Grenzüberschreitungen in Gloria Anzaldúas "Borderlands / La Frontera - The New Mestiza"


Magisterarbeit, 2007

103 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Autobiographien
1. Definition und Abgrenzung zu verwandten Gattungen
2. Historische Entwicklung der Autobiographie
2.1. Religiöse Autobiographien
2.1.1. Frühe christliche Autobiographien
2.1.2. Jeremiade
2.1.3. Spiritual Autobiography
2.2. Weltliche Autobiographien
Die Entwicklung der Persona in Benjamin Franklins Autobiography
2.2.1. Persona: Charakter und Personalität
2.2.2. Persona als Form der Selbstpräsentation
2.3. Autobiographien ethnischer Minoritäten
2.3.1. Slave narrative
2.3.2. Testimonio -Literatur
1. Indianische Literatur

III. Chicano / Chicana-Literatur in den USA
2. Interkulturalität als Aspekt zum Umgang mit Chicana-Literatur
3. Chicana-Literatur und Postkolonialismus
4. Women-of-Color-Feminismus
5. Mestizaje und Hybridität

IV. Anzaldúas Borderlands / La Frontera – The New Mestiza
1. Literarische Grenzüberschreitungen in Borderlands
1.1. Borderlands in der Tradition der amerikanischen Autobiographie
1.2. Borderlands als Geschichtsrekonstruktion
1.2.1. Kulturelles Gedächtnis
1.2.2. Mythos und Geschichte: die Heimat Aztlán
1.2.3. Literarische Grenzgänge: Literatur und Geschichtsschreibung
2. Spirituelle Grenzüberschreitungen
2.1. Der religiöse Mythos der präkolumbischen Gottheit Coatlicue
2.2. Der indigene Mythos: La Malinche (La Chingada)
2.2.1. Die Darstellung von La Malinche in Borderlands
2.2.2. Die Darstellung von La Malinche bei Carmen Tafolla
2.3. Der religiöse Mythos: La Virgen de Guadalupe – Die Jungfrau von Guadalupe
2.3.1 . La Virgen de Guadalupe in Sandra Cisneros’ “Guadalupe the Sex Goddess”
2.3.2. La Virgen de Guadalupe als ‘Coatlalopeuh’ in Borderlands
1.3. Der indigene Mythos von La Llorona
3. Sexuelle Grenzüberschreitungen
3.1. Sexualität in Borderlands
3.2. Die Darstellung der Schlange als Metapher für weibliche Sexualität
3.3. Sexuelle Unterdrückung und Erniedrigung in „Immaculate, Inviolate: Como Ella
4. Sprachliche Grenzüberschreitungen
4.1. Die Verarbeitung der sprachlichen Grenzen in Sandra Cisneros‘ „The House on Mango Street“
4.2. Die Verarbeitung der sprachlichen Grenzen in Borderlands
4.3. Spanisch als die Sprache der Intimität
4.3.1. Cristina Garcías „Soñar en Cubano”
4.3.2. Anzaldúas „Compañera, cuando amábamos“
4.4. Code-Switching

V. Schlußbetrachtung

VI. Anhang
1. Carmen Tafolla: La Malinche (1977)
2. Übersetzung von „Compañera, cuando amábamos”

VII. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Warum schreibt jemand seine Autobiographie? Welche Ziele verfolgt er wohl dabei? Im Vordergrund steht sicherlich der Wunsch, sich seiner Umwelt aus seiner eigenen Sicht zu präsentieren, um ein möglichst authentisches Bild von sich zu liefern.

Die Gattung der Autobiographie hat eine lange Tradition. Rein formell betrachtet ist sie die literarische Darstellung des eigenen Lebens oder größerer Abschnitte daraus. Autobiographien sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst, die sie verfassen. So gibt es auch keine einheitliche Form, und die Intentionen der Autoren haben sich in den letzten Jahrhunderten genauso verändert wie auch die Gründe, die sie zum Schreiben veranlasst haben. Bis zum 17. Jahrhundert standen ein christlicher Rahmen sowie die spirituelle Entwicklung des Menschen im Mittelpunkt der Autobiographie. Erst mit der Aufklärung, die mit der Ergründung rationaler und emotionaler Kräfte nicht nur das Interesse an biographischen Darstellungen, sondern auch die theoretische Reflexion darüber förderte, änderte, erweiterte sich das Spektrum der Autobiographie. Seit dem 18. Jahrhundert gilt als Autobiographie die Aufzeichnung vor allem der Persönlichkeitsbildung durch Entfaltung geistig-seelischer Kräfte im Austausch mit der äußeren Welt. Allgemein ist die Autobiographie gekennzeichnet durch eine einheitliche Perspektive, von der aus das Leben als Ganzes überschaut, gedeutet und dargestellt wird. Diese Retrospektive bedingt innerhalb eines chronologischen Aufbaus eine unbewusste oder bewusste Systematisierung, (Neu)ordnung, Auswahl und einheitliche Wertung der biographischen Fakten, eine sinngebende Verknüpfung einzelner Lebensstationen. Diese kann verschiedene Motivationen haben. So kann es die Suche nach eigener Identität sein, oder aber auch eine Form der Selbstergründung. Genauso kann es auch eine Suche nach Zeugenschaft sein, oder eine moralische, politische, oder religiöse Rechtfertigung. Weiterhin ist die Autobiographie subjektiv geprägt und weist häufig einen relativen historischen, politischen oder kulturhistorischen Wahrheitswert auf, andererseits aber auch Authentizität im emotionalen Bereich.

Gloria Anzaldúa hebt sich mit ihrem Buch „Borderlands / La Frontera – The New Mestiza“[1] von vielen anderen Autobiographen ab. So beschreibt sie nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Familie und ihrer ethnischen Gruppe. Hierbei geht sie historisch sehr weit zurück bis zu den Ursprüngen ihrer ethnischen Gruppe, den Azteken. Zudem wählt sie eine neue Literaturform, indem sie nicht einfach ihr Leben niederschreibt, sondern zunächst eine Darstellung in Form von Prosa vornimmt, dem sich ein zweiter Teil in Form von Gedichten anschließt.

Der erste Teil dieser Arbeit wird sich also mit der Gattung der Autobiographie befassen, wobei ich die verschiedenen Ausprägungen darstellen möchte, um später erörtern zu können, in welcher literarischen Tradition Anzaldúa letztlich steht. Dazu werde ich auch auf die Chicana-Literatur eingehen, welche eine eigene Gattung im Kanon der US-amerikanischen Literatur darstellt. Dem schließt sich dann eine eingehende Analyse von Borderlands an, in der ich auf die diversen Grenzen (literarische, spirituelle, sexuelle, sprachliche Grenzen), die Anzaldúa in ihrem Werk überschreitet eingehen werde. Um Anzaldúas Vorgehen anschaulicher nachvollziehen zu können, werde ich bei meiner Analyse noch auf andere Chicana- bzw. Latina-Autorinnen eingehen, die die entsprechenden Themen in ihren Werken verarbeitet haben und versuchen Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede darzustellen.

