Der Wissenschaftler als Anti-Held? Untersuchungen zum deutschsprachigen Universitätsroman im 20. Jahrhundert


Magisterarbeit, 2006

81 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung und Zielsetzung

2. Begriffserklärungen: Wissenschaftler, Held, Anti-Held

3. Wissenschaftler als Anti-Helden? – Protagonisten ausgewählter Universitätsromane
3.1 Der Desillusionierte: Helmut Halm in Walsers Brandung
3.2 Der Gestürzte: Hanno Hackmann in Schwanitz’ Der Campus
3.3 Der Mitläufer: Hellmut Buchwald in Zellers Follens Erbe
3.4 Der Nihilist: Fabian Kelch in Schmickls Alles, was der Fall ist
3.5 Anti-Heldinnen nur im Ansatz: Weibliche Hauptfiguren

4. Exkurs: Romanfiguren bei David Lodge

5. Abschlussbetrachtung

6. Literaturverzeichnis
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur

7. Anhang

1. Einleitung und Zielsetzung

Das Feld deutschsprachiger Universitätsromane ist, verglichen mit seinen angloamerikanischen Pendants, bis dato nur spärlich bestellt. Eine wirkliche Tradition wie in Großbritannien oder den USA gibt es nicht. „Die Universität als Thema von Romanen ist in der deutschen Literatur nie heimisch geworden“[1], stellt Wolfgang Weiss nicht ganz umsonst fest. Und auch die Sekundärliteratur, die sich mit den wenigen, unregelmäßig erschienenen Vertretern dieser kaum als solche zu bezeichnenden Subgattung beschäftigt, betont immer wieder die Seltenheit des behandelten Textes im deutschsprachigen Literaturkreis – oder noch deutlicher, die weitläufige Abstinenz derartiger Texte.

So nennt Ladislaus Löb den Roman Follens Erbe von Michael Zeller etwa „one of a rare breed“[2], während Kurt Fickert Martin Walsers Brandung als „unique as an instance of the ‚campus novel’ in German literature“[3] bezeichnet. Ganz ähnlich klingt es, wenn Ludger Lütkehaus über Dietrich Schwanitz Roman Der Campus schreibt: „Er kreiert einen deutschen Ableger der angloamerikanischen campus novel“[4]. Und Deutschlands bekanntester Literaturkritiker, Marcel Reich-Ranicki, klagt in einer Rezension zu Schwanitz’ Werk: „Wo sind die deutschen Autoren, die schreiben wie dieser David Lodge, überaus intelligent und dabei höchst unterhaltsam?“[5]

Der Engländer Lodge gilt seit Jahren als der wohl bekannteste Autor von Universitätsromanen, an dem sich nach Meinung vieler Kritiker deutsche Schriftsteller orientieren könnten oder sollten. Der „Notschrei nach einem deutschen David Lodge“[6] hallt noch immer durch die zeitgenössische Literaturwelt. Nur sporadisch trauen sich einige Pioniere daran, deutsche Universitäten zum zentralen Handlungsort ihrer Werke zu machen. „Die deutsche Universität nicht nur als gelegentlicher Schauplatz, sondern als Thema von Romanen – an diese Vorstellung müssen sich deutsche Leser erst noch gewöhnen“[7], beschreibt Weiß den nur langsam fortschreitenden Prozess einer wirklichen Gattungsentstehung.

Immerhin hat das späte 20. Jahrhundert diesen Prozess etwas beschleunigt. Ein roter Faden, ein gleichbleibendes Thema, ein prägendes Motiv – all das fehlt allerdings noch, um von einer tatsächlich beginnenden Tradition deutschsprachiger Universitätsromane reden zu können. Vom „Blick auf die Uni als politsicher Raum“[8] über den akademischen Kriminalroman bis hin zum Versuch einer deutschen „campus novel“ im angloamerikanischen Stil ist zwar eine bunte Vielfalt rund um den literarischen Schauplatz Universität entstanden, ein allen bzw. den meisten Werken typisches Element hat die ebenfalls rar gesäte Literaturkritik bisher jedoch nicht ausmachen können. Die vorliegenden Sekundärtexte befassen sich zudem meist nur mit einem der deutschsprachigen Werke und setzen dieses in Bezug zu angloamerikanischen Vorgängern.

Es bietet sich deshalb an, in dieser Arbeit genau dort anzusetzen, wo die Literaturkritik noch eine nicht zu verachtende Lücke aufweist: eine vergleichende Arbeit, die die deutschsprachigen Universitätsromane durch ein wiederkehrendes Motiv miteinander in Verbindung bringen könnte. Dazu sollen einige ausgewählte Werke dieser Subgattung untersucht werden. Im Mittelpunkt der Untersuchungen steht jeweils die Hauptfigur. Anhand der einzelnen Charaktere soll analysiert werden, ob ein solches verbindendes, wiederkehrendes Motiv unter einigen der deutschsprachigen Universitätsromane existiert, das sich bei der eingehenden Lektüre der Werke ergeben hat – nämlich: Der Wissenschaftler als Anti-Held. Durch die Charakterstudien, aber auch durch einen Exkurs zu den Romanen David Lodges wird diese These auf ihre Haltbarkeit untersucht.

Im Hauptteil der Arbeit werden vier Romane zunächst eingehender behandelt: Walsers Brandung, Schwanitz’ Der Campus, Zellers Follens Erbe und Gerald Schmickls Alles, was der Fall ist. Sie decken die letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ab. Untersucht wird dabei nicht nur das Verhalten und die äußerliche Beschreibung des Protagonisten selbst, sondern auch wie andere Figuren durch den Erzähler von der Hauptfigur abgegrenzt werden. Zudem spielt die Umgebung, in der sich der Protagonist befindet, bei der Analyse eine wichtige Rolle.

An diese Schwerpunkt-Analyse anschließend gibt ein zusätzliches Unterkapitel kurze Einblicke in weitere deutschsprachige Universitätsromane des frühen 21. Jahrhunderts, bei denen der Anti-Helden-Status des Protagonisten weniger deutlich, aber doch noch streckenweise zu erkennen ist. Dazu gehören Thea Dorns Buch Berliner Aufklärung und Dorothee Noltes Roman Die Intrige.

Vor der abschließenden Analyse der Untersuchungsergebnisse soll dann ein Exkurs über zwei Universitätsromane von David Lodge darüber Aufschluss geben, wie der englische Autor seine Protagonisten konzipiert. Anhand bisheriger Forschungsergebnisse wird in diesem Kapitel ein kurzer Einblick in die Figurenkonstellation der beiden Romane Changing Places und Small World gegeben.

