Die Partizipation von SprayerInnen im Freizeithaus am Mauerpark


Forschungsarbeit, 2018

66 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Von der Graffitiwand zur Frage unserer Forschung

3. Der Forschungsweg: Gespräche, Fragebogen & World-Café

4. Respekt und andere Regeln: Erkenntnisse und Ergebnisse

5. Diskussion und Bewertung

6. Reflexion der Forschung: Kritik und Anregungen
6.1 Kritik an unserem Vorgehen
6.2 Hinterfragen der Fragestellung
6.3 Der interne Blick der Jugendfreizeiteinrichtung

7. Fazit

8. Literaturverzeichnis

9. Anhänge zum Abschlussbericht
9.1 Hausordnung Freizeithaus am Mauerpark
9.2 Hallo Du Graffiti – der Fragebogen
9.3 Fragebogen – integriert die gesammelten Antworten
9.4 Begriffserklärung – exemplarisch Szeneworte erklärt
9.5 Plakate vom World-Café
9.6 Zeitlicher Ablauf
9.7 Verfolgung einer Tat der Sprayer*innen
9.8 Wirksamkeitsdialog des Bezirksamtes Mitte von Berlin (Stand 13.07.2017)

10. Anhänge im Rahmen des Portfolios
10.1 Posterpräsentation am 20.01.2018
10.2 Projektskizze (Stand 14.07.2017)
10.3 Projektskizze (Stand 27.01.2017)
10.4 Projektskizze (Stand 16.11.2016)

1. Einleitung

Mitgestalten – wer möchte das nicht? Selber festlegen wann, wie und unter welchen Bedingungen die eigene Zeit zu gestalten ist, kann kompliziert werden, wenn mehrere Personen sich einigen müssen. In solchen Situationen helfen Regeln Entscheidungen zu finden (vgl. Laux 1999: 101ff). So auch im Freizeithaus am Mauerpark (FaM), einer Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung in Trägerschaft des Bezirksamtes Mitte von Berlin. Der beteiligte Forscher, Sascha Grammelsdorff, leitet das Haus. Grundlage für die dort stattfindende Jugendarbeit ist § 11 SGB VIII (vgl. Gesetze für die Soziale Arbeit 2018: 1884) und damit verbunden der Anspruch: Angebote „sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen“ (ebenda). Zum Auftrag des FaM gehört es demnach, den Nutzer*innen Orientierung zu geben und Möglichkeiten zu schaffen, um zum einen in die bestehende Gesellschaft hineinwachsen zu können und zum anderen die vorfindliche Gesellschaft aktiv mit zu gestalten. Das deckt sich mit der Erkenntnis: „Jugendliche müssen in die komplexe Welt der Erwachsenen erst noch hineinwachsen, wobei es immer einmal zu – meist vorübergehenden – Fehlentwicklungen kommt“ (Walter 2014: 286). Spielräume für den Umgang mit solchen „Fehlentwicklungen“ zu gestalten gehört zum spannenden Alltag im FaM.

Im Hinterhof des Freizeithauses wurde 2012 in einem Beteiligungsprozess eine Wand dahingehend gestaltet, dass sich dort die Nutzer*innengruppe der Sprayer*innen künstlerisch betätigen kann.1 Diese Graffitiwand wird intensiv genutzt. Diverse Sprayer*innen verbringen ihre Zeit damit, Kunstwerke an die Wand zu zaubern. Tagsüber gestaltet M., eine Sprayerin, die als freie Mitarbeiterin im FaM tätig ist, mit Kindern und Jugendlichen Workshops, um diesen den Umgang mit Dosen und Farben näher zu bringen und sie mit dem Kunstverständnis der Szene vertraut zu machen. Sie setzt sich schon lange mit der Szene auseinander und unterstützt die Forschung als Kulturdolmetscher. Sie „kennt die Ausdrucksweisen, Formen, Symbole und Bedeutungen in mindestens zwei Kulturzusammenhängen. [...] Es erfordert persönlichen Einsatz, viel Zeit und gute Beobachtungsfähigkeiten, zu einem Kulturdolmetscher zu werden“ (Geuder 2015: 7). Bedingt durch die Regeln, die die öffentliche Verwaltung, als Träger des Hauses, aufgestellt hat, endet die legale Nutzung der Wand unter anderem mit dem Ende der Öffnungszeit (Siehe Punkt 3 der Hausordnung des FaM – Siehe Anhang Nr. 9.1). Aufgrund der Annahme, dass Menschen als Gemeinschaftswesen sich an den allgemeinen gesellschaftlichen Normen ausrichten, wird das Handeln der Nutzer*innengruppe der Sprayer*innen zu abweichendem, in der Fachsprache deviantem, Handeln (vgl. Walter 2014: 282). Für die Verantwortlichen der Einrichtung ergibt dies ein Dilemma. Der pädagogische Auftrag, der an den Interessen der jungen Menschen anknüpft, stößt an organisatorische Grenzen. Die Sprayer*innen sind bis in die Nachtstunden hinein aktiv, während das Personal des Hauses am Abend Feierabend macht. Wenn das Gebäude verschlossen wird, übernimmt ein Wachschutz die Aufsicht über das Gebäude und zeigt Hausfriedensbruch an, wenn Personen das Grundstück nutzen. Die Forschung sollte nun einen Beitrag leisten, um solch deviantes Verhalten zu reduzieren.

Die Forschung hatte das Ziel, Ansichten der Sprayer*innen zu vorhandenen Regularien herauszufinden, das Verhalten der Jugendlichen zu verstehen und die Fragen aus ihrer Perspektive zu betrachten: Sehen sie Probleme (oder nehmen nur die Verantwortlichen des FaM Probleme wahr)? Welche Regeln kennen die Sprayer*innen? Wie gehen sie mit diesen um? Welche Probleme erscheinen ihnen wie wichtig? Wofür möchten sie Lösungen haben? Und: Werden sie sich an der Gestaltung von Problemlösungsprozessen und der Weiterentwicklung der geltenden Regeln beteiligen?

Im Folgenden wird von der Forschung berichtet, wie sie durchgeführt worden ist und zu welchen Ergebnissen sie gekommen ist. Dabei gehen wir zuerst auf die Situation ein, aus der heraus sich das Anliegen der Forschung entwickelt hat. Das Zusammenspiel von Regeln, dem Verhalten der Nutzer*innen einer offenen Einrichtung und dem möglichen Einfluss auf diese Regeln durch die Nutzer*innen selbst, interessiert uns Forschende sowohl wegen solchen Fragen im Arbeitsalltag und den damit zusammenhängenden Spannungen, als auch aufgrund unserer studentischen Schwerpunktsetzung Partizipation und Sozialraumorientierung.

In einem ausführlichen Kapitel gehen wir auf das methodische Vorgehen ein. Dieses zeichnet sich durch die Kombination mehrerer Methoden aus. Wir beschreiben, wie wir zu der Kombination kamen und wie wir konkret verfahren sind. Die ursprünglichen Gedanken zur Planung sind im Anhang in den drei Projektskizzen nachzulesen, die im Verlauf der Forschungsplanung entstanden sind und sich aufeinander aufbauend entwickelt haben. Auf welche Ergebnisse wir gestoßen sind und was wir lernen konnten, ist im darauffolgenden Kapitel zu lesen. Die Erkenntnisse beruhen sowohl auf der Grundlage der Methoden, die zum Einsatz kamen als auch auf dem Prozess, der sich parallel zu unserer Forschung ergeben hat – nämlich, dass es zu Anzeigen gegen Sprayer*innen im Bereich der Graffitiwand im FaM kam. Es entwickelte sich eine Situation, in der unser Forschungsthema auch für einige Sprayer*innen zum lebensweltbezogenen Thema geworden ist.

Die Bewertung dessen, was wir herausgefunden haben, diskutieren wir ein Kapitel später. Darin liegt der Schwerpunkt sowohl auf Gedanken, die uns selber aufgrund der Ergebnisse wichtig geworden sind, als auch auf den Aspekten, die im World-Café am 12. Juli 2017 betont wurden. Schließlich kritisieren wir uns selbst. Wir reflektieren unseren Umgang mit den unterschiedlichen Methoden. Da die Forschung in der Praxis einer Einrichtung stattfand und partizipativ ausgerichtet war, gab es situationsbezogene Anpassungen, wie sie auch in ähnlichen Forschungen vorkommen (vgl. van der Donk/ van Lanen/ Wright 2014: 36).

Des Weiteren hinterfragen wir unsere Forschungsfrage. Grundlegend diskutieren wir zwischen den zwei Fragerichtungen: Was haben wir gefragt? Und: Was hätten wir fragen sollen? Dabei beziehen wir uns auf unser Interesse, mithilfe der Forschung die Praxis im FaM zu unterstützen, sich auf die aktuellen Herausforderungen einzustellen und mit diesen begründet umzugehen. Weil dieser Punkt sich in ein lebendiges und damit dynamisches Geschehen einfügt, kann unsere Reflexion nur anreißen, was an der Frage geeignet war oder wie sie hätte anders gestellt werden können. Die Reflexion erhellt das Spannungsfeld, in welches sich die Forschungsfrage einzuordnen hatte und hat. Für die Mitarbeitenden des FaM stellen sich ähnliche Fragen mit jeder Nutzer*innengruppe.

