Die Propaganda des Terrors - Eine Analyse der Kommunikationsstrategie der ersten RAF-Generation


Bachelorarbeit, 2007

48 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Terrorismus als Kommunikationsstrategie

2. Die Propaganda des Wortes am Beispiel der RAF-Schrift Das Konzept Stadtguerilla
2.1. „Herrschende Öffentlichkeit ist die Öffentlichkeit der Herrschenden“ – Merkmale einer Gegenöffentlichkeit
2.2. Die argumentative Erzwingung des bewaffneten KampfesS
2.3. Internationale Intertexte

3. Die Propaganda der Tat – Fünf Anschläge im Mai 1972
3.1. Die Codierung der Anschlagsziele
3.2. Die Aporien der Kommunikationsstrategie

4. Die Kommunikationsstrategie als Terrorismus

5. Bibliografie

1. Terrorismus als Kommunikationsstrategie

„Ursachenforschung dreht sich im Kreise.

Das System ist dann seine eigene beste Erklärung –

und es kommt deshalb alles darauf an, es zu begreifen.“[1]

Hans Magnus Enzensberger berichtet in einem Gespräch mit Wolfgang Kraushaar und Jan Philipp Reemtsma[2] von einer Begebenheit am 14. Mai 1970, dem Tag also, an dem Andreas Baader aus der Haft befreit wurde und der gemeinhin als Geburtsstunde der Roten Armee Fraktion (RAF) gilt. An diesem Tag sollen Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Andreas Baader und noch eine vierte Person am Nachmittag bei Enzensberger mit der Bitte erschienen sein, sich in seinem Haus verstecken zu dürfen: „Die hatten überhaupt nichts vorbereitet und wollten bei mir unterkommen. Ich sollte sie beherbergen.“[3] Der Dilettantismus und die mangelnde Planung der Befreiungsaktion aus dem Institut für soziale Fragen, bei der der Institutsangestellte Georg Linke schwer verletzt wurde, lässt Enzensberger zu dem Schluss kommen, „dass die ganze Geschichte […] ein Versehen gewesen ist.“[4] Dass die Entstehung der RAF eine spontaneistische Aktion war, die nachträglich ideologisch unterfüttert wurde, scheint beinahe unbestritten.[5] Die erste gewaltsame Aktion deutet jedoch bereits auf ein wesentliches Merkmal des Phänomens RAF hin, dass Enzensberger im Gespräch folgendermaßen beschreibt:

Der charakteristische Zug an dieser ganzen Sache ist ja durchgehend bis zum Schluss ihre Selbstbezüglichkeit gewesen. […]. Es ging immer nur um sie selbst, d. h. um den Austausch von Gefangenen, um ihre Freipressung. Politisch betrachtet war das eine totale Binnenwelt […]. Das ist doch sehr merkwürdig, wenn man das mit anderen terroristischen Bewegungen vergleicht. Die hatten zumindest irgendwelche Ziele außerhalb ihrer selbst.[6]

In der Tat scheint ein großer Widerspruch zwischen programmatischem Anspruch und (historischer) Wirklichkeit der RAF zu bestehen. Der sozial-revolutionäre Impetus, mit dem die RAF auftrat, legt in der Typologie Stefan Malthaners eine Ausrichtung auf „breite Teile der Bevölkerung als [ ] revolutionäres Subjekt“ nahe, also eine „positive Bezugsgruppe“[7]. Eine solche Fokussierung lässt sich in den Texten der RAF auch durchaus nachweisen, allerdings stehen die ideologisierten Selbsterklärungen der tatsächlichen Praxis der RAF diametral entgegen. Denn, und das ist das von Enzensberger angedeutete Merkwürdige, selbst die scheinbar politisch motivierten, also auf eine konkrete Institution oder Person bezogenen Handlungen der RAF drehten sich bis zu einem gewissen Grad um die RAF selbst. Spätestens die Ereignisse im Herbst 1977 verdeutlichten die Selbstbezüglichkeit und –fixierung der deutschen Terroristen.

