, Fox (1977: 9f.) kritisiert u.a., Illichs einseitig negative Bewertung der medizinischen Fortschritte und seine recht freien Interpretationen in den Zitaten.

14 Festgelegt wird ein Normwert z.B. indem ein Laborwert an einer großen Zahl offenbar gesunder Menschen gemessen wird. Aus diesen Werten wird dann der Durchschnitt errechnet. Die mittleren 95 Prozent werden dann als „Normalbereich“ definiert. Die fünf Prozent, die nach oben oder unten davon abweichen, werden als „auffällig“ eingestuft, obwohl die Probanden gesund sind (vgl. Müller/Müller 2002: 13).

15 Als prominentestes Beispiel kann wohl die Hormonsubstitution bei Frauen genannt werden. So musste 2002 ein Arm der ursprünglich bis 2005 ausgelegten so genannten Millionen-Frauen-Studie, einer groß angelegten, randomisierten, placebokontrollierten Untersuchung der Women’s Health In- titiative, aufgrund der gefährlichen Nebenwirkungen der Therapie abgebrochen werden. Unter den Probandinnen war vermehrt Brustkrebs aufgetreten. (vgl. Blech62004 : 153).

16 Einen interessanten Einblick in die Kommunikation innerhalb des medizinischen Systems bietet die Dissertation von Rumpf (1982), welche die öffentliche Kontroverse und mammographische Rei- henuntersuchungen analysiert und dabei die verschiedenen Selektionsebenen innerhalb des Medi- zinsystems, einschließlich Öffentlichkeitsarbeit berücksichtigt. Rumpf stellt die Rationalität und Va- lidität fachmedizinischer Kommunikation in Frage. Sie wirft der medizinischen Binnen kommunika- tion unter anderem dogmatisches Verhalten, unwissenschaftliche Argumentation, bewusste Falsch-

17 „The news media are our only way of knowing, at the time, what is happening in the world outside our immediate experience“ (Funkhouser 1973: 74).

18 Schulz (1989) nennt diese unterschiedlichen Auffassungen in Bezugnahme auf historische Figuren die „ptolemäische“ und die „kopernikanische Auffassung“. Bentele (1992:46ff.) bezeichnet sie als „realistische“ bzw. „konstruktivistische“ Position (zum Konstruktivismus vgl. Fn. 3).

19 Zum Konstruktivismus vgl. Kap. 4.2.1.

Ende der Leseprobe aus 183 Seiten

Details

Titel
Medien als Krankheitserfinder? - Die Berichterstattung in ausgewählten Printmedien über Testosteronmangel bei älteren Männern
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
183
Katalognummer
V89049
ISBN (eBook)
9783638025393
Dateigröße
1050 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Medien, Krankheitserfinder, Berichterstattung, Printmedien, Testosteronmangel, Männern
Arbeit zitieren
Kristina Patschull (Autor:in), 2006, Medien als Krankheitserfinder? - Die Berichterstattung in ausgewählten Printmedien über Testosteronmangel bei älteren Männern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89049

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