Am Ende kommen wir zum Ergebnis, dass die Gruppe der Sprayer*innen im Verlauf der Forschung mit einem inneren Prozess begonnen hat, in dem sie nach Lösungen suchen, wie die Nutzung der Graffitiwand – in ihrer Sprache hall of fame – im FaM weiterhin legal möglich wird. Die Leitung des FaM denkt über neue Projekte nach, durch welche die Nutzer*innen an Verantwortung für die Wand herangeführt werden können. Von solchen Projekten erhoffen sie sich, den Rahmen der vorhandenen Regeln erweitern zu können. So können eventuell im Rahmen eines Projekts auch Aktivitäten möglich werden, die jenseits der Öffnungszeit – in dafür vorgesehenen Gestaltungsräumen – stattfinden. Die Forschung ermutigt die Leitung des FaM und uns selbst, beteiligungsorientiert – in der Fachsprache partizipative – Forschungsprojekte zu wiederholen. Um im Bericht darzustellen, wie wir zu diesem Ergebnis kommen, fallen die drei Unterkapitel der Reflexion deutlich länger aus, als es der gesetzte Rahmen für diesen Bericht vorgesehen hat.

2. Von der Graffitiwand zur Frage unserer Forschung

Eine Nutzergruppe des FaM ist die Gruppe der Sprayer*innen. Dies begründet sich dadurch, dass die Sprayer*innen die Graffitiwand aktiv nutzen und diese künstlerisch mit Farbe aus der Dose gestalten. Die heterogene Gruppe besteht aus Einzelakteuren und kleinen Cliquen, die regelmäßig auf dem Gelände des FaM erscheinen. Jedoch kennen sich viele unter ihnen. Sie richten regelmäßig Wettbewerbe (battle) auf dem Gelände des FaM aus.

Sprayer*innen sind über ihre Kunst verbunden. Während die Kunstwerke – Graffiti – im fünf Bände umfassenden Lexikon der Kunst, welches zwischen 1968 und 1978 erschienen ist, fehlen (vgl. Alscher/ Feist/ Feist 1971: 124), wird das Wort in der 13. Auflage des Wörterbuches der Kunst sprachlich aus dem italienischen hergeleitet und als „teilweise durchaus als künstlerisch einzustufende, figürliche Darstellung an Hauswänden, öffentlichen Gebäuden,“ ... (Jahn/ Lieb 2008: 329) beschrieben. Graffiti drücken einerseits eine Protesthaltung aus und sind andererseits ironisch witzige Schnellmalereien, die einen Ausdruck der heutigen Zeit darstellen (vgl. ebenda). Aktuell benennt das Institut Graffiti-Forschung „Graffiti und Street-Art als eigenständige Kunst- und Kulturform“ (IFG 2013: o.A.) und in Berlin gibt es seit dem Jahr 2017 das Museums Urban Nation – Museum of Urban Contemporary Art (vgl. Stiftung Berliner Leben 2017: o.A.).

Welche Konflikte mit Regularien die Sprayer*innen als Nutzer*innen des FaM wahrnehmen, fokussierte die Forschung am Anfang. Erforscht wurde, ob die Nutzer*innen aus der Gruppe der Sprayer*innen in der Jugendfreizeiteinrichtung FaM Beteiligungsmöglichkeiten am vorhandenen Regelwerk sehen oder vermissen. Die Forschung zielte darauf ab, eventuelle Veränderungswünsche festzustellen (vgl. Geuder/ Grammelsdorff/ Hetey 2017c: 2) und so unerwünschtes Verhalten, Müll, Lärmbelästigung, crossen2 und verbale Ausfälle zu reduzieren. Mit dem im Rahmen der Forschung entstehenden gemeinsamen Wissensstand möchte das FaM in einen Prozess der gemeinsamen Gestaltung kommen, der die störenden und damit unangenehmen Verhaltensweisen reduzieren soll und die Eigenständigkeit der Gruppe fördert. Sowohl, welche Verhaltensweisen des FaM die Sprayer*innen stören, als auch, welche Verhaltensweisen der Sprayer*innen zu Konflikten mit Regeln und Gesetzen führen, rückt die Forschung in den Fokus. Als Praxisforschung verfolgte die Forschung das Ziel gemeinsame Lernprozesse anzustoßen und Handlungsweisen sowie die dazugehörenden Regeln zu reflektieren (vgl. van der Donk/ van Lanen/ Wright 2014: 34ff). Die Forschung zielte auf Verbesserungen der Praxis in der derzeitigen Situation.

Vorausgegangen war, viele Monate vor dieser Forschung, ein partizipativer Prozess mit den damaligen Nutzer*innen des FaM. In diesem Prozess ist eine Wand im umzäunten Hinterhof so umgebaut worden, dass sich die Sprayer*innen daran betätigen und Graffiti entstehen lassen können (vgl. Grammelsdorff u.A. 2012: o.A.). An dieser Graffitiwand finden sowohl Aktivitäten etablierter Sprayer*innen statt, als auch Programme des FaM, in denen Kinder und Jugendliche an künstlerisches Handeln herangeführt werden. Beide Nutzer*innengruppen co-existieren gut nebeneinander, weil ihre Aktivitätszeiten unterschiedliche sind. Zudem sind Graffitikunstwerke kurzlebig. Der oder die jeweilige Künstler*in nimmt das Foto, das unmittelbar nach Fertigstellung eines Graffitis geschossen wird, als Erinnerung und Anschauungsmaterial.

Allerdings treten in Bezug auf die Organisation des FaM immer wieder Spannungen auf, welche die legale Nutzung der Graffitiwand in Frage stellen. Mit diesen Spannungen setzen sich infolgedessen zuerst die Verantwortlichen im FaM auseinander. So entstand die Idee die sogenannte „Knickstelle“ zu beforschen (vgl. Geuder/ Grammelsdorff/ Hetey 2017b: 2), die sich an der Schnittstelle der institutionellen Seite sowie der Seite der Nutzer*innen ergibt. Nachdem wir die Idee auf ihre Machbarkeit hin überprüft haben und feststellen mussten, dass die Forschung umfangreicher sein würde als unsere Ressourcen, konzentrierten wir uns auf die Seite der Nutzer*innen. Das Wort „Knickstelle“ entfiel.

Für die Verantwortlichen des FaM unbekannt erschien bis dahin die Perspektive der Sprayer*innen auf das Problem, dass gesetzte Rahmenbedingungen die Partizipation über das pädagogisch notwendige Maß hinaus einschränken.

Unter den Gruppen, die das FaM nutzen, konzentrierte sich die Forschung von der Idee bis zur Durchführung auf die Gruppe der Sprayer*innen. Zum einen geschah dies willkürlich – wir Forschenden fanden diese Gruppe interessant. Zum anderen geschah dies, weil diese Gruppe durch ihre Aktivitätszeit, bis messbar nach der Schließzeit des Hauses, strukturell in Konflikt mit der Hausordung (darin insbesondere mit den Öffnungszeiten) geraten ist. Unbefriedigend für die Verantwortlichen des FaM ist dabei, dass die vorgehaltene legale Graffitiwand ungewollt ihre Funktion verliert, für die jungen Menschen einen Ort vorzuhalten, der nicht illegal ist. Zum Problem wird dabei im FaM nicht die künstlerische Betätigung selbst, über die sich die Gruppe definiert, sondern die Anwesenheit selbst stellt ein Fehlverhalten dar. Öffentliches Interesse an der erst einmal unbestimmten Gruppe der Sprayer*innen besteht insbesondere, weil sie in der polizeilichen Berichterstattung als wachsende Tätergruppe für im Bereich der Sachbeschädigung durch Graffiti benannt wird.3 Im Rahmen der von uns betriebenen Forschung haben wir versucht, das Verhalten der im FaM anwesenden Sprayer*innen zu verstehen. Dazu diente im gesamten Forschungsprozess die „Beobachtung der Akteure durch den Forscher auf der Mikroebene“ (Walter 2014: 283). Weil die Sozialisationstheorie davon ausgeht, dass „Kriminalität wie alles Verhalten, gelernt sei“ (ebenda), kann davon ausgegangen werden, dass die Erfüllung des pädagogischen Auftrags durch das FaM nach § 11 SGB VIII (vgl. Gesetze für die Soziale Arbeit 2018: 1884) einen gesellschaftlich wertvollen Beitrag leistet.

