Berlin - Die Stadt in Gedichten unter dem Aspekt der imaginierten Weiblichkeit


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

22 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Berlin-Gedichte im Expressionismus

2. Sigrid Weigel und die imaginierte Weiblichkeit

3. Das Verfahren des Dekonstruktivismus

4. Ausgewählte Berlin-Gedichte
4.1 Joachim Ringelnatz: „Am Sachsenplatz: die Nachtigall“
4.2 Joachim Ringelnatz: „Kanäle in Berlin“
4.3 Christian Morgenstern: „Berlin“
4.4 Christian Morgenstern: „Aus der Vorstadt“
4.5 Georg Heym: „Die Stadt“
4.6 Paul Boldt: „Berlin“
4.7 Alfred Lichtenstein: „Gesänge an Berlin“

5. Resümee

6. Literaturverzeichnis und Gedichte

1. Berlin-Gedichte im Expressionismus

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sich „mehr als 2000 Berlin-Gedichte“[1] erschienen und wurden in mehreren Anthologien zusammengefasst. Gerade zu diesem Zeitpunkt entwickelte sich Berlin von der Reichshauptstadt zur Weltstadt und wurde somit ein kulturelles Zentrum.

Besonders der Expressionismus (1910-1925) war dem Thema Stadtgedicht zugetan – nicht nur wegen des zeitlichen Zusammenfalls. Daher werde ich mich bei meiner Untersuchung verstärkt auf Gedichte dieser Epoche konzentrieren.

Die Vertreter waren sich einig, dass das Alte zugrunde gehen müsse, damit das Neue und Bessere entstehen könne.

In der Lyrik kommt dies durch maßloses Gefühl und visionäres Schauen zum Ausdruck. Somit sind die Gedichte auch oft als Zeitkritik zu werten.

Ein wichtiges Merkmal des Expressionismus ist die Form des so genannten Zeilenstils, um die Simultanität der Vorstellungen, Gefühle, Erlebnisse und Äußerungen sprachlich zu erfassen. Daher rückt das Bild der Stadt in den Vordergrund, um die Dynamik der simultan verlaufenden Vorgänge zu verdeutlichen. Abfolgen von Tätigkeiten, Handlungen, die zeitgleich verlaufen und verschiedene Formen der Wahrnehmung werden verarbeitet.

Simultanität ist also ein charakteristisches Ausdrucksmittel einer Generation, in deren Erlebniswelt zunehmend die Stadt mit ihrer ungeheuren Vielfalt an Bildern und Facetten als Lebensraum an Bedeutung gewinnt.

Die Stadt zählt somit zu den vier wichtigsten inhaltlichen Themenkreisen des Expressionismus. Die drei weiteren beziehen sich auf die Vergänglichkeit, den Krieg und den neuen Menschen.

Durch die Landflucht wuchs Berlin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprunghaft an – auf etwa das Fünffache. Doch dieser Aufschwung der Stadt zur Metropole wurde begleitet durch eine Polarisierung in Reichtum und Armut.

Diese Janusköpfigkeit der Stadt faszinierte die jungen Dichter des Expressionismus, welche oft nächtelang durch Berlin zogen und aus ihren Erlebnissen jeglicher Art Gedichte machten. Der Moloch Stadt mit seinen neuen Formen der Unterhaltung übte große Faszination auf sie aus.

Viele von ihnen lebten in Berlin, erlebten die Stadt als eine der fortschrittlichsten der Welt, nahmen aber auch die daraus manchmal negativ resultierenden Folgen zur Kenntnis, wodurch in Bezug auf ihre Lyrik eine sehr ambivalente Einstellung der Dichter zur Stadt festzustellen ist.

2. Sigrid Weigel und die imaginierte Weiblichkeit

Den Zusammenhang von Frauen und Städten bildet nach Weigel ihre ideengeschichtliche Verknüpfung.[2]

In Bezug auf die Darstellung im Gedicht ist von Bedeutung, inwiefern Weiblichkeitsmetaphern Verwendung finden und in welchem Kontext sie auftauchen. Das heißt: welche Rolle spielen die verschiedenen Bilder der Frau bei der Portraitierung der Stadt Berlin?

Weigel kritisierte, dass innerhalb der Forschung das Problembewusstsein für die Bildfunktion des Weiblichen fehle, da der Zusammenhang nur in der Frauenforschung meist von Soziologinnen und nicht in der Literaturwissenschaft behandelt wird.