II. Autobiographien

1. Definition und Abgrenzung zu verwandten Gattungen

Eine Autobiographie ist die selbst geschriebene Lebensgeschichte eines Menschen. Die Vielfalt der Autobiographien, die in den letzten Jahrhunderten erschienen sind, macht es unausweichlich, die Autobiographie näher zu definieren. So muss sie von verwandten Gattungen abgegrenzt werden, um Anzaldúa als Autobiographin einordnen zu können. Für Gusdorf ist eine Autobiographie „a mirror in which the individual reflects his own image“ (Gusdorf 33). In solch einem Spiegel stimmen das ‚Selbst‘ und die ‚Reflektion‘ überein. Aber diese Definition übersieht ein wichtiges Merkmal der Autobiographie, nämlich das Maß, in dem das ‚Selbst‘ und das ‚Selbstbild‘ nicht miteinander übereinstimmen (Benstock 15). So ist die Autobiographie eine Widerspiegelung der Entwicklung eines Individuums aus einer bestimmten Perspektive, so wie sie durch den Prozess des Schreibens bei einem Autor entsteht (Pascal 21). Für Olney muss eine Autobiographie jedoch sein: “A unique tale, uniquely told, of a unique life“ (Olney 148). Dennoch ist nicht jede Ich-Erzählung eine Autobiographie, denn sie benötigt als ein weiteres entscheidendes Kriterium noch die Rolle eines aktiven und kreativen Choreographen, die der Autobiograph einnimmt. Olney definiert sie daher als: „recollective / narrative act in which the writer, from a certain point in his life – the present -, looks back over the events of that life and recounts them in such a way as to show how that past history has led to his present state of being”. Jedoch ist eine komplett wahrheitsgetreue Rekonstruktion des eigenen Lebens kaum möglich. So bedeutet dies, dass die Autobiographie eine Formung der Vergangenheit ist: „the autobiographer is not a neutral and passive recorder but rather a creative and active shaper“ (Olney 149).

Eine Autobiographie legt laut Pascal dem Leben „ein Muster unter [und] konstruiert aus ihm eine kohärente Geschichte. Sie gliedert ein Leben in bestimmte Stationen, verbindet sie miteinander und stellt, stillschweigend oder ausdrücklich, eine bestimmte Konsequenz in der Beziehung zwischen Ich und Umwelt fest. […] Diese Kohärenz verlangt, dass der Schreiber einen besonderen Standpunkt bezieht, und zwar den Standpunkt des Augenblicks, in dem er sein Leben wiedergibt und von dem aus er sein Leben interpretiert“ (Pascal 21). Dieser Standpunkt, den der Autobiograph einnehmen soll, ist also der gegenwärtige Standpunkt. Für Pascal ist „diese Erkenntnis eines sinnvollen Standpunktes“ eine grundlegende Bedingung für die Autobiographie (Pascal 22). Außerdem ist eine Autobiographie keine bloße Aufzählung, sondern bedeutet vielmehr eine Selektion der Ereignisse, die der Zielsetzung des Autors entsprechen. Damit ist sie nicht nur eine Rekonstruktion, sondern auch eine Interpretation (Pascal 32). Eine Autobiographie kann ebenso auch eine präzise historische Darstellung der Fakten sein. Entscheidend ist hierbei vielmehr die Art des Umgangs mit der Geschichte. Es handelt sich dabei um „present memory reflecting over past experiene on its way to becoming present being“ (Stone 9) und dies bedeutet, dass „memory creates the significance of events in discovering the pattern into which those events fall“ (Olney 149). Es handelt sich also nicht um eine chronologische Wiedergabe der historischen Ereignisse. Sie werden vielmehr aus der Sicht des Autors gespiegelt und dabei neu eingeordnet. So rekonstruiert und beurteilt das Ich der Gegenwart die Ereignisse der Vergangenheit in Hinblick auf seine eigene aktuelle Lage. Die Bedeutung der Ereignisse entsteht im Prozess des Schreibens. Nach Stone werden dabei die Geschehnisse des eigenen Lebens der retrospektiven Interpretation und Beurteilung unterworfen, mit dem Ziel, im eigenen Leben einen Sinn zu erkennen und eine Brücke zwischen dem früheren erlebenden Ich und dem heutigen erzählenden Ich zu schlagen und eine kontinuierliche Entwicklung aufzuzeigen (Stone 8 f.).

Tagebücher und Memoiren sind auch autobiographische Schriften, jedoch unterscheiden sie sich von Autobiographien dahingehend, als dass sie keine kontinuierlichen Erzählungen sind. Im Gegensatz zu Autobiographien haben Memoiren zumeist „den öffentlichen Menschen zum Gegenstand“ (Neumann 12). Sie neigen dazu, sich auf eine bestimmte Zeitspanne im Leben des Autors zu fokussieren, welche häufig mit wichtigen Geschehnissen einhergeht (Morner 17; 131), die zumeist öffentlich oder historisch bedeutsam sind, wonach auch häufig die Kapitel benannt werden (Neumann 90). Das Anliegen des Verfassers von Memoiren ist sicherlich nicht, seine Persönlichkeitsentwicklung aufzuzeigen. Er beschränkt sich vielmehr auf eine Schilderung seines Handelns nach Erreichen seiner Identität und seiner sozialen Rolle, während die Autobiographie genau dort endet (Neumann 89).

In Tagebüchern gibt ein Autor ebenso seine selbst geschriebene und von ihm reflektierte Lebensgeschichte wieder, jedoch können sie keine Autobiographien sein, denn „an autobiography is one work, a series of entries in a diary several; in an autobiography the whole life, or at least a considerable segment, is seen in long perspective; in a diary the temporal depth is shallow“ (Sayre 4). Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist die Zeit, auf die der Autor sich bezieht. In einer Autobiographie blickt der Autor auf sein Leben zurück, während er sich in einem Tagebuch vorwärts bewegt. Außerdem sind die Kriterien nach denen er seine Einträge auswählt von seiner Tagesform abhängig. Ein klares Ziel wird hier nicht verfolgt (Pascal 13).

2. Historische Entwicklung der Autobiographie

Innerhalb der Autobiographie kann man verschiedene Typen und Entwicklungsstadien erkennen. Daher wird an dieser Stelle auf die Entwicklung der amerikanischen Autobiographie eingegangen, die ihre Wurzeln in der europäischen Autobiographie hat.

2.1. Religiöse Autobiographien

2.1.1. Frühe christliche Autobiographien

Die erste christliche Autobiographie sind die Confessions von St. Augustinus. Sie sind unbestritten eine Art Prototyp dessen, was man heute unter einer Autobiographie versteht. St. Augustinus blickt von seinem zeitgenössischen Standpunkt aus auf den sündigen Teil seines Lebens zurück, als er beim wahren Glauben angekommen ist. Der sündige Teil seines Lebens erstreckt sich von seiner Geburt bis zu seiner Bekehrung (Spengemann 1). Seine Autobiographie dient als Medium zur Präsentation seines bis dahingehenden spirituellen Lebens und als eine Möglichkeit der Selbstanalyse (Morner 17). St. Augustinus richtet seine Autobiographie an Gott und der Leser wird eher zufällig Zeuge der Beichte seiner Verfehlungen, seiner Bekehrung und der Bitte um Vergebung. So lässt er den Leser an seinem Bekenntnis teilhaben und ermutigt ihn, seinem Beispiel zu folgen (Goodwin 4). Sein Ziel ist rein spiritueller Natur und somit wählt er die für seine spirituelle Entwicklung bedeutenden Ereignisse, die er zu seinem erleuchteten Zustand in Verbindung setzt.

2.1.2. Jeremiade

Die American Jeremiade ist die erste amerikanische Gattung, da sie die ersten Schriftwerke der Puritaner waren. Die Werke, wie z.B. Cotton Mathers „Magnalia Christi Americana” und John Winthrops “A Model of Christian Charity” stellen eine Weiterentwicklung der europäischen Jeremiade dar, wobei sie dahingehend verändert wurde, als dass sie zwar weiterhin die gegenwärtigen Zustände beklagt, sie jedoch nicht mehr als Strafe Gottes, sondern als eine Prüfung und somit als Ansporn ansieht (Bercovitch 6 ff).