Die Forschung hat sich zur Aufgabe gemacht, Probleme rund um die Nutzung der Graffitiwand zu analysieren. Für die Praxis am FaM sollte dadurch die Grundlage geschaffen werden, um Lösungen zu finden, um die Nutzung der Graffitiwand den jungen Menschen auch zu anderen Zeiten legal zu ermöglichen. Die Forschung wollte mögliche Lösungsvorschläge erarbeiten.

Im Forschungsprozess wurden Mitglieder der betroffenen Gruppe beteiligt. Angestrebt wurde dabei echte Partizipation, wie sie gemäß der Partizipationspyramide ab Stufe vier beschrieben wird (vgl. Straßburger/ Rieger 2014: 232). Minimalziel ist gemäß dieser Stufe, dass die Mitarbeiter*innen des FaM anstehende Entscheidungen mit Sprayer*innen besprechen sowie gemeinsam über das jeweilige Vorhaben abstimmen (vgl. ebenda: 232) und, dass ebenso Sprayer*innen sich mit den Mitarbeiter*innen des FaM beraten sowie Entscheidungen gemeinsam mit diesen treffen (vgl. ebenda: 233). Die gewünschte Beteiligung setzt dabei an, dass der Blick auf Regeln in den Fokus gerückt wird; Regeln, die das FaM vorsieht ebenso, wie Regeln, welche den Sprayer*innen wichtig sind und ihnen in ihrer Kultur Orientierung geben.

Parallel zur Forschung ereigneten sich Vorgänge, die förderlich für den Prozess der Forschung waren. Während die Forschung anlief, häuften sich Ereignisse, durch die Aktivitäten von Sprayer*innen im Bereich des FaM zur Anzeige kamen. So nahm beispielsweise der Wachschutz, der das Objekt außerhalb der Öffnungszeiten betreut, von einigen Jugendlichen aus der Gruppe der Sprayer*innen die Personalien auf und erstattete formal Anzeige wegen Hausfriedensbruchs.4 Es zogen in die Häuser rundum neue Mieter*innen ein, die sich durch junge Menschen gestört fühlen. Infolge dieser Entwicklung kam es zu Konflikten. Diese eskalierten in einem offenen Schlagabtausch. Nach dem verbalen Streit kam es zu mehreren Anzeigen wegen Ruhestörungen. Diese Anzeigen führten dazu, dass einige Personen aus der Gruppe der Sprayer*innen sich mit Regeln und deren Sinn auseinandersetzten.

3. Der Forschungsweg: Gespräche, Fragebogen & World-Café

Sowohl Forschung als auch die Praxis Sozialer Arbeit mit ihren partizipativen Prozessen sind eingebettet „in komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge“ (Pfeiffer/ Püttmann 2015: 12). Für die Forschung im FaM wurden von uns Methoden gewählt, die während ihres Ablaufprozesses intensive Beteiligung der betroffenen gesellschaftlichen Gruppe, den Sprayer*innen im FaM, zulassen. Um zu klären, auf welche Fragen wir Antworten haben möchten, haben wir zunächst einen Fragebogenrohling entwickelt. Dabei beachteten wir die zentrale Bedingung, dass nur Fragen, die „von den Betroffenen so verstanden werden, wie es vom Forscher beabsichtigt ist“ (Kurz/ Prüfer/ Rexroth 1998: 85) und zu deren Beantwortung die Befragten in der Lage sind, zu validen Messungen führen können (vgl. Kempf 2015: 190). Wir übergaben den Fragebogenrohling an M., die mit den Sprayer*innen im Hinterhof des FaM arbeitet, um einen Pre-Test zur Überprüfung durchzuführen. Im Gespräch mit den Sprayer*innen wurden die Fragen weiterentwickelt; Formulierungen wurden angepasst und Missverständnisse ausgeräumt sowie szeneinterne Fachwörter integriert (vgl. Kirchhoff u.a. 2003: 25). Ein solches Fachwort ist beispielsweise das Verb crossen. Die Sprayer*innen übersetzten es uns als übermalen. Es benennt den Vorgang ein Graffiti zu übermalen und wird bereits angewendet, wenn in ein Graffiti hinein gemalt wird.

Der Prozess des Fragebogen-Pre-Tests brachte viele Gespräche und erste hypothetische Erkenntnisse mit. Die Gespräche hatten sowohl den Charakter als auch den Erfolg von Roland Girtlers Methode des Ero-epischen-Gesprächs (Girtler 2001: 147ff). Und schließlich wurde der Fragebogen in eine der Zielgruppe gemäße Schrift gebracht und wieder mit Hilfe der Honorarkraft an die Sprayer*innen herangetragen. Ein wichtiges Kriterium war bei diesem Prozess, dass die Fragebögen keinen Rückschluss auf den oder die ausfüllende Person zulassen würde. Dadurch erhofften wir uns ehrliche Antworten und rege Beteiligung.

„Mit der Frage nach der Validität (Gültigkeit) einer Messung ist die Frage gemeint, ob und inwieweit tatsächlich das gemessen wurde, was gemessen werden sollte. Trifft das eingesetzte Messinstrument überhaupt den Punkt“ (Greve/ Wentura 1997: 53)?5 Dies wiederum setzt Genauigkeit (Reliabilität) der Forschungsinstrumente voraus, was bedeutet, dass der Vergleich mit einem gegebenen Standard möglich ist (vgl. ebenda: 52). Für die Praxisforschung ergeben sich besondere Anforderungen an die Validität (vgl. van der Donk/ van Lanen/ Wright 2014: 43ff). Unsere Forschung ist auf Ergebnisvalidität ausgerichtet, die dann erhöht ist, wenn Lösungen für das Praxisproblem ermöglicht werden (vgl. ebenda: 44). Weil ein Forscher Mitarbeiter des FaM ist und die Forschung im Kontext eines Hochschulstudiums stattfand, bekommt auch die katalysierende Validität einen Stellenwert. Diese bezeichnet „das Maß, in dem der Untersuchungsprozess darauf ausgerichtet ist, den Fachkräften ein besseres Verständnis für ihre Berufspraxis zu vermitteln“ (ebenda). Unsere Forschung realisierte in Bezug auf beide Gütekriterien ein neugieriges Hinsehen mit dem Ziel von und mit den Sprayer*innen zu lernen.

Unter der Annahme, dass Insider*innen am Besten dazu beitragen können, Antworten ihrer Gruppe zu verstehen (Straßburger / Bestmann 2008: 17 f), wollten wir Sprayer*innen gewinnen, sich bei Auswertung und Deutung der Antworten aus dem Fragebogen zu beteiligen. Wir Forschenden wollten die Daten nicht allein bewerten, sondern sicherstellen, dass die Forschung in diesem entscheidenden Moment die Stufe vier der Partizipationspyramide erreicht (vgl. Straßburger/ Rieger 2014: 232). Die Macht, die gegebenen Antworten zu deuten, sollte mit den Sprayer*innen geteilt werden. Davon versprachen wir uns aussagekräftigere Ergebnisse als bei einer reinen Datenanalyse und -auswertung der kleinen Umfrage durch uns selbst. Als Auswertungsmethode entschieden wir uns für die World-Café Methode6 (vgl. Brown/ Isaacs 2007: 12 – 175). Die World-Café Methode eignet sich, um mit Menschen einer Gruppe ins Gespräch zu kommen. Wir planten, selber die Rolle der Gastgeber7 an den drei Fragetischen zu übernehmen. Und wir entschieden uns, das Gespräch selbst – im Girtlerschen Sinn (vgl. Girtler 2001: 147ff) – wichtiger zu nehmen als die Durchführung der Methode.

Schon im Fragebogen setzten wir einen Termin an. Bis zu diesem Termin (31. Mai 2017) waren jedoch erst sechs Fragebögen ausgefüllt zurückgekommen. Wir entschieden uns kurzfristig, diesen Termin zu verschieben. Gründe waren erstens, dass die Datenbasis bis dahin sehr dünn war, sowie zweitens, dass aktuelle Entwicklungen das Thema der Forschung in der Szene verstärkt zum aktuellen Thema werden ließen. Die Anzeige wegen Hausfriedensbruch durch den Wachschutz sowie der Streit mit Anwohner*innen waren die Ereignisse, über die wir am meisten sprachen. Bis zum Termin, der dann am 12. Juli 2017 stattfand, kamen 16 Bögen ausgefüllt zurück.

Zum World-Café hatten wir die Sozialraumkoordinatorin eingeladen, welche die Verantwortung für die Kinder- und Jugendarbeit in der Region Zentrum im Bezirk Mitte von Berlin trägt. Diese Einladung sollte zum einen den Sprayer*innen die Möglichkeit geben, die Perspektive des öffentlichen Trägers direkt erfahren zu können. Zum anderen sollte der Träger des FaM selbst an unserer Forschung beteiligt werden, denn aus der Forschung resultierende Entwicklungen wirken auf den öffentlichen Träger, das Bezirksamt Mitte von Berlin, zurück.