Die Imaginationgeschichte der Stadt in Verbindung mit den Frauenbildern ist der Ansatzpunkt zur Analyse der Berlin-Gedichte, um die imaginierte Weiblichkeit der Stadt nachzuweisen.

Weigels Untersuchungen der Literaturgeschichte laufen darauf hinaus, dass zur Beschreibung der Stadt oft Weiblichkeitsbilder herangezogen werden oder die Stadt weiblich sexualisiert wird. Ihr Ausgangspunkt sind die Gründungsmythen antiker Städte und sie verfolgt die weibliche Stadtallegorie bis in die Literatur der Moderne.

Mit dem Erscheinungsbild der Großstadt fanden auch die Weiblichkeitsmetaphern ihren Ausdruck in neuen Bildern. Wenn man die Stadt als Körper betrachtet, dann treten Imaginationen der bedrohlichen und verschlingenden Frau bis hin zu Phantasien der begehrenswerten, sich dem Entdecker hingebenden Frau auf. So stellt sich die Metropole in dem Gedicht „Großstadt“ (1946) von Wolfgang Borchert zugleich als Göttin, Hure und Mutter dar.

Es kommen also bestimmte stereotype von Weiblichkeitsvorstellungen zum Einsatz. Weigel stellt die Hypothese auf, dass Stadtbilder in verschiedenen Formen auftreten: als Denkbilder, als ein paradigmatischer Ort von Zivilisationsarbeit, der auf den Fortschritt ausgerichtet ist und als Ausdruck der Dialektik zwischen Naturbewältigung und Rückkehr des Verdrängten, die im Zusammenhang mit der sich verändernden Topographie der Geschlechter steht.

Weigels Interesse gilt der Geschichte der Stadtdarstellung als Paradigma für die imaginäre und symbolische Darstellung der Geschlechterverhältnisse in unserer Kultur.

In Bezug auf die weibliche Stadtallegorie in den modernen Schriften geht Weigel auf W. Benjamin ein, der die Topographie der Großstadt untersucht hat sowie die Funktion und Bedeutung der Architektur, der Ornamente und des Interieurs als Nachfolgerinnen allegorischer Figuren und Ausdrucksform für das Unbewusste bestimmte.

Nach seinen Ausführungen tritt der „wilde“ Anteil der Frau durch den Übergang von der Stadt zur Großstadt wieder in den Vordergrund oder wird zumindest gleichwertig und findet Ausdruck in verschiedenen Bereichen des Lebens in der Stadt, die jeweils bestimmten Frauenbildern zugeordnet werden.

Die Analogisierung von Stadt und Frau erfolgt dabei durch den Körper: die Stadt als semiotischer Körper wird mit der „uneinsichtigen Natur der Frau“ verglichen. Dabei scheinen Körper und Naturmetaphern Schnittpunkte für die weibliche Sexualisierung der Stadt darzustellen.

Interessant ist auch inwieweit Bezug auf antike Stadtmythen und Bilderrepertoire genommen wird.

3. Das Verfahren des Dekonstruktivismus

Der Dekonstruktivismus bezieht sich nicht nur auf „Sprache, Texte und soziale Systeme, sondern auf die abendländischen Denkkategorien ganz allgemein“.[3]

Derrida, einer der wichtigsten Vertreter, betonte die Eigenständigkeit des Signifikanten in all seinen Variationen, da die Bedeutung nie ganz durch ihn repräsentiert werden würde. Am deutlichsten wird dies im Hinblick auf das Stilmittel der Metapher.

Das Weibliche kann ebenso gesehen werden – „als Prototyp einer dezentrierenden, sich immer entziehenden und nie festlegenden Kraft“.[4]

Es bestehen aber keine direkten Analogien, keine eindeutige Metaphorik zwischen der weiblichen Anatomie und den in den Texten möglicherweise auffindbaren Ausdrucksformen.

Der Text verweist also über seine eigenen Grenzen hinaus, es ist immer wieder eine Intertextualität nachweisbar. Einerseits können bestimmte Quellen oder Mythen, andererseits verschiedene Diskurse (literarische, soziale, ideologische) für die Interpretation miteinbezogen werden. Demnach steht also eine dialogische Untersuchung im zentralen Interesse der poststrukturalistischen Einzeltextanalyse.[5]

Das neue Bild von Weiblichkeit enthält verlockende, auch unheimliche und utopische Umkehrungen, die um so mehr anziehen, da sie keine eindeutigen Festlegungen enthalten, sondern das Weibliche als Rätsel erhalten und als unendlich plural erscheinen lässt. Somit sind in jedes Stadtgedicht, in denen die imaginierte Weiblichkeit zu Tage tritt, verschiebbare kulturelle Codes eingeschrieben.