So diente Winthrops „Model of Christian Charity“ als ’role model‘, um den neu entstehenden Gemeinden zu zeigen, wie eine christliche Lebensweise für sie aussehen sollte, und wie sie sie insbesondere in den Alltag integrieren konnten. Somit erhielt er eine Bedeutung als ‚Leitfaden‘, da die Puritaner sich als Gesandte in göttlicher Mission sahen, der sie gerecht werden mussten.

2.1.3. Spiritual Autobiography

Neben der Jeremiade entstanden bei den Puritanern viele religiöse Autobiographien – die spiritual autobiographies, die einem ganz bestimmten Zweck dienten, wozu man jedoch zunächst die Lebensweise der Puritaner beachten sollte. Die Puritaner waren vom Kalvinismus geprägt und gingen somit von einer göttlichen Vorsehung aus (predestination), wonach Gott einige auserwählt hatte und andere zur ewigen Verdammnis bestimmt hatte. Daher waren sie ihr ganzes Leben lang auf der Suche nach Zeichen für ihr Auserwähltsein. Da bei den Puritanern viel Wert auf Bildung gelegt wurde, konnten alle schreiben und lesen und fast jeder führte Tagebuch, um die Ereignisse des Tages auf Zeichen Gottes untersuchen zu können. Im Mittelpunkt steht hier also „nicht die Gesellschaft, sondern das Ich in seinem Verhältnis zu sich selbst, zur Welt und vor allem zu Gott“ (Lubbers 182). Die bedeutendsten Werke, wie z.B. Thomas Shepards My Life & Birth, sind geprägt von einer stetigen Angst und inneren Not, die sich „zu pausenlosem seelischen Bilanzieren [niederschlagen], so dass die Aufzeichnungen zu einem geistlichen Logbuch geraten, das zwischen der Furcht vor der Verdammnis und der Hoffnung auf Erwähltsein oszilliert“ (Lubbers 183).

Die einfachen Tagebücher der Puritaner sind zwar wie oben gezeigt nicht als Autobiographien zu werten, dennoch bilden sie einen Grundstock aus dem sich die spiritual autobiography entwickeln konnte, die das Ziel hat, die religiösen Erfahrungen so auszuwerten, als dass sie dem Leben der Gläubigen einen Sinn geben. Daher kann man behaupten, die spiritual autobiography „represents a further stage in the refinement of immediate experience, a stage at which the writer himself has attempted to introduce pattern and moves consciously toward generalization about his life“(Shea xxvi).

2.2. Weltliche Autobiographien

Die moderne Autobiographie nahm ihren Anfang mit Benjamin Franklins Autobiography und Jean-Jacques Rousseaus Confessions. Beide Autoren gehören der Aufklärung an, was sich in ihren Werken widerspiegelt. Hier möchte ich nun näher auf den amerikanischen Autor Franklin eingehen.

Bis zur Veröffentlichung von Franklin’s Autobiography behandelten Autobiographien zumeist „soul concerns“ (Sayre 35), wie sie Jonathan Edwards nannte. Dies bedeutet, dass sie in erster Linie auf religiöse und spirituelle Erlebnisse beschränkt waren. Franklin hingegen säkularisierte das Genre, indem er keine religiösen Erlebnisse bzw. Erfahrungen wiedergibt, wobei er dennoch ein religiöses Vokabular verwendet. Somit ist Franklins Autobiography eine Säkularisierung des „Puritan Model“. Die traditionellen Werte werden übernommen, ebenso wie der Gedanke des Fortschrittes (‚progress‘), der jedoch nicht länger auf die spirituelle Entwicklung des Individuums beschränkt ist, sondern alle Sphären des menschlichen Lebens durchzieht. Fortschritt wird vielmehr von einem weltlichen Standpunkt aus betrachtet. Gott hat in seinem Leben nicht mehr die gleiche Bedeutung wie in der damaligen Gesellschaft. Vielmehr erwähnt er ‚Gott‘ und ‚Providence‘ eher klischeehaft, wie es die kulturellen Konventionen von ihm in der Zeit verlangten. Göttliche Fügung unterstützt lediglich die Entwicklung einer Person, jedoch ist das Individuum alleine dafür verantwortlich, seine Möglichkeiten zu nutzen. Das Individuum ist primär nicht an soziale oder religiöse Erwartungen gebunden, sondern an seine eigenen Erwartungen. Die Folgen seiner Handlungen manifestieren sich in dieser Welt und nicht in einem Leben nach dem Tod, wie es die Puritaner glaubten. Demnach ist der Mensch für sich selber verantwortlich, denn „God helps them that help themselves“ (Franklin, The Way to Wealth 517).

Die Entwicklung der Persona in Benjamin Franklins Autobiography

Da Franklin bewusst seine Figur geformt hat und seinem Leser ein bestimmtes Bild von sich präsentieren wollte, das nicht unbedingt dem historischen Franklin entspricht, präsentiert er sich selber auch nicht in all seinen Facetten, sondern lediglich bestimmte Teile von sich. Dies macht er indem er eine Persona einführt, welche ein Konstrukt ist, das nicht identisch mit der historischen Person ist, sondern lediglich einen Teil dieser Person reflektiert, nämlich den Teil, den er seinem Leser präsentieren möchte. Er kreiert einen fiktiven Charakter mit historischen Elementen, die Franklin gewählt hat, um sein Ziel zu erreichen. Er wechselt über zu seinem Weg zum Erfolg, indem er ein jüngeres Bild seiner selbst wählt. Hier trennt er den Erzähler in ein erlebendes und ein erzählendes Ich und gibt zudem dem erlebenden Ich (dem jungen Franklin) seine eigene Stimme, wodurch es teilweise zum erzählenden Ich wird. Diese Methode der doppelten Perspektive macht es Franklin möglich, sein Leben von zwei Blickpunkten aus zu betrachten: Die Perspektive des jungen, naiven Franklin und die des alten, weisen Mannes, der die Handlungen des jungen Mannes beschreibt und kommentiert. Dadurch behält Franklin als Autor die Kontrolle über sich selber als Protagonisten (vgl. Sayre 32).

Die Entwicklung seiner Persona ist auf bestimmte Aspekte beschränkt, da Franklin sich darauf konzentrierte, seinen Erfolg durch diese Persona zu erklären. Sein Privatleben hält er komplett verschlossen, wobei er wenige Hinweise auf seine private Identität gibt. Dabei gelingt es ihm auf erstaunliche Weise, seine Emotionen außen vor zu halten und „to keep the private man private“ (Oberg 106).

2.2.1. Persona: Charakter und Personalität

Die Identität der Persona ist ein Konstrukt, das nicht mit der historischen Person gleichgesetzt werden darf. Eigentlich ist es sogar relativ offensichtlich, dass die historische Identität einer Person sich von der autobiographischen Identität der Persona unterscheiden muss, da diese Persona das Resultat der Auswahl der wichtigen Ereignisse aus dem Leben der Person ist. Durch diese Vorauswahl, die der Autor trifft, ist die Persona immer persönlich gefärbt. Dieses Bild, das von dem Autor gezeichnet wird, ist zudem in einer Retrospektive, die eine Mischung aus der wahren Erinnerung und fiktiver Formung ist. Dies geschieht alleine schon dadurch, dass das erzählende Ich die Ereignisse niederschreibt und aus der Retrospektive heraus betrachtet und interpretiert. In Franklins Autobiography geschieht dies auf extreme Weise, da er nicht einmal möchte, dass die Persona der historischen Person entspricht. Er präsentiert sich selber auf eine Weise, mit der er seine Stärken und andere Charakteristika, die er für nützlich erachtet, aufzeigt. Franklin arbeitete hart an seinem Ruf und somit auch an seiner Wirkung auf andere Menschen: “I took care not only to be in Reality industrious and frugal, but to avoid all Appearances to the Contrary” (Franklin, Autobiography 54).

Franklin übernahm die Rolle eines arbeitsamen und sparsamen Mannes, als er realisierte, dass die Bürger von Philadelphia diese Werte sehr betonten (Sayre 24f). Der Ausgangspunkt für seine Perfektion ist sein Charakter und er nutzt die Möglichkeit, diesen Charakter zu kreieren intensiv aus, wie z.B. in seiner Präsentation seines ‚Catalogue of Virtues‘ (Franklin, Autobiography 67f), von dem er sagt, dass es ihn viel Zeit und Energie gekostet habe, diese Tugenden zu verinnerlichen. Doch nach allem seien sie sehr nützlich. Charakterliche Qualitäten müssen also nicht von Geburt an vorhanden sein, sondern können auch erworben werden (Goodwin 33). Für Franklin ist der Charakter – einfach gesagt – eine rohe Masse aus der sich eine Person selber formen kann. Somit kann man seine 13 Tugenden methodisch erwerben. Diese Tugenden können durch Imitierung als auch durch Übernahme erworben werden und ein guter Charakter ist nützlich, um einen guten Eindruck bei anderen Menschen zu hinterlassen. Diese nach aussen hin präsentierte Persönlichkeit erscheint lediglich in Zusammentreffen mit der Gesellschaft und kann sich in verschiedenen sozialen Rollen manifestieren, die die Person akzeptiert. Franklin unterscheidet hier deutlich zwischen dem reinen Vortäuschen einer Tugend, wie „Humility“ (Persönlichkeit) und die Verinnerlichung dessen (Charakter). Einige der Tugenden, die er hier postuliert, wie „order“ und „humility“ (Franklin, Autobiography 71, 76) hat Franklin selber nie erfüllt. Die öffentliche Prahlerei mit diesen Tugenden ist ein Teil seiner Persönlichkeit, den er selber in dieser Zeit verkörperte. Bescheidenheit scheint nicht Teil seines Charakters gewesen zu sein, wenn man seinen Darstellungen Glauben schenkt.

2.2.2. Persona als Form der Selbstpräsentation

Es existiert eine Korrelation zwischen der historischen Person und der Persona, aber dies hängt von der Intention des Autors ab, wie nah die Persona an der historischen Person sein soll. Da die Persona eine von dem Autor geprägte Identität repräsentiert, ist es wichtig zwischen der historischen und der autobiographischen Identität zu unterscheiden. So könnte man sagen, dass die historische Identität in der ‚echten Welt‘ handelt, während die autobiographische Identität Fiktion repräsentiert. Diese Fiktion ist durchzogen von historischen Ereignissen, deren Auswahl davon abhängt, wie nah der Autobiograph an sein historisches Ich heranreichen möchte.

Jede Autobiographie beinhaltet fiktionale Elemente, wie z.B. die Rekonstruktion eines lange zurückliegenden Dialoges, so dass man sagen kann, dass „the line between autobiography and fiction became a finer one“ (Andrews 64). Für Franklin ist die Persona von praktischem Nutzen, da – ebenso wie die seinen Mitmenschen präsentierte Persönlichkeit ihm half, ein bestimmtes Image von ihm selber zu kreieren – er die Persona auch nutzt, um dieses Ideal von sich selber für die Nachwelt zu erhalten. Somit hatte die Persona einen großen Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung der historischen Person des Benjamin Franklins.

2.3. Autobiographien ethnischer Minoritäten

Gusdorf schreibt, dass eine Autobiographie „devoted exclusively to the defence and glorification of a man, a career, a political cause, or a skillful strategy presents no problems: it is limited almost entirely to the public sector of existence” (Gusdorf 36). Was ist aber nun mit Autobiographien von ethnischen Minderheiten oder von Frauen, die ihr Privatleben präsentieren möchten, dies aber nicht über die Öffentlichkeit tun können, da ihnen über einen langen Zeitraum hinweg keine öffentliche Stimme zugestanden worden ist? In den vergangenen Jahrhunderten wurden die Frauen in dem patriarchalen System still gehalten (Fellner 32). Sidonie Smith behauptet dazu, dass Frauen bis in das 20. Jahrhundert hinein sich selber nur in den literarischen Formen präsentieren konnten, die ihnen vom männlichen Diskurs vorgegeben wurden (S. Smith in Fellner 32). Ähnlich sieht es auch für ethnische Autobiographien aus. So werden diese persönlichen Erzählungen oft als nachahmende Repräsentationen einer ethnischen Erfahrung betrachtet (vgl Fellner 32). So kommt Olney zu dem Schluss, dass das gesteigerte Interesse an ethnischen Autobiographien auf die Schaffung der einzelnen Wissenschaften, wie z.B. American Studies, Women’s Studies, Black Studies, zurückzuführen ist (Olney in Fellner S. 32). Dabei tritt die Autobiographie auch in das Interesse von Anthropologen, da sie einen „native point of view“ bietet, der für sich selber eine Subjektivität beansprucht „grounded in cultural specifity that is empirical and otherwise accessible only through in-depth interviewing“ (Fischer 80). Diese Idee, dass eine Autobiographie einen Einblick in eine fremde ethnische Gruppe bedeutet, impliziert nun, dass ‚being a Chicana‘ bedeutet, dass eine Chicana für die anderen Chicanas spricht. Durch die Erfahrung erhält die Autorin also eine Stimme, die dann zu einer Autobiographie wird, die wiederum eine repräsentative Stimme erzeugt. Bei diesem Blickpunkt wird jedoch die Vielfalt einer ethnischen Gruppe außer acht gelassen, wodurch die Rezeption dieser Gruppe einseitig und verfälscht wird. Dennoch weisen einzelne ethnische Minoritäten ein Schema auf, mit dem sie ihr Leben autobiographisch darstellen, was ich anhand des slave narratives und des lateinamerikanischen testimonios aufzeigen möchte.

2.3.1. Slave narrative

Anfang des 18. Jahrhunderts erschienen die ersten Erzählungen von entflohenen Sklaven in den nördlichen Staaten der USA. Ihre Lebensgeschichten wurden meistens von weißen Autoren geschrieben und veröffentlicht. Diese Veröffentlichungen wurden zumeist von christlichen Gruppen, die sich kritisch gegenüber der Sklaverei äußerten, oder von Abolitionisten unterstützt. Sie nutzten die Geschichten der Sklaven, um die Bevölkerung für dieses Thema zu sensibilisieren. Deshalb musste der slave narrative den Leser emotional ansprechen, um eine Solidarität mit den sogenannten „Untermenschen“ zu erreichen.

Dies gelang zumeist durch eine emotionale Sprache (ähnlich wie die sentimental novel), Verweise auf generelle amerikanische Werte (wie Familie, Religion, Mutterschaft, Weiblichkeit) und die Anwendung dieser Werte auf Personen, die normalerweise nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden.

Slave narratives, wie von Frederick Douglass und Harriet Jacobs, die ihre Lebensgeschichte selber verfasst haben, führen zu der Schlussfolgerung, dass dieses Genre als eine neue Form der Autobiographie anzusehen ist (Peabody 7). Dennoch ist der slave narrative eingeschränkter als die klassische Autobiographie. Die autobiographischen Erzählungen der entflohenen und nun freien Sklaven behandeln zumeist die Zeit in der Sklaverei, die Flucht und das folgende Leben in Freiheit. In diesem Rahmen ist noch ein gewisser Gestaltungsspielraum, aber dennoch gibt es kaum Unterschiede, so dass James Olney dazu eine Art Masterplan entwickelt hat, auf den hier jedoch nicht weiter eingegangen werden soll.[2] Dieser Masterplan, den Olney präsentiert, lässt jedoch die Frage offen, ob dieser Plan nicht eine natürliche Gegebenheit ist, wenn ein Sklave sein Leben niederschreibt. Da alle Sklaven in dem System gefangen waren, machten sie alle grundsätzlich die gleichen Erfahrungen mit Sklavenhaltern und der gesamten peculiar insititution. Daher konnten sie sich inhaltlich kaum voneinander unterscheiden. Dennoch ist es offensichtlich, dass sie alle darauf hinweisen, dass sie von guten, weißen Menschen unterstützt wurden und dass Sklaven natürlich kein Vieh, sondern Menschen sind, die es verdienen frei zu sein.

Die Intention der Autoren war somit klar. Es ging ihnen primär nicht darum, ihr eigenes Leben zu präsentieren, um etwa wie St. Augustinus andere dazu zu bewegen, es ihnen gleich zu tun, oder wie John Winthrop und Benjamin Franklin einen Leitfaden für ein (christliches) Leben zu geben. Ihr Ziel war es vielmehr, zu zeigen, dass Sklaverei falsch ist und abgeschafft werden musste.

Der erste und wohl bekannteste slave narrative, der von einer Frau verfasst worden ist, ist Harriet Jacobs‘ Incidents in the Life of a Slave Girl (Johnson 11), die wiederum eine spezielle Form dieser Gattung darstellt, da sie von einer Frau geschrieben worden ist, die sich aufgrund ihres Geschlechts und der daraus resultierenden Rolle in der Gesellschaft und der besonderen Problematik, in der sie sich befindet von den männlichen Autoren unterscheidet. Im Gegensatz zur klassischen Autobiographie entwickelt Jacobs einen fiktiven Erzähler mit dem Namen Linda Brent. Ferner erhalten alle anderen Charaktere einen fiktiven Namen. Dies mag als eine Distanzierung Jacobs‘ zu ihrer Erzählung gewertet werden (Johnson 12). Dies halte ich in diesem Zusammenhang jedoch für abwegig. Denn wenn man die Situation der Autorin und die Zeit, zu der sie geschrieben hat beachtet, so musste sie die Namen ändern, um nicht sich selber oder andere Menschen, die in die Geschehnisse verwickelt waren, in Gefahr zu bringen. Außerdem behandelte sie Themen, wie z.B. die sexuelle Belästigung durch ihren master, aber auch ihre unehelichen Kinder, die sie mit einem weißen Sklavenhalter bekommen hat, die von ihrer Leserschaft nicht gerne gelesen wurden. Unter ihrem Pseudonym konnte sie diese prekären Themen ansprechen und trotzdem ihre Ehre wahren (Johnson 13). Sie präsentiert sich selbst als eine moralische Person in einem unmoralischen Umfeld. Obwohl sie eine Sklavin ist – und somit in den Augen ihrer Leser eine primitive Natur hat – versichert sie ihren Lesern immer wieder, dass sie die Einhaltung der amerikanischen Werteals oberstes Ziel hat, was sie aufgrund der äußeren Umstände jedoch nicht immer konnte. Jacobs Stimme ist, oberflächlich betrachtet, der Schrei einer Mutter und Frau, mit dem sie ihre weißen Schwestern aus dem Norden um Hilfe bittet, aber wie viele afro-amerikanische Stimmen reflektiert sie auch, was W.E.B. Du Bois „double consciousness“ nennt: „Such a double life, with double thoughts, double duties, and double social classes, must give rise to double words and double ideals, and tempt the mind to pretence or to revolt, to hypocrisy or to radicalism“ (DuBois 146). Jacobs‘ Stimme reflektiert jedoch nicht nur diese double-consciousness, die durch die rassistische Unterdrückung verursacht wird. Vielmehr erlaubt der Erzähler vielen Stimmen, den Text zu infiltrieren; die vielen Stimmen, die durch den Text sprechen – unterwürfige Tochter und Enkelin, entflohene Sklavin, empörte Mutter – reflektieren das Geschlecht der Erzählerin. Jacobs spricht für all die Frauen, ob Sklavin oder nicht, die keine Rechte über ihren eigenen Körper haben. Sie zerrütet die Stereotpyen der schwarzen Hure und der weißen Dame, indem sie den Kult der wahren Weiblichkeit (true womanhood) als reinen Mythos darstellt (Johnson 24). Aber wie die Männer auch, ist Jacobs auf der Suche nach Identität.

2.3.2. Testimonio [3]-Literatur

Die Testimonio -Literatur ist zwar keine US-amerikanische Literatur, sie sollte hier dennoch Beachtung finden, da sie aus Lateinamerika stammt und somit in Verbindung zu der Chicana-Literatur steht, auf die später noch eingegangen wird. Mit der Testimonio -Literatur wurde in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts denen eine Stimme gegeben, die im Allgemeinen nicht zu Wort kommen; den Frauen in der sogenannten „Dritten Welt“. Jedoch handelt sich dabei nicht um Frauen an sich, sondern um die „von der dominanten Kultur und Politik zumeist ‚totgeschwiegenen‘ Personen“ (Potthast 384), also den Frauen der indigenen Bevölkerung der lateinamerikanischen Länder, die zum großen Teil kein Spanisch, also die Sprache ihrer Unterdrücker sprachen, sondern ausschließlich die indigenen Sprachen ihrer ethnischen Gruppe.

„En primer lugar, a mí me cuesta mucho todavía hablar castellano ya que no tuve colegio, no tuve escuela”[4] (Menchú 21).

Da sie entweder gar keine oder nur eine schlechte Bildung hatten, benötigten diese Frauen immer jemanden, der ihnen half, ihre Lebensgeschichte niederzuschreiben und zu veröffentlichen. Diese testimonios existieren mittlerweile für fast alle Länder Lateinamerikas, meist von armen Frauen aus ländlichen Regionen, aber auch von Dienstmädchen aus der Stadt. Die bekanntesten Werke sind dennoch nicht von einfachen campesinas oder indígenas [5], sondern von politischen Aktivistinnen wie Domitila Barrios und Rigoberta Menchú (Potthast 382 f.), die noch bis heute in Guatemala die Interessen der indigenen Bevölkerung vertritt, verfasst worden. Interessant ist hier die Ähnlichkeit zum slave narrative, bei dem auch den Unterdrückten durch Hilfe anderer eine Stimme gegeben wurde, um ein politisches Ziel, nämlich die Abschaffung der Sklaverei, zu erreichen. So will man mit dem Testimonio- Roman der patriarchalischen und elitären Literatur etwas entgegensetzen und der hegemonialen Sichtweise eine andere Sicht zur Seite stellen. Das Ziel ist dabei Polyphonie, nicht Harmonie. Das Zeugnis der Menschen war notwendig, um die Gesellschaft auf Missstände aufmerksam zu machen. Dabei traten insbesondere die Frauen in das Zentrum des Interesses, da sie „doppelt marginalisiert“ waren (Potthast 384). Bei Autorinnen wie Rigoberta Menchú wird deutlich, dass sie sich als kollektives Gedächtnis ihre Dorfes oder Volkes sehen, was sie schon einleitend deutlich macht:

“Me llamo Rigoberta Menchú. Tengo veintitrés años. Quisiera dar este testimonio vivo que no he aprendido en un libro y que tampoco he aprendido sola ya que todo esto lo he aprendido con mi pueblo y es algo que yo quisiera enfocar.[…] pues ha vivido mucha gente y es la vida de todos. La vida de todos los guatemaltecos pobres y trataré de dar un poco mi historia. Mi situación personal engloba toda la realidad de un pueblo.”[6] (Menchú 21)

So werden die testimonios als eine Form von Autobiographie ausgegeben und die meisten Leser nehmen sie auch als eine solche wahr. Dadurch entwickeln sie eine Wirkung, die den namen- und gesichtslosen Leiden der indianischen Bevölkerung oder der lateinamerikanischen Unterschicht ein Gesicht geben, anrühren und betroffen machen. Solche Lebensberichte sind selten objektiv und detailgetreu, dennoch geben sie einen Einblick in die Lebenssituation und Weltsicht bestimmter Kulturen und sozialer Gruppen.

2.3.3. Indianische Literatur

Um Anzaldúa als Autorin einordnen zu können ist es auch notwendig, kurz die Geschichte der indianischen Literatur in den USA darzustellen, denn die Indianer sind als Wurzeln der Chicanas zu verstehen.

Die amerikanische Literatur beginnt nicht erst bei den ersten Siedlern, wie den Puritanern, sondern schon viel früher, nämlich „mit den verbalen Ausdrucksformen der ersten Amerikaner“ (Georgi-Findlay 387). Was heute als indianische Literatur bezeichnet wird, umfasst sowohl die seit dem 18. Jh. von Indianern in englischer Sprache schriftlich verfasste Literatur als auch die bis heute mündlich überlieferten Traditionen der indigenen Stammeskultur in Nordamerika. Die Bestimmung des ‚Indianischen‘ ist untrennbar verbunden mit der Definition des ‚Indianischen‘ in der amerikansichen Kultur. Diese Definition lag in euopäischen Händen, war somit fremdbestimmt. Indianische Literatur wird dabei häufig so definiert, als dass man einen Autor indianischer Abstammung voraussetzt, der zudem indianische Themen behandelt. Dies ist jedoch eine sehr enge Definition, die die Autoren auf anthropologische und historische Authentizität reduziert.

In der US-amerikanischen Geschichte dienten die Indianer und das von ihnen gelieferte Bild als eine Rechtfertigung für politisches Handeln. So wurden Indianer in den Anfängen der Besiedlung als ‚wilde Naturen‘ dargestellt, die entweder als der vom Aussterben bedrohte ‚edle Wilde‘ oder als ‚wild savage‘ repräsentiert wurden. Dieses historische Erbe der Fremdbestimmung beeinflußt noch heute das indianische Leben (vgl. Georgi-Findlay, 388).

Im 19. Jh. verfassten Indianer neben Predigten und religiösen Texten auch Stammesgeschichten, Reise- und Lebensberichte sowie Protestliteratur, die in Zusammenhang mit der politischen Entwicklung und Situation der Indianer stehen. Autobiographien waren an der von den Weissen geprägten christlichen Autobiographie angelehnt und orientiert, da diese Gattung in der traditionellen indianischen Kultur kein Äquivalent hatte. Das präsentierte indianische Ich spiegelt dabei den Kulturkontakt wider und ist damit gewissermassen ein bikulturelles Produkt (vgl. Georgi-Findlay, 390).

Im 20. Jh. reflektierte die Literatur der Indianer zunächst noch immer den „Zwang der Assimilation“ (Georgi-Findlay, 393), der bis in die 1930er Jahre in der Politik betrieben wurde. Erste indianische Intellektuelle begannen nun ihre Lebensgeschichte zu erzählen, um stereotype Indianerbilder zu korrigieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine Welle der Abwanderung der Indianer von Reservaten in die Städte ein. Ende der 1960er Jahre erfuhr die Indianerliteratur einen ‚Boom‘, der durch Autoren wie Ortiz und Momaday eingeleitet wurde. „Die Autobiographie bleibt weiterhin ein wichtiges Ausrudcksmedium für Indianer. […] Viele Autoren greifen nun auch ein Muster von Autobiographie auf, das Mythos und Geschichte, Autobiographie und Fiktion vermischt. […] [Es] setzten Versuche ein, das Medium des historischen Romans zur Geschichtskorrektur zu nutzen. Dies führt dazu, dass die bisherige Schwerpunktsetzung indianischer Romane auf dem Kulturkonflikt in einem Individuum zumindest teilweise durch die Orientierung an kollektiven Erfahrungen und an starken, integrierten Persönlichkeiten ersetzt wird“ (Georgi-Findlay, 400 f). Zeitgenössische indianische Autoren versuchen nicht nur kulturelle Stereotypen zu berichtigen, sondern auch eine kulturelle Identität zu konstruieren, die bisher durch eine fremde Sprache definiert wurde und in ihrer Existenz bedroht war und ist. So sehen sie sich als „all invented as Indians“, nämlich fremdbestimmt als etwas definiert, was sie ihrer Meinung nach in dieser Form nicht sind. Zudem ist die Idee einer reinen indianischen Idee nicht die ihrige, da diese die Hybridität ihrer Kultur und Stämme außer Acht läßt. Dabei sind sie wie schon ihre Vorgänger auf die ihnen vom Kolonialherren auferlegte Sprache des Englischen angewiesen.

III. Chicano / Chicana-Literatur in den USA

Da die vorliegende Arbeit sich mit einer Autobiographie beschäftigt, die nicht nur in ihrer Form, sondern auch in ihrem Inhalt viele Besonderheiten aufweist, halte ich es an dieser Stelle für notwendig, auf die Gattung der modernen Chicano/-a Literatur einzugehen.

Mit dem Begriff ‚Chicana-Literatur‘ wird „die Literatur von Frauen mexikanischer Abstammung, die inzwischen in der ersten, zweiten oder dritten Generation in den USA leben und als Chicanas bzw. Mexikoamerikanerinnen bezeichnet werden“, beschrieben (Ikas 1). Chicana Autorinnen „examine their situation within both the marriage and other social and economic circumstances. In so doing, they express an awareness of the need to change the roles of women in contemporary society” (Lomelí 104). Also kann die Chicana Literatur trotz aller Fiktion als sozialkritische Dokumentation der sogenannten Chicana-Erfahrung betrachtet werden, welche sich „in den USA [sic] von der indianischen Vergangenheit über spanische Kolonialzeit und angloamerikanische Eroberung bis hin zu den legalen und illegalen Einwanderungsströmen in diesem Jahrhundert[7]“ erstreckt. Nur wenige Chicanos können ihre Wurzeln auf eine Zeit zurückverfolgen, die vor der Eroberung der Angloamerikaner liegt; dennoch haben sie alle „ein kollektives Selbstbild […], in dem die Südweststaaten der USA einst Teil ihrer Heimat Mexiko waren und in dem ihr Mestizentum sie unmittelbar mit den ersten Bewohnern des Landes verbindet“ (Tonn 21).

Dabei stellt sich immer wieder die Frage, wie mit der Chicana-Literatur umgegangen werden sollte. So möchte ich im Folgenden einige kulturtheoretische Modelle darstellen, mit deren Hilfe man diesen Teil des US-amerikanischen Kanons betrachten könnte.

1. Interkulturalität als Aspekt zum Umgang mit Chicana-Literatur

Was ist eigentlich unter dem Begriff ‚Interkulturalität‘ zu verstehen? Schlägt man diesen Begriff im Wörterbuch nach, so findet man lediglich das Wort ‚interkulturell‘. Diese unzulängliche lexikographische Behandlung des Wortes schlägt sich bis heute auch in der Literaturkritik nieder. Sowohl „die grundsätzliche Frage, wie der Terminus ‚Interkulturalität‘ an sich zu verstehen ist, als auch wie dieses Phänomen letztlich wiederum in literarischen Texten herausgearbeitet werden kann“, ist bisher nicht umfassend wissenschaftlich reflektiert worden. Trotz aller Bemühungen gibt es bis heute verhältnismäßig wenige Studien, die sich explizit mit dem Begriff der ‚Interkulturalität‘ auseinandersetzen. So fehlt ein „adäquates terminologisches Rüstzeug, um die Dynamik des Interkulturellen“, welche eine „Differenz ohne Hierarchie“ ist, angemessen darstellen zu können (Schulte 33). So könnte Interkulturalität als „Ergebnis kultureller Überlagerung, Diffusion, [und] Konfrontation“ in einem von „‘stabiler Instabilität‘ als offenes Prinzip kultureller Praxis“ markierten Raum definiert werden. (Schulte 189) So schlägt Schulte ein methodisches Vorgehen vor, in Verknüpfung mit der Interkulturalitätsthematik, bei der „stets literarische, wissenschaftliche, in jedem Fall aber kritische Zeugnisse solcher Autoren bzw. Wissenschaftler, die selbst die angesprochene Dynamik als ein für sie lebensweltlich relevantes Phänomen, als neue Kulturform erfahren haben“ die Orientierungspunkte bleiben (Schulte 3). Dies scheint auch ein angemessener Ansatz für die Beschäftigung mit der Chicana-Literatur zu sein.

Immer mehr Autorinnen sehen ihre Literatur in einem kulturen- als auch länderübergreifenden Kommunikationsfeld und damit interkulturell angesiedelt. Jedoch scheint mir angesichts des vielschichtigen Minoritätenstatus, der nicht nur durch die ethnische Identität geprägt ist, vor deren Hintergrund die Chicana-Autorin ihre Werke verfaßt, die Bezeichnung multikulturelle Literatur im Sinne von Wotschke und Himmelsbach für zutreffender:

„Multikulturelle Literatur berücksichtigt ebenfalls die kulturelle bzw. ethnische Herkunft als ein prägendes Element der individuellen Persönlichkeit. Sie geht aber insofern einen Schritt weiter, als sie der Tatsache Rechnung trägt, dass eine moderne Gesellschaft aus Menschen besteht, die von unterschiedlichen (Kombinationen von!) kulturellen Einflüssen geprägt sind.“ (Wotschke und Himmelsbach 34)

So lässt sich Chicana – Literatur in gewisser Weise als „von interkultureller Verschränkung markierte Minoritätenliteratur definieren“. Dabei hat Anzaldúa eine ähnliche Auffassung, denn „sie sieht die Chicana aufgrund ihres vielschichtigen Erfahrungsspektrums als interkulturell positioniert und damit alternierend in einzelne Kategorien wie Geschlecht, Klasse, Rasse und Sexualität differenzierbare, kulturelle Umfelder eingebunden an“ (Ikas 28).

Dabei möchte sie die Theorie ‚entakademisieren‘:

Necesitamos teorías [8] that will rewrite history using race, class, gender and ethnicities categories of analysis, theories that cross borders, that blur boundaries – new kinds of theories with new theorizing methods. We need to de-academize theory and to connect the community to the academy.” (Anzaldúa XXVI)

Konkret zu verstehen ist diese Theorie als „paradigmatisch in den künstlerischen Produktionen der Chicanas“ selbst zutage tretend (Ikas 28). So vermischen die Chicanas fiktionale und theoretische Ansätze miteinander, wobei schon eine kritische soziokulturelle Auseinandersetzung eingebunden ist:

„In our literature, social issues such as race, class and sexual difference are intertwined with the narative and poetic elements of a text, elements in which theory is embedded” (Anzaldúa XXVI)

Ähnlich äußert sich dazu auch Lucero-Trujillo:

“Literature is a medium and a praxis whereby we can start to question our oppression, not by escapism into the mythical past in sentimental lyricism reminiscent of other literary ages, but in dealing with the everyday problems. The Chicana can question and confront the society which holds her in double jeopardy, of being a woman and a minority.” (Lucero-Trujillo 330)

2. Chicana-Literatur und Postkolonialismus

Der Postkolonialismus ist im engen linguistischen Sinne als ‚Nach-Kolonialismus‘ bzw. als ‚die Zeit nach dem Kolonialismus‘ zu betrachten. Damit werden die Lebensumstände und Charakteristika einer ehemals kolonisierten Nation beschrieben, welche nach dem Rückzug der europäischen Kolonialmacht nun um die Ausbildung und Verortung der eigenen nationalen Identität bemüht ist. So kann der Postkolonialismus als ein temporales Konzept gesehen werden, aber auch als ein „geopolitical concept of contemporary group identity“ oder als ein soziologisches Konzept „about global cultural conditions and experiences, confused about its constituency and about its relation to concepts of race, class, gender, ethnicity, and the like“ (Slemon 183). Die Suche nach einer nationalen Identität zeigt sich auch in den Werken der postkolonialen Kritiker Spivak und Bhabha (Ikas 31). Spivak propagiert einen im interkulturellen Kontext sich konstituierenden Ort, von dem aus der / die Untergebene sprechen und damit seine / ihre Subjektposition manifestieren kann (Spivak 66 ff). Bhabha betrachtet den Prozess kultureller Identitätsbildung als Artikulation von Differenzen. Dabei macht er auf die Erfordernis unterdrückter Kulturen aufmerksam, gegen die bevormundende Repräsentation ihrer selbst zu intervenieren, was in dem von ihm als „third space“ definierten imaginären Ort möglich werde (Bhaba 207f). In gewisser Weise reflektiert sich dabei die Vorstellung, dass es der Entstehung oder Kreation eines dritten bzw. zusätzlichen, zwischen den bisherigen Dualitäten von dominanter versus dominierter Kultur und Gesellschaftsgruppe situierten, Ortes bedarf, damit die unterdrückten Minderheiten sprechen und sich darstellen können, sowie darüber hinaus Neues entwickelt und artikuliert werden kann, auch in der Chicana-Literatur und ihrer Rezeption (Ikas 3).

Dennoch wird der Begriff postcolonial heute noch weiter gefasst und in einem anti-imperialistischen Sinne interpretiert (Ikas 31). So wird der Begriff postcolonial einerseits auf „all the culture affected by the imperial process from the moment of colonization to the present day“ angewandt (Ashcroft, Griffiths und Tiffin 2). Dabei plädieren Ashcroft, Griffiths und Tiffin für eine Rückbesinnung auf das historische Phänomen des Kolonialismus als zentrales Kriterium postkolonialer Kulturen:

„ […] post-colonial studies are based in the historical fact of European colonialism, and the diverse material effects to which this phenomenon gave rise. We need to keep this fact of colonization firmly in mind because the increasingly unfocused use of the term ‘post-colonial’ over the last ten years to describe an astonishing variety of cultural, economic and political practices has meant that there is a danger of its losing its effective meaning altogether. […] In particular the tendency to employ the term ‘post-colonial’ to refer to any kind of marginality at all runs the risk of denying its basis in the historical process of colonialism” (Ashcroft, Griffiths und Tiffin 7).

Nach diesem Verständnis von Postkolonialismus erscheint es kaum möglich, postkoloniale Theorien auf die Chicana-Literatur anzuwenden. Wenn man die historische Entwicklung der Chicana-Erfahrung im amerikanischen Südwesten betrachtet, so zeigt sich, dass „die Identitätsproblematik der Chicanas an einen geschichtlichen, politischen und sozio-kulturellen Komplex geknüpft ist, der in vielen Punkten von den historischen Charakteristika postkolonialer Länder und Gesellschafte abweicht“ (Ikas 32). Denn die Geschichte der Chicanas ist gekennzeichnet von Siedlungs-, Migrations- und Immigrationsprozessen. So halten sich viele Chicanas freiwillig und zum Teil auch illegal in den USA auf, in der Hoffnung auf ein wirtschaftlich besseres Leben als in Mexiko. Jedoch sehen sich auch viele Chicanas, deren Vorfahren schon vor 1848 dort gelebt haben als erobertes Volk. Dabei beziehen sie sich auf die Eroberungskriege, insbesondere auf den mexikanisch-amerikanischen Krieg von 1846 – 1848, nach dem Mexiko mit der Unterzeichnung der Treaty of Guadalupe-Hidalgo [9] zur Abtretung seines Territoriums nördlich des Rio Grande an die USA gezwungen wurde. So könnte man sagen, dass die USA auf diese Weise nach Nordmexiko eingedrungen sind und mit der Treaty of Guadalupe-Hidalgo die Nordmexikaner als neue ethnische Minderheit für sich vereinnahmt haben.

Seit 1910 kommt zu diesen mexikoamerikanischen Bürgern eine große Zahl von mexikanischen Neuankömmlingen hinzu. Der Status der Mexiko-Amerikaner wird dadurch noch komplexer. So sind sie einerseits eine ethnische Minderheit, die sich durch die Einwanderer Spannungen mit der angloamerikanischen Gesellschaft ausgesetzt sieht. Andererseits entstehen durch die Einwanderer, aufgrund deren die mexikoamerikanische Minderheit eine „permanente innerethnische Diversifizierung erfährt, auch zahlreiche intraethnische Probleme“ (Ikas 34). Die Komplexität der Wirklichkeit der Chicanas in den USA erschwert auch ihre begriffliche Einordnung in das amerikanische Gesellschaftsgefüge.

So hat sich gezeigt, dass die Chicana-Erfahrung in den USA nicht mit den historischen Befindlichkeiten von postkolonialen Ländern und Gesellschaften gleichzusetzen ist. Dieser Ansicht ist auch Spivak:

„The story of the Hispanic American […] is another story […]. We should not take the British or French-Algerian examples as models for understanding the script of the failure of the Spanish Empire and then its rewriting into the Ariel-Caliban mode and then today’s Mexico, today’s Chicano. It’s a different version of the script of colonial discourse, strictly speaking, decolonization as such could not be staged in the wake of the Spanish Empire. […] There you have the whole complex of phenomenon of Latin America, Central America, the United States, and the Chicano. That’s a story that should take its model from established colonial discourse, but open it up as well. Express solidarity, but as difference” (Spivak, An Other Tongue 281).

Slemon sieht dies in einem gewissen Grade anders. So bezieht er sich auf das Beispiel Kanadas, wo er die weißen Siedler anders betrachtet als die Ureinwohner Kanadas, „[who] remain under a condition of political colonialism in their own ‚post-colonial‘ country“ (Slemon 181). Dieses Beispiel lässt sich jedoch auf die Chicanas nur unzulänglich anwenden, da nicht alle von ihnen Ureinwohner des US-amerikanischen Südwestens sind. Viele von ihnen sind legal oder illegal hinzugekommen und passen somit nicht in dieses Konzept einer postkolonialen Gesellschaft. Und selbst die Chicanas, die man als Ureinwohner betrachten kann, können nicht unter einem postkolonialen Hintergrund betrachtet werden. Denn selbst wenn man die US-Amerikaner als Kolonialherren betrachtet, besteht keine post koloniale Gesellschaft, da die Amerikaner immer noch die politische Vormachtstellung in dem Land haben.

So ist es nicht sinnvoll, postkoloniale Theorien in die Rezeption von Chicana-Literatur einzubeziehen, da aufgrund der unterschiedlichen historischen, politischen und sozialen Situationen die Chicana-Erfahrung nur unzulänglich erschlossen werden könnte. Selbst Slemons Argument bezüglich eines soziologischen Konzeptes dürfte hier nicht ausreichen, da, wie oben gezeigt, in der Chicana-Literatur keine homogene ethnische Gruppe behandelt wird. Also sollte auch Anzaldúas Borderlands nicht unter einem postkolonialen Hintergrund erörtert werden.

[...]


[1] Im Folgenden wird der Einfachheit halber mit ‚Borderlands‘ bzw. bei Zitaten aus dem Buch mit B/F zitiert.

[2] Vgl. dazu Olney, James „‘I Was Born’: Slave Narratives, Their Status as Autobiography and as Literature”, in Davis, Charles T. / Gates, Henry Louis, Jr. Ed. “The Slave’s Narrative”; Oxford University Press, 1985. 148 – 75.

[3] Spanisch: Zeugnis

[4] Übersetzung aus dem Spanischen: „Zu allererst ist es für mich noch immer schwierig Spanisch zu sprechen, da ich nicht auf ein College gegangen bin, nicht zur Schule gegangen bin.“

[5] Spanisch: campesina – Frau vom Land; indígena – Frau indianischer/indigener Herkunft.

[6] Übersetzung aus dem Spanischen: „Ich heiße Rigoberta Menchú. Ich bin 23 Jahre alt. Ich möchte dieses lebendige Zeugnis ablegen. Es ist keine Geschichte aus Büchern, sondern gemeinsam mit meinem Volk gelebte Geschichte. Und das ist, was ich betonen möchte. Denn es haben viele Menschen gelebt und es ist das Leben aller; das Leben aller armen Guatemalteken und ich werde versuchen, mein Leben kurz darzustellen. Meine persönliche Situation beinhaltet die ganze Realität eines Volkes.“

[7] Hier ist das 20. Jahrhundert gemeint.

[8] Spanisch: „We need theories“

[9] Die Treaty of Guadalupe-Hidalgo vom 2. Februar 1848 beendete den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg undlegte die neue Grenze zwischen den USA und Mexiko entlang des Rio Grande und des Gila Flusses fest. Mexiko musste damit nahezu die Hälfte seines Landes an die USA abtreten, die somit die Territorien der heutigen Bundesstaaten Kalifornien, New Mexico, Texas und Arizona, sowie Teile von Colorado und Wyoming erhielten. Mexiko erhielt im Gegenzug eine Entschädigung von $ 15 Mio. Somit konnte das Manifest Destiny, die Überzeugung der US-Amerikaner, die Expansion ihres Landes bis zum Pazifik fortzusetzen, realisiert werden (Saldívar 17), (Boyer und Clark 373). Mit Artikel IX der Treaty wurde den Mexikanern „the enjoyment of all the rights of citizens in the United States according to the principles of the Constitution; and in the meantime shall be maintained and protected in the free enjoyment of their liberty and property, and secured in the free exercise of their religion without restriction” garantiert (Acuña 57).

Ende der Leseprobe aus 103 Seiten

Details

Titel
Grenzüberschreitungen in Gloria Anzaldúas "Borderlands / La Frontera - The New Mestiza"
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Universität)
Note
1,5
Autor
Jahr
2007
Seiten
103
Katalognummer
V90137
ISBN (eBook)
9783638072465
Dateigröße
730 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In dieser Arbeit werden die literarischen, spirituellen, sexuellen Grenzüberschreitungen der Protagonistin / Autorin analysiert, um das Werk einem Genre zuordnen zu können, was jedoch nicht möglich ist, da die Autorin ein vollkommen neues Genre geschaffen hat.
Schlagworte
Grenzüberschreitungen, Gloria, Anzaldúas, Borderlands, Frontera, Mestiza
Arbeit zitieren
Katharina Heyne (Autor:in), 2007, Grenzüberschreitungen in Gloria Anzaldúas "Borderlands / La Frontera - The New Mestiza", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90137

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