Mit der Einladung erreichen wir im Hinblick auf den Träger des FaM die Stufe drei der Partizipationspyramide: „Fachkräfte lassen sich von AdressatInnen auf der Basis ihrer Lebensweltexpertise beraten. Es bleibt offen, ob sie deren Einschätzung bei der Entscheidung berücksichtigen“ (Straßburger/ Rieger 2014: 232). Wir verbanden die Einladung jedoch mit der Hoffnung auf Stufe vier: „Fachkräfte und AdressatInnen besprechen anstehende Entscheidungen und stimmen gemeinsam darüber ab, was geschehen soll“ (ebenda). Im Vorfeld der Forschung hatte Sascha Grammelsdorff als Leiter des FaM und beteiligter Forscher wiederholt das Gespräch mit diversen Mitarbeiter*innen des örtlichen Jugendamtes gesucht. Dort traf er neben Zustimmung und Neugier auch auf die Angst, er könne durch die Forschung ein „U-Boot“8 auf die Reise schicken. Diese Angst kann zur Folge haben, dass Beteiligungsmöglichkeiten zu einem Zeitpunkt eingeschränkt werden, zu dem sie eigentlich noch möglich sind und im Sinne des Auftrages der offenen Kinder und Jugendarbeit (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII) ausdrücklich erwünscht sind.

Am 12. Juli 2017 fand im FaM unser World-Café statt. Neben uns drei Forschenden waren fünf Sprayer9, M., die mit Sprayer*innen arbeitet, sowie eine Mitarbeiterin des Jugendamtes anwesend. Letztere erschien in Vertretung der Person, die eigentlich eingeladen war, weil sie die Kinder- und Jugendarbeit im Bezirk verantwortet. Um eine der Forschung dienende Kommunikationssituation herzustellen, folgten wir der Taktik, die Beteiligten zum Diskutieren anzuregen (vgl. Girtler 2001: 163). Nach einem kurzen Gesprächsgang zum Warmwerden, in dem wir die Forschung, unser Anliegen, den Abriss der Geschichte der Wand sowie die aktuelle Situation erinnerten, stiegen wir in die Gruppenarbeit des World-Café ein.

Wir hatten in unterschiedlichen Räumen des FaM drei Tische aufgebaut und jeweils mit einer Frage versehen:

1. Wenn Du eine eigene Wand hättest, welche Regeln sollen gelten?
2. Was heißt für Dich soziales Miteinander? (Ist das ein Fremdwort?)
3. Was wären Gründe, dass Du Dich für die Wand im FaM stark machst und Dich an ihrer Entwicklung beteiligst? (Motivation) (Wie könnte Deine ganz persönliche Beteiligung hier an der Wand aussehen?)

Weil die Anzahl der anwesenden Sprayer nur für eine Gesprächsgruppe ausreichte, entschieden wir uns, als ganze Gruppe von Tisch zu Tisch zu gehen. Wir fingen mit der ersten Frage an und kamen ins Gespräch. Neben dem Tisch, auf dem das Blatt mit der Frage lag, konnten wir durch die Fensterfront in den Hinterhof sehen. Das Gelände des FaM sowie die Nachbargrundstücke und -häuser waren zu sehen. Es nieselte und an der Graffitiwand betätigte sich ein einzelner Sprayer. Dieser hatte die Einladung zum World-Café ausgeschlagen. Unser Gespräch verlagerte sich vom Tisch mit der Frage weg, bis wir schließlich alle an den Fenstern standen.

Das Gespräch entwickelte sich so gut, dass die Sprayer viel über sich, über das Verhalten der Sprayer*innen untereinander und über die dabei geltenden Regeln erzählten. Wir erfuhren, dass die Graffitiwand im FaM einen sehr guten Ruf hat, weil dort Ordnung und Sauberkeit sowie Ruhe beim Arbeiten an den Kunstwerken herrscht. Zudem sind die Graffiti manchmal etwas länger zu sehen als an anderen Wänden. Die Nutzung der Wand durch die Kinder in den Workshops sehen die Sprayer*innen wohlwollend. Sie respektieren, dass die nachwachsende Generation den Umgang mit der Dose erproben muss und begrüßen, dass die Kinder sich aktiv mit der Kunst auseinandersetzen.

Im Gespräch nahmen die Sprayer*innen einen Impuls auf, dass die Möglichkeit einer teilweisen Selbstverwaltung entwickelt werden könnte, was bedeuten würde, dass für den Zugang zum Hof ein Pfortenschlüssel an konkret zu benennende Personen ausgegeben würde. Diese Personen nehmen an einem noch zu entwickelnden Projekt des FaM teil und hätten die Möglichkeit die Außenanlagen unabhängig von den Öffnungszeiten legal zu nutzen. Allerdings hängt daran die Verbindlichkeit, dass im FaM die Namen und Kontaktdaten der Beteiligten bekannt sein müssen, sowie dass diese Personen während ihres Aufenthalts auf dem Gelände Verantwortung für die ausgehandelten Regeln des Projektes und die Regeln im Umgang mit der Nachbarschaft tragen.

Das Gespräch am ersten Tisch und an der Fensterfront mit Blick Richtung Graffitiwand dauerte über 90 Minuten. Damit war die Zeit ausgeschöpft, die als Aufmerksamkeitsspanne angenommen wird (vgl. Krengel 2017: o.A.). Als Abrundung schrieben die Sprayer noch ein paar Stichworte auf das große Blatt mit der ersten Frage. Dann bedankten wir Forschenden uns bei ihnen für ihr Erscheinen, die Offenheit im Gespräch und ihr intensives Mitdenken. Und wir schenkten jedem von Ihnen jeweils drei Dosen mit qualitativ hochwertiger Farbe. Sichtlich erfreut gingen sie. Unmittelbar danach stellten wir Forschenden uns mit der Mitarbeiterin des Jugendamtes und M. zu den anderen Tischen und notierten, was wir aus dem Gespräch mit den Sprayer*innen herausgehört haben.

4. Respekt und andere Regeln: Erkenntnisse und Ergebnisse

Zu Beginn kannten wir Forschenden die Gruppe der Sprayer*innen nur von außen. Wir bekamen durch die Forschung einen Einblick in deren Verhaltenskodex rund um das Erstellen ihrer Kunst. Die Forschung fand nicht im öffentlichen Raum statt, sondern in der Jugendfreizeiteinrichtung. Ziel war es, dort etwas über Umgang mit Regeln und Beteiligungsmöglichkeiten daran heraus zu finden. Unsere Ergebnisse beruhen auf 16 ausgefüllten Fragebögen, die bis zum 12. Juli 2017 bei uns ankamen und aus dem Gespräch mit fünf Sprayern im Rahmen des World-Café am 12. Juli 2017. Der Text, in dem wir hier unsere Erkenntnisse darstellen, ist darüber hinaus beeinflusst durch unsere Eindrücke aus der Gesamtheit der Gespräche, die im Prozess der Forschung mit der Gruppe der Sprayer*innen stattfanden.

Der Mehrheit der Sprayer*innen, die im FaM mit uns in Kontakt traten, sind Regeln bekannt, die sie an der Graffitiwand einzuhalten haben. Das bezeugen sowohl die 13 bejahenden Antworten auf die direkte Frage im Fragebogen als auch die vielen konkret ausformulierten Antworten zur Frage: „Kennst Du szeneinterne Regeln für die legale Wand nennen bezüglich crossen, Respekt, übermalen?“ Diese war in zwei Spalten zu beantworten: „Szeneintern unter Sprayern“ und „vom Freizeithaus (weil die Wand dort steht)“ (vgl. Anhang Nr. 9.3: Fragebogen – integriert die gesammelten Antworten sowie Anhang Nr. 9.5: Plakate vom World-Café).

Szeneintern bestehen die Regeln aus Respekt vor der Kunst und der Kunst schaffenden Person. Selbstverständlich ist, dass Graffitis nicht übereinander gecrosst werden. Entweder wird vor Beginn die Wand neutral überstrichen oder das Werk des Vorgängers respektvoll stehen gelassen. Und es gibt Regeln für die Gestaltung der Kunstwerke selbst; zum Beispiel: „Keine Chromebilder über farbige (Wild-) Styles“ (vgl. ebenda).

Aber auch Regeln, die im FaM gelten sind in der Gruppe der Sprayer*innen bekannt; neben der Annahme, dass Sauberkeit und Ordnung herrschen sollen, besonders die Verbote: „Keine rassistischen oder sämtliche Hassbotschaften sprühen/ verbreiten, Rauchverbot, Alkoholverbot, keine Drogen“ (ebenda).