Die ausgewählten Gedichte sollen also hinsichtlich ihrer Verweise auf das Bild der Frau untersucht werden. Inwieweit kann man daraus auch wieder weitere Rückschlüsse auf das Bild der Stadt Berlin ziehen?

4. Ausgewählte Berlin-Gedichte

4.1 Joachim Ringelnatz: „Am Sachsenplatz: die Nachtigall“

Der Dichter Joachim Ringelnatz gehört zwar dem Naturalismus an, aber auch bei seinem Gedicht handelt es sich um ein Berlin-Gedicht.[6]

Man könnte annehmen, dass es einen biographischen Hintergrund hat, denn Ringelnatz wohnte tatsächlich am Sachsenplatz. Doch „dasselbe Jauchzen“ (V. 8) der Nachtigall hätten auch viele andere berühmte Dichter, die Berlin beherbergte, hören können (vgl. V. 9-10). Dies verweist wieder auf Berlin als ein kulturelles Zentrum.

Jeder braucht Inspiration (vgl. V. 13-14), besonders in einer Großstadt wie Berlin, in der es schwer ist, sich als Individuum zu behaupten.

Die Nachtigall verkörpert also ein Stück Natur, von der es in der Stadt wenig gibt, daher der Einstieg, indem Ringelnatz zu vermitteln sucht, dass es sich wirklich um eine Nachtigall handelt (V. 1-3).

Dass die Dichter die Nachtigall auch „schlecht“ (V. 18) besangen, lässt vermuten, dass sie zwar die Natur verkörpert, eine glockenhelle Stimme hat und erfreut, aber dass ihr Gesang auf die Dauer auch störend wirkt, da dies ein Vogel ist, der ihn früh morgens anstimmt, wenn manch einer noch schläft und träumt, doch dann jäh in die bisweilen leidvolle Realität zurückgeholt wird.

Aber natürlich gehört die Natur auch in eine und zu einer modernen Weltstadt. Und hier besteht die deutlichste Verbindung zu Weigels Ausführungen die Frau betreffend – die Frau stellt die wilde und ungebändigte Natur dar, auch indem sie sie in sich trägt. Demnach könnte die Nachtigall durchaus für die Geliebte stehen, die als Muse schon viele Dichter in den frühen Morgenstunden und darüber hinaus inspirierte.

[...]


[1] Speier, H.-M. (1990). Poesie der Metropole. Die Berlin-Lyrik von der Gründerzeit bis zur Gegenwart im Spiegel ihrer Anthologien. Berlin: Colloquium Verlag. S. VI.

[2] Vgl. Weigel, S. (1990). Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag.

[3] Berger, R. (1985). Frauen, Weiblichkeit, Schrift: Dokumentation der Tagung in Bielefeld vom Juni 1984. Literatur im historischen Prozess. Folge 14. Berlin: Argument-Verlag. S. 10.

[4] Ebd. S. 13.

[5] Vgl. ebd. S. 18.

[6] Rothe, W. (1973). Deutsche Großstadtlyrik vom Naturalismus bis zur Gegenwart. Stuttgart. S. 238.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Berlin - Die Stadt in Gedichten unter dem Aspekt der imaginierten Weiblichkeit
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Veranstaltung
Die Stadt als Text. Berlin in der modernen und zeitgenössischen Literatur
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
22
Katalognummer
V89085
ISBN (eBook)
9783638025546
ISBN (Buch)
9783640108817
Dateigröße
464 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar der Dozentin: "Eine sehr eigenständige Arbeit, in der Sie versuchen, Sigrid Weigels Thesen zur imaginierten Weiblichkeit der Städte für die Lyrikanalyse fruchtbar zu machen. Zum teil kommen Sie dabei zu neuen und sehr überzeugenden Gedichtinterpretationen! An anderer Stelle argumentieren Sie eher assoziativ bzw. projezieren die These von der Gebändigten, dahinter aber wilden Frau zu allgemein auf die Gedichte."
Schlagworte
Berlin, Stadt, Gedichten, Aspekt, Weiblichkeit, Stadt, Text, Berlin, Literatur
Arbeit zitieren
Marlen Frömmel (Autor:in), 2005, Berlin - Die Stadt in Gedichten unter dem Aspekt der imaginierten Weiblichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89085

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