Sozialer Raum, Soziales Kapital und Soziale Arbeit

Zum Nutzen der Theorie von Pierre Bourdieu für die Soziale Arbeit


Diplomarbeit, 2006

95 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Entwicklungslinien der sozialräumlichen Sozialen Arbeit
2.1 Anfänge der Sozialen Arbeit und Beginn ihrer Differenzie- rung
2.1.1 Das Rauhe Haus
2.1.2 Das Elberfelder System zur strukturellen Armutsbe- kämpfung
2.1.3 Die Straßburger Modell
2.2 Gemeinwesenarbeit als sozialräumliche Soziale Arbeit . .
2.2.1 Grundlegung der Gemeinwesenarbeit
2.2.2 Gemeinwesenarbeit in der BRD nach 1945
2.2.3 Aktuelle Tendenzen

3 Die Konstruktion des Sozialraums bei Pierre Bourdieu
3.1 Absoluter und Behälter-Raum
3.2 Sozialer Raum, Kapitalstruktur und Habitus
3.2.1 Ökonomisches Kapital
3.2.2 Soziales Kapital
3.2.3 Kulturelles Kapital
3.2.4 Sozialer Raum und Klasse
3.2.5 Habitus und Feld

4 Eine Sozialraumanalyse mit Hilfe der Methodik Bourdieus
4.1 Fragestellung und Untersuchungsmethoden der agis For- schungsgruppe
4.2 Ausgewählte Probleme der Integration und der Identitäts- bildung
4.3 Ausgewählte Probleme der Machtverteilung

5 Sozialräumliche Soziale Arbeit mit Bourdieu gedacht
5.1 Die Ebene der Gemeinwesenarbeit
5.1.1 Erforschung der Macht- und Kapitalverhältnisse .
5.1.2 Aktivierung
5.1.3 Beteiligung
5.1.4 Lernen
5.1.5 Aspekte des Community Organizing
5.2 Die gesellschaftspolitische Ebene
5.3 Die professionstheoretische Ebene

6 Grenzen für die Soziale Arbeit
6.1 Das doppelte Mandat
6.2 Raum- und Kapitalgrenzen
6.3 Probleme der Ausstattung

7 Zusammenfassung und Ausblick für die Soziale Arbeit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

3.1 Der Soziale Raum nach Bourdieu

3.2 Klasse und Sozialer Raum nach Bourdieu

4.1 Sozialer Raum eines Stadtteils

5.1 Kontexte des Community Organizing

1 Einleitung

Die Analyse sozialer Räume spielt in der Diskussion um Stadterneuerun- gen, Jugendhilfeplanungen oder Neuorganisation sozialer Dienste eine immer größere Rolle. „Rettet Gemeinwesenarbeit den sozialen Staat?“ hiess es 2004 auf der Titelseite der ersten Ausgabe von „Forum Sozial“, der Mitgliederzeitschrift des Berufsverbandes für Soziale Arbeit (DBSH). Schwerpunkt der Ausgabe war die Auseinandersetzung mit dem Förder- programm „Soziale Stadt“, welches 1999 durch die Bundesregierung ins Leben gerufen wurde, um der zunehmenden sozialen und räumlichen Spaltung in den Städten entgegen zu wirken. Ziele des Programms sind Stabilisierung und Verbesserung der physischen Wohn- und Lebensbedin- gungen sowie der wirtschaftlichen Basis in den Stadtteilen, die Erhöhung der Lebenschancen durch Vermittlung von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen, und eine Stärkung des Gebietsimage, der Stadtteilöffentlichkeit und damit der Identifikation mit den Quartieren (vgl. BMVBS-Programm Soziale Stadt 2006). Dieses Programm greift dabei, so Wolfgang Hinte, inflationär und unreflektiert auf Methoden bzw. Begriffe der Gemeinwe- senarbeit zurück (vgl. Hinte 2002).

Die Gemeinwesenarbeit (GWA) gilt neben der Sozialen Einzelfallhilfe und der Sozialen Gruppenarbeit als eine der drei sogenannten klassischen Methoden der Sozialen Arbeit. Es ist eine sozialräumliche Strategie, die sich ganzheitlich auf den Stadtteil und nicht primär pädagogisch auf ein- zelne Individuen richtet. Sie arbeitet mit Ressourcen des Stadtteils und seinen Bewohnern, um dort Defizite aufzuheben. Sie verändert damit die Lebensverhältnisse und Handlungsspielräume der Bewohnerinnen (Oelschlägel 2004: S.11). Doch so neu viele Ansätze unter dem Titel der GWA klingen, die Thematisierung der räumlichen Dimension Sozialer Arbeit ist so alt wie die professionelle Soziale Arbeit selber. Allerdings hat sich die Art und Weise der Thematisierung gewandelt. Die Erfahrun- gen aus den Folgen der Ansätze, welche entweder eine pädagogische Subjektivierung oder aber eine Konzentrierung auf die Möglichkeiten von bestimmten Netzwerken (z.B. jugendliche Peers) in den Vordergrund einer sozialräumlichen Theorie der Sozialen Arbeit stellte, brachte Mas- sey zu der Forderung nach einer sozialraumsensiblen Sozialen Arbeit, welche permanent das Gefüge der Macht innerhalb der Konstruktion von Raumbetroffenen zu dechiffrieren und zu problematisieren versucht (vgl. Massey 2003). Neben der Subjektivierung der Sozialen Arbeit steht der Einfluß ökonomischer Faktoren und Begriffe auf die Soziale Arbeit.

Dadurch scheint das Pendel des doppelten Mandats der Sozialen Arbeit zwischen Anwalt und Kontrolle des Klienten immer mehr nur in eine Richtung zu schlagen. Der Profession Soziale Arbeit scheint es schwer zu fallen, sich im gesellschaftlichen Raum zu positionieren. Ihr wird der Platz zugewiesen.