In der Abschlussbetrachtung werden die Ergebnisse aller Analysesektionen noch einmal zusammengefasst und zu einem Ergebnis formuliert, das die These des Wissenschaftlers als Anti-Held in deutschsprachigen Universitätsromanen auf ihre Haltbarkeit prüfen soll.

Soweit vorhanden, beinhalten die Untersuchungen zudem Bezüge zu Sekundärtexten. Diese dienen nicht immer nur als Belege für die Resultate der Arbeit, sondern bisweilen auch als widerlegbare Ausgangsthese. Zusätzliche Unterstützung sollte der direkte Kontakt zu den Autoren liefern. Die Anfragen blieben jedoch größtenteils unbeantwortet. Einzig Michael Zeller lieferte in seinem Brief einige Auskünfte über die eigenen Ansichten seinen Roman Follens Erbe betreffend. Zudem fügte er seinem Schreiben eine Kurzgeschichte[9] hinzu, die bei der Interpretation seiner Hauptfigur Hellmut Buchwald hilfreich war.

Vor allen detaillierten Analysen muss jedoch zunächst geklärt werden, was unter den zentralen Begriffen dieser Arbeit zu verstehen ist. Was ist ein Wissenschaftler, wodurch zeichnen sich Helden und Anti-Helden aus? Zur Klärung dieser Fragen werden diese drei Begriffe deshalb einleitend als Grundlage für die weiteren Analysen festgelegt. Darauf basierend werden dann die Untersuchungen der einzelnen Protagonisten geführt. Die Überprüfung der Ergebnisse folgt in der Abschlussbetrachtung anhand der Begriffsbestimmungen.

2. Begriffserklärungen: Wissenschaftler, Held, Anti-Held

Die hier angestellten Erklärungen orientieren sich an bereits existierenden Untersuchungen, die jedoch an einigen Stellen noch den literarischen Entwicklungen der vergangenen zwanzig Jahre angeglichen werden müssen. So entsteht schließlich ein kompakter Überblick, der die elementaren Begriffe dieser Arbeit vorab erklärt und sie für die weiteren Betrachtungen als Grundlage, nicht als Definition, vorgibt. Nachfolgend die drei zu erläuternden Begriffe:

- Wissenschaftler

Universitätsromane beziehen ihr Personal natürlich überwiegend aus dem wissenschaftlichen Bereich, was aber nicht bedeutet, dass das Berufsfeld der Charaktere sich stetig deckt oder sich die Figuren in ihrem Auftreten ähneln müssen. Ganz im Gegenteil, denn der Vielfalt ist in diesem Punkt kaum eine Grenze gesetzt. „[…] Auf der Ebene des Figurenpersonals gibt es keine Begrenzungen. Das gesamte Spektrum vom unfähigen Studenten bis zum Starprofessor ist vertreten. Vereinzelt mutieren Professoren gar zu Don Juan- oder James Bond-Verschnitten“[10], weiß Ronald Dietrich zu berichten. Zudem gibt es Repräsentanten aller Fachrichtungen, wobei die Literaturwissenschaft in den hier behandelten Werken am häufigsten auftritt. Doch auch andere Geisteswissenschaften, wie Philosophie, kommen zur Geltung. Naturwissenschaften werden möglichst gemieden, aber nicht vollends außen vor gelassen. Des weiteren erscheinen auch Studienabbrecher wieder auf der Campus-Bildfläche.

Alles in allem weisen Universitätsromane ein wissenschaftlich sehr umfassendes Figurenpersonal auf: Professoren, Gastprofessoren, Dozenten, Lehrer, wissenschaftliche Mitarbeiter, Studenten, Studienabbrecher. Sie alle werden in den weiteren Untersuchungen unter dem Oberbegriff Wissenschaftler zusammengefasst.

- Held

In antiken Dramen und Epen werden Helden als Menschen dargestellt, die zum Wohle der Welt oder anderer Menschen ihr eigenes Leben opfern. Helden sind demnach einzigartig und definieren ihren Heldenstatus allein über ihre Taten und ihr Opfer: „A hero […] cannot be a man who resembles others. […] Single-hearted, single-minded, […] born to be reborn in his final destruction. The hero’s life, and in particular his deeds, are his definition“[11], schreibt dazu Rosette C. Lamont. Insofern sind Helden auch tragische Figuren, die allerdings durch ihr tugendhaftes Verhalten einen außerordentlichen Identifikationswert besitzen. Lamont sieht darin auch die Ironie einer solchen klassischen Heldenfigur: „There’s an irony implicit in the hero’s choice since his success is also his undoing.“[12]

In der zeitgenössischen Literatur heutiger Tage (in der der Begriff „Held“ oft auch als Synonym zum Begriff „Hauptfigur“ oder „Protagonist“ gebraucht wird) sind derartige Helden kaum noch zu finden. Figuren, die ausschließlich Identifikationspotenzial aufweisen, bewegen den Autor und Leser mit ihrem wenig komplexen, oft sogar flachen Charakter nicht mehr ausreichend. Moderne Helden haben Ecken und Kanten, wirken so aber auch wesentlich realistischer. Lamont zitiert in diesem Zusammenhang Voltaire, der schon vor über zweihundert Jahren sagte: „I do not like heroes; they make too much noise in the world… The more radiant their glory, the more odious they are.“[13] Zudem kämpfen diese Helden nicht mehr unter Einsatz ihres Lebens für das Gemeinwohl, sondern sind oft selbst Außenseiter, die sich durch ihr Verhalten und ihre Taten Ansehen und Respekt in der Gesellschaft verdienen.

In dieser Arbeit gilt das Verständnis, ein Held sei jemand, der durch bestimmte nicht selbst verschuldete Umstände in eine Außenseiterstellung gedrängt wird, sich aber durch eigene Verdienste und Taten weitestgehend – bis auf wenige wirkungsvolle Fehler – tugendhaft verhält. Wichtig ist hierbei vor allem, dass ein solcher Held das Mitgefühl des Lesers auch trotz seiner Makel niemals verliert. Mit ihm kann sich der Leser identifizieren.

- Anti-Held

Wie aber grenzt sich nun ein Anti-Held von diesem nicht ganz makellosen Helden ab? Erst einmal in jedem Fall durch seine nicht allzu exponierte Position in der fiktiven Gesellschaft. Der Anti-Held ist weder zentraler Punkt noch Außenseiter, hat aber dennoch meist einen sehr eingeschränkten Bekanntenkreis, von engen Freunden ganz zu schweigen. Dies beruht häufig auf mangelnden kommunikativen Fähigkeiten, unangemessenem Verhalten, Selbstzweifeln oder Misstrauen. Auch negative Beschreibungen des Erzählers die äußerliche Erscheinung einer Figur betreffend können diese in die Nähe eines Anti-Helden bewegen.