Ob diese Regeln sinnvoll sind, wurde kontrovers beantwortet. Dabei fand sich die bilanzierende Antwort: „Ohne diese Regel würde es diese schöne Wand womöglich schon lange nicht mehr geben“ (ebenda). Einen eigenen Einfluss auf die Regeln sehen nur sehr wenige der Antwortenden. Die Mehrheit weiß nicht, ob sie Einfluss auf die Gestaltung der Regeln hat oder sieht diesen nicht. Nur ca. ein Drittel derer, die geantwortet haben, hat Lust daran, die Regeln mit auszuhandeln. Im Gespräch kam darüber hinaus heraus, dass es zwar Gruppenmitglieder gibt, die gern Regeln mitbestimmen wollen, dass diese aber kein Interesse haben, für andere Verantwortung zu übernehmen oder sich wegen veränderter Regeln mit anderen zu streiten.

Daraus folgen dann gute Wünsche für die Zukunft der Graffitiwand. Die Sprayer*innen wünschen, „das die Wand bestehen bleibt, denn es gibt kaum legale Flächen mehr in Berlin“ (ebenda) und haben aus ihrem Wertegefüge den Lösungsansatz „Respektiert Wand und Umgebung und ihr werdet respektiert“ (ebenda). Und es besteht der Wunsch zu mehr Zeiten legal an die Graffitiwand gehen zu können; zum Beispiel am späten Abend oder am Wochenende. Diesem Wunsch steht jedoch der Vorbehalt entgegen, dass jeder*r nur Verantwortung für sich selbst übernehmen möchte und sich damit keine*r für die allgemeine Einhaltung der Regeln einsetzten möchte.

Die am World-Café Beteiligten griffen die Idee einer möglichen Selbstverwaltung der Graffitiwand auf und entwickelten diese in Hinblick auf die damit verbundenen Möglichkeiten. Der Gedanke, mit Hilfe eines eigenen Schlüssels freien Zugang zu haben, wurde begrüßt. Die damit verbunden Verantwortungsübernahme stieß an die Grenze, dass keine*r Verantwortung für andere Gruppenmitglieder übernehmen will. Der Weg, ein entsprechendes Projekt zu entwickeln und mit Inhalt zu füllen, ist – bildlich gesprochen – ausgeschildert aber noch nicht begangen.

Die am World-Café beteiligten Sprayer betonten den guten Ruf, den die Wand im FaM in der Szene hat:

1. Die Graffitiwand im FaM ist erstens ruhig. Das bedeutet, dass man sich auch komplizierte Graffiti-Kunstwerke vornehmen kann.
2. Die Wand ist zweitens legal. Das bedeutet, dass an dieser Graffitiwand nicht mit Ärger durch die Polizei gerechnet werden muss.
3. Und diese Graffitiwand ist drittens ruhig sowie frei von Touristen.10 Auf diese Leute sind die Berliner Sprayer*innen schlecht zu sprechen, weil sie die Orte, an denen Graffiti entstehen können, verknappen. Weil nur ein sehr kleiner Teil dieser möglichen Orte legal besprayt werden kann, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei gegen die Szene aktiv wird. Der Ärger über diese Touristen drückt sich in praktischem Handeln unter anderem darin aus, dass Respektregeln, wie das Verbot zu crossen (also in andere Graffiti hinein zu sprayen), bewusst übertreten werden und Kunstwerke der Touristen absichtlich respektlos gecrosst werden.
4. Und viertens kommt es an der Wand im FaM vor, dass ein gelungenes Kunstwerk nicht gleich überstrichen wird, sondern ein paar Stunden sichtbar bleibt. Weil diese Vorteile die Wand im FaM äußerst attraktiv machen, ist den Nutzer*innen sehr daran gelegen, dass es diese Wand weiterhin gibt.

Auf unserer Nachfrage im Gespräch beim World-Café, wie die Meinung der Sprayer*innen gegenüber den Kinder- und Jugendgruppen, die sich am Tage an der Wand betätigen, aussieht, kam das zustimmende Votum, dass es einen Ort benötigt, wo man sich ausprobieren kann. Die anwesenden fünf Sprayer standen den Kindern- und Jugendlichen freundlich gegenüber, auch wenn sie die Kunst derselben nicht ganz gleichwertig mit ausgereiften Graffitis ansahen. Sehr deutlich wurde der Unterschied in ihrer Bewertung zwischen dem Phänomen der Touristen und der hier stattfindenden Nachwuchsförderung.

Während der Forschung nahmen die Aussagen der Sprayer*innen zu, mit denen sie Fragen zu den Regeln auf ihre Wirkung hin thematisierten. Sie erklärten den Nutzen von Regeln für sich selbst ebenso, wie die unangenehmen Auswirkungen, wenn andere sich nicht an Regeln halten. Indem beim World-Café die Idee einer teilweisen Selbstverwaltung der Graffitiwand erörtert wurde, entstand eine Frage, die sie praktisch betreffen kann. Unterschiedliche Positionen, die sich nicht auflösen ließen (zum Beispiel die Ansichten der zugezogenen Nachbarn zu Aktivitäten an der Graffitiwand) regten dazu an, die eigene Fähigkeit, etwas auszuhalten, zu erproben. Dies erhöhte die Fähigkeit Ambiguitäten – also sich teilweise widersprechende Realitäten – auszuhalten. Solche Phänomene lassen sich mit den Kriterien Neuartigkeit (novelty), Komplexität (complexity) sowie Unlösbarkeit (insolubility) beschreiben (vgl. Rademacher 2003: 67ff).

Parallel zur Forschung ist an der Graffitiwand in Bezug auf Umgang, Regeleinhaltung und Zusammenschluss von unterschiedlichen Gruppen etwas passiert: Fragen nach Regeln im FaM, in der Kultur der Gruppe und in der Gesellschaft werden besprochen. Das konnte Sascha Grammelsdorff im Zusammenhang seiner Aktivitäten als Leiter des FaM selbst hören und hat es auch von anderen erzählt bekommen. Beteiligung am Thema Regelwerke hat sich vergrößert. Sie findet nun nicht mehr nur aus „institutionell-professioneller Perspektive“ (Straßburger/ Rieger 2014: 232) statt, sondern ausgelöst durch die Forschung auch „aus der Perspektive der Bürgerinnen und Bürger“ (ebenda: 233). Indem sich ein solcher interner Gesprächsprozess bei den Sprayer*innen einwickelt hat, ist ein Ergebnis für die Praxis erreicht worden, das Lösungsprozesse für das Praxisproblem, an dem wir geforscht haben, in Gang gesetzt hat.

5. Diskussion und Bewertung

Da die Gruppe der Sprayer*innen in der Regel wenig über ihre internen Zusammenhänge preisgibt, war vor Beginn der Forschung offen, ob wir tatsächlich auf Beteiligung treffen würden. Aus dieser Perspektive ist der Rücklauf von 16 Fragebögen ein Ausdruck intensiven Interesses von Seiten der Sprayer*innen. Das FaM schätzt, dass derzeit ca. 50 bis 60 Sprayer*innen regelmäßig auf dem Gelände aktiv sind (vgl. Grammelsdorff u.A. 2016: o.A).11

Positiv bewerten wir die Tatsache, dass zum World-Café fünf Gruppenangehörige erschienen sind und sich auf ein intensives Gespräch eingelassen haben. Es ist uns gelungen eine Kommunikationssituation herzustellen, in der wir viel erfahren haben. Dabei nutzten wir ein ähnliches Setting, wie es Professor Girtler beschrieben hat (vgl. Girtler 2001: 162).

Der Aufwand, den die Sprayer*innen betreiben, um ihre Kunstwerke zu schaffen, verdient Respekt. Um regelkonform ein Graffiti zu fertigen, investieren sie viel Zeit. Erst streichen sie den Grund. Dann sind sie lange beschäftigt, das Graffiti an die Wand zu bringen. Und dann gibt es „nur“ ein Erinnerungsfoto, bevor das Kunstwerk der Vergänglichkeit überlassen wird.12 Das Erinnerungsfoto wird zum Andenken, zur Trophäe und zum historischen Beweis. Und schon steht wieder jemand mit einem Eimer Farbe da, um mit der Vorbereitung des eigenen Kunstwerkes zu beginnen. Dieser Ablauf findet an der Wand im FaM täglich mehrfach statt. Das Spannungsfeld zwischen der Hausordnung und den Interessen der Sprayer*innen stellte sich als unbedeutender heraus, als wir es vor Beginn der Forschung angenommen hatte. Die vorhandenen Ordnungen wurden von der Gruppe dieser Nutzer*innen tendeziell nicht als Problem verstanden. Erst, als es Beschwerden von Nachbarn gab und bei der Polizei Anzeigen erstattet worden sind, ist das Interesse an einer Lösung (beispielsweise in Richtung partieller Selbstverwaltung der Graffittiwand) aufgekommen.