Diese Überlegungen sind Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Es soll dabei die Methodologie Bourdieus für die sozialräumliche Diskussion in der Sozialen Arbeit im Sinne einer sozialraumsensiblen Sozialen Arbeit herangezogen werden, aber auch die eigene Verortung ermöglicht wer- den. Bourdieus Theorie setzt an der Untersuchung sozialer Ungleichheit und deren Reproduktion an (vgl. Rehbein 2006). Gerade dieser Erkennt- nisgegenstand gibt Hinweise auf die Möglichkeit, seine Theorie für die Soziale Arbeit nutzbar zu machen, da an der Verringerung der sozialen Ungleichheiten die Legitimation Sozialer Arbeit beginnt. Um sich diesem Erkenntnisgegenstand zu nähern, entwickelte Bourdieu ein Konzept des sozialen Raumes, mit welchem sich auf der einen Seite konkrete Räume untersuchen lassen, aber auch eine Verortung innerhalb des abstrakten Raums der Gesellschaft (der gesellschaftlichen Position) vorgenommen wird. Der vom Akteur eingenommene Ort und sein Platz im angeeig- neten physischen Raum ist ein Indikator für seine Stellung im sozialen Raum (Bourdieu 1991: S.26). Die Fähigkeit im angeeigneten Raum zu dominieren, und zwar durch (materielle oder symbolische) Aneignung der in ihm verteilten (öffentlichen oder privaten) seltenen Güter, hängt ab vom jeweiligen Kapital, so Bourdieu (Bourdieu 1991: S.27). Mit Hilfe dieser zwei Ebenen kann direkt an die sozialarbeiterische Fragestellung angeknüpft werden. Zum einen werden fehlende Ressourcen, oder in der Sprache Bourdieus mangelndes Kapital, aufgespürt und Möglichkeiten entwickelt, diese zu beheben (zu erhöhen); und zwar ganz konkret auf den zu untersuchenden Raum bezogen. Im Sinne eines Community Orga- nizing (CO) hieße das, „Welche Menschen können uns das geben, was wir brauchen“ (Rothschuh 2004: S.31). Der CO Ansatz basiert auf der Frage nach der Machtverteilung innerhalb eines Stadtteils und der Aktivierung dieser Machtquellen für die Veränderung der Stadtteile bzw. die Verrin- gerung von Ungleichheiten (vgl. Häcker 2003). Für die Soziale Arbeit bedeutet dies, den Klienten Einsicht in die sozialen Zusammenhänge der Gesellschaft zu vermitteln, aber gleichzeitig auch die Möglichkeiten aufzu- zeigen, wie diese Zusammenhänge durch die Mobilisierung interner und externer Kräfte überwunden werden können, wenn sie die persönliche Entfaltung und Entwicklung eines Einzelnen behindern. Auf der zweiten Ebene kann aber auch im Sinne einer kritischen Sozialen Arbeit das lokale Problem in den gesellschaftlichen Diskurs zurückgegeben werden. Da jeder soziale Raum nicht nur Ausdruck der individuellen Definitionen so- zialer Beziehungen ist, sondern der herrschenden sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse, bedeutet die Analyse solcher konkreten So- zialräume auch immer eine Gesellschaftsanalyse (vgl. Brandt 1996). Eine Gesellschaftsanalyse, die die Widersprüche zwischen gesellschaftlichem Anspruch und der gesellschaftlichen Realität aufzeigt. Kritische Soziale Arbeit meint in diesem Zusammenhang, ihren Klienten zu helfen, ihre rechtlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten an der Mitgestaltung der Gesellschaft einzufordern. Pfaffenberger nennt dieses die Hilfe der Sozialen Arbeit bei der Verwirklichung demokratischer Prinzipien und der Menschenrechte (Pfaffenberger/Friedländer 1966: S.11). Diese Arbeit versucht die Methodologie Bourdieus in die sozialräumliche Diskussion einzubringen und nähert sich diesem Ziel in drei Schritten. Der erste Schritt ist die Darstellung der Thematisisierungslinien sozialräumli- cher Vorstellungen Sozialer Arbeit, insbesondere der Gemeinwesenarbeit. Dabei geht es auf der einen Seite darum, Ziele und Methoden gemeinwe- senorientierter Sozialer Arbeit aufzuzeigen, aber auch andererseits die Verlagerung der Sichtweise auf soziale Räume deutlich zu machen. Ein- zelne Projekte aus der Historie der Sozialen Arbeit verdeutlichen, wie die konkrete Arbeit im Stadtteil aussah, aber auch welche ideologischen Überlegungen eine Rolle spielten. Es ist insofern notwendig, diese Linie aufzuzeigen, da die Herausbildung der Sozialen Arbeit in Deutschland durchaus andere Wege als z.B. in den USA genommen hat, und sich dort das Community Organizing als eine Form der sozialräumlichen sozialen Arbeit sehr viel spezialisierter zeigt.

Der zweite Schritt bildet die Auseinandersetzung um Raumvorstellungen in der Sozialforschung. Analog der Historie der Sozialen Arbeit werden kurz die Entwicklungslinien der Raumvorstellungen in der Sozialfor- schung dargestellt. Um die Dynamik innerhalb des Sozialraums darzu- stellen sowie die Möglichkeit der Verbindung zur Sozialen Arbeit aufzu- zeigen, steht der Ansatz von Pierre Bourdieu dabei im Mittelpunkt. Pierre Bourdieu definiert den Sozialraum durch die Verteilung bestimmter Kapi- talsorten in Abhängigkeit zu den darin liegenden Feldern. Diese Faktoren werden im Einzelnen erläutert.

Ausgehend von der abstrakten Darstellung des Sozialraums bei Bour- dieu geht es in einem dritten Schritt darum, zu zeigen, wie fruchtbar die Theorie für die sozialräumliche Diskussion innerhalb der Sozialen Arbeit sein kann. Anhand der Untersuchungsergebnisse der hannoverschen For- schungsgruppe agis, die unter Bezugnahme der Methode Bourdieus im Auftrag des Kommunalen Sozialdienstes der Stadt Hannover mehrere Stadtteile untersucht hat, soll die Praxisrelevanz gezeigt werden.

Anschließend erfolgt eine Auseinandersetzung dieser Umsetzung mit aktuellen Konzepten sozialräumlicher Sozialarbeit wie dem Community Organizing (CO) und den traditionellen Modellen der Gemeinwesenarbeit. Die einzelnen Aspekte von Gemeinwesenarbeit sollen mit den dargestell- ten Ergebnissen sowie der theoretischen Grundlage Bourdieus in Bezie- hung gesetzt werden. Dies erfolgt auf drei Ebenen, nämlich hinsichtlich der konkreten Ebene der Gemeinwesenarbeit, der gesellschaftspolitischen und der professionstheoretischen Ebene. Zum Schluß werden die Grenzen der Möglichkeit einer solchen Übertra- gung sowie einige abschließende Überlegungen dargestellt. In dieser Arbeit verwende ich, vor allem bei der Nennung von Berufsbe- zeichnungen, die nach der Grammatik männliche Form in einem neutralen Sinne. Ich spreche immer Männer und Frauen an, verzichte jedoch aus Gründen der Lesbarkeit auf „-innen“ oder „/innen“.