Hilfreich bei der Umschreibung des Anti-Helden im Universitätsroman sind auch die durchaus ähnlichen Erkenntnisse von Sean O’Faolain, die dieser schon Ende der 50er Jahre in seinem Buch The Vanishing Hero gewann: „He is always represented as groping, puzzled, cross, mocking, frustrated, isolated in his manful or blundering attempts to establish his own personal suprasocial codes.“[14]

Zusammenfassend: Der Anti-Held ist einer von vielen, bei der breiten Masse nicht beliebt und leicht zu beeinflussen. Er beschäftigt sich weitestgehend mit sich selbst, findet seine Befriedigungen nicht in Großtaten, sondern in den kleinen, alltäglichen Dingen des Lebens, die nur ihm selbst nutzen. Das Wohlergehen anderer Menschen in seinem Umfeld ist ihm daher zwar nicht gleichgültig, aber doch nicht wichtig genug, um sich wirklich damit zu befassen. Am Ende der Handlung scheitert der Anti-Held an seiner Herausforderung, an dem, was er sich ursprünglich vorgenommen und im Umfeld auch als Ziel vorgegeben hat. Eine Entwicklung der Figur ist also entweder negativer Art oder findet nicht statt. Der Anti-Held ist ein meist komplexer Charakter, den es in verschiedenen typologischen Varianten gibt. Die folgenden Analysen werden einige dieser Typen präsentieren.

3. Wissenschaftler als Anti-Helden – Protagonisten ausgewählter Universitätsromane

„Ours is the age of the anti-hero.“[15] Dass das Verlangen nach fehlerlosen Superhelden seine beste Zeit hinter sich hatte, erkannte Lamont schon Anfang der 60er Jahre. Diese Entwicklung hat sich bis in die heutige Zeit fortgesetzt. Mit dem Anspruch an Literatur, sich mit komplexeren Charakteren zu befassen, stieg gleichzeitig auch das Verlangen nach realitätsnäheren Figuren – Figuren, denen Fehler unterlaufen, die nicht ständig sich selbst aufopfernd das Gemeinwohl zu verteidigen und zu schützen suchen. Figuren eben, die einem auch im Alltag jederzeit begegnen könnten und die sich mit den realen Existenzsorgen und –nöten, mit denen sich Menschen auseinandersetzen, beschäftigen. Unsere Zeit ist die des Anti-Helden, der literarischen Figur, der längst nicht alles gelingt, was sie anfasst und die sogar immer häufiger auch scheitert – an sich selbst, eigenen Fehlern oder an mangelnder Integrationsfähigkeit.

Der Universitätscampus und sein Umfeld bergen für die Platzierung solcher Charaktere zahllose Möglichkeiten. Promotionen, Habilitationen, Examen, Zwischenprüfung, Klausuren – allein die Prüfungsanforderungen bieten reichlich Raum für die Figuren, sich ihren Versagens- und Existenzängsten hinzugeben. Dazu kommen die zwischenmenschlichen Beziehungen, die an einer Universität zwangsläufig entstehen, ob intensiv oder oberflächlich, geprägt durch Zuneigung oder Abneigung, Liebe oder Hass, Neid und Berechnung.

Dabei entsteht der Eindruck des Anti-Helden nicht allein durch dessen Verhalten. Vielmehr trägt die Abgrenzung seiner Figur vom übrigen Personal zur exponierten Stellung bei. Dies erreicht der Erzähler meist durch die Zuweisung besonderer Merkmale und Verhaltensweisen.

Der Nachweis des Anti-Helden als typische Figur für deutschsprachige Universitätsromane könnte diesen zu einer angemessenen Definition verhelfen, die bisher nur schwerlich zu formulieren ist. Denn neben dem Handlungsort gibt es wenig Einigkeit unter den Autoren, vor allem, was den Protagonisten betrifft, dessen universitäre Position von Roman zu Roman wechselt. In den vier behandelten Werken trifft der Leser passend dazu auf vier verschiedene Vertreter einer „Spezies“. Es wird interessant sein zu beobachten, ob und wie den verschiedenen Repräsentanten signifikante, leitmotivische Gemeinsamkeiten nachgewiesen werden können. Eins jedoch steht schon zu Beginn der Untersuchungen fest: Vom makellosen Helden alter Literaturtraditionen sind die behandelten Figuren weit entfernt und sich darüber selbst auch noch vollkommen im Klaren – genauso wie über ihre auf wackligen Beinen stehende Existenz, denn – so Dietrich – sie entwickeln „ein hochgradiges Bewußtsein für die Brüchigkeit ihrer Stellung.“[16]

3.1 Der Desillusionierte: Helmut Halm in Walsers Brandung

Das Fehlen einer deutschen ‚campus novel’ im angloamerikanischen Stil wird zumeist der Tatsache zugeschrieben, „daß die deutsche Universität strukturell und in ihrer bildungspolitischen Ausrichtung weder dem Modell des englischen noch dem des amerikanischen College Systems entsprach.“[17] Martin Walser greift mit Brandung zu einem Trick. Er schickt seinen Protagonisten Helmut Halm als Gastprofessor an eine kalifornische Universität und verarbeitet damit eigene Erfahrungen. Walser selbst bezeichnet den Roman als „Reaktion per Fiktion“[18]. Helmut Halm, der schon in Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd die Hauptfigur gibt, muss sich dabei erneut mit einer ihn überwältigenden Jugendlichkeit auseinandersetzen, die in sein eingefahrenes Leben so gar nicht hineinzupassen scheint.

„Halm stand vor dem Spiegel im Bad, hatte das Rasieren hinter sich, konnte aber nicht aufhören, sein Gesicht mit einer unauflösbaren Mischung aus Mißgunst und Genuß zu betrachten“ (1)[19]. Gleich zu Beginn vermittelt Walsers Roman-Erzähler dem Leser, mit wem er es zu tun bekommt. Denn das Betrachten seiner selbst mit der Mischung aus Missgunst und Genuss gibt Aufschluss über das Dilemma der Hauptfigur: Halm kann sich eigentlich nicht leiden, kann aber ebenso wenig aus seinem angestammten, tief verankertem Ich ausbrechen, sich davon lösen. Weil zu Beginn des Romans noch jede Möglichkeit des Ausbruchs aus seinem gewohnten wie verhassten Leben fehlt, zwingt Halm sich dazu, sich mit seinem Dasein zu arrangieren. Mit der Zeit ist dieser Zwang als Gewohnheit in Fleisch und Blut übergegangen, sodass Halm gar nicht bemerkt, wie sehr sein Leben ihm eigentlich missfällt. Erst durch das Angebot seines Bekannten Rainer Mersjohann, als Gastprofessor einige Monate in Kalifornien zu arbeiten, wird ihm das wieder bewusst:

Bevor Mersjohann hier angerufen hatte, hatte Halm nicht gewußt, wie nötig es war, daß er von hier wegkam. Er hatte es sich nicht eingestehen dürfen, weil er keine Aussicht gehabt hatte, wegzukommen. Jetzt, da es möglich war, war es nicht mehr wegzudenken. Wie eine Glut, die Zug bekommt, plötzlich hochbrennt, brannte es in ihm jetzt. Er mußte hier weg. (14/15)

Halms Begeisterung für das Abenteuer steigert sich bis zur Abreise stetig. Die Argumente, diese Chance wahrzunehmen, scheinen endlos. Der Neid und Ärger der Kollegen („Die Kollegen würde es beeindrucken, den Direktor ärgern. Vier Monate lang nicht ins Lehrerzimmer! Was würde der Vize kommentieren, wenn er nicht mehr den Eintritt Helmut Halms ins Lehrerzimmer kommentieren konnte?“; S. 10/11) und die geografische Distanz zur deutschen Heimat („Ja, die Welt ist klein, sagte Sabine. Aber Kalifornien ist trotzdem weit weg, dachte Halm.“; S. 16) – und damit seinem Alltag – machen Halm die Entscheidung am Ende einfach. Wie egoistisch und selbstgerecht er dabei vorgeht, erschließt sich ihm nicht: „Er mußte annehmen. Er nahm an, ohne daß er mit Sabine gesprochen hatte“ (11). Da kommt es Halm gerade Recht, dass sowohl seine Frau Sabine durch den Tod ihrer Mutter, als auch Tochter Lena nach der Trennung von ihrem Lebensgefährten dringend einen Ortswechsel nötig zu haben scheinen. In Wahrheit aber denkt er nur an sein eigenes Wohlergehen, an das Verlangen, den leidigen Alltag endlich hinter sich lassen zu können: „Er spürte, daß sein Bewußtseinsfilm stehen bleiben wollte. Keine neuen Daten, Forderungen, Pflichten. Am besten ein leeres Bild. Am besten gar nichts. Nichts als nach Kalifornien“ (25). Noch vor der Ankunft in den USA ist er derartig euphorisiert, dass ihm jegliche Fähigkeit zur kritischen, objektiven Betrachtung der neuen Umgebung abhanden kommt: „Als sie sich an den durchgesessenen Sitzen des Flugzeugs festschnallten, war Halm dem Singen nahe. Er konnte sich nicht erinnern, je eine solche Mag-kommen-was-wolle-Stimmung gehabt zu haben“ (26/27). Er kompensiert damit auch die mangelnde Begeisterung seiner Mitreisenden, Sabine und Lena, die nur fort wollen „aus dieser verwirkten deutschen Gegend! Das genügt doch, daß beide fort wollen“ (27).

Am Ende der Anreise geht Halms Euphorie sogar soweit, Rainer Mersjohann als Inkarnation des Engels Ariel[20] und Inbegriff der Schönheit zu betrachten. Geradezu lyrisch klingt Halms Lobpreisung, durch die er den Kollegen zudem von sich selbst abgrenzt:

Jetzt noch die Lektion Rainer Mersjohann. Daß ihr [Sabine und Lena] ihn auch gleich kennt. Die blonde Haartolle, die er damals mit Pomade zur Woge geklebt hatte, kann gesunken sein. Damals gleißte die Tolle wie Gold. Aber die Augen werden doch nicht weniger blau aus den goldenen Wimpern schimmern, oder? Und bewegen tut er sich wie eine Kerze, die nicht ausgehen will, klar! Und die Hände, fromm-schöne Spachteln, immer an schwingenhaften Armen fächerhaft bewegt. Ein großer Mensch in Samt. Aus Samt. Und nicht rundlich tendierend wie Halm, sondern schlank, eben groß. Kurzum: Ariel! (28)

Seine Familie fordert Halm ebenso auf, Mersjohann zu verehren, ihn wie einen Heiligen zu behandeln, der ihnen den Weg aus dem tristen Europa ins kalifornische Paradies gewiesen hat: „[…] Laßt ihn spüren, daß wir ihn für unseren Retter halten. Er ist es“ (28).

Halms scheinbar neu entdeckte Begeisterungsfähigkeit muss jedoch schnell der Unfähigkeit, sich alten Denkstrukturen zu entziehen, weichen. Hievt er den „Augenblick des Eintritts ins Gelobte Land“ (28) noch auf biblischen Status, so muss er doch schnell erkennen, dass sein „Retter“ gar nicht zur Stelle ist. Der ‚engelsgleiche’ Rainer Mersjohann verspätet sich schlichtweg und ist Helmut dann auch noch vollkommen fremd:

„Halm konnte nicht sagen: Du bist Rainer. Es war nicht Rainer. Deutlicher als er Rainer im Kopf hatte, konnte man jemanden nicht im Kopf haben. […] Halm blieb nichts anderes übrig, als so zu tun, als halte er den anderen für Rainer Mersjohann. Der wollte ja für den gehalten werden.“ (29)

„Halm mußte sich sofort umstellen oder wieder abreisen“ (31), macht sich bei Halm gleich wieder Verunsicherung breit, durch die sein „Ariel“ vorübergehend zum „Falstaff“[21] (31) wird. Erst Rainers Handfertigkeit („Die frommen Spachteln, die manierte Art, die Hände zu bewegen, selbst wenn er nach Material und Werkzeug griff – das war Rainer, das war Mersjohann.“; S. 32) lässt ihn wieder den alten Weggefährten erkennen. Die bekannten äußerlichen Merkmale geben Halm seine Zuversicht, seinen überschwänglichen Optimismus und nicht zuletzt seine Sicherheit erst einmal zurück. Im ‚neuen’ Rainer glaubt Halm die amerikanische Mentalität zu erkennen: „Halm merkte, daß er anfing, diesen neuen Rainer zu bewundern. Eine solche Sachlichkeit! Und so ruhig. So ausgeruht. So freundlich. Als der Europa verlassen hatte, war Hektik noch kein Modewort. Und hier war es offenbar auch keins“ (32).

Die neue Identität, die sich Halm durch seine Euphorie verschaffen wollte, erhält durch den veränderten Rainer Mersjohann einen hinweisgebenden Dämpfer. Die ersten Schritte im vermeintlichen Paradies und die damit verbundenen Erwartungen verlaufen enttäuschend, entlarven Halms Begeisterung als realitätsfremd. Desillusionieren lässt sich Halm zunächst aber nicht. Amerika bleibt für ihn ein Hort des Glücks, neuer Perspektiven und eines neuen Ichs. „Seinen Lebenskreis unverhältnismäßig abwertend […] sieht er in der Veränderung seiner äußeren Lebensumstände einen Weg aus der Unzufriedenheit mit sich und seinem Dasein“[22], folgert Heiko Hartmann aus dem „übertrieben euphorischen Aufbruch Halms ins ‚Paradies’“[23].Der Ankunft in Kalifornien folgt Halms Ankunft auf dem Campus der Washington University. Noch vor dem Betreten des Universitätsgeländes überrollt ihn dort – um beim Titelmotiv zu bleiben – eine zweite Welle: Nach der Welle seiner eigenen Euphorie ist es nun die Welle der Jugendlichkeit, die im Gegensatz zu seinem eigentlichen Charakter steht: „Er stand wie ein Hindernis in der Flut der zum Tor strömenden Studenten. Dann ließ er sich hineintreiben“ (35). Zunächst fühlt er sich überfordert, hat „das Gefühl, er werde gewirbelt, untergetaucht, fortgespült“ (37). Auch gegenüber den Studenten in seinem Konversationskurs kann er dies zunächst nicht ablegen („Selbst für einen instructor war er zu alt.“; S. 38). Die Angst, mit ihnen nicht angemessen reden zu können, treibt ihn in der ersten Stunde zu einem Vortrag anstelle einer Konversation. Die Lücke zwischen Jung und Alt wird für Halm erst durch Fran Webb ausgefüllt. Sie bescheinigt ihm zum einen sehr gute Konversationsfähigkeit, zum anderen fühlt sich Halm plötzlich mit der Jugend verbunden: „Zum Glück war er Jugend gewöhnt. […] Ihm machte das nichts mehr aus. Je heftiger die auftraten, desto weniger machte es ihm etwas aus“ (42). Fran Webb trägt dabei auch äußerlich ein Merkmal an sich, das sie mit Halm in Verbindung bringt. „Alte Turnschuhe hatte sie an, farblose“ (42), stellt Halm fest, als er sie am Grabstein lehnend beobachtet. Alt und farblos – so fühlt sich auch er eigentlich.Doch die Begegnung mit Fran spaltet ihn schließlich in seiner eigenen Person: „Gib zu, daß das ein toller Tag ist! Ich gebe es zu, sagte das angesprochene Ich zu dem, der es angesprochen hatte“ (42). Diesen inneren Konflikt Halms, der sich in der Folge stets zwischen einem „Ich-Halm“ und „Er-Halm“ vollzieht, umschreibt Frank Pilipp so:

Im Widerstreit zwischen Ich-Halm und Er-Halm äußert sich ein Diskurs zwischen dem rational argumentierenden Intellektuellen einerseits und dem verblendeten, emotionsgeladenen Schwärmer andererseits; das erkennend-vorwurfsvolle ICH gegen den erkannten-defensiven ER.“[24]

Die Auseinandersetzung mit sich selbst erscheint in aller Regelmäßigkeit immer dann, wenn Halm sich mit seinen Gefühlen für Fran konfrontiert sieht. Er kann und will sich nicht eingestehen, in die Studentin verliebt zu sein („Die lächerlichste Figur der Welt: ein Lehrer, der sich in seine Schülerin verliebt. Verlieben! Dieses Wort hatte bei ihm immer schon Ekelempfindungen ausgelöst.“; S. 103). Und doch versucht er alles, um ihrer Jugendlichkeit entsprechen zu können. Die Versuche, sich ihr zumindest gedanklich auf sportlichem Wege zu nähern, und sich damit auf eine Stufe mit Frans Freund, dem Star der Wasserballmannschaft, zu stellen, scheitern jedoch allesamt kläglich. Die schmerzhafte Begegnung mit der Pazifikbrandung ist dabei auch eine vorausdeutende Metapher „für die Fiktionswelt am Pazifik, in die Halm nicht eintauchen kann, weil er trotz aller Anpassungsbestrebungen ihren Anforderungen nicht gewachsen ist und sich mit dem Rollenspiel völlig überfordert“[25].

Gleiches widerfährt ihm beim Laufen. Der Versuch, Fran seine Überlegenheit ihr gegenüber zu beweisen, indem er „doppelt so lange laufen“ (223) will wie sie, endet für ihn im Desaster. Sein Heine-Vortrag, in dem er seine Gefühle für Fran auf „zugleich enthüllende und verhüllende […] Weise“[26] artikulieren wollte, findet nicht statt. „Das würde der wichtigste Tag dieses Aufenthaltes werden, der entscheidende“ (200), setzt Halm große Erwartungen in sein Referat. Allerdings überanstrengt sich Halm beim Laufen und bricht noch vor Beginn seiner Rede zusammen. Der entscheidende Tag seines Amerika-Abenteuers endet mit einer Entscheidung gegen ihn, gegen seinen Versuch, in Kalifornien zu einem anderen zu werden. Halm selbst erkennt das freilich nicht. Zwar will er nach seinem Kollaps dem Sport entsagen, doch die Zustimmung Rainers, zum „alten Schlendrian“ (231) zurückkehren zu wollen, provoziert Halm erneut, sich dem fortschreitenden Alter vehement zu widersetzen. Sogar seine wissenschaftlichen Ziele will er zugunsten sportlicher Betätigung opfern: „Jetzt wird erst recht trainiert! Er wolle es jetzt wissen, wer Herr sei in ihm. Jetzt habe er Blut geleckt. Sein Alterswerk heißt Sport“ (232). Wieder einmal offenbart sich an dieser Stelle Halms Unfähigkeit, sich einer Rolle, einem Lebensstil zu fügen. Getrieben vom Einfluss seiner Mitmenschen ändert er seine Ansichten binnen Sekunden, was wiederum auf seine ambivalente Persönlichkeit, auf Ich- und Er-Halm, zurückzuführen ist. Der Unterschied zwischen beiden erschließt sich an einer These Halms, Er-Halms: „Das ist wahrscheinlich das Schwerste, sich so glücklich zu fühlen, wie man ist. Wie man sein müßte“ (174). Ich-Halm kapituliert vor diesem Anspruch, lässt sich stattdessen von der Leichtigkeit und Jugendlichkeit Kaliforniens mitreißen. Unterdessen erkennt Er-Halm, dass er „sich Veränderung nicht mehr leisten“ (174) kann.

Was in solchen Momenten klar voneinander getrennt erscheint, wird nur durch Halms Gefühle für Fran Webb miteinander konfrontiert. Die meist kurzen Erkenntnisprozesse Er-Halms enden dann abrupt. Fran reißt Halm immer wieder mit in seine konstruierte Parallelidentität. Schließlich gesteht er sich trotz vorheriger „Ekelempfindungen“ sogar ein, „daß er jenes Mädchen Fran wahrscheinlich, ja, wie sollte er das sagen, daß er sie wohl doch liebte“ (215). Das Eingeständnis bringt jedoch auch die Distanz zwischen den beiden zum Ausdruck, da Fran als „jenes Mädchen“, als eine Art entfernte, flüchtige Bekannte dargestellt wird. Betrachtet man die Fakten, trifft dies auch tatsächlich zu. Fran sucht Halms Rat nur in wissenschaftlichen Zusammenhängen. Die persönliche Nähe, die sich Halm für sich selbst durch die Projektion auf literarische Inhalte aufbaut, ist für sie derweil nicht ersichtlich. Die Schmerzen, denen sich Halm durch diese Einseitigkeit ausgesetzt sieht, ähneln denen, die ihm die Brandung zugefügt hat. Er bezeichnet Fran deshalb gar als seine „Erste Folterdame“ (235) und „Herrin“ (244), die ihn „kreuz und quer zerbreche, bis er wieder zurückbleibe als ein elendes, atemloses, fast bewusstloses Bruchstück“ (236) und schlussfolgert daher: „Sie ist die Fortsetzung der Brandung“ (236).

Ihren Schlussakkord findet diese Brandung auf der Feier in Frans Haus. Halm legt dort nach zwei Flaschen Wein seine Zurückhaltung ab und steigert sich in einen Tanz mit seiner Studentin so sehr hinein, dass sich beide schließlich verletzen. Fran erleidet einen Knöchelbruch und muss nun Krücken benutzen, die ihr schließlich zum Verhängnis werden. Einen Autounfall mit Freund Jeff überlebt sie deshalb nicht, weil sie ihre Krücken am Ausstieg hindern und sie mit dem Wagen – natürlich – in die Pazifikbrandung stürzt. Halm erfährt davon erst, nachdem er wieder im heimischen Sillenbuch ist und verschweigt seiner Frau Sabine, dass er selbst für die Krücken des Mädchens verantwortlich war, gesteht sich aber eine mögliche Mitschuld ein: „Sie hatte Krücken neben sich von einem Unfall, den sie kurz vorher gehabt hat. Die Krücken können verhindert haben, daß sie hinausgeschleudert wurde“ (311). Schon zuvor hat Halm in seiner verzweifelten Liebe zu Fran Mordfantasien gehegt, diese aber fast beiläufig verworfen: „Ich bringe dich schon noch um, dachte er“ (236) – und behält damit auf diese bizarre Weise Recht, ist aber wie fast immer auch machtlos.

Der Selbstmord Rainer Mersjohanns zuvor führt zu einem ähnlichen Eingeständnis Halms, der auch in diesem Kontext durchaus nicht unbeteiligt erscheint und das selbst ebenfalls so sieht:

[…] weil du nicht aufgepasst hast. Du hast ihn dir wegschnappen lassen. Du hast getan, als gebe es zehn Rainers. Jetzt gibt es keinen mehr. Hättest du ihn angerufen. Du hast gewußt, daß er keinen Vortrag hat und daß er das nicht aushält. Du hättest dir alles denken und dann das, was passieren wollte, verhindern können. Du hättest es verhindern können. (306)

Mersjohann bringt sich in Houston um, weil er für einen Vortrag kein Manuskript zustande bekommt. Seine Hilferufe darüber („Du hast wenigstens ein Manuskript zustande gebracht, sagte Rainer […].“; S. 232) und die von Sekretärin Carol Elrod („Das sehe sehr nach Katastrophe aus. Sie kenne Rainer. Der fliege nicht dahin und trete ohne Manuskript auf.“; S. 274) registriert Halm nicht oder nimmt sie nicht allzu ernst. Auch den Carol versprochenen Anruf unternimmt er nicht. Auf die Nachricht von Mersjohanns Selbstmord verspürt er zudem „jene Art Lachreiz, die er bei Beerdigungen spürt“ (282). Darin zeigt sich die mangelnde Fähigkeit Halms zur menschlichen Anteilnahme. Vielmehr fürchtet er, durch die allgemeine Trauer seines Umfelds eingeengt werden zu können, „was seine persönliche Freiheit angeht und so weiter“ (282).

Halms eigene Verletzung wird von Carol nur lapidar ironisch kommentiert: „Sie versuchen, sich anzupassen, sagte sie, als sie Halms Kopfverband sah“ (297). Sicherlich nimmt sie damit nicht nur Bezug auf Halms momentane Verfassung, sondern nutzt diesen Kommentar zu einem beinahe vernichtenden Resumée von Halms Aufenthalt. Immerhin geschieht der Tanzunfall kurz vor dessen Abreise nach Deutschland. Ihm nach fast vier Monaten also nur den Versuch der Anpassung zu attestieren, ist ein weiteres Indiz für Halms Scheitern bei dem Bemühen, sich eine neue Identität zuzulegen.

Überhaupt ist es Carol, die stets versucht, Halm auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Seine übertriebene Euphorie empfindet sie als künstlich: „Seine fade Begeisterung sei etwas für die erste Woche. Wer in der dritten Woche so wenig ausspreche von dem, was er denke, wirke geradezu bedrohlich“ (150). Das bezieht sich vor allem auf Halms generelle Begeisterung für die literarischen Beiträge der ortsansässigen Professoren. „Von Helmut Halm gelesen zu werden, das ist die Sehnsucht der Saison“ (150), urteilt Carol sarkastisch und fordert Halm auf: „Lesen Sie, schwärmen Sie, beuten Sie Ihr Talent zur Unwahrheit aus, mein Herr“ (150). Wie sehr eine solche Euphorie belästigend wirken kann, stellt Halm erst fest, als er selbst durch die Begeisterung seiner Frau über Rainer in Mitleidenschaft gezogen wird:

Ein Schwärmender kann einem auf die Nerven gehen. Dabei war Sabines Begeisterung unanzweifelbar. Carol glaubte Halm ja seine Begeisterungen gar nicht. Das muß sehr ärgerlich sein, sich eine Begeisterung anhören zu müssen, die nicht einmal dem ernst zu sein scheint, der sie vorträgt. Sabine redete über Rainer wie über eine bessere Welt, die nur noch in Rainer erhalten ist, die mit ihm zugrunde gerichtet wird von einer wertlosen, rücksichtslosen Gegenwelt. Sabine selber zählte sich offenbar zu Rainers Welt, Halm aber zur Gegenwelt.“ (174)

Auf diese Weise wird Halm auch einmal mehr von den anderen handelnden Figuren abgegrenzt. Wie wenig Halm in die Gesellschaft der kalifornischen Universität passt, führen ihm nicht nur sein Zusammenbruch vor dem wohlmöglich etablierenden Vortrag und der „publish or perish“-Gedanke (76) vor Augen. Auch Carol Elrods Schwärmereien über Halms Vorgänger T.H. Meßmer rücken ihn im Vergleich zu Meßmer in ein schlechteres Licht. Auf Nachfrage Halms erfährt der Leser über jenen: „Autor, kommt her, wo Halm herkommt, war hier vor zwei Jahren, tritt, wo er hinkommt, nicht ganz so sachte auf wie Herr Halm“ (121), und später: „Anders als Halm habe Meßmer seinen Aufenthalt von Anfang an zur Erkundung genutzt“ (170). Wahrscheinlich aufgrund der Schwärmereien Carols gibt sich Halm ausgerechnet und ausschließlich gegenüber dem Meßmers Buch reserviert und liest es nicht. Meßmer selbst, so weiß Carol zu berichten, habe dies nur mit dem Buch ihres Mannes gemacht, das er „nach 20 Seiten für immer zugeklappt“ (121) habe, was sie verstehe: „Wenn sie nicht mit Kirk verheiratet wäre, hätte sie das Buch nicht zu Ende gelesen“ (121). Halm dagegen liest Kirk Elrods „Inspiration Inn[27] mit Begeisterung. Die darin genannten Motive können zudem mit Halms Erlebnissen in Verbindung gebracht werden. Denn dort lebt der Unternehmer Frederick Stabler mit der 33 Jahre jüngeren Eileen zusammen. 33 Jahre ist auch der Altersunterschied zwischen Halm und Fran. Auch die Orte, an denen sich Halm bewegt, gleichen denen der Binnenerzählung[28].

Was Halm für den realen Leser nicht zu leisten vermag, schafft Stabler für den fiktiven Leser Halm: Er wird zur Identifikationsfigur. Einen weiteren „Leidensgenossen“[29] erkennt Halm im Autor der Geschichte, Kirk Elrod, „der der einzige ist, der keine Macht ausübt“ (151). Auch dessen Frau ist deutlich jünger, was Halm wiederum zu einem Vergleich mit Fran und ihm selbst veranlasst: „Der ist bestimmt fünfundsiebzig; sie, knapp vierzig. Dreißig Jahre … Wie bei ihm und dem Mädchen. Wahrscheinlich ist die zweiundzwanzig“ (104). In dem scheinbar ungleichen Paar Carol und Kirk sieht Halm deshalb die Möglichkeit, sein eigenes Dilemma auf die beiden zu projizieren: „Dreißig Jahre. Carol und Kirk, zu denen gehört er. Bei denen will er sich einreihen. Denen will er, solang er hier ist, alles so glimpflich machen wie möglich. Die furchtbare Last dieses Unterschieds will er denen tragen helfen“ (104).

Halms Affinität zur Ausweglosigkeit, seine „Liebesbeziehung zur Katastrophe“[30], zu Situationen, die ihn schlichtweg überfordern, wird in diesem Kontext einmal mehr deutlich. „Das Dilemma wollte er. Die Katastrophe“ (123), wird er vom Erzähler des Romans entlarvt. Ausgelöst wird dies durch sein Streben nach einer anderen Identität, die das Gegenbild zu seinem schwäbischen Dasein darstellt. Halm steuert in Kalifornien mit offenem Visier von Fehler zu Fehler, stößt beinahe jeden wenigstens einmal vor den Kopf. Immerhin entzieht sich ihm dieser Prozess nicht, allerdings bemerkt er ihn erst am Ende seines Aufenthalts. „Er hatte hier wirklich alles, was falsch zu machen war, falsch gemacht“ (301), muss er sich kurz vor seiner Abreise am Flughafen eingestehen. Zurück in Deutschland wird ihm dann bewusst, woran er gescheitert ist. Die in Kalifornien zur Schau gestellte Halm-Identität konnte in der oberflächlich offenherzigen Campus-Gesellschaft der Washington University gar nicht anders, als sich zu verstellen. Sein Minderwertigkeitskomplex gegenüber seinem Umfeld offenbart sich in Halms Erkenntnis:

Sobald er allein war, war der Zwang, gerechtfertigt sein zu müssen, weniger spürbar. Sobald er allein war, konnte er sein, wie er war. Auch wenn er unmöglich war. Allein ist es gleichgültig, wenn du unmöglich bist. (304)

Der Versuchung, diesen Komplex in Amerika abzulegen, ist Halm erlegen und daran gescheitert. Er muss erkennen, dass eine neue Umgebung und der Ausbruch aus der „häuslichen Misere und dem schulischen Einerlei“[31] nicht automatisch einen anderen Menschen aus ihm machen.

„Den allzeit befangenen Halm jedoch lässt die öffentliche Kenntnis seiner Person verzweifeln. Er bemitleidet sich, nimmt ein tarnendes Schein-Ich an, duckt sich unter dem, was er für alltägliche Übergriffe auf seine Person hält. Erst wenn die Selbsttäuschung einmal erkannt wird, stellt sich Linderung ein.“[32]

Wie Pilipp auch im Vergleich zu Halms ähnlichem Auftreten in Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd analysiert, stellt sich diese Erkenntnis jedoch erst „nach dem Sturz der jeweiligen Kontrastfigur“[33] – Klaus Buch in Ein fliehendes Pferd, Fran Webb in Brandung – ein. „Das dadurch gewonnene Selbstvertrauen bedingt ebenso ein neues Identitätsgefühl wie auch einen gewissen Grad an Unabhängigkeit“[34], so Pilipp. Das neue Identitätsgefühl, das er Halm zuschreibt, ist in Brandung allerdings nicht mehr als die Rückkehr zur alten Identität und die Abkehr von seinem kalifornischen Schein-Ich.

„Ist Halm nur ein Verlierer? Ist er in Amerika nur gescheitert?“[35], fragt Hartmann vieldeutig. Sicherlich hat Halm „die Rivalen und die Studentin“[36] überlebt, doch diese Überlebensfähigkeit seines gespaltenen Ichs als Qualität zu bewerten, ist unangebracht. Immerhin ist Halm nicht ganz unbeteiligt am Ableben von Rainer Mersjohann und Fran Webb. Seine unbeabsichtigte Involvierung zeigt zudem seine eigentliche Machtlosigkeit dem eigenen Leben und der eigenen Identität gegenüber. Das Scheitern an seiner Alternativrolle ist auch ein Scheitern an sich selbst. Denn Halms verzweifelte Versuche, sich durch überschwängliche Euphorie in die neue Umgebung zu integrieren, beweisen, dass er in seiner angestammten, ursprünglichen Sillenbucher Identität keinerlei Anpassungsfähigkeit besitzt. Hartmann sieht in Halms Schwächen „ein Stück Menschlichkeit“[37], was sicherlich nicht abwegig erscheint. Dennoch geht es in Brandung weniger um die Entlarvung der „Krankheiten der Gesellschaft als seine eigenen Defizite“[38], als vielmehr um Halms erfolglosen Selbstfindungstrip in mehreren ineinander verschachtelten Akten. Ulrich Greiner beschreibt die vielschichtige Handlung um den Protagonisten Helmut Halm so:

Martin Walsers […] Roman ist eine Liebesgeschichte. Aber eigentlich handelt sie vom Altwerden und vom Tod. Brandung ist der Roman eines Aufbruchs in die Fremde, wo man plötzlich ein Anderer sein, sich ungeahnten schönen Möglichkeiten öffnen könnte. Aber eigentlich handelt er davon, daß Weggehen nicht möglich, daß Aufbruch ein Irrtum ist.[39]

Wie im Roman selbst, werden die optimistischen, die positiven Intentionen Halms auch in Greiners Beschreibung konterkariert. Altwerden und Tod übertreffen die Liebe, der Aufbruch als Irrtum widerlegt den Aufbruch als Möglichkeit. Halm lernt durch seinen vergeblichen Aufbruch etwas über sich selbst, was er eigentlich längst wusste: Sein „Erkannt- und Durchschautsein in Schule oder Nachbarschaft“ (Ein fliehendes Pferd, S. 12) ist für ihn notwendig, um sich nicht ständig rechtfertigen zu müssen. Weder am Bodensee gegenüber Klaus Buch, noch in Kalifornien ist ihm das möglich, da er in beiden Fällen einem Umfeld begegnet, das ihm die „Wahrheit nicht als Mangel an Haben, sondern als Entzug an Sein“[40] vor Augen führt. Das Gefühl, vieles zu verpassen („[…] also eine Gelegenheit wie diese komme kein zweites Mal.“; S. 9), entzieht Halm die Grundlage für die Rechtfertigung seines bisherigen Lebensstils. Gerade in Brandung resultiert daraus ein überstürzter Aufbruch, dessen Flut neuer Eindrücke Halm nicht gewachsen ist. Die Brandung seiner Schein-Identität spült ihn gewissermaßen zurück in sein wahres Ich.

[...]


[1] Weiss, W. (1995): S. 447

[2] Löb, L. (1989): S. 658

[3] Fickert, K. (1988): S. 96

[4] Lütkehaus, L. (1995): S. 19

[5] Apel, F. (1995): S. 42

[6] Lütkehaus, L. (1995): S. 19

[7] Weiss, W. (1995): S. 447

[8] Zeller, M. (2005): S. 1

[9] „Herr Neumann und ich“ (siehe Anhang)

[10] Dietrich, R. (2003): S.357

[11] Lamont, R.C. (1976): S. 3

[12] Ebd., S. 13

[13] Ebd., S. 22

[14] O’Faolain, S. (1957): S. xxix

[15] Lamont, R.C. (1976): S. 22

[16] Dietrich, R. (2003) : S. 390

[17] Mews, S. (1987): S. 221

[18] Walser, M. (1984): S. 434

[19] Die Angaben beziehen sich auf die Ausgabe von Brandung als Suhrkamp-Taschenbuch aus dem Jahr 1987. Weiterhin wird so verfahren, dass die Seitenangaben zu dem im jeweiligen Kapitel untersuchten Roman in Klammern stehen. Alle anderen Seitenangaben sind in den Fußnoten zu finden.

[20] Ariel: hebräisch „Feuerherd Gottes” oder „Löwe Gottes”. Der als „Licht Gottes” aufgefasste Ariel wird bei Shakespeare (Der Sturm) und Goethe (Faust) als Luftgeist literarische Figur.

[21] Die Figur des Sir John Falstaff wurde erstmalig in den Stücken Heinrich IV. und Die lustigen Weiber von Windsor von William Shakespeare erwähnt. Es handelt sich um einen trink- und raufsüchtigen Soldaten, der in Die lustigen Weiber von Windsor als eher zur Selbstüberschätzung neigend und in Heinrich IV. als eher melancholisch dargestellt wird. Der Name Falstaff wird oft für einen dicken Angeber und Genießer verwendet.

[22] Hartmann, H. (1992): S. 150

[23] Ebd.

[24] Pilipp, F. (1996): S. 341

[25] Hartmann, H. (1992): S. 156

[26] Mews, S. (1987): S. 230

[27] Erscheint in Walsers Roman als Binnenerzählung, S. 106-116.

[28] „Inspiration Point“ (133), „Mill Valley“ (156), „Pelican Inn“ (224), „Felsenkammern“ (224), „Eukalyptuswälder“ (214)

[29] Hartmann, H. (1992): S. 159

[30] Kruse, J. (1995): S. 151

[31] Mews, S. (1987): S. 228

[32] Pilipp, F. (1995): S. 65

[33] Ebd.

[34] Ebd.

[35] Hartmann, H. (1992): S. 163

[36] Ebd.

[37] Hartmann, H. (1992): S. 346

[38] Ebd.

[39] Greiner, U. (1985)

[40] Pilipp, F. (1996): S. 345

Ende der Leseprobe aus 81 Seiten

Details

Titel
Der Wissenschaftler als Anti-Held? Untersuchungen zum deutschsprachigen Universitätsroman im 20. Jahrhundert
Hochschule
Bergische Universität Wuppertal
Note
1,7
Autor
Jahr
2006
Seiten
81
Katalognummer
V89098
ISBN (eBook)
9783638030489
ISBN (Buch)
9783638928304
Dateigröße
1865 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wissenschaftler, Anti-Held, Untersuchungen, Universitätsroman, Jahrhundert
Arbeit zitieren
Magister Artium (M.A.) Marcel Plexnies (Autor:in), 2006, Der Wissenschaftler als Anti-Held? Untersuchungen zum deutschsprachigen Universitätsroman im 20. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89098

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