Der gute Ruf, den die Graffitiwand im FaM in der Szene genießt, wurde erst deutlich, als die Sprayer, die sich am World-Café beteiligt haben, diesen Aspekt betonten. Ihre Ausführungen haben uns geholfen zu dem Ergebnis zu kommen, dass der gute Ruf unmittelbar etwas mit der besonderen Lage im Garten des FaM zu tun hat. Sogenannte Touristen finden den Zugang nicht so leicht. Die Ruhe an der Wand hat etwas mit dem Schutzraum, den die Einrichtung bietet, zu tun. Und in diesem Schutzraum erhöht sich sowohl die Ruhe für den*die Kunstschaffenden, als auch die Würdigung des Kunstwerkes, indem es beispielsweise gelegentlich länger zu sehen ist (und eben nicht sofort überstrichen wird).

Von der respektvollen Haltung zu ihresgleichen und zur Graffitikunst zeugt auch, dass es für die Sprayer, die sich am World-Café beteiligten, ausdrücklich kein Problem darstellt, dass Kinder- und Jugendliche sich an der Graffitiwand im FaM ausprobieren können. Der innere Wert, dass auch die Graffitikunst gelernt sein will und dafür Zeiten und Orte zum Üben benötigt werden, war zu erkennen. In diesem Punkt treffen sich die inneren Werte der Sprayer*innen mit Auftrag und Selbstverständnis der Jugendfreizeiteinrichtung. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass es sich lohnt, die Graffitiwand im FaM zu erhalten und die Rahmenbedingungen so anzupassen, dass die Wand weiter zu Verfügung steht und legal genutzt werden kann.

6. Reflexion der Forschung: Kritik und Anregungen

Aus der Reflexion der von uns eingesetzten Methoden können sich zukünftige Forschergruppen bei der Planung ihrer Forschungsdesigns anregen lassen. Die Reflexion der Forschungsfrage kann vom Team des FaM und vom dahinterstehenden öffentlichen Träger zum Anlass genommen werden, um sich frühzeitig auf andere Fragen einzustellen, die durch äußere Entwicklungen aufgeworfen werden.

Über das Maß der Forschung hinaus haben wir uns entschieden auch zum internen Blick der Jugendfreizeiteinrichtung ein Kapitel zu verfassen. Dort fand die Forschung statt und dort findet die Praxis statt, die durch die Forschung verbessert werden sollte. Wir stellen in diesem Kapitel dar, wie unsere partizipative Sozialforschung den Brückenschlag hergestellt hat, in dem die spezifischen Anliegen der Beteiligten und ihre Wertehaltung berücksichtigt wurden (vgl. Rosenbrock 2014: 9).

6.1 Kritik an unserem Vorgehen

Die durchgeführte Forschung in ihrem Wesen als partizipative Forschung, kann als Untersuchungsform der innovationsorientierten Untersuchung zugeordnet werden (vgl. van der Donk/ van Lanen/ Wright 2014: 54). Vor diesem Hintergrund ist keine der eingesetzten Methoden in der Form zur Anwendung gekommen, wie sie in der Literatur beschrieben werden. Grundsätzlich ist deshalb zu kritisieren, dass die Vergleichbarkeit der Forschung mit anderen Forschungen, die dieselben Methoden verwenden schwierig ist. Um Erkenntnisse zu gewinnen, haben wir einen Fragebogen inklusive Pre-Test (vgl. Kirchhoff u.A. 2003: 25) und eine World-Café-Veranstaltung (vgl. Brown/ Isaacs 2007: 12ff) verwendet und im Vollzug der gesamten Forschung einen Prozess gestaltet, der durch viele Gespräche mit den Sprayer*innen der Methode des Ero-epischen-Gesprächs (vgl. Girtler 2001: 147ff) nahe kommt.

Geleitet wurde die Forschung von dem Ziel, ein Beteiligungsniveau der vierten Stufe der Partizipationspyramide (vgl. Straßburger/ Rieger 2014: 232+233) zu erreichen. Dieses Ziel sehen wir als erreicht an, denn die Gruppenangehörigen haben sich aktiv beteiligt und ihre Ideen und Erkenntnisse mitgeteilt. Diejenigen, die sich beteiligt haben, waren aus freiem Entschluss dazu bereit. Sie sind von uns nicht gedrängt worden und haben auf die Einladung sich zu beteiligen reagiert. Unter denen, die zum World-Café kamen, sprach die Hälfte davon, dass sie keinen Fragebogen abgegeben haben. Insofern ist der Einsatz der unterschiedlichen Methoden gelungen, denn sie haben auf unterschiedliche Weise Anlass gegeben, sich mit der Fragestellung auseinander zu setzten. Allerdings haben weder der Fragebogen noch das World-Café so Anwendung gefunden, wie sie nach den wissenschaftlichen Standards (vgl. Lamnek 2010: o.A. und Kirchhoff u.a. 2003: o.A.; und Brown/ Isaacs 2007: o.A.) hätten eingesetzt und durchgeführt werden sollen. Weil wir im Bereich einer offenen Gruppe geforscht und die Fragebögen ungezählt verteilt haben, können wir keine Aussage treffen, wie viele Sprayer*innen sich tatsächlich an der Forschung beteiligt haben. Für die klassische Auswertung fehlt dadurch die Beteiligungsgröße (vgl. Kirchhoff u.a. 2003: 47ff). Die Zahl der Sprayer*innen, die sich regelmäßig auf dem Gelände des FaM aufhalten, kann auf ca. 50 bis 60 Personen geschätzt werden13.

Erst im Verlauf der Forschung, während der begleitenden Literaturrecherchen, wurde uns die Methode des Ero-epischen-Gesprächs bekannt (Girtler 2001: 147ff). Damit haben wir auch diese Methode nicht planvoll, sondern aus der eigenen Entwicklungsgeschichte heraus angewendet. Für eine ähnliche Forschung könnte diese Methode konsequenter von der Planung bis hin zur Durchführung berücksichtigt werden.

Während des Forschungsprozesses setzten wir uns intensiv mit der Rolle des Forschers, der zeitgleich Leiter der Einrichtung, in der die Forschung stattfand auseinander.14 Indem wir M., die intensiv mit der Gruppe der Sprayer*innen in Kontakt ist, einbezogen haben und durch diese einen Kommunikationskanal mit niedriger Hierarchie nutzen konnten, gestaltete sich der Forschungsprozess so, dass die nötige Offenheit entstanden ist, die schließlich zu einem Gesprächsgang mit Erkenntnisgewinn geführt hat. Anteilige Erkenntnisse und begründete Hypothesen entstanden auch in sehr vielen alltäglichen Gesprächen, die während des gesamten Zeitraumes, in dem die Forschung ein Thema im FaM war, geführt wurden. Diese Gespräche waren und sind ihres Wesens nach Teil des regulären Betriebes der Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung.

Nach der Zielsetzungstheorie von Locke und Latham haben wir die Forschungsaktivitäten smart gestaltet. Das bedeutet, dass wir spezifisch, messbar, akzeptiert, realistisch und terminiert verfahren sind (vgl. Storch 2009: o.A.). Spezifisch war für uns das gemeinsame Aushandeln der einzelnen Schritte mit der Gruppe der Sprayer*innen. Besonders sind dabei die Veränderungen des Fragebogens vom Pre-Test zum ausgegebenen Exemplar zu erwähnen. Wir waren frei, gesetzte Termine, wie den für das World-Café, zu verschieben, wenn dies im Sinn der Akzeptanz besser erschien. Der Zuspruch, den wir beim Ausführungstermin erfuhren, gibt dieser Herangehensweise recht. Beidseitig akzeptiert sollen in den zu entwickelnden Projekten auch die ausgehandelten Regeln sein, die notwendig sind, um Situationen mit Konfliktstoff meistern zu können. Realisierbar und somit realistisch wurde die Forschung, weil sie sich in eine Kette unterschiedlichen Aktivitäten mit der im FaM anwesenden Gruppe der Sprayer*innen eingereiht hat. Dieser Aspekt wiegt schwerer als die Frage nach den eingesetzten Methoden, denn er hat grundlegenden Charakter, um eine solche Forschung in die vorgegebene Zeit einzubauen. So wurde es möglich terminiert zu forschen. Wir konnten mit der Anwesenheit von Vertretern der Nutzer*innengruppe rechnen, auch wenn offen war welche konkreten Personen sich beteiligen würden.

6.2 Hinterfragen der Fragestellung

Aufgrund des Ergebnisses, dass die Gruppe der Sprayer*innen das Spannungsfeld zwischen der Hausordnung und den eigenen Interessen kleiner bewertet, als wir es vor Beginn der Forschung angenommen hatten, ist die kritische Frage zu stellen, ob wir uns für die richtige Seite entschieden haben? Von der Ausgangsannahme her wäre es mutmaßlich erkenntnisreicher gewesen, die Seite des Trägers der Einrichtung zu beforschen, denn dieser hat die Regeln der Hausordnung aufgestellt. Allerdings steht es uns oder einer anderen Forschergruppe frei, zu einem anderen Zeitpunkt eine ähnliche Forschung in dieser Richtung zu betreiben. Eventuell kann dafür aus der vorliegenden Forschung die Fragerichtung aufgenommen und neu ausgerichtet werden.