2 Entwicklungslinien der sozialräumlichen Sozialen Arbeit

2.1 Anfänge der Sozialen Arbeit und Beginn ihrer Differenzierung

Die Entwicklung der Sozialen Arbeit als Profession ist eng mit der Indus- trialisierung und deren Folgen verbunden.1 Dabei spielen vor allem drei Elemente eine wesentliche Rolle. Zum einen der staatliche Paradigmen- wechsel im Umgang mit Armut. Er zeigt sich im Wandel der Armenhilfe von der einzelnen caritativen Leistung hin zu einer staatlichen Aufga- be. Diese Umstrukturierung wird gerade am „Elberfelder“ und „Straß- burger“ System deutlich. Die Teilung der sozialen Arbeit in Fürsorge (als konkrete, individuelle Hilfe) und Sozialpolitik (als politische Arbeit zur Entkräftigung der Negativfolgen des Kapitalismus für einzelne Be- völkerungsschichten), welche gerade von den konservativ-restaurativen Kräften gefördert wird, um revolutionären Strömungen zu begegnen, hat hier ihren Ausgangspunkt. Zum zweiten ist es die Frauenbewegung mit ihrem „Prinzip der Mütterlichkeit“, die die wesentlichsten Impulse zur Ausbildung der Sozialarbeit liefert (Sachße 1986: S.115). Der dritte Impuls wurde durch die Folgen des Ersten Weltkrieges gegeben. Dieser Krieg, der zeitlich natürlich weit hinter der Industrialisierung liegt, ist vor allem eine Folge der nationalistischen Gedanken und hängt insofern auch mit den Umbrüchen der Industrialisierung zusammen. Durch diesen Krieg entwickelte sich die Fürsorge der einzelnen Gemeinden zu einer gesamtstaatlichen Wohlfahrtspflege, welche die Etablierung der Sozialar- beit als Beruf zur Folge hatte. Diese Entwicklung soll im Folgenden im Hinblick auf die sozialräumliche Orientierung dargestellt werden. Dar- gestellt werden ausgewählte Programme, die für die Entwicklung und Professionalisierung von Bedeutung waren bzw. sind.

2.1.1 Das Rauhe Haus

Noch bevor es zu einer staatlich organisierten Fürsorge kam entwickelte der Theologe Johann Wichern (1808-1881) ein sozialpädagogisches Kon- zept, welches nicht nur für die damalige Zeit sehr modern war (vgl. Bou- let/Kraus/Oelschlägel 1980). Seine Arbeit hat ihren Vorlauf zum einen in der Arbeit von Heinrich Pestalozzi (1746-1827), der während der napoleo- nischen Kriege verwahrloste Kriegswaisen auf dem Gut Neuhof aufnahm, und zum anderen in der Rettungshausbewegung der evangelischen Kir- che, die mit Erziehungsanstalten für Kinder der Entfremdung der Armen von der Kirche entgegenwirken wollte (Wolf 1977: S.28).

Wicherns Hauptanliegen waren die sozialpädagogische Betreuung von Randgruppen, die Straffälligenhilfe und ihre Reform und die Neuorga- nisation und soziale Hilfe für die verelendeten Arbeitermassen. Durch sogenannte „Assoziationen“ sollten Verbindungen von Hilfebedürfti- ge für ihre Zwecke und Zweckgemeinschaften der Arbeits- und Be- sitzstände für einen freiwilligen Austausch geschaffen werden (Bou- let/Kraus/Oelschlägel 1980: S.15). Das Entscheidende an seinem Konzept war, dass er seiner Konzeption eine genaue Beobachtung der Lebens- verhältnisse und Lebensweisen der Armen, also eine moderne „Arbeits- feldanalyse“ und „Jugendhilfeplanung“ (Kunstreich 2000: S.40), voran- stellte. Natürlich muss beachtet werden, dass Wichern nicht die Armut als solche beenden wollte, sondern die „unmoralischen Lebensverhält- nisse“ (Kunstreich 2000: S.40). Wichern stammte schließlich aus einem restaurativ-konservativem bürgerlichen Milieu. Trotzdem ging es ihm nicht alleine um die rein erzieherische Arbeit klassischer pädagogischer Art, sondern er führte auch einen Raumbegriff in die Soziale Arbeit ein. Er setzte den Fokus seiner Arbeit nicht auf die „psychosoziale Triade Vater- Mutter-Kind“, sondern auf den sozialen Raum der „Familie“, welcher ein Ort der Herausbildung von Individualität sein sollte (Kunstreich 2000: S.40). Diese Raumbetonung drückte sich besonders in der von Wichern geforderten und durchgesetzten Architektur des Rauhen Hauses aus. „Zusammenfassend stellt uns Wichern ein von den Prinzipien der ‘pädagogischen Architektur’ bestimmtes Ideal einer Rettungsanstalt vor Augen, in dem sich eine planvolle, bis in letzte Details kalkulierte Organisation des Raumes mit einem Höchstmaß an verhaltens- und bewusstseinsbildenden Wirkungen verschmelzen sollte, und zwar in der nun wirklich außerordentlichen Form, daß das vermeintliche Planlose, Zufällige und Unregelmäßige zu einem exakt berechneten Element im Prozeß der Umerziehung der Zöglinge wird. Wichern schreibt:‘Nach dieser Auffassung kann eine ganze Reihe von Häusern durch einen alle umschließenden Garten hindurch verteilt werden’, so daß ‘das ganze von selbst die Gestalt eines freundlichen, das Gemüt ansprechenden heimatlichen Dörfchens mit seinen Biegungen, Un- regelmäßigkeiten und scheinbar planlosen Zufälligkeiten (gewinnt), die aber für den, der weiter nachfragt, nichts Zufälliges und Plan- loses sind, sondern den Sinne der Liebe in sich tragen und, richtig angelegt, in ihrer Gesamtheit den pädagogischen Zwecken dienen’. (Wichern 1958: S.440)“ (Anhorn 1992: S.136).

Innerhalb dieser Anstalt sollte es, so Wichern, möglich sein, durch län- gerfristige Fixierung und kontrollierter Isolation, einer eingehenden Be- obachtung und detaillierten Befragung der Insassen, für jeden einzelnen Jugendlichen und seine Herkunftsfamilie eine Art Soziogramm zu ent- werfen. Damit sollten die Verwandschaftsbeziehungen offen gelegt wer- den, um eine individuelle Lebensgeschichte zu rekonstruieren, welche eine eindeutige räumlich-soziale Zuordnung zuließ, klare Verantwort- lichkeiten konstituierte und verlässliche Bindungen schuf. Dies alles vor dem Hintergrund, das Bewusstsein einer individuellen und familiären Identität zu fördern, die sich von dem kollektivistischem Selbstverständ- nis des plebejisch-proletarischen Lebenszusammenhangs abhob (Alhorn 1992: S.105f). Letztendlich sollte von diesem strategischen Ort aus die Familie so beeinflusst werden, dass sie in die Lage versetzt wurde, ein bürgerlich-christliches Leben zu führen (Kunstreich 2000: S.41). Neben der Verringerung des Gefährdungspotentials für Kinder und Jugendliche in den Großstädten durch diese leicht kontrollierbaren Übergangs- und Zwischenzonen mit Hausgärten, Grüngürteln und Feldern, die den Raum zwischen Anstalt und Stadt füllten, sah Wichern in der Öffentlichkeitsar- beit eine wichtige Grundvoraussetzung seiner Arbeit (Kunstreich 2000: S.40). Er unterhielt eine enge Anbindung an i.d.R. städtische Förder- und Unterstützungskreise (Anhorn 1992: S.107).

Dieses Prinzip ist heute ebenso ein wichtiges Erfolgskriterium für die Gemeinwesenarbeit. Doch auch seine alltägliche Praxis gilt heute noch für Gemeinwesenarbeiter. Seine Arbeit setzte direkt in den Elendsquartieren Hamburgs ein. Er organisierte Armenpflege, Kinderarbeit, Krankenver- sorgung durch Helfer und Missionare. Im Prinzip eine Art Streetwork (Boulet/Kraus/Oelschlägel 1980: S.16). Seine zweite Idee des sozialen Wohnungsbaus, der Bürgerhof, wurde aufgrund von Kapitalmangel nicht umgesetzt. Nach einem Brand im Stadtteil Alt-Hamburg 1842 entwickel- te Wichern einen Plan einer geschlossenen städtischen Anlage für 500 Kleinhandwerker- und Arbeiterfamilien mit Kinderkrippe, Kindergarten, Schule, Erwachsenenbildung, Sozialzentrum Öffentlichkeitsarbeit durch Gemeindezeitung usw. (Boulet/Kraus/Oelschlägel 1980: S.15).

2.1.2 Das Elberfelder System zur strukturellen Armutsbekämpfung

Während Wichern direkt an den Lebensräumen und -praktiken ansetzte, reagierte der deutsche Staat auf die immer größer werdende Armut zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit den Mitteln der Arbeitsanstalten und restriktiven, polizeilichen Methoden. Diese Methoden kamen durch die starke Pauperisierung aber schnell an ihre Belastungsgrenzen. Es kam daraufhin in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu ersten strukturellen Über- legungen, wie man mit der steigenden Armut umgehen könnte. Mit dem „Aufnahmegesetz“ von 1842 in Preußen wurden die Kommunen verpflich- tet, denjenigen Unterstützung in Notsituationen zu gewähren, die eine Wohnung innerhalb der Kommune hatten bzw. 3 Jahre ihren Aufenthalt in der Kommune hatten.2 Die Auswirkungen waren allerdings eher negativ, da nun die Kommunen den Wohnungsbau einschränkten, um nicht unter- stützungspflichtig zu werden. Die Folgen zeigten sich in einer steigenden Obdachlosigkeit. Die Reaktion darauf war 1843 das Gesetz zur Bestrafung von Landstreichern, Bettlern und Arbeitsscheuen.

In dieser Zeit entwickelte die Stadt Elberfeld ein System, mit welchem sie die Armenfürsorge neuorganisierte. Auf der einen Seite gab es na- türlich immer noch die Anstaltspflege, die die Konsequenz aus einem restriktiven Umgang mit Armut bildete. Auf der anderen Seite sollte die offene Armenfürsorge, also der Umgang mit Personen, die in die Armut abgerutscht waren bzw. davor standen, in die Armut abzurutschen, ef- fektiver und systematischer (i.G. zu der Almosengewährung) organisiert werden. Die Stadt Elberfeld folgte ebenso wie Wichern einem re-aktivem Modell, welches sich durch die Verwandlung sozialer Ereignisse in indivi- duelle Defizite, Vermittlung dieser Transformation in Institutionen und Ausdiffenzierungen „sozialer Zensuren“ kennzeichnete (Kunstreich 2000: S.73).

Dieses System sah wie folgt aus: Die Stadt Elberfeld wurde in zehn Be- zirke eingeteilt, die wiederum in 14-15 Quartiere unterteilt waren. Jedem Quartier wurde ein ehrenamtlicher Armenpfleger zugeordnet, der in der Regel zwischen drei und vier Familien betreuen sollte. Diese Kräfte trafen sich zusammen mit einem Bezirksvorsteher zweiwöchentlich zu einer Be- zirksversammlung. Die Versammlung unterstand der Armenverwaltung, einem Ausschuss, der aus vier Stadtverordneten, vier Bürgern, die in der Stadtverordnetenversammlung gewählt wurden, und dem Oberbürger- meister bestand (vgl. Sachße 1986: Kapitel 2). Eine um Unterstützung suchende Person musste nun bei dem Armen- pfleger einen Antrag stellen, der daraufhin durch eine persönliche Un- tersuchung die Verhältnisse des Antragstellers überprüfen musste. Nur in dringendsten Notfällen konnte er sofort geringe Beträge vorschießen. Der übliche Weg war jedoch, dass der Pfleger nach seiner Überprüfung der Bezirksversammlung ein Gesuch vorlegte. Die Kompetenz zur Ent- scheidung über die Weiterleitung der Gesuche lag also eindeutig bei den einsetzenden Landflucht und der Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten nicht mehr durchführen. 1870 wurde das Aufnahmegesetz Grundlage der Armenfürsorge im Deutschen Reich.

Pflegern. Der Bezirksvorsteher leitete die Gelder der Armenverwaltung nach Rechnungslegung direkt an die Armenpfleger, oder aber er legte Beanstandungen über die Beschlüsse der Bezirksversammlung vor, die dann von der Armenverwaltung entschieden wurden. Sinn dieses Systems war, dass der Armenpfleger jeden einzelnen Unter- stützungsfall intensiv prüfte und überwachte. Damit sollte gewährleistet sein, dass die Gewährung einer Unterstützung nicht zu „Müßiggang“ und „Sittenlosigkeit“ führte. Gleichzeitig sollte er beratend und unterstützend auf die Familien (der sog. Unterschicht: ME) einwirken. Man erkennt auch in diesem Modell die Pädagogisierungsgedanken des 19. Jahrhunderts Das Elberfelder System kennzeichnete also vier Merkmale (vgl. Sachße 1986):

- die Individualisierung der Unterstützungsleistung,
- die Dezentralisierung der Entscheidungskompetenz,
- die ehrenamtliche Durchführung öffentlicher Verwaltung und
- die Bestimmungen von Zuständigkeiten nach rein räumlichen Krite- rien.

Dieses System verbreitete sich sehr rasch in ganz Deutschland, da zu- nächst in Elberfeld die Straßenbettelei verschwand und die Zahl der Unterstützungsfälle trotz steigender Einwohnerzahl bei gleichzeitiger Senkung der Stadtaufwendungen zurückging.

Mit Hilfe dieses Systems beginnt im Prinzip der Aufbau der Wohlfahrts- pflege und der damit verbundenen Sozialarbeit. Vor allem durch das Prinzip der Individualisierung wandelt sich das Wesen der Armenfür- sorge von einer allgemeinen, eindämmenden Armenpflege hin zu einer wirksamen Hilfsleistung. „Als eine gute Armen- und Wohlfahrtspflege ist nur diejenige anzuerkennen, welche neben der Erfüllung der gesetzlichen Verpflichtung bestrebt ist, dem Armen wirksame Hilfe zu leisten, ihn zur Selbsthilfe zu erziehen und seiner dauernden Hilfsbedürftigkeit vorzu- beugen.[...]“ heißt es 1882 auf einem Armenpflegerkongreß. (Nidda 1955: S.154)

2.1.3 Die Straßburger Modell

Zunächst kam jedoch auch dieses System an seine Grenzen. Das lag vor allem daran, dass durch die fortschreitende Industrialisierung die Städte in eine Größenordnung wuchsen, auf die das Quartiersmodell nicht mehr anwendbar war, da es immer mehr an ehrenamtlichen Helfern mangelte. Ebenso machte der Ausbau der Arbeits- und Sozialversicherung es den eh- renamtlichen Kräften kaum möglich, ohne ausreichende Sachkenntnisse die Bedingungen zur Unterstützungsgewährungen zu prüfen. Gleich- zeitig wurde neben der öffentlichen Fürsorge immer noch eine starke private Wohltätigkeit in Form lokaler Vereine betrieben. Da diese unko- ordiniert arbeiteten, wuchs die Forderung nach einer Neuorganisation der Zuständigkeiten für private und öffentliche Fürsorge, da man sowohl mangelnde Effektivität in der Armutsbekämpfung als auch eine Ausnut- zung der Fürsorge durch „Arbeitsscheue” vermutete (Sachße/Tennstedt 1988: S.24). Die Reaktionen auf diese Kritikpunkte wurden entscheidend für die Ausbildung professioneller Sozialarbeit. Eine Großzahl von Städten setzte zunehmend berufliche Fürsorgekräfte ein. Diese übernahmen vor allem Kontrollbefugnisse über die ehrenamtli- chen Helfer, da man diesen die Bereitschaft zur großzügigen Unterstüt- zungsgewährung unterstellte. Mit dem Straßburger System (1905/06) wurde nun eine Neuregelung gefunden, wie Armenfürsorge und vor allem das Verhältnis zwischen Ehrenamt und Hauptamt effektiver organi- siert werden sollte.

Das Straßburger Modell basierte nur noch auf einer Bezirkseinteilung. In den Bezirken arbeiteten die ehrenamtlichen Kräfte (im ungefähren Verhältnis von einem Pfleger auf drei Arme). Jedem Bezirk stand eine Kommission vor, die aus dem Vorsitzenden und acht Mitgliedern bestand, welche vom Armenamt eingesetzt wurden. Dieser Kommission überge- ordnet stand der Armenrat, in dem der Bürgermeister und acht vom Gemeinderat gewählte Personen saßen. Die Neuerung lag nun darin, dass dem Armenrat ein Armenamt angegliedert wurde, welches hauptberufli- che Kräfte beschäftigte. Jeweils ein Hauptamtlicher stand einem Bezirk vor. Alle Anträge wurden zentral beim Armenamt gestellt. Der zuständige Hauptamtliche prüfte nun diesen Fall und erarbeite eine Stellungnahme, die an die Bezirkskommission weitergeleitet wurde. Diese entschied über die Gewährung der Unterstützung; ausgezahlt wurde das Geld jedoch wiederum vom Armenamt. Die Aufgaben zwischen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Kräften waren dabei so verteilt, dass die Hauptamtli- chen die Armen betreuten, wo nur kurzfristige Lösungen zur Beilegung der Notsituation erforderlich waren, und die Ehrenamtlichen kontinu- ierliche und längerfristige Betreuung und Beratung durchführten. Dabei setzten die Hauptamtlichen die ehrenamtlichen Kräfte nach geeigneter Qualifikation ein. (Sachße/Tennstedt 1988: S.26)

Mit diesem System wurden die ersten Konturen für die spätere Wohl- fahrtspflege und das Berufsbild der Sozialarbeit angelegt. Zuallererst wurde die Notwendigkeit beruflicher und besoldeter Armenpfleger in der Armenfürsorge anerkannt. Des weiteren ergibt sich hier die Trennung zwi- schen administrativer und fachlicher Sozialer Arbeit in der Verwaltung kommunaler sozialer Dienste. Dabei ist zu beachten, dass das Vorbild des Sozialarbeiters in der ehrenamtlichen Tätigkeit lag, die stärker auf pädagogische Beratung und Betreuung ausgerichtet war (Sachße 1986 : S.48). Interessanterweise oder auch erschreckenderweise hat sich die Grundstruktur dieser Hilfen, nämlich die der „Kompensation individu- eller Defizite im Rahmen herrschaftlicher Regulation“ (Kunstreich 2000: S.85) kaum verändert.

2.2 Gemeinwesenarbeit als sozialräumliche Soziale Arbeit

2.2.1 Grundlegung der Gemeinwesenarbeit

Neben den staatlichen Disziplinierungsmaßnahmen gegenüber den Ar- men entwickelten sich gleichzeitig auch unterschiedliche sozialreforme- rische und sozialrevolutionäre Bewegungen in Deutschland, England, Frankreich und an anderen Orten, die eine Abkehr von der staatlichen Ar- menpolitik forderten. Wichtige Impulse kamen aus England, unter ande- rem auch deshalb, weil dort die industrielle Entwicklung und ihre Folgen am weitesten voran geschritten war. Die Settlement-Bewegung hatte ihren Ursprung in den Universitäten. Angehörige der bürgerlichen Intelligenz (Pfarrer, Professoren, Studenten usw.) siedelten in Armen- und Arbeiter- vierteln, um so einen Beitrag zur Überwindung der sozialen Trennung zu leisten, das soziale Gewissen von privilegierten Bevölkerungsgruppen zu wecken und Bildung und Erziehung von Armen und Arbeitern zu organisieren. Der Kern der reformerischen Gedanken gründete auf der An- nahme, dass die Armen und Hilfebedürftigen lernen müssten, sich nicht auf milde Gaben zu verlassen, sondern ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und den zum Leben notwenigen Unterhalt durch eigene Arbeit zu verdienen.

Beispielhaft greife ich für den Ansatz der Settlement-Bewegung zwei für die Entwicklung der Gemeinwesenarbeit wegweisende Modelle heraus (vgl. Müller 1982):

- Toynbee Hall in London
- Hull House in Chicago

Toynbee Hall in London

In Whitechapel, einem heruntergekommenen Stadtteil in London, grün- dete der Gemeindepfarrer Samuel Barnett zusammen mit seiner Ehefrau Henriette 1884 Toynbee Hall, das erste Settlement, in dem die Mitarbeiter ständig wohnten.3 Es war das Ziel der Gründer von Toynbee Hall, dass die Armen und Hilfebedürftigen lernen sollten, ihr Leben selbst zu meistern.

Um dieses zu erreichen, sollten die Menschen lernen, wieder Achtung vor sich selbst zu haben. Deshalb organisierten die Barnetts zusammen mit anderen Freiwilligen gesellige Veranstaltungen, Freizeitangebote für Erwachsene, Kinder und Jugendliche und boten Bildungsveranstaltun- gen in dem Settlement an. Anschaulich kommt diese Vorgehensweise in folgender Schilderung zum Ausdruck:

„Es war der ursprüngliche Gedanke der Settlement-Bewegung: ein Haus wird gemietet, ‘Gebildete’ jeder Richtung wohnen dort und ge- hen über Tag ihrem eigenen Beruf nach, sei es dem eines Arztes, eines Journalisten, eines Rechtsanwaltes, eines Lehrers oder irgend eines anderen Berufs - und abends kehren sie zurück und sind Nachbarn, und als Nachbarn teilen sie Wissen und Erfahrungen den Menschen mit, die in der Nachbarschaft wohnen, und werden ihnen Freunde.“ (Buck 1982: S.123)

Das inhaltliche Programm der Toynbee Hall bestand in einer bewussten Programmlosigkeit sowie in der unmittelbaren Reaktion auf die jeweils aktuellen Belange und Bedürfnisse der Nachbarschaft. Leitgedanke sollte stets sein, zur Besserung der Lage der untersten Volksschichten beizutra- gen. So gab es volksbildnerische Veranstaltungen (Tages- und Abendkurse, Vorlesungen der University-Extension-Bewegung, Lesezirkel, politische Debatten), Sitzungen von literarischen, künstlerischen, volkswirtschaft- lichen Vereinigungen, den Betrieb einer Bibliothek, und Angebote der Erziehungs- und Freizeitgestaltung (Clubs für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Spielstunden, Schülerzirkel, gesellige Veranstaltungen, öf- fentliche Konzerte, eigene Musikgruppen, kunstgewerbliche Tätigkeiten, Sportgruppen). Aber es wurden auch Initiativen entwickelt, die eine mate- rielle und gesellschaftliche Verbesserung der Lebensverhältnisse zum Ziel hatten. Es gab Räume für die gesundheitliche Aufklärung, eine Ambu- lanz, Hauskrankenpflege, Vermittlung von Landerholung für Kinder und Jugendliche, und letztendlich wurde die Gesundheitsbehörde gezwungen, den Stadtteil an die städtische Kanalisation anzuschließen (Kietzell 1998: S.288). Außerdem wurden Rechtsbeistände (Rechtshilfe, Mieterberatung, Sozialberatung) organisiert, sowie die Kooperation mit anderen Stellen (Durchführung sozialer Erhebungen über die Lage einzelner Bevölke- rungsgruppen, Zusammenarbeit mit „Charity Organisation Societies“, Kommunalverwaltungen, Schulen) verbessert. Ein Mitgliederverband si- cherte die finanzielle Unterstützung, insbesondere durch Spenden und Zu- schüsse der Universitäten. Ein für alle späteren Settlement-Gründungen beispielgebendes internes Organisationsstatut regelte die Rechte der Ver- einsmitglieder, der basis-demokratischen ‘Resident’ - Versammlung sowie der ’Committees’ für Geschäftsführung, Unterricht, Kultur und Unterhal- tung, Finanzen (Buck 1982: S.123f).

Hull House in Chicago Jane Addams hatte auf einer Europareise (1888) die Barnetts und Toynbee Hall kennen gelernt. Von dieser Begegnung beeinflusst, wollte sie in ihrer Heimatstadt Chicago ein solches Projekt ins Leben rufen. 1898 gründete Jane Addams mit einigen anderen Hull House. Toynbee Hall war zwar das Vorbild für Hull House, doch die beiden Settlements waren in extrem unterschiedlichen sozialen Milieus angesiedelt. Während Whitechapel ein Slum war, in dem überwiegend ein „Lumpenproletariat“ lebte, bestand die Nachbarschaft von Hull House aus qualifizierten europäischen Arbei- tern, ihren Familien und politischen Flüchtlingen, die arbeiten konnten, arbeiten wollten und auch Arbeit fanden - allerdings zu den unmenschli- chen Bedingungen des nordamerikanischen Kapitalismus der damaligen Zeit. Der spezifische soziale Hintergrund der von Hull House Angespro- chenen führte zu einer veränderten Zielsetzung gegenüber Toynbee Hall.

Jane Addams und ihren Mitstreitern ging es nachdrücklich darum, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen konkret zu verändern. Die Aktivitäten von Hull House beschränkten sich deshalb nicht auf tra- ditionelle Bildungsangebote. Die Mitglieder von Hull House mischten sich u.a. in die Kommunalpolitik ein, organisierten gewerkschaftliche Aktivitäten (insbesondere Frauengewerkschaften) und arbeiteten in der Schulaufsichtsbehörde mit. Hull House war daher auch ein wichtiger Treffpunkt für Arbeitslose und Streikende und Gegenstand von über 1000 Razzien (vgl. Staub-Bernasconi 1995).

Die Schweizer Sozialarbeiterin Silvia Staub-Bernasconi beschreibt die Aktivitäten von Jane Addams und den Mitarbeitern in Hull House so: „Auf dem individuellen und familiären Niveau befassten sie sich mit Immigranten, Arbeitslosen, Prostituierten, politischen Flüchtlingen, Alleinerziehenden. Auf der Gruppenebene gründeten oder ermöglich- ten sie verschiedene Klubs, Kinder-, Jugend-, Arbeitslosen-, Frauen- gruppen, Arbeiterklubs. Es ging um die Vermittlung von bestimmten Haushaltsführungs-Fähigkeiten, von Bildung oder um die Organi- sation von politischen und kulturellen Aktivitäten. So gab es eine Art Sommeruniversität, aber auch den Sozialwissenschafts-Klub der Arbeiter oder den ‘Chicago’s Question Club’, ein Forum, wo Alltags-, sozial- und allgemeinpolitische Themen kontrovers behandelt wur- den. Zu alledem kam die Organisation von Bilderausstellungen für Künstler, Konzert- und Theateraufführungen als auch die Gründung eines Arbeitsmuseums wie einer Theatergruppe hinzu. Auf der lo- kalen Gemeinwesenebene sorgten sie für den Bau von öffentlichen Bädern, die Organisation von Müllabfuhr und lokalen Gesundheits- diensten, die Gründung einer Genossenschaft für den Transport und die Verteilung von Kohle im Slumgebiet“ (Staub-Bernasconi 1995: S.129).

Damit legte Jane Addams den Grundstein einer sozialräumlichen Sozialen Arbeit, der heute noch aktueller denn je sein dürfte, und welcher die An- regung individueller und struktureller Veränderungsprozesse integrierte. Jane Addams engagierte sich darüber hinaus auch parteipolitisch. Sie half bei der Gründung der „Progressive Party“ zusammen mit dem späteren Präsidenten Roosevelt. Sie erhoffte sich über diese Partei, Einfluß auf na- tionaler Ebene, unter anderem auf die Rassenfrage, zu bekommen. Als die Partei Schiffbruch erlitt suchte sie über andere Organisationen, wie lo- kale und nationale Frauen- und Sozialarbeitsorganisationen, Einfluss auf nationale Gesetzesentwürfe, so zum Arbeitsrecht, zum Verbot der Kinder- arbeit und zum Schutz der Frauen und Prostituierten. Auf internationaler Ebene bemühte sich Jane Addams um ein internationales Abkommen für den Umgang mit gefährlichen Abfällen, um Aufklärung über die in der Öffentlichkeit unterschlagene wirtschaftliche und militärisch-strategische Bedeutung des Panama-Kanalbaus, über den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Expansion, Diktatur, Krieg, Hunger und Gewalt. Als De- legierte von internationalen Friedens- und Frauenkongressen führte sie Vermittlungs- und Friedensabkommens-Gespräche mit den am ersten Weltkrieg beteiligten Nationen. Sie setzte sich für die Gründung des inter- nationalen Gerichtshofes in Den Haag ein (Staub-Bernasconi 1995: S.129).4

Sie gehörte ebenso zu den Begründern der Chicago-School. Sie wurde aber durch ihre Kritik an der sozialökologischen Theorie Robert E. Parks, die sie als eine den Machthabern verpflichetete Theorie ansah, von eben diesem aus den Annalen der Einrichtung gestrichen (vgl. Staub-Bernasconi 1995).

Toynbee Hall und Hull House sind Synonyme für ein sich neu entwi- ckelndes Verständnis von Sozialer Arbeit. Die Ursache von Armut und Hilfebedürftigkeit wird nicht mehr im Charakter der betroffenen Perso- nen gesehen, sondern in den individuellen und gesellschaftlichen Leben- sumständen. Nach diesem Selbstverständnis rückt als Ziel der Sozialen Arbeit die Verbesserung der Lebenssituation in den Vordergrund. Bei Toynbee Hall liegt der Schwerpunkt der Vorgehensweise in der Stärkung der individuellen Verantwortung durch Bildung und Entwicklung von Selbstachtung, bei Hull House in der Veränderung der strukturellen Rah- menbedingungen von Lebensbedingungen armer Menschen.

2.2.2 Gemeinwesenarbeit in der BRD nach 1945

Während in den USA und England aus solchen Projekten heraus die Idee des „community developement“ und der „community organisati- on“ entstand, verbunden mit einer fachlichen und theoretischen Aus- und Weiterbildung, blieb diese Form der Sozialen Arbeit in Deutschland unbeachtet. Soziale Arbeit fand in der Regel als soziale Einzelfallhilfe oder Soziale Gruppenarbeit statt. Diese Methoden kamen durch die von den Schüler- und Studentenprotestbewegung der 1968er Jahre ausgelöste Renaissance marxistischer Theorie jedoch unter erhebliche Kritik. Man suchte nach Traditionen der Sozialen Arbeit, die auch im Angesicht antika- pitalistischer Konzeptionen von Sozialarbeit einen gesellschaftskritischen Aspekt besitzen, und zur Verbesserung der objektiven Lebenslage gerade auch im Bündnis mit anderen Kräften der gesellschaftlichen Reform füh- ren können (Peukert/Münchmeier 1990: S.46). Diese Tradition fand man in der sozialpolitischen Ausrichtung der Jugendhilfe und dem Konzept der Gemeinwesenarbeit.

Dabei existierte die Gemeinwesenarbeit als „Methode” schon seit 1948 in Deutschland. Unter dem Einfluß der Quäker, unter ihnen auch Hertha Kraus, wurden in ganz Deutschland sogenannte Nachbarschaftsheime aufgebaut. Diese schlossen sich 1951 zum “Verband Deutscher Nachbar- schaftsheime e.V.’“ zusammen. (Müller 1988: S.103) Zwar waren sie am Anfang auch eher gruppenpädagogisch orientiert, aber mit der zuneh- menden Verschlechterung der Lebensbedingungen der Bevölkerung nach dem Wirtschaftsaufschwung, die sich im Bau der billigeren Satelliten- Siedlungen und der sinkenden Lebensqualität innerhalb der Bevölkerung ausdrückte, ging man dazu über, eine verstärkte Aufbauarbeit in den Siedlungen zu betreiben. So wurde 1969 auf einer Tagung des Vereins die Auffassung formuliert, daß Gemeinwesenarbeit politisches Handeln ist und zu einer weitgehenden Demokratisierung führt. Sie koordiniert tradi- tionelle Methoden der Sozialarbeit, befriedigt mit sozialpädagogischen Mitteln und interveniert offensiv (Müller 1988: S.112).

Die Gemeinwesenarbeit als „dritte Methode“ der Sozialen Arbeit stieß bei deutschen Sozialarbeitern direkt nach dem Zweiten Weltkrieg noch auf wenig Interesse. Hertha Kraus hatte in einem Fachartikel in der Zeit- schrift „Soziale Welt“ 1951 auf die „Amerikanischen Methoden der Ge- meinschaftshilfe“ aufmerksam gemacht und damit neben der Einzelhilfe auch die strukturorientierten Modelle Sozialer Arbeit in die Bundesre- publik Deutschland eingeführt (vgl. Boulet/Kraus/Oelschlägel 1980). In diesem Artikel ging Hertha Kraus davon aus, dass das Engagement im Gemeinwesen zu den Aufgaben eines jeden Mitbürgers gehört. Wenn alle Bürger davon betroffen sind, dann sollten Sozialarbeiter sich ebenfalls mit dem Gemeinwesen auseinandersetzen. Sie formulierte im Anschluss einige methodische Arbeitsschritte, die helfen sollten, die Arbeit im Ge- meinwesen zu systematisieren.

Die Soziale Arbeit im Gemeinwesen hat ihrer Auffassung nach die Aufga- be, ehrenamtliche Hilfe im Gemeinwesen zu organisieren. Dazu sind drei grundlegende Arbeitsschritte von Bedeutung:

1. Sozialarbeiter sollen die Entwicklungen im Gemeinwesen beobach- ten und im Hinnahmen zur Beseitigung von Missständen planen und in die Praxis umsetblick auf Versorgungslücken, Schwachstellen, sozia- len Brennpunkte usw. analysieren.
2. Aufgabe der hauptamtlichen Sozialarbeiter wäre es sodann, die Menschen im Gemeinwesen zu aktivieren, ehrenamtlich an der Be- seitigung der Missstände mitzuarbeiten.
3. Sozialarbeiter sollen dann, zusammen mit engagierten Bürgern, kon- krete Maßzen.

Als die Folgen der Stadtentwicklung zu einem öffentlichen Thema wur- den und die Studentenbewegung der sechziger Jahre den unpolitischen Charakter von Sozialer Arbeit kritisierte kam es zu einer Art Renaissance dieser Methode der Sozialen Arbeit. Die Entwicklung der Gemeinwesenar- beit in der Bundesrepublik Deutschland ist dabei mit zwei Einrichtungen sehr eng verbunden (vgl. Boulet/Kraus/Oelschlägel 1980):

- dem Burckhardthaus in Gelnhausen bei Frankfurt
- der Victor-Gollancz-Akademie

Das Burckhardthaus

Das Burkhardthaus ist eine evangelische Fortbildungseinrichtung, die bis Ende der sechziger Jahre Gemeindehelferinnen ausbildete. Als die Nachfrage danach zurückging, beschloss die Vertreterversammlung 1969 kirchliche Mitarbeiter in Gemeinwesenarbeit und Gemeindeaufbau aus- zubilden. Die „feste Burg der Kirchengemeinde“ sollte damit gegenüber der Kommune geöffnet werden und sich dringlicher mit den Kommunal- problemen auseinander setzen. Die Kurse umfassten drei methodische Bausteine:

1. Mit Hilfe der Methoden der empirischen Sozialforschung sollten kommunale und gesellschaftliche Strukturen genauer analysiert werden. Eine besondere Bedeutung erlangte dabei die Frage, wie Machtverhältnisse innerhalb eines Gemeinwesen verteilt sind.
2. Kenntnisse und Fertigkeiten über die Arbeit mit Gruppen bilde- ten den zweiten Baustein. Die bereits erwähnten Methoden der Gruppenpädagogik und die neu entdeckten Erkenntnisse aus der Gruppendynamik bildeten eine wichtige Grundlage.
3. Den dritten Baustein bildete die Gemeinwesenarbeit im engeren Sinne. Darunter wurden Methoden des systematischen Vorgehens in der gesamten Arbeit verstanden. Beginnend bei der Stadtteilanalyse über die „aktivierende Befragung“ bis zur Auswertung wurde hier methodisches Handlungswissen vermittelt.

Schon sehr früh war es zu Konflikten zwischen den Mitarbeitern des Fortbildungsinstituts und der Kirchenleitung gekommen, die 1975 damit endeten, dass die Fortbildungsseminare in der ursprünglichen Konzeption nicht mehr durchgeführt werden konnten. Zwischen 1975 und 1977 fanden keine Fortbildungen in Gemeinwesenarbeit und Gemeindeaufbau statt. Seit 1977 werden wieder Fortbildungen mit eher integrativen Ansätzen der Gemeinwesenarbeit angeboten. Die Victor-Gollancz-Akademie Die Victor-Gollancz-Akademie war eine durch die Victor-Gollancz- Stiftung geförderte Weiterbildungseinrichtung. Im Jahre 1972, beeinflusst durch eine zunehmende Politisierung der Sozialen Arbeit, führte eine Ar- beitsgruppe Gemeinwesenarbeit der Victor-Gollancz-Stiftung eine Frage- bogenuntersuchung von 38 überregional bekannt gewordenen Projekten der Gemeinwesenarbeit in der Bundesrepublik Deutschland durch und veröffentlichte die Ergebnisse als Planungsgrundlage für einen zweijähri- gen Fortbildungslehrgang für Fachhochschuldozenten in Gemeinwesen- arbeit an bundesrepublikanischen Fachhochschulen und Universitäten. Die Untersuchung zeigte, dass die Mehrheit der Projekte in Neubau- vierteln entstanden waren (42%), gefolgt von Obdachlosensiedlungen (29%) und innerstädtischen Sanierungsgebieten (18%). Neben diesen feld- spezifischen Unterschieden wurden in der Untersuchung auch Fragen der gesellschaftlichen Funktion von Gemeinwesenarbeit, des politischen Selbstverständnisses der Projekte und der Rolle von Gemeinwesenar- beitern thematisiert. Hier wurde deutlich, dass von einer einheitlichen Strategie der Gemeinwesenarbeit nicht gesprochen werden konnte. Pro- jekte mit eher sozialintegrativen Tendenzen standen solchen mit einem radikal-demokratischen Anspruch gegenüber.

[...]


1 In Deutschland hat die sich die professionelle Soziale Arbeit in zwei Strängen als Sozialarbeit und Sozialpädagogik entwickelt. Dieser Unterschied gerade zu den USA, wo eine einheitliche universitäre Ausbildung in Social Work von Anfang an existierte, erschwerte vielfach strukturelle Ansätze (Reichert/Wieler 2001: S.1611). Unter dem Begriff der Sozialen Arbeit werden daher sowohl sozialarbeiterische und sozialpädagogische Berufsfelder subsumiert. Die Ausbildungsstätten in Deutschland haben inzwischen vielerorts integrierte Studiengänge entwickelt. Auch durch den Bologna Prozess und die damit verbundene Einführung der BA/MA Social Work- Studiengänge wird sich dies noch verstärken.

2 Bisher galt noch das sogenannte Heimatprinzip, d.h. eine verarmte Person konnte nur von ihrer Heimatstadt Unterstützung erwarten. Dieses Prinzip ließ sich aber mit der

3 Toynbee war ein zu jener Zeit bereits verstorbener Sozialreformer der die Studentengeneration in England stark beeinflusst hatte.

4 Die Arbeit von Jane Addams wurde 1931 mit dem Friedensnobelpreis geehrt.

Ende der Leseprobe aus 95 Seiten

Details

Titel
Sozialer Raum, Soziales Kapital und Soziale Arbeit
Untertitel
Zum Nutzen der Theorie von Pierre Bourdieu für die Soziale Arbeit
Hochschule
Leibniz Akademie Hannover - Berufsakademie Hannover  (Institut für Politische Wissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
95
Katalognummer
V89357
ISBN (eBook)
9783638026673
Dateigröße
913 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialer, Raum, Soziales, Kapital, Soziale, Arbeit, Thema Soziale Arbeit
Arbeit zitieren
Markus Engelmann (Autor:in), 2006, Sozialer Raum, Soziales Kapital und Soziale Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89357

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