Nun könnte man behaupten, dass dieses Phänomen dem gesellschaftlichen Isolationsprozess im Laufe der 1970er Jahre oder der von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgekapselten Gruppendynamik in der Illegalität zu schulden ist. Enzensberger müsste sich dann in seiner Annahme irren, dass die Selbstbezüglichkeit „durchgehend“, also von Anfang an, das wesentliche Merkmal „dieser ganzen Sache“ gewesen sei. Denn dann könnten die Verschleißerscheinungen der terroristischen Organisation im Laufe ihres Bestehens nicht für die Selbstbezüglichkeit verantwortlich gemacht werden. Um es jedoch vorwegzunehmen: die Bezugsgruppen der RAF waren seit ihrer Gründung nicht nur die abstrakten Größen „Volk“ und „Masse“, sondern immer auch die RAF selbst und damit die eigenen Mitglieder, Unterstützer und Sympathisanten, was sich anhand der zu untersuchenden Texte nachweisen lässt. Die terroristischen und kommunikativen Akte waren somit immer auch an den Urheber bzw. Absender adressiert.[8] Dass jegliche terroristische Handlungen einen Adressaten haben, also kommunikativ an einen Empfänger gerichtet sind, folgt aus der Definition Peter Waldmanns, der im Terrorismus „primär eine Kommunikationsstrategie“[9] sieht. In Anlehnung daran relativiert Andreas Elter diese Definition, indem er davon ausgeht, dass „Terrorismus [ ] auch eine Kommunikationsstrategie sein [kann].“[10] Im Falle der RAF muss jedoch angesichts ihrer Ideologie festgestellt werden, dass die terroristischen Akte zweifelsohne eine Form der Kommunikation darstellen. Denn eine Gruppe, die über den bewaffneten Kampf ein Bewusstsein der Unterdrückung und der Notwendigkeit der Revolution in der Bevölkerung erzeugen will, ohne jedoch in dieser verankert bzw. durch diese legitimiert zu sein, muss zwangsläufig in ihrem Handeln auf Vermittlung und Kommunikation aus sein.[11] Die in der RAF-Ideologie postulierte Avantgardestellung[12] fordert, wenn sie sich nicht in der Selbstgenügsamkeit einrichten will, eine kommunikative Vermittlung der eigenen Positionen geradezu heraus.

Die Herausarbeitung des Zusammenhangs zwischen politisch motiviertem Terrorismus und Kommunikation im Falle der RAF wurde jedoch bisher erst von Andreas Elter[13] in Angriff genommen, indem er das Wechselspiel zwischen den deutschen Terroristen und den Medien im öffentlichen Diskurs untersuchte. Ansonsten aber sind Arbeiten zu diesem Thema „so selten, dass man von einer Terra incognita sprechen kann.“[14] Die folgenden Ausführungen werden deshalb der Frage nachgehen, wie sich anhand der Kommunikationsstrategie der ersten Generation der RAF die charakteristische Selbstbezüglichkeit dieser Gruppe bereits kurz nach ihrer Entstehung bemerkbar macht. Begreift man Terrorismus als Kommunikationsstrategie, so muss demselben gleichzeitig eine Adressierung unterstellt werden. Richtet sich die Kommunikation der RAF-Ideologie zufolge an das „Volk“ und die „Massen“[15], so lässt sich anhand der veröffentlichten Positionspapiere und Bekennerschreiben nachweisen, dass diese gleichfalls an die Mitglieder der RAF selbst adressiert sind. Nicht ausschließlich die positiven Bezugsgruppen bzw. der Staat als „Feind“ sollten damit angesprochen werden, sondern immer auch die RAF und die radikale Linke. Wie die angesprochenen Gruppen darauf reagierten, kann dabei nicht berücksichtigt werden, da es methodisch unzulässig wäre, von den historischen Texten auf eine individuelle Rezeption zu schließen. Deswegen wird sich die Arbeit ausschließlich auf die kommunikativen Akte in Form von Texten und Anschlägen konzentrieren und nicht auf deren Rezeptionsgeschichte. Kommunikation wird in diesem Zusammenhang einerseits verstanden als die (versuchte) Vermittlung der terroristischen Ideologie an eine positive Bezugsgruppe und andererseits als Mitteilung der gewaltbereiten Oppositionsstellung an den Staat. Medial wird die Kommunikation einmal über die Verbreitung des Anschlags in den etablierten Massenmedien getragen und darüber hinaus über theoretische Texte und Bekennerschreiben, die in einem antihegemonialen Diskurs veröffentlicht werden. Innerhalb dieses Dispositivs werden nun ausgewählte Texte und Anschläge der ersten RAF-Generation analysiert, um anhand ihrer Kommunikationsstrategie die Selbstfixierung der Terroristen herauszuarbeiten.

Die These der partiellen Selbstadressierung als Merkmal der terroristischen Selbstbezüglichkeit soll im Folgenden durch das erste veröffentlichte Positionspapier der RAF und den Bekennerschreiben der so genannten „Mai-Offensive“ belegt werden. Der im April 1971 veröffentlichte Text Das Konzept Stadtguerilla[16] stellt die erste theoretische Äußerung der Gruppe dar[17], in dem der Versuch unternommen wird, über das eigene Handeln, die eigene Ideologie und die selbst gesetzten Ziele Rechenschaft abzulegen. Die in diesem Text angekündigte „bewaffnete Propaganda“ wird im Mai 1972 durch fünf Bomben- und Sprengstoffanschläge in die Tat umgesetzt. Die Analyse dieser Ereignisse muss dabei zwei Formen der Codierung in den Blick nehmen: erstens die Codierung durch die Bekennerschreiben der RAF und zweitens die Bedeutung der Anschlagsziele im historischen Kontext. Gerade der zweite Punkt ist dabei für die Herausarbeitung der Selbstbezüglichkeit der RAF unerlässlich, da er die Relationen zwischen der Terrororganisation und den Anschlagszielen erhellt, ohne dabei auf die terroristische Propaganda Rücksicht zu nehmen. Gleichzeitig wird sich zeigen, dass in einzelnen Bekennerschreiben die RAF selbst diese historischen Relationen integriert und offen ausstellt. Die Propaganda des Wortes und die Propaganda der Tat[18] anhand des ersten theoretischen Textes sowie den ersten ideologisch fundierten Taten und deren Bekennerschreiben werden als Beleg für das Scheitern der terroristischen Kommunikationsstrategie herangezogen, um dadurch die isolierte und auf sich selbst fixierte Haltung der RAF bereits im frühesten Stadium zu verdeutlichen. Die in den Ereignissen im Herbst 1977 offen zu Tage tretende Selbstbezüglichkeit ist somit von Anfang an dieser Gruppe immanent. Dass die erste Aktion der RAF eine Gefangenenbefreiung verbunden mit der Gefährdung eines Menschenlebens war, deutete somit unmerklich schon den kommenden Weg voraus.

2. Die Propaganda des Wortes am Beispiel der RAF-Schrift Das Konzept Stadtguerilla

Nach knapp einem Jahr in der Illegalität setzt mit der Veröffentlichung des Textes Das Konzept Stadtguerilla die Ideologiebildung der RAF ein, die auch nach außen kommuniziert wird. Wenn man aus der Sicht der Terroristen zu dem Schluss kommen könnte, dass die Ideologie zum Zweck der Verdeutlichung der eigenen Ziele und Ansichten im öffentlichen Diskurs generiert wird, so gab es von staatlicher Seite noch eine andere Begründung für die Ideologiebildung. In einer vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebenen Analyse kommen die Autoren bereits 1981 zu dem Schluss, dass „die Ideologie [ ] nicht zuletzt dazu gedient [habe], die RAF gegenüber einer kritisch- nüchternen Realitätswahrnehmung, die ihre Strategie in Frage stellte, zu ‚immunisieren’.“[19] Unterstellt man nun der Erklärung der RAF die Funktion einer Anästhesierung der kritischen Vernunft, dann kann dieselbe unmöglich nur an die anvisierten Bezugsgruppen adressiert sein. Denn „das Volk“ oder die „proletarischen Massen“ galt es schließlich nicht zu immunisieren, sondern für die eigene Sache zu sensibilisieren. Die Ausrichtung des Textes auf die eigenen Mitglieder deutet deshalb die Funktion der Ideologiebildung an: Das erste Positionspapier der RAF unternimmt eine Selbstlegitimation der terroristischen Strategie. Die Annahme, dass das Konzept Stadtguerilla der Rechtfertigung und Bestätigung der Mitglieder der RAF dient, soll im Folgenden anhand von drei verschiedenen Aspekten belegt werden[20]. Für diese Strategie ist erstens die Erzeugung von Gegenöffentlichkeit zur Positionierung im gesellschaftlichen Diskurs die Vorraussetzung, deren im Text manifestierte Merkmale herausgearbeitet werden sollen. Zweitens gilt es diejenigen Argumentationsfiguren aufzufinden, die das terroristische Handeln zu rechtfertigen versuchen. In einem letzten Schritt sollen die Intertexte, hauptsächlich in Form von Zitaten, im Hinblick auf die Wunschvorstellung einer internationalen Befreiungsbewegung hin untersucht werden. Die Intertexte würden damit durch die internationale Kontextualisierung die imaginierte Zwangsläufigkeit des bewaffneten Kampfes unterstreichen und damit gleichsam als Legitimationsstrategie fungieren. Somit stellt ein Text, der scheinbar an die Öffentlichkeit gerichtet ist, durch die Rhetorik der Selbstlegitimation letztendlich die „Binnenwelt“[21] aus, in der er entstanden ist.

2.1. „Herrschende Öffentlichkeit ist die Öffentlichkeit der Herrschenden“ – Merkmale einer Gegenöffentlichkeit

Zusammen mit den studentischen Protesten um 67/68 ging die Forderung nach dem Aufbau einer Gegenöffentlichkeit einher, da die Studenten die Erfahrung machten, „unter Bedingungen vermachteter Öffentlichkeit nicht zu Wort zu kommen, sich mit seinem Anliegen nicht frei äußern zu können oder mit seiner Stimme keinen Einfluss zu haben.“[22] Inwieweit dieser Erfahrung eine objektive Grundlage zugeschrieben werden kann, ist äußerst fraglich[23]. Fest steht jedoch, dass von Seiten der APO schon früh erkannt wurde, dass der Erfolg der Bewegung unter anderem von der Erzeugung einer Gegenöffentlichkeit abhing[24]. Diese Erkenntnis greift die RAF nach 1970 wieder auf, indem sie sich nicht nur zur Befreiung Baaders[25], sondern auch zu ihrem Kampf aus dem Untergrund im Konzept Stadtguerilla äußert. Die Motivation zur Veröffentlichung dieses Textes ist mit zwei Zielen verbunden: Zum einen sollte damit in marxistischer Tradition ein eigener antihegemonialer Diskurs geschaffen werden, „in dem sich die vielfältigen Individuen, Gruppen und Auseinandersetzungen wieder finden und ihre widersprüchliche Einheit erkennen können.“[26] Zum anderen bedeutet die Publizität gleichzeitig wieder ein Streben nach einer hegemonialen Stellung, da die RAF versucht, die Deutungshoheit über den Diskursgegenstand „RAF“ zu erlangen und damit den institutionalisierten, bürgerlichen Medien zu entreißen[27]. Die Hegemonie muss sich jedoch auf denjenigen Teil der Bevölkerung beschränken, der sich sicher ist,

daß Bild -Zeitungsmethoden bei einem nicht mehr verfangen, daß [ ] die ganze Scheiße, die nur die absondern und zu artikulieren imstande sind und die immer noch viele Genossen in ihrem Urteil über uns beeinflusst, daß einen die nicht trifft.[28]

Die Lossagung von den Interpretationsmustern einer bürgerlichen Öffentlichkeit für Realität, hier metonymisch durch die „ Bild -Zeitungsmethoden“ ausgedrückt, und damit die Abspaltung vom hegemonialen Diskurs ist jedoch genau der Prozess, den die Terroristen bereits vollzogen haben und den sie nun zu rechtfertigen versuchen. Somit erweist sich wiederum das, was hier als Vorrausetzung für den bewaffneten Kampf beschrieben wird, nicht als Profilanforderungen potentieller Mitglieder, sondern stellt lediglich die erwünschte psychologische Disposition der Terroristen aus.

In dieser Selbstbespiegelung innerhalb des antihegemonialen Diskurses deutet sich eine Tendenz an, die im Moment der Schaffung von Gegenöffentlichkeit diese gleichzeitig durch bestimmte Argumentationsfiguren wieder hermetisch abriegelt. Eine davon steht der programmatischen Forderung der RAF nach dem „Primat der Praxis“ diametral entgegen. Während Das Konzept Stadtguerilla auf der einen Seite eine pauschale Verurteilung der Linksintellektuellen vornimmt und ihnen eine mangelnde Praxis vorwirft[29], bleibt der Text auf der anderen Seite selbst äußerst theorielastig bzw. abstrakt. Zunächst lässt sich dieses Paradox an den vordergründigen Adressaten des Textes belegen. „Das Volk“, „die proletarischen Massen“ sowie „die ausgebeuteten Völker der Dritten Welt“ stellen soziale und regionale Entitäten dar, bei denen „es sich um abstrakte Bezuggruppen handelt, die im Rahmen einer Ideologie diesen Status gewinnen.“[30] Die Gleichzeitigkeit von Ideologiebildung und Identifikation mit besagten Drittgruppen wird im Konzept Stadtguerilla exemplarisch vorgeführt. Mit der „marxistischen Brille“ werden arbeitsmarktpolitische Zusammenhänge wie Streiks, Tarifverhandlungen oder Arbeitslosigkeit gedeutet, um damit aus der ausbleibenden Radikalisierung des Proletariats „einen Begriff von der Stärke des Systems“[31] zu formulieren, aus dem daraufhin die unbedingte Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes abgeleitet wird. Ebenso erfolgt aus der seit dem Vietnamkrieg potenzierten Identifikation mit der „Dritten Welt“, die die Identitätsbildung der neuen Linken beflügelte[32], der Aufbau des Feindbildes BRD. Da „die Bundesrepublik von der Ausbeutung der Dritten Welt“ profitiere, „ohne die Verantwortung für diese Kriege zu haben“, sei sie „nicht weniger aggressiv als der US-Imperialismus“[33] und damit legitimes Ziel einer sich als antiimperialistisch verstehenden Widerstandsbewegung. Die abstrakte Bezugnahme auf Drittgruppen wird im Konzept Stadtguerilla als solche nicht mehr erkannt, geschweige denn reflektiert, um gleichsam die abstrakte Identifikation in die Konkretion des bewaffneten Kampfes kippen zu lassen.[34]

Der Abstraktionsgrad des Textes erschließt sich noch an weiteren Merkmalen, die Klaus Theweleit auch in Bezug auf die so genannten „K-Gruppen“ andeutet: Aus der „Sprach- und Denkverengung“, die zu Beginn der 70er Jahre auftrete, resultiere ein „abstrakter Radikalismus“, „der sich auf Gesten, auf Ansprüche, auf Forderungen beschränkt, revolutionäre Haltungen verbreitet in Sätzen, Parolen, dabei Analysen kaum mehr durchführt.“[35] Diese Tendenz zur Abstraktion lässt sich auch als Abspaltung des Signifikats von bestimmten, programmatischen Signifikanten beschreiben, die sich zur Zeit der APO-Revolte herausgebildet hatten[36]. Begriffe wie „Proletariat“, „Dritte Welt“, „antiimperialistischer Kampf“ usw. mussten vor 1970 im studentischen System der begrenzten, symbolischen Regelverletzung[37] nicht zwangsläufig mit einer konkreten Bedeutung aufgeladen werden. Für die symbolische Protestform auf der Straße genügten die symbolischen Signifikanten, um anzuzeigen, wogegen bzw. wofür man demonstrierte. Die RAF nimmt jedoch genau die absente Konkretion des symbolischen Protestes zum Anlass[38], um daraus die Strategie des bewaffneten Kampfes zu entwickeln. Allerdings vergisst sie darüber, analog zur Konkretion des Kampfes die aus der APO-Zeit übernommenen Begriffe zu konkretisieren. Somit nimmt die RAF einen Konsens innerhalb der Linken über die Diskurs bestimmenden Signifikanten an, der nach 1970 aufgrund der Zerfalls- und Diversifizierungsprozesse der Protestbewegung nicht mehr existiert haben kann. Im Kapitel „Primat der Praxis“, mit dem der RAF-Text sich von der universitären, theoretischen Textproduktion[39] abgrenzen möchte – dem entscheidenden Absatz in diesem Zusammenhang – tritt an prominenter Stelle genau jenes Paradox zwischen proklamierter Praxis und textueller Abstraktion hervor. Der Text bemüht sich einerseits um programmatische Praxisnähe, kann diese jedoch nicht formulieren, da er andererseits in den abstrakten Begrifflichkeiten des Marxismus gefangen bleibt und diese nicht konkretisieren kann:

Eine Führungsrolle der Marxisten-Leninisten in zukünftigen Klassenkämpfen wird es nicht geben, wenn die Avantgarde [also die RAF, F.D.] selbst nicht das Rote Banner des Proletarischen Internationalismus hochhält und wenn die Avantgarde selbst die Frage nicht beantwortet, wie die Diktatur des Proletariats zu errichten sein wird, wie die politische Macht des Proletariats zu erlangen, wie die Macht der Bourgeoisie zu brechen ist, und durch keine Praxis darauf vorbereitet ist, sie zu beantworten.[40]

Mit der ausbleibenden Konkretion der Begriffe hängt jedoch die bereits beschriebene Funktion der Ideologiebildung zusammen, die die Terroristen gegen eine kritische Realitätswahrnehmung „immunisieren“ sollte. Der Abstraktionsgrad des Textes bildet nämlich gleichzeitig die Bedingung für die Aporie eines empirischen Gegenbeweises.[41] Da also das, was Theweleit „Sprüche und Parolen“ nennt, durch ihre abstrakte Qualität nicht mehr an eine empirische Realität rückgebunden werden kann, ist damit gleichzeitig die Möglichkeit einer rationalen Widerlegung der Aussagen unmöglich geworden. Diese Aporie befördert somit die unkritische Zustimmung zur Ideologie, macht jeden Versuch der argumentativen Auseinandersetzung von Anfang an unfruchtbar und zielt somit darauf ab, die RAF-Mitglieder in ihrem Handeln zu bestärken. Dabei wird der Aufbau der Gegenöffentlichkeit exzessiv dazu genutzt, die eigens formulierten Behauptungen als unumstößliche Tatsachen erscheinen zu lassen. Der herrschende Diskurs über die RAF wird deshalb gleich zu Beginn als unwahr diffamiert: „Daß fast alles, was die Zeitungen über uns schreiben – und wie sie es schreiben: alles – gelogen ist, ist klar.“[42] Diese Form der „argumentativen Entleerung“[43] setzt sich verstärkt in Bezug auf die versuchte Formulierung von Kampfesparolen fort: „Wir behaupten, dass die Organisierung von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik und in Westberlin richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist.“[44] Auch die zentrale Stelle, in der die RAF ihren Avantgardeanspruch zum ersten Mal formuliert, entbehrt einer logischen Beweisführung:

Wir behaupten, daß ohne revolutionäre Initiative, ohne die praktische revolutionäre Intervention der Avantgarde, der sozialistischen Arbeiter und Intellektuellen, ohne den konkreten antiimperialistischen Kampf es keinen Vereinheitlichungsprozeß gibt, daß das Bündnis nur in gemeinsamen Kämpfen hergestellt wird oder nicht, in denen der bewußte Teil der Arbeiter und Intellektuellen nicht Regie zu fahren, sondern voranzugehen hat.[45]

[...]


[1] Friedhelm Neidhardt: Über Zufall, Eigendynamik und Institutionalisierbarkeit absurder Prozesse. Notizen am Beispiel einer terroristischen Gruppe, in: H. v. Aleman, u. a. (Hgg.): Soziologie in weltbürgerlicher Absicht. Festschrift für René König, Opladen 1981, S. 244.

[2] Wolfgang Kraushaar, Jan Philipp Reemtsma, Hans Magnus Enzensberger: ‚Sie hatten nie eine politische Forderung…’ Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger über die Hintergründe der RAF, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, Bd. 2, S. 1392-1412.

[3] Ebd. S. 1392.

[4] Ebd. S. 1392.

[5] Vgl. Marisa Elena Rossi: Untergrund und Revolution. Der ungelöste Widerspruch für Brigate Rosse und Rote Armee Fraktion, Zürich 1993, S. 38.

[6] Wolfgang Kraushaar, Jan Philipp Reemtsma, Hans Magnus Enzensberger: ‚Sie hatten nie eine politische Forderung…’, a. a. O., S. 1392.

[7] Stefan Malthaner: Terroristische Bewegungen und ihre Bezugsgruppe. Anvisierte Sympathisanten und tatsächliche Unterstützer, in: Peter Waldmann (Hg.): Determinanten des Terrorismus, Weilerswist 2005, S. 99. Diese Bezugsgruppen der RAF stellen nach Malthaner die Kollektiva „das Volk und die proletarischen Massen der Bundesrepublik“ sowie „die unterdrückten Völker“ der dritten Welt dar.

[8] Vgl. Andreas Elter: Die RAF und die Medien. Ein Fallbeispiel für terroristische Kommunikation, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, a. a. O., S. 1066. Elter listet als Zielgruppe der terroristischen Kommunikation unter anderem „die eigenen Mitglieder“ auf, „denen die Aktionen als Bestätigung ihrer Haltung und ihres Handelns dienen sollten.“

[9] Peter Waldmann: Terrorismus. Provokation der Macht, Hamburg 2005, S. 15.

[10] Andreas Elter: Die RAF und die Medien, a. a. O., S. 1060.

[11] Die Paradoxie an dieser Stelle liegt darin, dass die terroristische Kommunikation zuvor einen Kommunikationsabbruch vollzieht, damit aber die Bedingung für die Fortsetzung der Kommunikation mit terroristischen Mitteln erzeugt, vgl. Peter Fuchs: Das System ‚Terror’. Versuch über eine kommunikative Eskalation der Moderne, Bielefeld 2004, S. 18: „Dieses Management [des Terrorismus, F. D.] bricht Kommunikation definitiv: ab – und setzt sie genau damit: fort.“

[12] Vgl. Kollektiv RAF: Das Konzept Stadtguerilla, in: Martin Hoffmann (Hg.): Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, S. 37: „Wir behaupten, daß es ohne revolutionäre Initiative, ohne die praktische revolutionäre Intervention der Avantgarde […] keinen Vereinheitlichungsprozess gibt.“ Vgl. dazu Sara Hakemi: Terrorismus und Avantgarde, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, Bd. 1, S. 604-619.

[13] Andreas Elter: Die RAF und die Medien, a. a. O., S. 1060-1074.

[14] Ebd. S. 1061.

[15] Vgl. Stefan Malthaner: Terroristische Bewegungen und ihre Bezugsgruppe, a. a. O., S. 99.

[16] Kollektiv RAF: Das Konzept Stadtguerilla, a. a. O., S. 26-48.

[17] Kurz zuvor hatte der bereits einsitzende Horst Mahler ein Positionspapier veröffentlicht, dass bei der Führungsebene der RAF jedoch auf strikte Ablehnung stieß, so dass Ulrike Meinhof den Auftrag bekam, eine korrekte Selbstdarstellung zu verfassen. Vgl. Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex, München 1998, S. 177.

[18] Dieser Begriff geht zurück auf den russischen Anarchismus im 19. Jahrhundert. Zur Begriffsgeschichte vgl. Andreas Elter: Die RAF und die Medien, a. a. O., S. 1064f. sowie Jan Bulig: Von der Provokation zur ‚Propaganda der Tat’. Die ‚Antiautoritäre Bewegung’ und die Rote Armee Fraktion (RAF), Bonn 2007, S. 118-121.

[19] Heinrich- W. Krumwiede: Ursachen des Terrorismus, in: Peter Waldmann (Hg.): Determinanten des Terrorismus, Weilerswist 2005, S. 42. Zur Studie des Bundesinnenministeriums: Iring Fletscher, Herfried Münkler, Hannelore Ludwig: Ideologien der Terroristen in der Bundesrepublik Deutschland, in: I. Fletscher, u. a. (Hgg.): Ideologien und Strategien, Opladen 1981, S. 16-271.

[20] Nicht berücksichtigt werden hier die Legitimationsstrategien durch Diskursformationen in der Mitte der 1970er Jahre, wie z. B. durch die Deutung des Terrorismus als bürgerkriegsähnlichen Zustand, vgl. Andreas Musolff: Terrorismus im öffentlichen Diskurs der BRD: Seine Deutung als Kriegsgeschehen und die Folgen, in: Klaus Weinhauer u. a. (Hgg.): Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a. M. 2006, S. 302-319.

[21] Wolfgang Kraushaar, Jan Philipp Reemtsma, Hans Magnus Enzensberger: ‚Sie hatten nie eine politische Forderung…’, a. a. O., S. 1392.

[22] Christoph Spehr: Gegenöffentlichkeit, in: Wolfgang Fritz Haug (Hg.): Historisch- kritisches Wörterbuch des Marxismus, Hamburg 2001, Bd. 5, Spalte 2.

[23] Zahlreiche Aktionen der APO wurden auf ihre Medienwirksamkeit hin konzipiert und auch von den institutionalisierten Medien durchaus intensiv wahrgenommen. Vgl. Karsten Fischer: Protestbewegung und Linksterrorismus – eine kausale Beziehung? Eine Anwendung der Methodologie Max Webers, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Nr. 5, 1995, S. 449.

[24] Vgl. Rudi Dutschkes Beitrag zu „Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit“ auf einer Forumsdiskussion 1967 in Hamburg. Zit. nach Andreas Musolff: Krieg gegen die Öffentlichkeit. Terrorismus und politischer Sprachgebrauch, Opladen 1996, S. 148 sowie Bahman Nirumand: Die Avantgarde der Studenten im internationalen Klassenkampf, in: Kursbuch, Nr. 13, Frankfurt a. M. 1968, S. 13: „Wir müssen eine Gegenöffentlichkeit herstellen, um unsere Ziele wirksam zu erläutern und diskutieren zu können, und dazu brauchen wir Gegen-Sender und Gegen-Zeitungen.“

[25] Kollektiv RAF: Die Rote Armee aufbauen. Erklärung zur Befreiung Andreas Baaders vom 5. Juni 1970, a. a. O., S. 24.

[26] Christoph Spehr: Gegenöffentlichkeit, a. a. O., Spalte 1.

[27] Vgl. Andreas Musolff: Krieg gegen die Öffentlichkeit, a. a. O., S. 158.

[28] Kollektiv RAF: Das Konzept Stadtguerilla, a. a. O., S. 43.

[29] Vgl. ebd. S. 38.

[30] Stefan Malthaner: Terroristische Bewegungen und ihre Bezugsgruppe, a. a. O., S. 100.

[31] Kollektiv RAF: Das Konzept Stadtguerilla, a. a. O., S. 33.

[32] Jamie Trnka: The West German Red Army Faction and its Appropriation of Latin American Urban Guerilla Struggles, in: Steve Giles, u. a. (Hgg.): Counter-Cultures in Germany and Central Europe. From ‘Sturm und Drang’ to Baader- Meinhof, Bern u. a. 2003, S. 315.

[33] Kollektiv RAF: Das Konzept Stadtguerilla, a. a. O., S. 33.

[34] Die Identifikation mit der Dritten Welt war bereits in den 1960er Jahren Diskursgegenstand und wurde von der RAF als unterstellter Grundkonsens innerhalb der Linken weiterentwickelt. Vgl. Michael Schmidtke: Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA, Frankfurt a. M. 2003, S. 273.

[35] Klaus Theweleit: Bemerkungen zum RAF-Gespenst, in: Ders.: Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge, Frankfurt a. M., Basel 1998, S. 35.

[36] Vgl. dazu Hans Magnus Enzensberger: Die Leere im Zentrum des Terrors, in: Ders.: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen, Frankfurt a. M. 1988, S. 245-249 sowie Gerrit-Jan Berendse: Aesthetics of (Self-) Destruction: Melville’s ‘Moby Dick’, Brecht’s ‘The Measures taken’ and the Red Army Faction, in: Steve Giles, u. a. (Hgg.): Counter-Cultures in Germany and Central Europe. From ‘Sturm und Drang’ to Baader- Meinhof, Bern u. a. 2003, S. 334.

[37] Vgl. Andreas Musolff: Krieg gegen die Öffentlichkeit, a. a. O., S. 154.

[38] Vgl. Kollektiv RAF: Das Konzept Stadtguerilla, a. a. O., S. 36: „Die Studentenbewegung zerfiel, als ihre spezifisch studentischkleinbürgerliche Organisationsform, das ‚Antiautoritäre Lager’ sich als ungeeignet erwies, eine ihren Zielen angemessene Praxis zu entwickeln“.

[39] Vgl. ebd. S. 38.

[40] Ebd. S. 38f.

[41] Vgl. Peter Waldmann: Terrorismus, a. a. O., S. 213: „Dank dieser Abstraktheit der Behauptungen ist jeder empirische Gegenbeweis ausgeschlossen.“

[42] Kollektiv RAF: Das Konzept Stadtguerilla, a. a. O., S. 28.

[43] Klaus Theweleit: Bemerkungen zum RAF-Gespenst, a. a. O., S. 52f.

[44] Kollektiv RAF: Das Konzept Stadtguerilla, a. a. O., S. 31.

[45] Ebd. S. 37.

Ende der Leseprobe aus 48 Seiten

Details

Titel
Die Propaganda des Terrors - Eine Analyse der Kommunikationsstrategie der ersten RAF-Generation
Hochschule
Universität Konstanz
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
48
Katalognummer
V89912
ISBN (eBook)
9783638042109
ISBN (Buch)
9783638940047
Dateigröße
609 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die erweiterte und vertiefte Fassung von "Legitimationsstrategien im RAF-Text Konzept Stadtguerilla". Neben der Untersuchung der Rhetorik der Selbstermächtigung im ersten Positionspapier der RAF findet in dieser Arbeit auch eine kommunikative Analyse der sogenannten "Mai-Offensive" statt, bei der die Codierung der Anschlagsziele sowie die Adressierung der Bekennerschreiben durchleuchtet werden. Die Arbeit nimmt also die "Propaganda der Tat" als auch die "Propaganda des Wortes" der frühen RAF in den Blick und deckt dadurch die Selbstbezüglichkeit des deutschen Terrorismus auf.
Schlagworte
Propaganda, Terrors, Eine, Analyse, Kommunikationsstrategie, RAF-Generation
Arbeit zitieren
Frank Dersch (Autor:in), 2007, Die Propaganda des Terrors - Eine Analyse der Kommunikationsstrategie der ersten RAF-Generation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89912

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