Die für die Forschung aufgeworfenen Fragen waren für die Sprayer*innen zu Beginn der Forschung kein großes Thema. Sie haben sich im vorhandenen Raum – dem Gelände des FaM mit der darauf befindlichen Graffitiwand – bewegt, ohne die vorhandenen Regeln zu überprüfen. Aufgrund des Forschungsergebnisses, dass die Wand in der Szene ihren guten Ruf auch deswegen hat, weil die Regeln durchgesetzt worden sind, stellt grundsätzlich die Frage, ob wir an einem relevanten Thema geforscht haben?

Erst die Anzeigen durch Wachschutz15 und Nachbar*innen sowie die daraus folgenden Aktivitäten der Polizei haben dazu geführt, dass die Fragestellung der Forschung für einen größeren Teil der Sprayer*innen zum Thema wurde. Dies belegt der im relevanten Zeitraum sprunghaft gestiegene Rücklauf ausgefüllter Fragebögen ebenso, wie die Intensität, in der die fünf Sprayer, die am World-Café teilgenommen haben, sich an der Lösungssuche beteiligt haben. Die Fragestellung, die wir aufgestellt haben, hatte demnach die Themen im Blick, die aufgrund äußerer Entwicklungen aktuell zu bearbeiten waren und sind. In diesem Sinn ist es gelungen, sowohl wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, die dem Gütekriterium Ergebnisvalidität (vgl. van der Donk/ van Lanen/ Wright 2014: 44) entsprechen, als auch die Erfüllung der Aufgabe der Jugendfreizeiteinrichtung gemäß § 11 SBG VIII zu stärken, junge Menschen zur Selbstbestimmung zu befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und sozialem Engagement hin zu führen (vgl. Gesetze für die Soziale Arbeit 2018: 1884). Ob die Fragen anders formuliert besser angenommen worden wären oder ob wir ohne die Entwicklungen im umgebenden Sozialraum auch zu relevant erscheinenden Erkenntnissen gekommen wären, ist schwer einzuschätzen.

Die Fragen direkt an die Betroffenen zu stellen, und ihre Ideen zu erfahren, entspricht dem Ideal der partizipativen Forschung (vgl. Rosenbrock 2014: 9). Im von Rosenbrock beschriebenen Sinn, ist mit der Frage an die Betroffenen der „Brückenschlag“ gelungen, in dem sowohl die Anliegen der Beteiligten, wie auch ihre Werte berücksichtigt wurden (vgl. ebenda). Gültige Ergebnisse im Sinne der partizipativen Forschung zu erzielen (vgl. van der Donk/ van Lanen/ Wright 2014: 43ff) ist mit der Fragestellung an die konkrete Nutzer*innengruppe des FaM möglich gewesen. So sind im Rahmen der Forschung Entwicklungen ermöglicht worden, die die praktische Arbeit des FaM unterstützen. In diesem Sinn kann die Fragestellung positiv bewertet werden.

6.3 Der interne Blick der Jugendfreizeiteinrichtung

Aus Sicht der Jugendfreizeiteinrichtung stellt sich als erste kritische Frage die, ob die Ergebnisse für die Beforschten tatsächlich Verbesserungen bringen. In unserem Fall können herausgefundene Baustellen weiter bearbeitet werden. Es sind aber auch schon vorab Grenzen gegeben, die eine ergebnisoffene Bearbeitung ausschließen. Durch unsere transparente Form der Datengewinnung und Datenauswertung konnten wir gegenüber der Sprayer*innengruppe zu jedem Zeitpunkt offen und ehrlich darstellen, welche Handlungsräume geöffnet werden können und welche nicht. Die Darstellung unseres Forschungsprozesses und der Ergebnisse in Form einer Posterpräsentation, die auch in der Einrichtung aushängen wird, unterstützt diesen Ansatz. Dennoch bleibt kritisch zu hinterfragen, inwieweit unsere Ergebnisse nun tatsächliche zur Umsetzung führen und aus der Institution Bezirksamt Mitte von Berlin Unterstützung erhalten. Ob sich die Beforschten mitgenommen fühlen, kann erst im Verlauf der weiteren Entwicklungen festgestellt werden.

Der Forschung lag zugrunde, dass die Fachkräfte aus der kontrollierenden „Polizist*innenrolle/ Erzieher*innenrolle“ heraustreten. Sie sehen das gemeinsame Aushandeln geltender Regeln als Beziehungsangelegenheit und versuchen dies in neuen Projekten zu realisieren. Als Barriere zu sehen ist die Asymmetrie zwischen den Adressat*innen und den Professionellen im Sinne des pädagogischen Auftrags der Sozialen Arbeit (Bitzon/ Bolay 2017: o.A.) und der daraus folgenden Verantwortung auch für die Abgabe von Verantwortung an die Adressat*innen. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch die advokatorische Vermittlung durch Soziale Arbeit (ebenda). Immer dann, wenn respektvolles und tolerantes Miteinander und die Achtung jeder einzelnen Persönlichkeit in Gefahr sind, muss pädagogische Arbeit eingreifen (Grammelsdorff u.A. 2012: o.A.). Damit sind Barrieren bzw. Grenzsteine genannt.

Die vorhandene Kommstruktur (Deinet/ Krisch 2013: 415ff) einer offenen Kinder- und Jugendeinrichtung stellt ein Hindernis dar (ebenda). Die Erfahrung im FaM zeigt darüber inaus, dass klares Nichtinteresse und wenig vorhandener Antrieb bis hin zu aktiver Verweigerung für die Veränderung, weitere Barrieren sind, die in diesem Zusammenhang genannt werden können. Null Bock, Demokratie- und Politikverdrossenheit, aber auch Individualismus, Einzelkämpfertum als Sprayer*in in einer sich versteckenden Szene, sind starke Hemmschuhe für Eigenaktivitäten und Solidarisierung in einer Gemeinschaft. Allein die Aktivierung dieser Gruppe erscheint auf diesem Hintergrund ein Erfolg zu sein.

Machen die Teilnehmenden der Jugendsozialarbeit die Erfahrung, dass sie hier Rechte der Mitbestimmung haben und als kompetente Mitentscheidende anerkannt werden, stärkt das ihr Selbstbewusstsein und ihre Fähigkeit, sich sozial und demokratisch einzumischen. Sie lernen, ihre Stimme zu erheben, Gehör zu finden, sich konstruktiv mit anderen auseinanderzusetzen und gemeinsam Lösungen zu finden (vgl. Hörner 2017: o.A. oder BMFSFJ 2010: o.A.). Insbesondere ‚benachteiligte‘ Jugendliche sind häufig konfrontiert mit Defizitunterstellungen, Respektlosigkeit oder Ignoranz gegenüber ihren Bedürfnissen und Vorstellungen (vgl. BMFSFJ 2010: o.A.). Die Partizipation von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit benötigt klare Strukturen und Rechte (Sturzenker 1998: 210ff). Diese legen für die Heranwachsenden gleichermaßen die Möglichkeiten und die Grenzen von Beteiligung offen. Je deutlicher die Möglichkeiten und Grenzen benannt sind, umso besser können auch die Erwachsenen erkennen, wo sie Macht abgeben müssen (vgl. Straßburger/ Rieger 2014: 22ff). Um Partizipation im Alltag von Offener Kinder- und Jugendarbeit zu einem selbstverständlichen und ernsthaften Bestandteil werden zu lassen, sollten daher die Fachkräfte ihre Entscheidungsstrukturen überprüfen. Dazu hat die Forschung Anlass gegeben, indem sie erfassbar gemacht hat, welche Entscheidungen den Sprayer*innen wichtig und welche vordergründig egal erscheinen.

An dieser Stelle erweitern wir den Rahmen der Reflexion. Es geht nun nicht mehr nur um die zurückliegende Forschung, sondern auch um den größeren Zeitraum, in dem die Nutzer*innengruppe der Sprayer*innen bereits im FaM aktiv ist. Diesem Prozess hat die Forschung sehr gutgetan indem sie gegenseitiges Verständnis gefördert und mögliche Handlungsspielräume sichtbar gemacht hat. Aus der Perspektive des Forschers und aus der Sicht des Leiters hat die Forschung damit gut verwertbare Ergebnisse geliefert. Das herauskristallisierte Verantwortungsbewusstsein, das Gewähren von szeneinternen Einblicken in eine sich versteckende Jugendkultur und der offene, faire und ehrliche Umgang miteinander sowohl während der vielen Gespräche am Rand der Forschung als auch im World-Café haben dies gespiegelt. Mit dieser speziellen Jugendkultur und ihren Akteuren ergebnisoffen ins Gespräch zu kommen, erscheint mir als Leiter des FaM und uns als Forschergruppe ein Erfolg. Crews von Sprayer*innen sprechen untereinander über Regeln, die Forschung und deren Ergebnisse. Sie schließen sich zusammen, um Strategien gegenüber den aus ihrer Sicht lästigen Nachbarn zu entwickeln. Ein wechselseitiges Verständnis von Positionen und das Aushalten und Tolerieren von anderen Sichtweisen stärkt nicht nur die Sprayer*innen, sondern verstärkt in den Mitarbeiter*innen des FaM auch die grundlegend positive Haltung zur Partizipation.

In Bezug auf die Ausgangssituation vor Beginn der Forschung schaue ich, Sascha Grammelsdorff, persönlich und als Leiter der Jugendfreizeiteinrichtung, auf einen Zeitabschnitt voll widersprüchlicher Emotionen zurück: Eine lose Gruppe von ca. 30 bis 50 jungen Leuten, bekennend der Graffiti- und Sprayerszene angehörend, auf der Suche nach bemalbaren Untergründen, befand unsere Einrichtung als besonders geeignet für ihre Aktivitäten. Eine schneeweiße – noch dazu neue – Turnhallenwand erwies sich als geradezu prädestiniert für Bilder dieser Szene. Schwer erkämpfte Haushaltsmittel des Bezirks, welche die weiße Wand im Zuge einer Sanierung erst ermöglicht haben, waren für diese Gruppe nicht von Bedeutung. Das gesamte Haus vollsprayend, und es so in Besitz nehmend, vergrößerte sich ihre Lust, alles zu bemalen. Nach einigen typisch „erwachsenen“ Verhaltensweisen, wissend, was „gut“ ist für die Gruppe, ging ich auf diese zu, risikobereit, geduldig und einigermaßen flexibel, um sie in ihrer Lebenswelt abzuholen. Eine verinnerlichte partizipatorische Haltung war zumindest für mich, der ich lange um diese Gelder gerungen hatte, eine professionelle Herausforderung. Aber mit dem Mut zum Risiko, auf die Lebensweltexpertise vertrauend sprach ich die Gruppe unter dem Motto „ Wer wagt gewinnt “ an. Den Unterschied zwischen den Jugendlichen und ihrer Taten im Auge behaltend, die Einzigartigkeit jedes Einzelnen im Blick, wissend um die Sinnhaftigkeit ihres Verhaltens, ging ich mit der Gruppe in einen gemeinsamen Dialog. Und das zugegebenermaßen nicht mit dem partizipatorischen Gedanken ich könnte an ihrer Stelle sein. Die Frage nach ihren Inhalten, den Projekten, dass Darstellen unserer Ziele, führte dann zu einem ergebnisoffenen Gespräch. Im Verlauf stellte sich heraus, dass die Wände unserer Sporthalle dadurch attraktiv waren, weil sie einen guten Untergrund hatten, der immer wieder überstreichbar war, um neue Bilder zu sprayen. Das war mir so nicht bewusst und wir lernten voneinander im Sinne von „sich auf Sichtweisen anderer Personen einlassen “. Nun galt es mit dem neuen Wissenstand zu arbeiten und trotzdem die Eigenständigkeit der Gruppe zu erhalten und zu fördern. Die Gruppe hat nach einiger Bedenkzeit die Bitte an mich herangetragen, eine eigene Wand mit dem entsprechenden Untergrund auf unserem Gelände zu bekommen. Sie würden diese selber bauen, pflegen, besprayen und nach ihrer jugendkulturellen Eigenart pflegen. Dies ist im Jahr 2012 möglich geworden. Die zurückliegende Forschung trägt nun dazu bei, dass auch zukünftig mit der Gruppe der Sprayer*innen eine Form gefunden werden kann, diese Graffitiwand weiter zu entwickeln. Um noch tragbarere Sozialbeziehungen untereinander und mit anderen entwickeln und gestalten zu können, bedarf es Möglichkeiten, bei denen sich junge Menschen tatsächlich an den Entscheidungen beteiligen können, die sie in ihrer Lebenswelt selber betreffen.

[...]


1 Für die Wand wurden nach einem Beschluss des Jugendhilfeausschusses des Bezirkes Mitte von Berlin, Mittel bereitgestellt. Im Mai 2012 wurde diese Wand vom damaligen Stadtrat Ulrich Davids (SPD) gemeinsam mit jungen Menschen eingeweiht (vgl. Grammelsdorff u.A. 2012: o.A.).

2 Crossen ist ein Wort aus der Sprache der Sprayer*innen. An späterer Stelle in diesem Forschungsbericht sowie im Anhang Nr. 9.4 wird darauf näher eingegangen.

3 Im Bericht zur polizeilichen Kriminalstatistik 2016 ist eine Steigerung um 8,8 % innerhalb eines Jahres, vom Jahr 2015 zum Jahr 2016, zu lesen (Bundesministerium des Innern 2017: 8). Dieselbe Tendenz war bereits ein Jahr zuvor in der Polizeilichen Kriminalstatistik Berlin 2015 zu lesen (vgl. Polizeipräsident in Berlin 2016: 8). „Stellt das normabweichende, deviante Verhalten auch einen Verstoß gegen das Strafrecht dar, wird es üblicherweise als deliquent, die Tat als Delikt, kriminelle Handlung oder Straftat bezeichnet“ (Walter 2014: 282). In Berlin werden im Bundesvergleich überdurchschnittlich viele Straftaten registriert (Bundesministerium des Innern 2017: 29).

4 Siehe dazu Anhang Nr. 9.7: Verfolgung einer Tat der Sprayer*innen. Darin haben wir Dokumente zu diesem Vorgang zusammengestellt.

5 Aussagekraft – lateinisch Validität – „hängt davon ab, inwieweit erhobene Daten tatsächlich die Frage beschreiben, die erforscht werden sollte“ (Lexikon-Institut Bertelsmann 1985: 378).

6 Siehe Projektskizze vom 14.07.2017 im Anhang Nr. 10.2 oder ausführlich Brown/ Isaacs 2007: 12 – 175.

7 … die bei Nutzung der von Brown und Isaacs beschriebenen Methode von Gruppenteilnehmern übernommen werden soll …

8 Das Gleichnis vom „U-Boot“ bezeichnet in diesem Zusammenhang ein Projekt, welches ungeahnte, aber in jedem Fall Arbeit machende, Folgen haben könnte.

9 Sprayerinnen sind derzeit in der Szene die Ausnahme. So ist die Tatsache, dass sich nur ein paar (männliche) Sprayer eingefunden habe, repräsentativ für die Zusammensetzung der Gruppe. Sowohl die Sprayer selbst als auch die freie Mitarbeiterin des FaM, die mit dieser Gruppe arbeitet, beschrieben dies so.

10 Touristen werden in der Sprache der Sprayer*innen diejenigen genannt, die aus anderen Orten in den eigenen kommen, um da zu sprayen.

11 Das Alter der Sprayer*innen liegt von ca. 14 bis über 30 Jahre. Die Kurse besuchen jedoch auch jüngere Kinder.

12 Nebenerkenntnis: Mutmaßliche Sprayer*innen sind im Stadtbild zu erkennen, wenn eine Person ohne typische Berufsbekleidung als Maler mit einem Eimer Farbe, einer Farbrolle und einem Rucksack (in dem sich Dosen und andere Kleinteile befinden) in einen Park spaziert oder aus einem Wohnquartier weggeht.

13 Zu den 50 bis 60 Personen, die als Stammbesucher gelten, kommen noch ca. 250 bis 300, die als sonstige Besucher eingestuft werden, so dass bei Veranstaltungen von einer benötigten Raumkapazität von 300 bis 350 Personen ausgegangen wird (vgl. Grammelsdorff u.A. 2016: o.A.).

14 Siehe dazu im Anhang Nr. 10.2 die Projektskizze, Stand 14.07.2017.

15 Siehe dazu ein Dokument im Anhang Nr. 9.7.

Ende der Leseprobe aus 66 Seiten

Details

Titel
Die Partizipation von SprayerInnen im Freizeithaus am Mauerpark
Hochschule
Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
Veranstaltung
Entwicklung und Umsetzung von Projekten
Note
1,0
Autoren
Jahr
2018
Seiten
66
Katalognummer
V900327
ISBN (eBook)
9783346230461
ISBN (Buch)
9783346230478
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sprayer, Sprayerinnen, Sprayer*innen, Graffity, Forschung, Partizipation, Mauerpark, Hall, Wand, Sozialraumorientierung, Grammelsdorff, Geuder, Hetey, Bestmann, Empowerment, Jugendarbeit, Regeleinhaltung, Regeln aufstellen, Regeln, Partizipationspyramide, Graffiti, lebensweltbezogen
Arbeit zitieren
H. Christoph Geuder (Autor:in)Sascha Grammelsdorff (Autor:in)Christian Hetey (Autor:in), 2018, Die Partizipation von SprayerInnen im Freizeithaus am Mauerpark, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/900327

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Partizipation von SprayerInnen im Freizeithaus am Mauerpark



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden