Berufung. Selbstverwirklichung oder Gottesbegegnung?


Diplomarbeit, 2000

262 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0.1. Summary

0.2. Verzeichnis der Exkurse

1. Hinführung
1.1. Die Menschen mit Leben berühren
1.2. Ein persönliches Vorwort
1.4. Nach der Berufung suchen?
1.5. Ziel und Grenzen dieser Arbeit
1.5.1. Fragen und Thesen
1.5.2. Grenzen dieser Arbeit

I. Selbstverwirklichung

2. Was wir suchen
2.1. Handlungsanweisungen und Platzanweisung
2.2. Selbstwert und Identität
2.3. Sinn
2.4. Meine Begabungen einbringen können

3. Was ist Selbstverwirklichung?
3.1. Humanismus
3.2. Humanistische Psychologie
3.2.1. Philosophische Wurzeln
3.2.2. Gestaltpsychologische Wurzeln
3.2.3. Menschenbild
3.2.4. Weltanschauliche Lasten
3.2.5. Kritik des humanistischen Menschenbildes
3.3. Das Selbst
3.3.1. Vielfalt der Definitionen
3.3.2. Verständnis der Humanistischen Psychologie
3.4. Selbstverwirklichung
3.4.1. Das höchste der Bedürfnisse
3.4.1.1. Die Maslowsche Bedürfnispyramide
3.4.1.2. Defizit-Bedürfnisse in der Bibel
3.4.1.3. Wachstums-Bedürfnisse in der Bibel
3.4.2. Wachstum
3.4.2.1. „Defizit-Motivation und Wachstums-Motivation“
3.4.2.2. Die Energiequelle des Wachstums
3.4.2.3. Wie selbstverwirklichende Menschen sind
3.4.2.4. Wie das Wachstum geschieht
3.4.2.5. Entscheidung zwischen Wachstum und Sicherheit
3.4.2.6. Beziehungen zu anderen Menschen
3.4.2.7. Liebe – bedürftig oder bedürfnislos?
3.5. Über das Selbst hinaus
3.5.1. Wie sich Selbstverwirklichung äußert
3.5.2. Grenzerfahrungen
3.5.3. Begegnung mit der Welt
3.5.3.1. Das Selbst und die Wirklichkeit vereinen
3.5.3.2. Warum die Beziehung zur Welt notwendig ist
3.6. Beziehungen
3.6.1. Martin Buber
3.6.2. Die Grundworte Ich-Du und Ich-Es
3.6.2.1. Beziehung und Erfahrung
3.6.2.2. Die Zunahme der Es-Welt
3.6.2.3. Das Du und das ewige Du
3.6.3. Die Begrenzung der Ich-Du-Beziehung
3.6.4. Sich auf das Du einlassen
3.6.4.1. Mut zum Zuhören
3.6.4.2. Annahme
3.6.4.3. Vergegnungen
3.7. Sinnfindung
3.7.1. Leiden an der Sinnlosigkeit
3.7.2. Die „Vorsehung“ und die Freiheit
3.7.3. Leben als Verwirklichung von Möglichkeiten
3.7.3.1. Drei Lebens-Werte
3.7.3.2. Einmaligkeit und Einzigartigkeit
3.7.3.3. Eine Lebensaufgabe
3.7.3.4. Der Sinn unserer Unvollkommenheit
3.7.3.5. Tod und Liebe
3.7.4. „Ärztliche Seelsorge“
3.7.5. Verantwortung übernehmen
3.8. Zusammenfassung
3.8.1. Wortbedeutung und -herkunft
3.8.2. Erweiterung des Selbstverwirklichungskonzepts
3.8.3. Die Grundursache von Selbstverwirklichung
3.8.4. Kritik der Humanistischen Psychologie
3.8.5. Selbstverwirklichung und die Bibel
3.8.5.1. Das Doppelgebot der Liebe
3.8.5.2. Erster Deutungsvorschlag
3.8.5.3. Zweiter Deutungsvorschlag
3.8.6. Alternativen zur Selbstverwirklichung

II. Berufung

4. Was Gott sucht
4.1. Gott und der Mensch
4.1.1. Gott braucht uns nicht
4.1.1.1. Die Schöpfung
4.1.1.2. Das Volk Israel
4.1.1.3. Jesus Christus und die Gemeinde
4.1.2. Gott will uns
4.1.3. Gott ruft uns
4.1.4. Braucht Gott uns doch?
4.2. Hingabe und Schwäche
4.3. Gemeinschaft

5. Was ist Berufung?
5.1. Wortbedeutungen
5.2. Ein säkularer Erklärungsversuch
5.2.1. Die „innere Kraft“
5.2.2. Was uns innerlich drängt
5.2.3. Vom Wesen des Schicksals
5.3. Berufung als Selbstverwirklichung?
5.3.1. „Grundtrieb“ Selbstverwirklichung
5.3.2. Das Angerufensein erkennen
5.3.3. Die größere Entscheidung
5.4. Christliche Verständnisse
5.4.1. Berufung – nur vollzeitlich?
5.4.1.1. Mein Gottesverhältnis
5.4.1.2. Mein Verhältnis zu den Mitmenschen
5.4.1.3. Mein Verhältnis zu mir selber
5.4.1.4. Die Gemeinde
5.4.1.5. Die Ursachen
5.4.2. Berufung – nur eine Aufgabe?
5.4.2.1. Beispiel: Der Gabentest
5.4.2.2. Begabung – was die Wissenschaft sagt
5.4.2.3. Berufung und Begabung in der Bibel
5.4.2.4. Begabung: Stärken und Schwächen
5.4.2.5. Begabte und Berufene

6. Ein detailliertes Bild von Berufung
6.1. Der Ruf
6.1.1. Wort und Antwort
6.1.2. „Komm!“
6.1.3. „Hier bin ich“
6.1.3.1. Hingabe
6.1.3.2. Liebe als Kern von Berufung
6.2. Die Sendung
6.2.1. „Mit dem Eigenen“
6.2.2. „Ins Andere“
6.2.3. Wozu wir gesandt sind
6.2.4. Gegensatz oder Gemeinsamkeit?
6.2.5. Wozu wir nicht gesandt sind
6.3. Das Berufungsmodell und die Bibel
6.3.1. Berufung in der Bibel
6.3.1.1. Abraham, Mose und die Propheten
6.3.1.2. Jünger und Apostel
6.3.1.3. Einzelne Berufungen
6.3.1.4. Die Briefe
6.3.1.5. Die Schöpfung
6.4. Zusammenfassung

III. Berufensein

7. Berufung empfangen
7.1. Gottes Wille und unser Wille
7.1.1. Voluntarismus
7.1.2. Gottes Plan und mein Wille
7.1.2.1. Wie ein Kaleidoskop
7.1.2.2. Wheelersche Realität
7.1.3. Entscheiden
7.1.3.1. Entscheidungsmüdigkeit
7.1.3.2. Schlechte Erfahrungen mit früheren Entscheidungen
7.1.3.3. Zu große Entscheidungsfreiheit
7.2. Berührung mit dem „Eigenen“
7.3. Berufen zum Dienen
7.3.1. Beruf und Berufung
7.3.1.1. Dienen oder Verdienen?
7.3.1.2. Historische Entwicklung
7.3.1.3. Verwandlung des Berufungsverständnisses
7.3.2. Dienst und Liebe
7.4. Gottes Stimme hören
7.4.1. „Mit meinen Augen leiten“
7.4.2. Wenn Gott schweigt
7.4.3. Gottes Reden hören

8. Ermutigung
8.1. Drei Geschichten
8.1.1. Umwege und Irrwege
8.1.2. Begabt und berufen
8.1.3. Mit Tränen säen – mit Freuden ernten
8.2. Ein Kapitel Gnade
8.3. Entmutigt?
8.4. Den Blick erweitern
8.5. Die Bitte Gottes

9. Anhang
9.1. Ein persönliches Nachwort
9.2. „Nach Redaktionsschluß“
9.3. Literatur
9.4. Glossar
9.5. Register
9.5.1. Sachregister
9.5.2. Namensregister

0.1. Summary

Diese Diplomarbeit stellt die Themen Selbstverwirklichung und Berufung nebeneinander, wobei jeweils das eine im Licht des anderen deutlicher sichtbar wird. Die Gegenüberstellung zeigt harte Gegensätze, aber auch erstaunliche Parallelen auf.

Im ersten Teil wird das Konzept von Selbstverwirklichung aufgrund der Forschungen des Psychologen Abraham Maslow über die menschlichen Bedürfnisse ausführlich beschrieben und auch kritisiert. Maslows Beobachtungen, daß „Selbst­ver­wirk­licher“ häufiger als andere Menschen Grenzerfahrungen machen, geben die Richtung zur Erweiterung des Konzepts der Selbstverwirklichung an. Das Erleben von Grenzerfahrungen erinnert an das Erleben der Ich-Du-Beziehung, wie der Religionsphilosoph Martin Buber sie beschreibt. Ebenso werden von den Humanistischen Psychologen auch Aussagen des Psychologen Viktor Frankl über die Sinnsuche in das Selbstverwirklichungskonzept einbezogen, die in dieser Arbeit ebenfalls betrachtet werden. Aus all dem entsteht ein Bild von Selbstverwirklichung, das nicht nur eine Sache des Selbst ist, sondern über das Selbst hinausreicht.

Das führt direkt zum Thema Berufung im zweiten Teil. Ausgehend von der Hypothese, daß Christen, die nach ihrer Berufung suchen, unbewußt nach Möglichkeiten suchen, sich selbst zu verwirklichen (z.B. ihre eigenen Gaben zum Gegenstand ihrer Berufung machen wollen), wird ein Bild von Berufung entworfen, das ein Beziehungsprozeß ist. Berufung ist einerseits der Ruf Gottes in das Leben von Menschen, mit dem er sie zu sich ruft, und andererseits die Sendung zu den anderen Menschen. In der Sendung spielt zwar das Selbst des Menschen (Begabungen, Persönlichkeit) eine Rolle, ebenso will sie den Menschen über das hinausführen, was er ist. Berufung heißt nicht, daß etwas getan werden muß, sondern daß der Berufene wächst und reift.

Ein kurzer dritter Teil „Berufensein“ versucht, das theoretische Konzept von Berufung praktisch zugänglich zu machen und die Leser zu ermutigen, sich so, wie sie sind, auf den Ruf Gottes einzulassen.

Die Zielgruppe dieser Arbeit sind Menschen, die auf der vielleicht über lange Zeit vergeblichen Suche nach Berufung sind, und Menschen, die vom Blick auf sich selbst entmutigt sind. Die Diplomarbeit will die auch im christlichen Raum allgegenwärtigen Lügen des Humanismus aufdecken, der das Selbst vergöttert, und die Natur des Alten Menschen in jedem von uns entlarven, die sich selbst vergöttert. Über allem sollen Liebe und Gnade als Zentrum von Berufung aufleuchten.

Alle Hervorhebungen in Zitaten sind, wenn nicht anders angegeben, von den jeweiligen Autoren. Die Bibelzitate stammen aus der Luther-Übersetzung 1984. Kursiv geschriebene Absätze am Ende einiger Kapitel sind Fazit-Gedanken. Außerdem gibt es eine Reihe Exkurse, die in kurzer Form Hintergrundwissen behandeln, das nicht direkt zum Thema der Diplomarbeit gehören, es aber gut ergänzt.

0.2. Verzeichnis der Exkurse

Folgende Titel in Anführungsstriche setzen: „Alles Sein ist Bezogensein“ und „Entscheidungsexzeß“

Ein biblisches Bedürfniskonzept

Kant und die Kategorien

Erkennen – was die moderne Wissenschaft sagt

Warum Gott eine Person ist

Logotherapie – Einbeziehung der geistigen Dimension

„Alles Sein ist Bezogensein“

Möglichkeiten in die Wirklichkeit hinein verwirklichen

Der Nutzen von Gaben- und anderen Tests

Tabula rasa

Individualismus und Kollektivismus in der Wirtschaft

Berufung, Erwählung und Verwerfung

Dimensionalontologie – das Sein in den Dimensionen

„Entscheidungsexzeß“

1. Hinführung

1.1. Die Menschen mit Leben berühren

Anita, eine Christin, beging Selbstmord – eine für die Hinterbliebenen unverständ­liche und schmerzvolle Tat. Auf ihrer Beerdigung predigte der Pfarrer Marcel Dietler über „Gottes wahnsinnigen Schmerz um Anita“:

„Wir können nicht verstehen, was geschehen ist. Aber der Apostel Paulus könnte es uns erklären, was in Anita vorgegangen ist. Er ist auch derjenige, der andere davon abhalten kann, denselben Schritt wie Anita zu tun. Paulus hat das, was Anita gefühlt hat, auch gefühlt. Und doch ist da ein großer Unterschied: Paulus hat dasselbe gefühlt, aber er hat es nicht getan! Im Philipperbrief 1,23–24 schreibt er: ,Beides scheint mir verlockend: Manchmal würde ich am liebsten schon jetzt sterben, um bei Christus zu sein. Gibt es etwas Besseres? Andererseits ist mir klar, daß ich bei euch noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen habe.‘ Paulus sagt nicht: ,Ich möchte am liebsten tot sein.‘ Er sagt: ,Ich möchte bei Christus sein.‘ Anita hat in ihren Abschiedsbriefen geschrieben: ,Ich möchte in den Armen des himmlischen Vaters sein.‘ Nicht ihre Tat, sondern die Arme des Vaters sind bei ihr das Faszinierende.

Ich habe mir in meiner Phantasie vorgestellt, ich würde Anita in die Ewigkeit folgen und beobachten, was sie dort erlebt. Eine Art Traum: Anita steht vor dem Thron Gottes. Sie will sich in die Arme des himmlischen Vaters stürzen, aber zwischen Gott und ihr steht eine dicke Glaswand. Eine Stimme, mächtig wie tausend Wasserfälle, und doch wohltuend und gut, spricht: ,Noch kannst du nicht in meine Arme, Kind, bis du vier Schmerzen gespürt hast. Bist du dazu bereit? So schließe die Augen für den ersten Schmerz.‘

Eine erste Welle von Schmerz braust über Anita. Sie bleibt gefaßt. Sie läßt die Welle abklingen. Dann öffnet sie die Augen. Die Stimme fragt: ,Was hast du gespürt?‘ Darauf Anita: ,Das war derjenige Schmerz, den ich ein Leben lang mit mir herumgetragen habe.‘

Wiederum schließt Anita die Augen. Die zweite Welle braust heran. Es muß ein sehr viel größerer Schmerz sein. Anita zuckt zusammen. Sie sagt: ,Das war ein furchtbarer, völlig unbekannter Schmerz. Was war das?‘ Die Stimme antwortet: ,Das war der Schmerz, den du deinen Angehörigen, Freunden und Freundinnen zugefügt hast. Schließe wieder die Augen, aber halte dich fest. Es ist eine neue Welle im Anzug.‘

Obschon Anita sich festgehalten hatte, wurde sie von der dritten Welle zu Boden geschleudert. Anita sagte: ,Bevor die Welle kam, war es wunderschön. Ich sah ein warmes Meer mit einladenden Inseln: rauschende Palmen, leuchtende Blumen, bunte Schmetterlinge, köstliche Früchte, herrliche Menschen, Männer, Frauen und Kinder. Dann kam die Welle, die Inseln versanken, die Menschen ertranken und ich wurde zu Boden geschleudert. Was war das?‘ Die Stimme sprach: ,Wie diese Inseln mit ihren Palmen und Blumen, Schmetterlingen und Früchten wäre dein Leben geworden mit all den Begabungen, die ich dir geschenkt hatte. Die Menschen, die du gesehen hattest, wären durch dich mit Leben berührt worden. Die Kinder wären deine eigenen Kinder gewesen. Jetzt aber werden sie nie geboren werden. Die Männer und Frauen werden mit deinen Gaben nicht berührt werden. Sie werden deine Blumen und Schmetterlinge nicht sehen, von deinen Früchten nicht essen. Aber jetzt, Anita, leg dich zu Boden, denn jetzt kommt die größte und letzte Welle. Bis jetzt hast du nur den menschlichen Schmerz verspürt. Nun aber wirst du fühlen, was ich, Gott, für einen Schmerz in mir trage. Ich will dir zeigen, was du mir angetan hast.‘

Als Anita nach der vierten und größten Welle die Augen öffnete, lag sie in den Armen des himmlischen Vaters. Sie stammelte: ,Ich habe nichts gespürt. Aber ich weiß, daß ich bereit bin zurückzugehen.‘ ,Ich weiß‘, sprach die Stimme der tausend Wasserfälle. ,Ich weiß, daß du zurückgehen möchtest. Aber das kannst du nicht. Ich weiß auch, daß du selber soeben den größten Schmerz – meinen Schmerz – nicht verspürt hast. Mein Schmerz wäre ein ganzes Meer von Feuer gewesen; du würdest es nicht ausgehalten haben. Aber mein Sohn ist gekommen und hat dich durch das Feuermeer meines Schmerzes hindurchgetragen und in meine Vaterarme gelegt.‘

Anita hat Gott und den Menschen Schreckliches angetan. Wenn sie zurückkommen würde, würde sie es nie wieder tun. Sie würde euch allen sagen: ,Tut es nicht! Um Gottes Willen tut es nicht!‘ Jesus Christus hat gesagt: ,Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.‘ Wenn durch das Beispiel dessen, was Anita getan hat, das Ja zum Leben zur Ehre Gottes erst so richtig erwacht, dann erhält das sinnlose Sterben Anitas durch uns Sinn. Aber diesen Sinn müssen wir ihm verleihen durch ein überzeugtes Ja zum Leben.“

(Dietler, 1999, S. 21)

1.2. Ein persönliches Vorwort

Bevor ich Gott fand, kam mir mein Leben sinnlos vor. So sinnlos, daß ich als einzig logischen und folgerichtigen Ausweg aus den alltäglichen Unannehmlichkeiten des Lebens den Selbstmord sah. Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch vor über 14 Jahren entdeckte ich Gott, vertraute ihm mein Leben an und hatte nun den Eindruck, daß mein Leben einen Sinn bekommen hätte, wenn ich auch nicht wußte, worin er bestand. Dieses Gefühl der Sinnhaftigkeit war stark genug, mich von nun an zu tragen. Selbstmord war kein Thema mehr für mich. Sicher nicht nur aufgrund dieses Sinngefühls, sondern vor allem auch deswegen, weil es da einen persönlichen Gott gab, der – so seine Botschaft von Anbeginn für mich – wollte, daß ich lebe.

Jahre später sind Begriffe wie Berufung , Lebenszielplanung und dergleichen in mein Bewußtsein gerückt. Nachdem ich als Christ lange „vor mich hin“ gelebt hatte, merkte ich nun, daß das nicht genug zu sein schien. Ich war auf der Suche nach Gottes Plan für mein Leben. Diese Suche führte mich schließlich aus dem alten Beruf heraus und zur IGNIS-Akademie. Hier erlebte ich erstmals die Erfahrung des Berufenseins. Ich traute mir mehr zu und bekam mehr Rückmeldungen, die mir wiederum Mut machten, mehr zu wagen. Sicher ist immer noch viel mehr drin, denn Gott ist ein großer Gott und hat große Möglichkeiten…

So fesselt mich also nach wie vor das Thema Berufung – der Ruf Gottes in mein Leben –, und es scheint mir immer mehr eines der zentralen Themen der Beziehung zwischen Gott und Mensch zu sein.

Zum Thema Berufung existieren bereits diverse Diplomarbeiten an der IGNIS-Akademie. Sogar ein Buch mit dem Titel Berufung hat IGNIS inzwischen herausgegeben. Auch gibt es hier bereits eine Berufungsschule. Das hat mir die Themenwahl nicht einfach gemacht, schien es doch, daß dazu schon alles gesagt worden ist. Ich wollte das Rad nicht noch einmal erfinden. So suchte ich – während ich hartnäckig am Berufungsthema festhielt – monatelang nach „meinem“ speziellen Themenbereich, kam aber nicht weiter. Möglicherweise habe ich damit unnötig Zeit verschenkt und mich unnötig verzettelt. Sicher habe ich aber auch persönlich dabei gewonnen, auch wenn viele Literaturstudien jener Zeit nicht unmittelbar zum Entstehen der Diplomarbeit beigetragen haben.

Trotzdem ist es mit nicht gelungen, ein Thema zu finden, das ich mittels einer „Tiefbohrung“ ergründen könnte. Lieber wollte ich einen großen Kreis um das Be­ru­fungs­thema ziehen und es gewissermaßen aus der Vogelperspektive betrachten. Diese Sicht hat mich motiviert und begeistert, und ich möchte diese Begeisterung und Motivation den Lesern dieser Diplomarbeit weitergeben. Ich wünsche mir, daß es Spaß macht, diese Arbeit zu lesen. Daher strebe ich bewußt einen lockeren, leicht verständlichen Schreibstil an, der vermutlich für Diplomarbeiten ungewöhnlich ist, aber hoffentlich nicht allzusehr die fachliche Qualität leiden läßt.

1.3. Nach der Berufung suchen?

Das Suchen nach unserer Berufung ist eine der wichtigsten Aufgaben in unserem Leben. Wo wir sie finden, werden wir Fülle und Erfüllung erleben. Wo wir an unserer Berufung vorbeileben, zahlen wir einen hohen Preis. Diese Gedanken finden sich immer wieder in Büchern, Artikeln und Abhandlungen über das Be­ru­fungs­the­ma – nicht nur in christlichen.

Ist die Suche nach der Berufung wirklich so wichtig? In früheren Jahrhunderten war das doch für die meisten Menschen kein Thema; Handwerker, Bauern oder auch Herrscher haben ihre Lebensaufgaben innerhalb der Familie von einer Generation auf die andere übertragen. Nur wenige Menschen empfingen Berufung zu einem klösterlichen Leben oder zu einem kirchlichen Amt. (Waren die anderen demzufolge nicht berufen?) Die Gesellschaft, Traditionen und Werte boten den Menschen einen geordneten Lebensrahmen. Sie wußten, was sie zu tun hatten, wohin sie gehörten, wer sie waren und wer nicht. Waren die Menschen damals glücklich damit? Sie hatten gewiß ihre Sorgen und Nöte. Aber sie kannten vermutlich keine Alternativen. Sich gegen Autoritäten aufzulehnen, war für die meisten Menschen undenkbar.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Werte und Traditionen wurden nach und nach aufgegeben. Gesellschaftsstrukturen und Autoritäten gelten kaum noch etwas. Politische und industrielle Revolutionen veränderten die Welt. Der Fortschritt von Wissenschaft und Technik hat dem Menschen mehr Freizeit und unzählige Gestaltungsmöglichkeiten gegeben. Mittlerweile steht uns durch Internet und Jets buchstäblich die ganze Welt offen. Wir haben heute mehr Freiheiten als jede Generation vor uns. Sind wir heute glücklicher als die Menschen in den engen Gesellschaftsstrukturen früherer Jahrhunderte? Offensichtlich nicht. Denn wählen dürfen bedeutet auch wählen müssen. Und das ist das, was uns heute Not macht.

Unsere heutige Zeit wird Postmoderne genannt. Dieser Begriff (der bemerkenswerterweise nichts Neues bezeichnet, sondern eben nur die Nach- Moderne) bezeichnet ursprünglich eine Stilrichtung in der Architektur, die nichts eigenes, Neues mehr schuf, sondern sich dem Spiel mit Stilmitteln früherer Epochen hinwandte (vgl. LexiROM, 1995). Seit den 1960er Jahren wird er nach und nach auf alle Bereiche von Kunst, Kultur, Wissenschaft und des ganzen Lebens angewandt. Heute drückt er ein Lebensgefühl aus, das von Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit bestimmt ist. „Nun­mehr sagen ihm [dem Menschen] die Instinkte nicht mehr, was er muß, und die Traditionen nicht mehr, was er soll“ (Frankl, 1971, S. 7). Immer mehr erleben wir Unsicherheit und Haltlosigkeit. Sinnlosigkeitsgefühle erfassen immer mehr Menschen. Die einen beginnen nach neuen Werten, nach Halt und Geborgenheit zu suchen (oftmals in der Esoterik oder in Sekten), die anderen lassen sich treiben und hoffen auf maximalen Genuß.

Auch als Christen können wir uns dem Lebensgefühl der Postmoderne nicht völlig entziehen. Wir leben immerhin in der Welt, und unser Leben ist vielfältig mit ihr verflochten. Wir haben gewöhnlich Anteil am Arbeitsleben der Welt und an deren Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Und zumindest wer sein Christsein in einer freikirchlichen Gemeinde oder einer erneuerten Kirche lebt, kennt auch hier unzählige Auswahlmöglichkeiten von der Gemeinde selbst bis zur konkreten Mitarbeit. Wir kommen um das Wählen, das Auswählen aus Möglichkeiten, um das Entscheiden nicht herum, und wir wünschen uns dabei, gerufen – berufen – zu sein.

Übrigens gibt es nicht nur in der postmodernen Welt, sondern auch unter Christen ein Getriebensein. Wo wir eigene, und damit vielleicht auch beliebige Werte und Motive als Antrieb haben, werden wir zu Getriebenen. Das ist nicht erst ein Problem unserer Zeit. Schon in der Bibel finden wir Beispiele für solche Menschen. Beispielsweise war Paulus auf seiner Jagd nach den Christen getrieben, bis ihn Jesus – berief.

„Welch eine Umkehr von dem Trieb, der ihn nach Damaskus hetzte, in dem Versuch, das Christentum auszulöschen, bis zu dem dramatischen Augenblick, wo er Jesus völlig ergeben fragte: ,Herr, was soll ich tun?‘ Ein getriebener Mann wurde zu einem berufenen Mann bekehrt“ (MacDonald, 1992, S. 50).

Wer vor Entscheidungen steht, wer das Getriebensein durch eigene Antriebe satt hat, wer den Plan Gottes erkennen und seinen Willen erfüllen will, wer als Christ leben will, braucht Berufung. Wir haben also genügend Grund, unsere Berufung zu suchen. Aber warum ist das so schwierig?

1.4. Ziel und Grenzen dieser Arbeit

Ich weiß von vielen Christen, die auf der Suche nach ihrer Berufung sind, und die geradezu verzweifeln angesichts der Tatsache, daß sie sie nicht finden. Ich weiß von Christen, die gerne Jesus dienen möchten, die in der Gemeinde mitarbeiten möchten, und nicht wissen, wie und wo. Ich weiß von Christen, die etwas tun wollen, sich aber nicht trauen, zu beginnen. Ich weiß von Christen, die vor Le­bens­ent­schei­dun­gen stehen, die sie im Einklang mit Gottes Willen treffen wollen, aber sie sehen keine Lösung. Dieses Suchen nach der eigenen Berufung, nach dem Weg mit Jesus durch das Leben scheint mir im Leib Christi sehr weit verbreitet zu sein. Dafür spricht nicht zuletzt die Beliebtheit von Hilfsmitteln im Raum christlicher Gemeinden wie Gabentests und Dienstprofile.

Auch ich kenne diese Suche, und ich bin dankbar, nach und nach Antwort auf mein Fragen bekommen zu haben. Das Erlebnis, geführt und gebraucht zu werden, hat mein Leben und meinen Glauben verändert. Zugleich frage ich immer noch: „Jetzt stehe ich hier, aber wie geht es nun weiter?“ Ständig sind neue Entscheidungen zu treffen. Das Berufungsthema bleibt für mich nach wie vor aktuell.

1.4.1. Fragen und Thesen

Warum erleben wir so oft ein Schweigen Gottes auf unser Fragen nach unserer Berufung? Haben wir vielleicht ein falsches Verständnis von Berufung? Was suchen wir eigentlich, wenn wir Berufung suchen? Was sollten wir statt dessen suchen? Wo könnten wir Gottes Antworten finden? Was ist Berufung eigentlich, und wozu dient sie?

Und: Was sucht Gott eigentlich, wenn er beruft? Hat Gott einen Plan für uns, den es zu ergründen und zu befolgen gilt? Welche Rolle spielen die Begabungen, die Gott in unser Leben hineingelegt hat, für unsere Berufung?

Meine Thesen, die dieser Arbeit zugrunde liegen, lauten folgendermaßen:

- Berufung ist ein Ruf Gottes in unser Leben, der uns stets in Beziehungen (zu Gott selbst, zu anderen Menschen) ruft.

Das klingt zunächst einleuchtend und scheint keine These wert zu sein. Aber der Berufungsbegriff ist im allgemeinen Sprachgebrauch sehr unscharf. Wir mischen einerseits vieles hinein und verengen den Begriff andererseits. In der psychologischen Literatur taucht der Begriff entweder überhaupt nicht auf, oder er wird in der Regel undefiniert benutzt. Es gibt kaum Erklärungsversuche oder Modelle zum Thema Berufung. Deshalb erscheint es mir sinnvoll, in dieser Arbeit anfangs vom Alltagsverständnis und der Erlebnisqualität von Berufung auszugehen.

- Getrieben vom alten Menschen in uns neigen wir dazu, Eigenes einbringen zu wollen, und hoffen, daß Gott uns sagt, wo und wie wir das tun können.

Eigenes einbringen – oder verwirklichen – führt geradewegs zum Begriff Selbstverwirklichung . Dieses faszinierende Konzept der Humanistischen Psychologie will ich genauer betrachten und zeigen, wie weit das humanistische Gedankengut im Leib Christi verbreitet ist – und ihn beraubt. Wenn wir auf der Suche nach Berufung Selbstverwirklichung suchen, dann wird uns Gott nicht darauf antworten. Hier mag ein Grund liegen, warum wir so oft keine Antwort auf unser Fragen erhalten. Die gegensätzlichen Konzepte von Selbstverwirklichung und Berufung sollen in dieser Arbeit nebeneinandergestellt werden, so daß das eine im Licht (bzw. Schatten) des anderen jeweils deutlicher werden kann. Damit hoffe ich, daß ich angesichts der Faszination der Selbstverwirklichung einen Wegweiser zum so viel schöneren, aber schwierigeren Weg der Berufung aufzeigen kann.

- Berufung gliedert sich in den Ruf zu Jesus (Berufung im engeren Sinn) und den Ruf zum Nächsten hin (Sendung, Auftrag). Der Ruf zu Jesus ist beständig und unveränderlich, der Ruf zum Nächsten hin ist dynamisch und wechselnd.

Es scheint, daß die beiden Komponenten der Berufung die beiden Teile des Doppelgebotes der Liebe widerspiegeln. Ruf zu Jesus – „Liebe Gott“ und Ruf zum Nächsten – „Liebe den Nächsten“. Wie das Doppelgebot der Liebe, so lassen auch die beiden Teile der Berufung nicht trennen. Dennoch werde ich sie getrennt betrachten müssen, da eine Verwechslung der beiden zu Problemen für den Berufenen führen wird. Ebenso ist es wichtig zu unterscheiden, daß der Ruf zu Jesus, die Berufung zum Sein (Wagner, 1997), in eine neue Identität, beständig ist, während die Sendung zum Nächsten, die Berufung zum Dienst (Wagner), wechseln und mit uns wachsen kann. Gott kann uns heute diesen Auftrag geben und uns morgen dorthin senden. Immer und immer wieder wird er uns aber zu sich selbst rufen.

- Der Ruf zum Nächsten gliedert sich wiederum in zwei Teile, den Ruf „ins Eigene“ und den Ruf „ins Andere“ (nach Greshake, 1991). Der Ruf ins Eigene nimmt das in Dienst, was wir bereits haben (Begabungen, Interessen, Wünsche unsere Persönlichkeit). Der Ruf ins Andere führt uns über das Eigene hinaus, erweitert Grenzen und läßt uns wachsen.

Hier zeigt sich, daß die Antwort auf die Frage, ob Gott die Begabten beruft oder die Berufenen begabt, kein Entweder-Oder ist, sondern daß beides wechselseitig zutrifft. Es scheint, daß uns Gott mit dem Ruf ins Eigene zunächst in Bewegung setzen, mit unserem Potential und unseren Begabungen in Berührung bringen, Mut machen will, loszugehen. Begabungen werden so gesehen zu einer „Starthilfe“. Der Ruf ins Andere dagegen ist schöpferisch, er formt Neues, noch nicht Existierendes in uns. Er dient uns zum Wachstum und ist eine Herausforderung, glaubend in das Unbekannte zu treten.

Was bisher noch nicht angeklungen ist, ist der Nutzen, den der Berufene dem Reich Gottes bzw. der Gemeinde bringt. Er scheint tatsächlich nur untergeordnete Bedeutung zu haben. Daß etwas im Reich Gottes getan wird, ist wichtig, aber in diesem Zusammenhang scheint es wie ein nützliches Nebenprodukt. Zuerst geht es um uns selbst. Gott möchte Gemeinschaft mit uns haben, und er möchte, daß wir wachsen und reifen. Es geht Gott nicht zuerst um die Arbeit, sondern um uns!

1.4.2. Grenzen dieser Arbeit

Die Entstehung dieser Arbeit ist für mich mit vielen unerwarteten Schwierigkeiten verbunden. Ich bin bei dem Thema, das mich sehr bewegt, an unvermutete Grenzen gestoßen. Da ist beispielsweise das Dilemma, als IGNIS-Student einerseits nach Form und Inhalt eine wissenschaftliche Arbeit schreiben zu müssen, die nach bestimmten Kriterien bewertet wird, andererseits aber meine Motivation zu dieser Arbeit daraus zu beziehen, die Nöte der suchenden Menschen „drau­ßen“ auf dem Herzen zu haben. Die Lösung des Dilemmas hätte darin bestanden, eine Di­plom­ar­beit zu einem ganz anderen Thema zu schreiben und mich unabhängig davon irgendwann auch mit dem Berufungsthema zu befassen. Doch diese Entscheidung hätte ich viel, viel früher treffen müssen. Jetzt bleibt mir nur, meinen Perfektionismus loszulassen und die Diplomarbeit so unvollkommen zu schreiben, wie es jetzt noch möglich ist.

Berufung ist ein sehr persönliches und konkretes Geschehen. Es vollzieht sich in der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Es ist lebendig. Jeder Versuch, es darzustellen, Thesen zu belegen oder Prinzipien daraus abzuleiten, nimmt dem Berufungsgeschehen das Lebendige und damit sein Wesen. Ich kann unmöglich behaupten, Gott mache etwas so oder so. Gott ist ein souveräner Gott und begegnet jedem Menschen ganz individuell. Jede Vermittlung von Prinzipien könnte manch einen Leser dazu verleiten, durch bestimmte Methoden ein Gerufensein Gottes erlangen zu wollen. Enttäuschungen und Entmutigung wären vorprogrammiert; ich würde das Gegenteil von dem erreichen, was ich mir für meine Leser wünsche. Meine Aufgabe kann lediglich darin bestehen, allgemeines Verständnis für die Zusammenhänge zu wecken und die Leser zu ermutigen, sich auf die Beziehung mit Gott einzulassen und dann zu erleben, wie Gott sie ruft. Deshalb wird diese Arbeit an vielen Stellen wissenschaftliche Schärfe vermissen lassen müssen.

Das Berufungsthema ist ganz zentral in das Leben der Christen und der Gemeinde eingebunden. Daraus ergeben sich notwendigerweise Zusammenhänge zu anderen Themen wie Identität, Führung, Heiligung, Wachstum und anderen, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden. Auch zur Berufung selbst ließe sich so viel mehr sagen, was ich in dieser Arbeit nur andeuten kann oder ganz auslassen muß. In diesem Zusammenhang sei auf die Diplomarbeit von Karsten Wagner (1997) und sein Buch „Berufung – Gottes Weg erkennen und gehen“ (1998) verwiesen. Beides hat das Entstehen dieser Diplomarbeit stark beeinflußt.

Die vorliegende Arbeit ist der zweite Versuch. Der erste Versuch blieb stecken. Nach Wochen mühsamen Schreibens ging es irgendwann einfach nicht mehr weiter. Es war eine sehr entmutigende Erfahrung. Ich fühlte mich beraubt, geriet in einen haltlosen, finsteren Strudel der Entmutigung, zweifelte am Sinn des Studiums, meiner Kompetenz und schließlich meines Lebens. Es schloß sich eine Zeit an, in der mich Gott durch sein Reden in Predigten, Liedern, Büchern, Bibelarbeiten, Gebeten und Gesprächen mit anderen Menschen wieder allmählich aufgerichtet hat. Ich merkte, daß ich Fehler im Herangehen an die Diplomarbeit gemacht hatte. Ich nahm mir nun Zeit, statt eines besseren Themas erst einmal Gott selbst zu suchen. Und nun entwickelte sich zunächst wie von selbst eine neue Sicht auf das Berufungsthema, die nun auch der Gliederung dieser Arbeit zugrunde liegt. All diese Erfahrungen haben mir gezeigt, wieviel mehr das Leben als die Theorie ist. Ich habe vermutlich das erlebt, was Paulus und Silas in Kleinasien erlebten: Der Heilige Geist verwehrte… (Apg. 16,6–7). Auch das Durchschreiten solch tiefer Täler ist offensichtlich ein Teil von Berufung. Zugleich wurde mir deutlich, wieviel größer die Gnade Gottes ist als all unser egoistisches Streben nach Selbstverwirklichung. Unfaßbar: Gott weiß, daß wir doch lieber unsere eigene Ehre suchen – und ruft uns trotzdem! Deshalb gehört auch das Thema Gnade in diese Arbeit – ein Thema, das ich in meinem ersten Ansatz nicht gesehen habe und mir jetzt äußerst wichtig erscheint.

Ich habe Fehler gemacht und viel Zeit verloren, was man dieser Arbeit vielleicht anmerkt. Doch ich habe vielleicht eine ganz neue Qualität meiner Beziehung zu Gott geschenkt bekommen. Ich habe nach fast 14 Jahren im Glauben vielleicht das erste Mal wirklich begriffen, was Gnade ist und damit eine meiner wertvollsten Glaubenserfahrungen gemacht. Nun bin ich mir beim Schreiben dieser Arbeit der Gnade Gottes gewiß, wünsche allen Lesern die Erfahrung dieser Gnade – und hoffe auf die Gnade meiner selbst mit mir, wenn die Diplomarbeit nicht meinen perfektionistischen Ansprüchen genügt, und derer, die meine Arbeit bewerten werden.

I. Selbst­verwirklichung

2. Was wir suchen

Als Christen beschäftigen wir uns vielleicht mehr als andere Menschen mit dem Thema Berufung. Gewöhnlich stellen wir die Frage nach der Berufung bewußt oder unbewußt in der Art, wie es der schwedische Pastor Magnus Malm in seinem bewegenden Buch „Gott braucht keine Helden“ (1998) beschreibt:

„Schon als junger Christ begegnet man dieser Frage: ,Hast du schon einmal überlegt, ob Gott dich nicht zum Jungscharleiter berufen hat? Oder zum Kindergottesdienst-Mitarbeiter? Zum Jugendleiter?‘ Und das hat er wohl, denn dort haben wir unsere ersten Leitererfahrungen gemacht. Aber so leicht werden wir die Frage nicht los. Wir werden älter, wir schließen die Schule ab, und die Frage kommt wieder, in neuem Gewand: ,Hat Gott mich vielleicht berufen?‘ Womit wir für gewöhnlich meinen: ,Will er vielleicht, daß ich Pastor, Priester, Evangelist, Missionar werde?‘ Gott kann einen natürlich in andere hauptamtliche Dienste rufen, aber Berufung im ,großen‘ Sinn meint meist einen dieser christlichen Top-Berufe“ (Malm, 1998, S. 23).

Doch die meisten von uns fühlen sich nicht „richtig“, nicht im „großen“ Sinn berufen. Dennoch sind auch sie innerlich gedrängt, ihre Berufung zu finden – ihren Platz in der Gemeinde. Wie drängend diese Suche ist, zeigt den Erfolg des Gabentests von Christian A. Schwarz, der inzwischen überarbeitet als „Der neue Gaben-Test“ in neuer Auflage (1997) existiert. Auch Schwarz stellt fest:

„Viele Christen sind von der Frage hin- und hergerissen, wozu sie Gott wohl berufen haben mag“ (Schwarz, 1997, S. 13).

Und Magnus Malm beschreibt einen regelrechten „Berufungskampf“ mancher Menschen. Sie…

„[…] kämpfen jahrelang und verheddern sich womöglich in einem ,Be­ru­fungs­kampf‘, der ihnen die letzt Kraft nimmt. Sie wälzen die Frage hin und her, her und hin, erhalten tausend Antworten gleichzeitig oder auch gar keine, sondern ein einziges leeres Schweigen. Was will Gott denn nun von mir?“ (Malm, 1998, S. 23).

Warum ist uns die Frage nach unserer Berufung so wichtig? Was fehlt uns, wenn wir unsere Berufung nicht finden? Was haben wir, wenn wir unsere Berufung kennen? Und warum geraten wir eigentlich so oft in Berufungskämpfe? Warum schweigt Gott so oft? Suchen wir vielleicht das Falsche auf der Suche nach unserer Berufung? Was suchen wir, wenn wir unsere Berufung suchen? Unterliegen wir nicht einem Denkfehler in bezug auf Berufung, weil wir gar nicht wirklich wissen, was Berufung eigentlich ist (vgl. Malm, 1998, S. 24)?

Der erste Teil dieser Diplomarbeit versucht herauszufinden, welchen Nutzen wir weithin erhoffen, der uns aus unserem Berufensein erwächst. Die Überschrift „Selbst­ver­wirk­li­chung“ weist darauf hin, daß es etwas sein könnte, was uns selbst nutzt. Meine These, die über dem gesamten ersten Teil steht, lautet: Wir neigen gewöhnlich dazu, unseren Teil zu suchen, wenn wir Berufung suchen. Wir wollen einen eigenen Nutzen aus unserem Berufensein ziehen. Wir wollen uns selbst verwirklichen, wenn wir unsere Berufung verwirklichen. Mit einem Wort: Wir streben nach Selbstverwirklichung. Diese These ist unbequem. Sie entlarvt unsere Eigennützigkeit, das Wesen des Alten Menschen, wie es die Bibel bezeichnet. Diese These ist der Anlaß, den Begriff Selbstverwirklichung, den wir als Christen ja negativ bewerten, und die Humanistische Psychologie, die diesen Begriff zu einem Zentrum ihrer Denkweise gemacht hat, ausführlicher zu betrachten. Er ist gewissermaßen ein Gegenkonzept zu dem, was Berufung eigentlich meint. So unbequem der erste Teil für uns Christen auch ist – er soll das entlarven, was uns unfrei macht, und in unserem Denken den Weg frei machen, den wirklichen Ruf Gottes zu hören.

2.1. Handlungsanweisungen und Platzanweisung

Beim Lesen der Bibel fällt auf, wie oft Menschen, die vom Wort Gottes ins Herz getroffen worden sind, spontan fragen: „Was sollen wir tun?“ Schon als Johannes der Täufer am Jordan die um ihn versammelten Menge mit harten Worten zur Umkehr ruft, begegnet uns diese Frage gleich mehrere Male:

„Und die Menge fragte ihn und sprach: Was sollen wir denn tun? Er antwortete und sprach zu ihnen: Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat; und wer zu essen hat, tue ebenso. Es kamen auch die Zöllner, um sich taufen zu lassen, und sprachen zu ihm: Meister, was sollen denn wir tun? Er sprach zu ihnen: Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist! Da fragten ihn auch die Soldaten und sprachen: Was sollen denn wir tun? Und er sprach zu ihnen: Tut niemandem Gewalt oder Unrecht und laßt euch genügen an eurem Sold!“ (Lk. 3,10–14, Hervorhebungen von mir)

Johannes gibt so praxisgerecht und bündig Antwort, wie es die Fragen verlangen. Fast meint man, daß Johannes hier zur Werksgerechtigkeit aufruft. Hier scheint sich auch eine erste Einengung des Berufungsbegriffs einzuschleichen: Berufung ist ein Ruf zu einem Tun. Erst beim genaueren Hinschauen kann man entdecken, daß Johannes hier Einzelfälle dessen nennt, was Jesus später allgemein als „Gol­de­ne Regel“ zusammenfaßt:

„Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten“ (Mt. 7,12).

Jesus selbst hörte die Frage nach dem Tun, als er am See Genezaret zum Volk sprach (Joh. 6,28). Auch der reiche Jüngling stellte diese Frage (Mk. 10,17). Nachdem Petrus seine aufrüttelnde Pfingstpredigt beendet hatte, fragten die Zuhörer ebenso (Apg. 2,37). Schließlich berichtet auch Paulus von seiner Begegnung mit Jesus, die ihn zu Boden geworfen hatte:

„Ich fragte aber: Herr, was soll ich tun? Und der Herr sprach zu mir: Steh auf und geh nach Damaskus. Dort wird man dir alles sagen, was dir zu tun aufgetragen ist.“ (Apg. 22,10, Hervorhebung von mir)

Der Mensch ist von Anfang an zum Tun, zum Handeln geschaffen. Deshalb ist es folgerichtig, daß sich auch unser Glaube im Handeln, in „Werken“ äußert. Unter Werken können wir hier auch das Verhalten verstehen. Die Werke selbst sind nicht der Glaube, sie können uns nicht gerecht machen. Aber wenn der Glaube in uns lebt und uns innerlich bewegt, dann wird es sich durch Werke zeigen – Glaube ohne Werke ist tot.

Die Frage nach dem Handeln „Was sollen wir tun?“ ist eine Reaktion auf unser Angesprochensein durch das Wort Gottes, eine Frage nach Rat und eine notwendige Ausdrucksweise unseres Glaubens. Und wir stellen damit auch die Frage nach unserer Berufung. Durch diese mehrfache Anbindung der Frage nach dem Handeln ist ihre Kraft erklärlich, und auch die Verzweiflung, die uns erfaßt, wenn wir keine Antwort auf diese Frage finden.

Welches Bild haben wir von Berufung? Wir wissen, daß Gott mit uns sein Reich bauen will. Er hat dabei das Ganze im Blick – ein Ganzes, das sich aus Millionen und Milliarden einzelner Lebensgeschichten zusammensetzt, die auf kom­pli­zier­teste Weise miteinander verflochten sind. An dieser Stelle spüren wir vielleicht, wie sehr Gott Gott ist, wie unvorstellbar groß und weit er ist, wenn er all diesen Menschen dennoch ganz persönlich begegnen und sich um sie kümmern kann.

In diesem gigantischen Puzzle, so scheint es, hat Gott jedem von uns einen Platz zugewiesen. Der Super-Plan vom Reich Gottes unterteilt sich in milliardenfache Einzelpläne für jedes einzelne Menschenleben. Gott hat einen Plan für uns – so lernen wir es als Christen. Daraus ergibt sich für uns die Aufgabe, diesen Plan in Erfahrung zu bringen und exakt zu erfüllen. Der Plan Gottes für unser Leben umfaßt bestimmte Aufgaben und Dienste, die wir an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit ausführen müssen. Wenn wir das Riesenpuzzle durcheinanderbringen, könnte ja das Ganze nicht funktionieren.

Mit diesem Hintergrundwissen lesen wir in der Bibel unzählige Male, wie Gott Menschen Anweisungen gegeben hat. Da gibt es z. B. die Berufung Abrahams, sein Heimatland zu verlassen. Da gibt es die Berufung des Mose, das Volk Israel aus der Knechtschaft Ägyptens in das verheißene Land zu führen. Da gibt es die Berufung des Kunsthandwerkers Bezalel zum Bau der Stiftshütte. Da gibt es die Berufung des Jona, in Ninive Buße zu predigen. Und da gibt es die unzähligen Berufungen der Propheten in ihren Dienst. Schließlich die Berufungen der zwölf Jünger in die Nachfolge und die des Paulus zum Apostel. Nicht zu vergessen die alttestamentliche Berufung des Volkes Israel, den Nationen das Heil zu bringen, und die neutestamentliche Berufung der Heiden als Hoffnung für Israel.

Solche mehr oder weniger aufsehenerregenden, aber immer wichtigen Berufungen hat Gott für jeden Menschen, für Familien, Gemeinden, Berufsgruppen und Völker. Angesichts der Größe dieser Zusammenhänge beginnen wir vielleicht Druck zu spüren. So erhebend es ist, von Gott in dieses gewaltige Werk mit hineingenommen zu sein, so belastend ist es auch. Verlangt es doch von uns, alles dafür einzusetzen, Gottes Willen zu erfahren und ihm dann auch zu gehorchen. Jesus selbst, der stets das tat, was er tun sollte (oder was er den Vater tun sah), ist dabei unser großes Vorbild:

„Denn ich habe nicht aus mir selbst geredet, sondern der Vater, der mich gesandt hat, der hat mir ein Gebot gegeben, was ich tun und reden soll.“ (Joh. 12,49)

Wie sehr wünschen wir uns nun, Gottes Anweisungen zu vernehmen und unseren Platz in Gottes Plan zugewiesen zu bekommen. Warum aber ist es so schwer, Gottes Willen zu erfahren? Warum schweigt Gott so oft?

Berufung, so ein weit verbreitetes Mißverständnis, sei vor allem ein Auftrag Gottes, der an uns ergeht und den wir erfüllen müssen. Dieser Auftrag ruft uns zum Tun, und er ist in den großen Plan Gottes zum Bau des Reiches Gottes eingebunden. Aus diesem Plan ergibt sich für jeden ein persönlicher Plan, den wir in Erfahrung bringen müssen damit das Ganze auch funktioniert. An dieser Stellen verspüren wir dann notwendigerweise viel Druck, insbesondere, wenn es uns nicht gelingt, Gottes Plan für unser Leben zu ergründen. Unsere Unfähigkeit, Gottes Stimme zu hören, aber auch falsche Entscheidungen unsererseits können uns demnach leicht aus Gottes Plan werfen.

2.2. Selbstwert und Identität

Noch tiefer als das verbreitete Denken „Ich bin, was ich habe“ ist das Denken „Ich bin, was ich tue“ in uns verwurzelt. Während Kinder erst dann, wenn sie mit anderen Kindern zu spielen beginnen, lernen, daß besonderer Besitz ihnen Anerkennung und Bewunderung – und damit auch Wert – bringt, wissen sie gewöhnlich schon von klein auf, daß sie dann gelobt – und damit geliebt – werden, wenn sie etwas gut oder richtig getan haben.

Diese Erfahrung setzt sich lebenslang in uns fest, weil wir sie so früh gemacht haben, und weil geliebt zu werden zu unseren stärksten Bedürfnissen zählt. Liebe ist eine Belohnung für unsere Leistung. Das Ergebnis dieser Erfahrungen ist Leistungsdenken, und eine Gesellschaft, die vom Leistungsdenken bestimmt ist, ist eine Leistungsgesellschaft. Es ist fast unmöglich, sich ihrem Leistungsdruck zu entziehen, insbesondere weil Menschen, die besondere Leistungen erbringen, der Gesellschaft am meisten nützen. Das Fundament unserer von Wohlstand und Fortschritt geprägten Gesellschaft besteht in der harten Arbeit ihrer Mitglieder. So bringt Leistung nicht nur persönliche, sondern auch gesellschaftliche Anerkennung und Achtung. Das Leistungsdenken wird so unentwegt stabilisiert. Wer versucht, daraus auszubrechen, verliert die soziale Anerkennung und wird so aus der Gesellschaft ausgeschlossen.

Doch Leistung dient nicht nur dazu, unsere Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung zu befriedigen. Sie gibt uns eine Identität. So wird berufliche Arbeit wegen ihrer wert- und identitätsstiftenden Funktion zu einem enorm wichtigen, zentralen Teil unseres Leben. Wenn wir uns einem anderen vorstellen, dann nennen wir nach Namen und Wohnort gewöhnlich gleich den Beruf. Hier liegt ein Grund, warum der Verlust der Arbeit ist so schlimm ist: Wir verlieren dann an Wert und Identität. Mütter, die nicht berufstätig sind, sagen oft verschämt, sie seien „nur“ Hausfrau. So kommt es, daß auch die Freizeit durch die Arbeit definiert ist: Sie ist das Gegenteil der Arbeit. Für die wohl meisten Menschen in der westlichen Welt besteht das Leben damit aus Arbeit und „Nicht-Arbeit“.

Wie zerstörerisch es ist, wenn ein Mensch bereits als Kind mit dem Leistungsdenken infiziert wird, beschreibt die Autorin Brigitte Rodriguez so:

„Ich bin geliebt, wenn ich es richtig mache. Ich werde nicht geliebt, wenn ich es falsch mache. Daraus entsteht ein Ehrgeiz, der Beste zu sein, Erfolg zu haben, allen Erwartungen gerecht zu werden. Man baut sich ein Image auf und findet sich darin wieder, daß man eine Rolle spielt, begleitet von Stolz und Überheblichkeit, aber auch von der Angst zu versagen und von Menschenfurcht. Man vergleicht sich ständig mit anderen, um festzustellen, daß man selbst besser ist. Um nicht entdeckt zu werden, wer man wirklich ist, legt man sich im Umgang mit anderen Menschen eine Distanziertheit zu“ (Rodriguez, 1995, S. 17).

Das Leistungsdenken und der Leistungsdruck der Leistungsgesellschaft – dies ist der Hintergrund, vor dem wir als Christen leben – wenn auch nicht von der Welt, so doch in der Welt. Dies ist das Denken, das tief in uns zum unhinterfragbaren Grundwert allen weiteren Denkens und Handelns geworden ist. Mit diesem Grundwert in uns begegnen wir Gott und werden Christen. Zum Beruf gesellt sich dann folgerichtig dessen christliche Variante, die Berufung, die uns nicht nur vor Menschen, sondern auch vor Gott Identität und Wert gibt.

2.3. Sinn

Mein Leben soll Sinn haben. In einer Zeit, in der immer mehr Werte schwinden und durch immer mehr Beliebigkeit ersetzt werden, bekommt die Frage „Wozu lebe ich?“ immer mehr Gewicht. Doch beantworten muß sie jeder für sich. Die alten Werte, an denen man vielleicht noch Sinn hätte festmachen können, gelten nicht mehr. Es gibt keine logische Begründung mehr für den Sinn unseres Lebens.

Die naheliegendste Antwort auf die Sinnfrage in einer Leistungsgesellschaft lautet: Sinnvoll wird das Leben dadurch, daß man etwas Sinnvolles tut. Doch in einer globalisierten, arbeitsteiligen und genormten Arbeitswelt kommt an vielen Arbeitsplätzen kaum ein Gefühl von Sinn auf. Auch hier regiert die Beliebigkeit. Nur wenige haben noch das Privileg, den Nutzen ihrer Arbeit im Leben anderer Menschen unmittelbar zu erfahren. Was am Beruf noch Sinn vermittelt, ist das Gefühl, gebraucht zu werden. Das ist uns so wichtig, daß wir dafür lange Arbeitswege, unbefriedigende Tätigkeiten, Überstunden, mürrische Chefs und viele andere Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen. Ständig sind Klagen über die Arbeit zu hören, und doch klammern wir uns an die Arbeit – nicht selten bis zur Arbeitssucht. Erst angesichts von Arbeitslosigkeit oder auch beim Übergang in den Ruhestand zeigt sich der hohe Stellenwert der Arbeit. Plötzlich wird die allgegenwärtige Sinnlosigkeit überstark offenbar.

Der 1905 geborene Logotherapeut Viktor Frankl hatte es sich zum Lebensziel gemacht, Menschen bei ihrer Sinnsuche zu helfen. 20 Prozent aller Neurosen sind seinen Beobachtungen zufolge auf Sinnleere zurückzuführen. Seine Hilfe bestand darin, seinen Patienten bei der Suche nach sinngebenden Werten zu helfen, und ihnen Halt im Geistigen zu vermitteln. Auch wenn diese Werte nicht unbedingt allgemeinverbindlich, sondern eher persönlich-beliebig sind, zeigt Frankl damit einen notwendigen Weg zurück zu verbindlichen Werten, den allerdings trotzdem kaum jemand geht. Viele Menschen haben heute die Sinnsuche aufgegeben und suchen nur noch nach maximalem Vergnügen.

Hier haben Christen einen großen Vorteil. Sie sind noch in Berührung mit den ewigen Werten der Bibel. Doch wieviel haben die dem modernen, vom Zeitgeist infizierten Christen noch zu sagen? Sind Christen nicht ebenso wie alle anderen Menschen auf Sinnsuche? Wenn Gott mich beruft, dann weiß ich, wozu ich lebe. Dann kann ich endlich etwas Sinnvolles in Gottes Reich tun. Ich mache mich auf die Suche nach meiner Berufung, um meinem Leben Sinn zu geben.

2.4. Meine Begabungen einbringen können

Es ist eine wichtige Erfahrung und zugleich eine biblische Wahrheit, daß Gott uns Gaben (Talente, „Pfun­de“, „Zent­ner“) anvertraut mit dem Auftrag, sie auch zu nutzen. Gewöhnlich sehen wir nur die Gaben als das uns Anvertraute. Welche das sind, können wir mit den weitverbreiteten Gabentests herausfinden. Daß uns viel mehr anvertraut ist als nur die Fähigkeit, etwas zu tun, gerät dadurch oft aus dem Blick. Daß alles, was unser Menschsein ausmacht, jeder Tag, den wir erleben dürfen, und jeder Mensch, den wir kennenlernen dürfen, ein Geschenk Gottes ist, fällt uns bei der eingeengten Sicht nur auf die Gaben oft nicht auf.

Das meiste, was uns an Menschsein anvertraut ist, können wir nur genießen. Wir können nur Mensch sein – nicht Mensch tun. Und doch legen wir den Schwerpunkt auf das, womit wir etwas tun können: Gaben und Fähigkeiten. Und selbst unsere Persönlichkeit und unseren Charakter, unser „so bin ich“, nehmen wir in den Dienst des Tuns. Persönlichkeitstests lehren uns, wie wir unser Sein für die berufliche (oder geistliche) Arbeit nützlich machen können.

So erleben wir uns gewöhnlich als jemand, der in jeder Hinsicht zum Arbeiten geschaffen ist. Und ein Blick in die Bibel zeigt ja, daß das nicht falsch ist. Gott, der arbeitet, schuf den Menschen zu seinem Ebenbild und gab ihm den Auftrag zu arbeiten. Den Garten sollte er bewahren, und die Tiere benennen. Daß Adam aber auch einfach nur gemeinsam mit Gott spazierenging, überlesen wir gern. Warum ist es uns so wichtig, unsere Gaben einzubringen?

Wenn es uns so wichtig ist, unsere Gaben einbringen und nutzen zu können, dann könnte das daran liegen, daß wir in der so erfolgenden Anerkennung der Gaben auch eine Anerkennung unserer Persönlichkeit erleben. Das führt zur nächsten Frage: Sind es überhaupt unsere Gaben, oder nicht vielmehr Gottes Gaben, die er uns lediglich anvertraut hat? Ist es unsere Persönlichkeit, oder ist es – was die These von der Gottesebenbildlichkeit nahelegt – Gottes Wesen, zumindest ein Teil davon, das da in mir steckt? Wenn ich wirklich Gottes Ebenbild bin, also ein Mosaiksteinchen aus der Fülle seines Wesens, warum habe ich es dann nötig, mich zu beweisen?

Hier zeigt sich, daß der Wunsch, die eigenen Gaben einzubringen, von einer Fülle verschiedener Motive getragen wird, von denen viele den Alten Menschen in uns offenbaren. Zutiefst ist es der Wunsch, wie Gott zu sein, der schon Auslöser des Sündenfalls war, und der nach wie vor in uns allen steckt. Da ist etwas in mir, das sich unabhängig von Gott verwirklichen will. Es ist vielleicht nicht das, was Gott in mich hineingelegt hat, was sich da in mir verwirklichen will, sondern das, was grundlegend meine menschliche („fleischliche“) Natur prägt. Dieses „Selbst“ in mir nimmt auch das in Besitz, was Gott mir geschenkt hat und betet dann auch noch: „Hier sind meine Gaben. Nun zeig mir, wo ich sie einsetzen kann.“ Dieses Selbst ist gar nicht so leicht zu entlarven, weil es sich hinter der göttlichen Berufung versteckt, die wir ja ohnehin haben: „Ich habe dir Gaben geschenkt. Und ich möchte, daß du mir und deinem Nächsten damit dienst.“

Solch eine Haltung macht es uns schwierig oder unmöglich, Gottes Ruf zu vernehmen, mit dem er uns berufen will. Wenn wir Berufung auf Begabungen reduzieren, dann verfehlen wir das Ganze. Und wenn wir sie dann noch auf das reduzieren, was in unserer eigenen Person begründet liegt, verschließen wir uns dem Rufen Gottes endgültig. So kommt es, daß unzählige Christen verzweifelt auf der Suche nach ihrer Berufung sind, und keine Antwort von Gott bekommen. Was sie tun, kann man eher mit dem Wort Selbstverwirklichung beschreiben.

Die Frage nach dem, was wir suchen, wenn wir unsere Berufung suchen, führt geradewegs zum Thema Selbstverwirklichung. Es geht letzten Endes um uns selbst, um unsere Bedürfnisse, um den Versuch, etwas aus uns zu machen. Wir möchten Gott dienen – aber wir möchten dabei auch wertvoll, unentbehrlich und geliebt sein. Wir möchten in unserem Dienst für Gott als Wohltäter gelten oder vielleicht auch Macht ausüben, wir möchten durch unser Tun Dankbarkeit und Bewunderung ernten. Wenn wir ehrlich sind, kommen solche oder ähnliche, stets eigennützigen Motive zutage. Deshalb beschäftigt sich der erste Teil der Diplom­arbeit ausführlich mit dem Konzept der Selbstverwirklichung, um zunächst zu zeigen, was Berufung nicht ist. Eine Erweiterung des Selbst­ver­wirk­li­chungs­the­mas führt dann Schritt für Schritt hin zum zweiten Teil der Arbeit, dem Thema Berufung.

3. Was ist Selbstverwirklichung?

Selbstverwirklichung ist einer der Schlüsselbegriffe der Humanistischen Psychologie. Ihren Namen bezieht die Humanistische Psychologie aus der gemeinsamen weltanschaulichen Grundhaltung ihrer verschiedenen Therapieansätze. Der Humanismus steht für ein Bemühen um Humanität (Mensch­lich­keit), um eine der Menschenwürde und freien Persönlichkeitsentfaltung entsprechende Gestaltung des Lebens und der Gesellschaft durch Bildung und Erziehung, aber auch durch Schaffung der dafür notwendigen Lebens- und Umweltbedingungen selbst.

Die Humanistische Psychologie geht von positiven, wachstumsorientierten Kräften im Menschen aus. Den unterschiedlichen Therapiekonzepten gemeinsam ist die Förderung dieser Kräfte, um dem Menschen zur Entfaltung seines Wesens und seiner Fähigkeiten – seines Selbst – zu verhelfen. Woher kommt die Humanistische Psychologie eigentlich? Was will sie erreichen? Was können wir aus ihr lernen, und wo steht sie im Widerspruch zur Bibel?

3.1. Humanismus

„Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ So lautet ein Satz, den wir gewöhnlich dem Humanismus zuschreiben. Überraschend dürfte sein, daß dieser so modern anmutende Ausspruch schon aus der Antike stammt, und zwar von dem Philosophen Protagoras (um 480–411 v. Chr.). Protagoras war Vertreter der Sophisten, die die Existenz absoluter Wahrheit abstritten und die glaubten, daß sich Weisheit lehren und lernen lasse. Der Satz „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ war vor diesem Hintergrund eigentlich so gemeint, daß die gegenständliche Welt „da draußen“ daran gemessen werde, wie der Mensch sie wahrnimmt. Außerhalb des Menschen gebe es keine Möglichkeit, das Sein und Wesen der Welt zu ergründen. Überliefert wurde dieser Satz durch Platon (428–348 v. Chr.), der die Reden und Argumentationen seines Lehrers Sokrates (um 470–399 v. Chr.) niederschrieb. Sokrates hatte die Vorstellung, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, zurückgewiesen.

Erstaunlicherweise ist dieser alte Satz heute wieder zu einem Schlagwort geworden. Wenn man bedenkt, daß der Begriff Humanismus für eine kulturelle Strömung des 14. und 15. Jahrhunderts steht, also nicht ganz jung ist, dann wird deutlich, daß dieses Schlagwort eher das heutige Lebensgefühl ausdrücken will, nämlich daß unsere Bedürfnisse und Wünsche das sind, was in der Welt zählt. (Vgl. Macrone, 1999, S. 36f.)

Der Humanismus (lat. humanitas: Menschlichkeit) ist eine Haltung der Philosophie, die die Würde und den Wert des Individuums betont. Sie entstand im 14. Jahrhundert in Italien als Folge der Wiederbelebung des Platonismus und breitete sich bald über ganz Westeuropa aus. Der Humanismus hatte Einfluß auf Literatur, Malerei und Architektur seiner Zeit. Auch der deutsche Gelehrte Philipp Melanchthon (1497-1560) war ein Anhänger des Humanismus. Er schuf eine humanistische Theologie und Erziehung und ebnete damit nicht zuletzt den Weg für die Reformation. Allerdings entfremdete er sich mit seinen humanistischen Ansichten später zunehmend von Martin Luther. (Vgl. Encarta, 1997, Stichwort Humanismus.)

Im 18. Jahrhundert tauchte der Humanismus als „Neuhumanismus“ erneut vor allem in der Kunst auf. Heute bezeichnet der Humanismus allgemein das „Denken und Handeln im Bewußtsein der Würde des Menschen“ und das „Streben nach einer echten Menschlichkeit“ (LexiROM, 1995, Stichwort „Humanismus“, vgl. auch Fromm, 1982, S. 147ff).

3.2. Humanistische Psychologie

Die Humanistische Psychologie gilt neben der Psychoanalyse (Tiefenpsychologie) und dem Behaviorismus (Verhaltenspsychologie) als „Drit­ter Weg“ oder „Drit­te Kraft“ der Psychologie. Es handelt sich dabei aber um keine relativ einheitliche und geschlossene Psychologie, sondern eher um ein Sammelsurium verschiedener Therapierichtungen, die sich lediglich auf ein gemeinsames Menschenbild stützen. Die Hauptvertreter der Humanistischen Psychologie (Charlotte Bühler, Abraham Maslow, Carl Rogers u.a.) taten sich erst 1962 in den USA zusammen, um die „Gesellschaft für Humanistische Psychologie“ zu gründen. Obwohl zu den Vorläufern der „Dritten Kraft“ etliche Tiefenpsychologen gehörten (z. B. Alfred Adler, Viktor Frankl, Erich Fromm, Karen Horney), grenzt sich die Humanistische Psychologie ausdrücklich von den monokausalen, mechanistischen und deterministischen Menschenbildern der Psychoanalyse und des Behaviorismus ab und strebt eine grundlegende Erneuerung der Psychologie an. Entscheidende Impulse erhielt die Humanistische Psychologie aus philosophischer Richtung vor allem vom Existentialismus und aus psychologischer Richtung besonders von der Gestaltpsychologie nach Fritz Perls (1893–1970). (Vgl. Kriz, 1994, S. 173f.)

3.2.1. Philosophische Wurzeln

Die Existenzphilosophie (Existentialismus) geht auf Sören Kierkegaard (1813–1855) und Friedrich Nietzsche (1844–1900) zurück. Weitere bekannte Vertreter sind Karl Jaspers (1883–1969), Martin Heidegger (1889–1976), Martin Buber (1878–1965), Albert Camus (1913–1960), Jean-Paul Sartre (1905–1980) und andere.

„Der Existentialismus sucht jenseits von absoluten Werten, festen Normen, Rollen und Fassaden den ,wirklichen‘ Menschen, in seiner eigentlichen und ,nackten‘ Existenz. Fragen nach dem Sein und dem Sinn der Welt werden nicht mehr im Hinblick auf absolute (ewig gültige) Antworten sondern in der Dimension der Zeit gesehen, wobei sich der Mensch in Vereinzelung, Sorge und Angst immer wieder selbst in Frage stellen muß, sich immer wieder auf dem Weg des Selbstwerdens befindet. Das traditionell vorgegebene ,Wesen des Menschen‘, das eine ,objektive‘ Dimension der Existenz eröffnet hatte, wird also bezweifelt; statt dessen kann der Mensch nur von ,innen her‘, autonom, in seiner Zeitlichkeit und Endlichkeit begriffen werden. Der existentiell gelebte und erfahrene Augenblick gewinnt zentrale Bedeutung – nicht das, was der Mensch ist, sondern das, wozu er sich jeweils durch die Tat macht, ist sein Wesen“ (Kriz, 1994, S. 174, Hervorhebung von mir).

Hier finden wir bereits Ansätze der Selbstverwirklichung, wie sie die Humanistische Psychologie zentral lehrt. Hier ist die Wurzel für unser heutiges Lebensgefühl: Der Mensch ist, was er tut, nicht was er ist. Obwohl einige Vertreter der Existenzphilosophie wie Buber und Kierkegaard „in religiöser Gewißheit verankert“ waren (S. 174), werden absolute Werte zurückgedrängt. Was nunmehr gilt, ist der Mensch selber, autonom (im negativen Sinn: von Gott getrennt – autonom sein wollen ist die Ursünde des Menschen), nur noch in seiner Zeitlichkeit und Endlichkeit begriffen (also ohne Verankerung in der Transzendenz, der unsichtbaren Welt). Erfahrungen rücken in das Zentrum der Betrachtung:

„Menschliche Grunderfahrungen (,existentielles Erlebnis‘) wie Angst (Kier­ke­gaard), Todeserfahrung (Heidegger), Ekel (Sar­tre), Scheitern in Grenzsituationen (Jaspers), das Absurde (Camus), die alle vor das ,Nichts‘ führen, wurden zum zentralen Motiv für philosophische Erfahrung überhaupt“ (LexiROM, 1995, Stichwort Existenzphilosophie).

Dennoch möchte ich die positiven Gedanken des Existentialismus nicht beiseite schieben. Er sucht hinter Rollen und Fassaden nach dem wahren Menschen. Er entdeckt, daß der Mensch – nach Sartre „,zur Freiheit verdammt‘, er selbst oder nicht er selbst zu sein und zu werden“ (Kriz, 1994, S. 147) – einen Entscheidungsspielraum hat und Verantwortung für seine Entscheidungen trägt. Erst so sind Autonomie (im positiven Sinn: das Recht oder die Fähigkeit zur selbständigen Regelung der eigenen Umstände), Identität und menschliche Würde möglich geworden. Martin Buber betont zudem in besonderer Weise neben der Bezogenheit des Menschen zur Welt („Ich-Es“) die „Ich-Du“-Beziehung (Begegnung), die auch die Begegnung mit dem „Ewigen Du“ (Gott) einschließt. (Vgl. Kriz, 1994, S. 147f.)

Von diesen Gedanken angeregt reicht die Humanistische Psychologie weit über die eingeengten Menschenbilder der Psychoanalyse oder des Behaviorismus hinaus und greift damit auch Elementen des biblischen Menschenbildes vor. Diese Nähe zum biblischen Menschenbild, aber auch die zentrale Bedeutung der menschlichen Erfahrungen (wir erleben, daß es sich so verhält, wie die Humanistische Psychologie lehrt) machen die zuweilen gefährliche Attraktivität des humanistisch-psychologischen Menschenbildes für Christen aus. Gerade deswegen dürfen wir die entscheidenden Unterschiede der Menschenbilder von Bibel und Humanistischer Psychologie nicht vergessen.

3.2.2. Gestaltpsychologische Wurzeln

Während die herkömmliche „Elementen-Psychologie“ davon ausging,

„daß psychische Phänomene aus (isoliert untersuchbaren) einzelnen Elementen zusammengesetzt sind, betont die Gestaltpsychologie, daß beim Wahrnehmen, beim Denken, bei Willenshandlungen und bei Bewegungsabläufen eine ganzheitliche Organisation nach übergreifenden Gestaltgesetzlichkeiten und dynamischen Gerichtetheiten stattfindet. Gestalten sind insbesondere transponierbar (z. B. eine Melodie, die in anderer Tonhöhe, von einem anderen Instrument, in anderem Rhythmus etc. gespielt werden kann) und heben sich vor einem Hintergrund als tendenziell geschlossene, in sich gegliederte Ganzheiten ab“ (Kriz, 1994, S. 176).

Zunächst wurden Gestaltgesetze im Wahrnehmungsbereich entdeckt. Die Wahrnehmung (das „Gewahrwerden von Eigenschaften, von Raum, Zeit und Bewegung“, Krech/Crutchfield, 1992, S. 69) ist ein zunächst unbewußt verlaufender, spontaner, ganzheitlicher Prozeß, der erst nach und nach in das Bewußtsein übergeht. Ein Betrachter nimmt spontan und ungesteuert zunächst ein Ganzes wahr und kann dann erst nacheinander die Dinge benennen, die er durch rationale Analyse gewahr wird. Der spontane Teil des Wahrnehmungsprozesses läuft, wie vielfältige Untersuchungen zeigen, nach bestimmten Gesetzen ab, eben den Gestaltgesetzen. (Vgl. S. 69.)

Solche Gestaltgesetze beschreiben z. B., auf welche Weise sich eine optisch wahrgenommene Struktur als Figur von einem Hintergrund abhebt – also warum ein Teil der Struktur als Figur, ein anderer Teil als Hintergrund wahrgenommen werden. Kriterien für die Wahrnehmung von Gestalten können etwa Geschlossenheit, Gruppierung, Nähe, Ähnlichkeit oder Symmetrie von Strukturen sein. (Vgl. S. 70ff.) Inzwischen wurde eine Vielzahl solcher Gesetze gefunden – zudem nicht nur für die optische Wahrnehmung. Der Neurophysiologe und Psychiater Kurt Goldstein (1878–1966), Lehrer von Fritz Perls, dem Begründer der Gestaltpsychologie, hat entdeckt, daß sich die Gestaltgesetze vom Bereich der Wahrnehmung auf rein psychische Phänomene, und noch weiter auf den gesamten Organismus übertragen lassen. Das Ergebnis sind recht abstrakte Kennzeichen für die „Ar­beit am Lebendigen“, die durchaus als Handlungsgrundsätze humanistischer Psychotherapeuten gelten können. Eine davon ist für das Thema dieser Arbeit interessant:

„Nicht-Beliebigkeit der Form: Man kann Lebendigem ,auf die Dauer nichts gegen seine Natur aufzwingen‘; man ,kann nur zur Entfaltung bringen, was schon in dem ,Material‘ selbst an Möglichkeiten angelegt ist‘“ (nach Walter, 1977, zit. in Kriz, 1994, S. 177).

Hier ist ganz klar davon die Rede, daß da etwas Verborgenes in unserer Natur vorhanden ist, das nach Entfaltung (Verwirklichung) strebt. Dies ist ein weiterer Weg hin zum zentralen Konzept der Selbstverwirklichung.

3.2.3. Menschenbild

Entscheidende Vorarbeiten für das Menschenbild der Humanistischen Psychologie und ihre Therapiekonzepte hat der Psychiater und Philosoph Iacov Levy Moreno (1889–1974) geleistet. Moreno arbeitete wie Sigmund Freud in Wien, wurde aber kaum von Freud beeinflußt. Im Gegensatz zum Freudschen Therapiesetting (der Patient liegt auf der Couch, der Therapeut befindet sich außerhalb des Blickwinkels des Patienten) entwickelte Moreno mit dem „Psychodrama“ eine Form der Gruppenpsychotherapie, in der psychische Konflikte durch die Patienten in theater-ähnlichen Szenen dargestellt werden. (Vgl. Kriz, 1994, S. 178.)

Folgende zentralen Grundbegriffe umreißen das Menschenbild der Humanistischen Psychologie (nach Kriz, 1994, S. 179):

- Autonomie und soziale Interdependenz: Mit Autonomie ist das Streben des Menschen aus der biologischen und emotionalen Abhängigkeit von der Geburt an bis hin zum Ergreifen von Verantwortung für sich selbst gemeint. Wenn ein Mensch für sich selbst verantwortlich ist, kann er auch Verantwortung für andere Menschen übernehmen und nötigenfalls auch Veränderungen in der Gemeinschaft bewirken. Dennoch bleibt der Mensch, der in der Gemeinschaft lebt, auch von anderen Menschen abhängig (In­ter­de­pen­denz = gegenseitige Abhängigkeit).
- Selbstverwirklichung : Die Befriedigung vieler Bedürfnisse wird in der Psychoanalyse und im Behaviorismus nach dem Ho­möo­sta­se-Prin­zip erklärt. Homöostase heißt soviel wie Gleichgewicht und meint die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts körperlicher oder seelischer Funktionen durch eine Art Regelkreis. Bedürfnisse werden als Auswirkungen von Ungleichgewichten interpretiert; die Befriedigung des Bedürfnisses stellt das Gleichgewicht wieder her. Beispiel: Wenn der Flüssigkeitshaushalt eines Organismus durch Flüssigkeitsverlust aus seinem optimalen Bereich kommt, dann entsteht das Bedürfnis Durst. Durch Trinken kann es befriedigt werden – die Flüssigkeitszufuhr stellt das Gleichgewicht wieder her. Doch auch wenn alle Bedürfnisse befrie­digt sind, bleibt der Organismus aktiv und „un­ter­neh­mungs­lu­stig“. Er strebt dann danach, seine ihm innewohnenden Potentiale (z. B. schöpferische Fähigkeiten) zu entfalten. Neben die sogenannten Defizit-Bedürfnisse, die nach dem Homöostase-Prinzip erklärbar sind, treten zusätzliche Wachstums-Be­dürf­nis­se, „die in ständigem Austausch mit der sozialen Umwelt bei günstiger Konstellation vorhandene Fähigkeiten entfalten und ausdifferenzieren lassen“ (S. 179).
- Ziel- und Sinnorientierung: Das menschliche Handeln ist absichtsbedingt und zielorientiert. Es wird nicht allein von der materiellen Seite des Seins bestimmt (von materiellen Bedürfnissen), sondern auch von humanistischen Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde. Besonders Frankl betont in diesem Zusammenhang, daß Sinn und Erfüllung die Transzendierung des Selbst, also ein Über-sich-selbst-Hinausreichen, voraussetzt.
- Ganzheit: Von der Gestaltpsychologie übernommen hat die Humanistische Psychologie die Sicht auf den Menschen als Ganzheit von Leib und Seele, also auch beispielsweise von Gefühl und Vernunft.

Daß Gott in diesen das Menschenbild der Humanistischen Psychologie begründenden Gedanken nicht vorkommt, sei nochmals erwähnt. Dennoch ist es eine wichtige Leistung der Humanistischen Psychologie, das Menschenbild durch die Betonung des freien Willens und positiver Wachstumskräfte gegenüber den engen Sichtweisen von Psychoanalyse und Behaviorismus „mensch­li­cher“ zu machen. Damit kommt die Humanistische Psychologie näher an das biblische Menschenbild des würdevollen, zielgerichteten, kreativen, mit freiem Willen ausgestatteten Menschen heran als die anderen Richtungen von Psychologie und Therapie.

Welche schweren weltanschaulichen Lasten die Humanistische Psychologie sich und ihrem Menschenbild auflädt, die in der Öffentlichkeit und auch im Leib Christi meist ignoriert werden, zum Teil aber auch kaum bekannt sind, wird im folgenden deutlich.

3.2.4. Weltanschauliche Lasten

Die Humanistische Psychologie hat in der Tat Neues entdeckt und das Menschenbild stark erweitert. Sie geht nicht, wie frühere Ansätze, von der Beobachtung kranker, sondern gesunder Menschen aus. Zu vielem, was die Humanistische Psychologie lehrt, können wir spontan ja sagen, weil wir uns darin wiedererkennen und es selbst erleben. Dieses Ja hat dazu geführt, daß die Ideen der Humanistischen Psychologie auch in den Leib Christi Einzug gehalten haben (vgl. Adams, 1987). Auch die Entwickler und Anhänger der Humanistischen Psychologie selbst zeigen eine starke Begeisterung für ihre Lehren und haben Visionen bis hin zur Schaffung eines neuen Menschen und einer neuen Welt. Abraham Maslow (1908-1970) schrieb 1968, zwei Jahre vor seinem Tod:

„Diese ,Dritte Psychologie‘ […] ist im Augenblick nur eine Facette einer allgemeinen Weltanschauung , einer neuen Lebensphilosophie, einer neuen Konzeption des Menschen, der Beginn eines neuen Jahrhunderts der Arbeit (selbstverständlich nur, wenn es uns gelingt, die allgemeine Katastrophe abzuwenden). Für jeden Menschen guten Willens, jeden Menschen, der für das Leben Stellung bezieht, gibt es hier Aufgaben, gibt es effektive, lohnende, befriedigende Arbeit zu leisten, die dem eigenen Leben und dem Leben anderer Menschen neuen, bedeutenden Sinn verleihen kann“ (Maslow, 1973, S. 11).

„Wir verfügen heute einfach noch nicht über genügend verläßliches Wissen um den Aufbau der Einen Guten Welt voranzutreiben. Wir haben nicht einmal genügend Wissen, um einzelne zu lehren, wie man einander liebt – zumindest nicht mit einiger Gewißheit. Ich bin überzeugt, daß die beste Antwort in der Förderung und im Fortschritt des Wissens liegt“ (S. 13).

Es wäre interessant zu wissen, wie Maslow auf die heutige Ernüchterung in bezug auf Wissenschaftsgläubigkeit und Machbarkeit reagieren würde. Doch auch der heute weitverbreiteten Suche nach Religiosität und Esoterik hat Maslow etwas anzubieten: Er sieht in der „Dritten Kraft“ der Psychologie den Grundstein für eine neue Religion, die geradezu esoterische Züge haben dürfte, und die das Christentum offensichtlich endgültig ablösen soll:

„Ich sollte auch sagen, daß ich die Humanistische Psychologie, die ,Psychologie der Dritten Kraft‘ […] als vorübergehend betrachte, als Vorbereitung für eine noch ,höhere‘ Vierte Psychologie, die überpersönlich, transhuman ist, ihren Mittelpunkt im All hat, nicht in menschlichen Bedürfnissen und Interessen, und die über Menschlichkeit, Identität, Selbstverwirklichung und ähnliches hinausgeht […] Diese neuen Entwicklungen […] können sich zu einer Lebensphilosophie entwickeln, zu einem Religionssurrogat, zu dem Wertesystem und Lebensprogramm, das man bisher vermißt hat […] Wir brauchen etwas ,Größeres, als wir es selbst sind‘, um Ehrfurcht davor zu empfinden und uns in einer neuen, naturalistischen, empirischen, nichtkirchlichen Welt zu engagieren […]“ (S. 11f).

Dennoch sind die Leistungen der Humanistischen Psychologie wegweisend für das Verständnis des Menschen und für die therapeutische Hilfe. Die Beschäftigung mit ihnen lohnt sich auch für Christen – einerseits, um ihre brauchbaren Erkenntnisse zu erkennen und zu nutzen, andererseits, um ihr meist unerkanntes Eindringen in die Gemeinden und die christliche Seelsorge zu entlarven.

Die Beschäftigung mit der Humanistischen Psychologie und anderen säkularen Erkenntnissen erfolgt in dieser Arbeit natürlich ebenfalls unter einem weltanschaulichen Vorzeichen, nämlich dem biblischen Welt- und Menschenbild. Weltanschaulich neutrale Erkenntnisse gibt es nicht. Die in der Erkenntnisgewinnung angewandten wissenschaftlichen Methoden helfen zwar, weitgehend Neutralität anzustreben. Aber dennoch sind es immer Menschen, die diese Methoden anwenden, und die doch mehr oder weniger bewußt ihre persönliche Weltanschauung in ihre Erkenntnisse einfließen lassen. Anders ausgedrückt: Weil Erkenntnis immer im Menschen entsteht, ist sie immer zumindest ein Stück subjektiv. Rein objektive Erkenntnis gibt es nicht. Es ist wichtig für uns, diesen weltanschaulichen Ballast zu erkennen, um nicht selber davon infiziert zu werden.

3.2.5. Kritik des humanistischen Menschenbildes

Abraham Maslow beschreibt die für uns Christen entscheidende Grundannahme des Menschenbildes der Humanistischen Psychologie folgendermaßen (es lohnt sich, dieses komplizierte Zitat ganz genau zu lesen):

„Diese innere Natur [des Menschen], soweit wir bisher über sie Bescheid wissen, scheint an sich nicht primär [= vorrangig, ursprünglich] oder notwendig böse zu sein. Die Grundbedürfnisse (nach Leben, Sicherheit und Geborgenheit, Achtung und Selbstachtung und Selbstverwirklichung), die grundlegenden menschlichen Emotionen und die grundlegenden menschlichen Fähigkeiten sind offenbar entweder neutral, prämoralisch [= dem Moralischen vorausgehend] oder positiv ,gut‘. Destruktivität, Sadismus, Grausamkeit, Bosheit usw. scheinen nicht inhärent [= innewohnend] zu sein, sondern eher heftige Reaktionen auf Frustrationen unserer inhärenten Bedürfnisse, Emotionen und Fähigkeiten darzustellen. Ärger ist an sich nicht böse, auch nicht Furcht, Faulheit oder gar Unwissenheit. Selbstverständlich können sie zu bösem Verhalten führen und tun es auch, doch es muß nicht so sein. Dieses Ergebnis ist nicht eigentlich notwendig“ (Maslow, 1973, S. 21).

Es ist spürbar, wie Maslow hier mit seiner Argumentation „ins Schleudern“ kommt. Er sieht zwar böses Verhalten, das aber seiner Meinung nach nicht auf eine böse Natur des Menschen schließen läßt. Das böse Verhalten ist nur eine Reaktion darauf, daß unseren guten Bedürfnissen Befriedigung vorenthalten wird. Maslow bewertet den Menschen aufgrund seiner guten Bedürfnisse, Emotionen und Fähigkeiten als gut. Das beobachtbare böse Verhalten und die bösen Emotionen läßt er nicht gelten, weil sie zwar böse sein können, aber nicht böse sein müssen.

Bemerkenswert ist auch Maslows Formulierung im ersten Satz, daß die menschliche Natur nicht böse zu sein scheint. Damit steht diese zentrale Grundannahme der Humanistischen Psychologie bei ihm von vornherein auf sehr wackeligen Füßen! Zusammenfassend widerspricht Maslow noch einmal dem, was „man“ (als ob er die Autorität der Bibel ignorieren und umgehen will) bisher über die menschliche Natur gedacht hat.

„Die menschliche Natur ist bei weitem nicht so schlecht, wie man gedacht hat. Tatsächlich kann man sagen, daß die Möglichkeiten der menschlichen Natur unter ihrem Wert verkauft worden sind“ (S. 21).

Das Urteil der Bibel über den Menschen fällt ganz anders aus:

„Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“ (1. Mo. 8,21).

„Aber sie sind alle abgewichen und allesamt verdorben; da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer“ (Ps. 14,3) .

„Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung“ (Mt. 15,19) .

„Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten. [Wörtlich: »Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit verloren, die Gott ihnen zugedacht hatte.«]“ (Rö. 3,23) .

Das „Herz“ steht hier, wie in der Humanistischen Psychologie das „Selbst“ (vgl. Kapitel 3.3. „Das Selbst“, S. 36) für die wesenhafte Mitte, die innere Natur des Menschen.

Ursprünglich ist dem Menschen von Gott Herrlichkeit zugedacht worden (vgl. Rö. 3,23; Ps. 8,6), eine Herrlichkeit, die aus der Gottesebenbildlichkeit kommt (1. Mo. 1,27). Durch den Sündenfall, also durch das Bestreben des Menschen, Gott gleich sein zu wollen und wissen zu wollen, was gut und böse ist (1. Mo. 3,5), verlor der Mensch diese Herrlichkeit.

„Als der Mensch von Gott abfiel, vertauschte er die Herrlichkeit Gottes mit dem Götzendienst, der Verehrung der äußeren Gestalt und Macht von Mensch und Tier (Röm1,23). Das Bild Gottes im Menschen wird nun durch die Sünde verzerrt und verdunkelt, wenn auch nicht vernichtet; als Herrschaftsanspruch des rechtmäßigen Herrn bleibt es auch unter Empörung und Abfall erhalten. Aber der Mensch und alles Menschliche stehen jetzt im Widerspruch zu Gott und damit unter seinem Gericht. Alle Menschen sind Lügner und haben gesündigt (Röm3,4; 5,12). So warnt Christus seine Jünger: Hütet euch vor den Menschen (Mt10,17)“ (Rien­ecker/Maier, 1996, Stichwort „Mensch“, Hervorhebungen von mir).

Der Ausweg besteht in Selbstverleugnung statt Selbstverwirklichung. Verleugnen heißt, „so zu handeln und zu reden, als ob man mit etwas oder jemandem, den man sehr wohl kennt und mit dem man eng verbunden ist, nichts zu tun habe“ (vgl. Rienecker/Maier, 1996, Stichwort „Ver­leug­nen“). Selbstverleugnung heißt dann also, zu meinem eigenen, bösen, antigöttlichen Wesen Nein zu sagen. In der Humanistischen Psychologie gilt Selbstverleugnung als psychisch krankmachend und wird daher abgelehnt. In der Tat scheint Selbstverleugnung nur innerhalb der liebevollen Beziehung zu Gott, also eingebettet in die unbeirrbare Liebe Gottes und aus der Kraft Gottes, ohne negative „Nebenwirkungen“ möglich zu sein. Positive „Nebenwirkung“ wird dann die Veränderung unseres Herzens sein. Nachfolge bedeutet,

„dem ungöttlichen Wesen absagen (Tit2,12), ja sich selbst zu verleugnen, zu seinem Ich und dessen eigenwilligem Begehren und Wünschen nein zu sagen (Mt16,24). Diese Selbstverleugnung im Glauben an Jesus und aus seiner Kraft findet ihren Lohn darin, daß er vor seinem Vater die nicht verleugnen wird, die ihn nicht verleugnet haben (Mt10,33). Denn Jesus bekennen kann nur, wer sich selbst aufgibt und seiner Hand überläßt“ (Rienecker/Maier, 1996, Stichwort „Ver­leug­nen“).

Die Gefallenheit und Bosheit des Menschen ist eine Folge einer Grenzüberschreitung. Der Mensch hat die von Gott gesetzte Grenze, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen, überschritten. Im Menschenbild der Humanistischen Psychologie fehlen solche von außen gesetzten Grenzen, die andere schützen. Im Gegenteil, die behauptete Notwendigkeit der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und der Verwirklichung menschlicher Potentiale („Selbstverwirklichung“) fordert geradezu Grenzenlosigkeit. Daher wird in der Praxis Selbstverwirklichung zumeist als ein Durchsetzen eigener Bedürfnisse auf Kosten anderer erlebt. Daß sich der Mensch selbst als Maß der Dinge setzt, führt zu Maßlosigkeit.

Das Menschenbild der Humanistischen Psychologie steht an seinem zentralen Punkt in krassem Widerspruch zum biblischen Menschenbild. Das humanistische Menschenbild sieht den Menschen als gut und behauptet daher die Notwendigkeit, daß sich das Innere des Menschen durch Selbstverwirklichung frei entfalten muß, damit der Mensch psychisch gesund bleibt. Das biblische Menschenbild sieht den Menschen als böse, weswegen Jesus von uns Selbstverleugnung fordert.

3.3. Das Selbst

Die Selbstverwirklichung – in dieser Arbeit als zur Berufung gegensätzliches Konzept vorgestellt – bedeutet allgemein gesagt ein Verwirklichen oder Wirklich-werden-lassen des Selbst.

3.3.1. Vielfalt der Definitionen

Was aber ist eigentlich das Selbst? Dazu gibt es unter den Humanistischen Psychologen viele Definitionen. Jürg Kollbrunner (1987, S. 285) führt beispielhaft einige auf. Das Selbst kann sein:

- „das Individuum, wie es sich selbst innerhalb eines sozial bedingten Bezugssystems wahrnimmt“,
- „die Erfahrung der Identität, die aus der Interaktion eines Menschen mit Gegenständen, eigenen Körperteilen und anderen Menschen entsteht“,
- „der Stil des Individuums“ oder
- die „organisierte, veränderliche und doch konstante Struktur gegliederter Erfahrungen über die Eigenheiten oder Beziehungen des ,ich‘ oder des ,mich‘“.

So unterschiedlich wie diese (und viele weitere) Definitionen sind auch die dahinterstehenden Theorien über das Selbst. Das vielbeanspruchte Wort Selbst schafft damit „eine komplette Kommunikationsverwirrung“ (S. 285). Kollbrunner versucht Klarheit zu schaffen:

„Umgangssprachlich und lexikalisch ist das Wort ,Selbst‘ ein Wort, das wir dazu verwenden, ein bestimmtes Individuum zu beschreiben, auf dieses Individuum hinzuweisen; es als einzigartige Einheit vom Rest aller anderen Untereinheiten des Universums hervorzuheben […]“ (Kollbrunner, 1987, S. 285).

Um überhaupt eine Annäherung an den Begriff Selbst zu ermöglichen, führe ich zunächst die einfacheren Erklärungen aus Nachschlagewerken an. Im etymologischen Wörterbuch (Duden, 1997, Stichwort „selb“) wird Selbst kurz als „das seiner selbst bewußte Ich“ definiert, in der Enzyklopädie Encarta (1997, Stichwort „Selbst“) als „eine Person als Ganzes mit ihren Eigenschaften, Wünschen, Fähigkeiten usw.“Selbst und Ich werden oft sinnverwandt (synonym) verwendet, wobei Ich mehr das subjektive Erlebnis beschreibt („meine Hierheit“), während Selbst eher den Menschen als Subjekt seiner eigenen Betrachtungen oder Handlungen meint (vgl. Stein, 1999, S. 17). Einige Vertreter der Humanistischen Psychologie behaupten, das Selbst sei verbal nicht faßbar. Es könne nicht definiert, sondern nur erfahren werden (vgl. Kollbrunner, 1987, S. 286f). Ein biblischer Begriff für das Selbst könnte „Herz“ sein.

So vielfältig wie der Begriff Selbst ist auch seine Verwendung in Verbindungen wie „Selbst-Bild, Selbst-Bestätigung, Selbst-Erkenntnis, Selbst-Sucht, Selbst-Ver­wirk­li­chung, Selbst-Schutz usw.“ (Kollbrunner, 1987, S. 286). Einzig der Begriff Selbstbild wird einigermaßen einheitlich verstanden. Es sind die Einstellungen eines Individuums gegenüber sich selbst, also „das, was eine Person von sich selbst glaubt“ (S. 286).

3.3.2. Verständnis der Humanistischen Psychologie

In der Humanistischen Psychologie ist das Selbst vor allem ein motivationstheoretisches Konzept. Es gilt als Quelle von Wachstum und als „Ursprung aller Ziele, die der einzelne sich setzt“ (Kollbrunner, 1987, S. 289). So gesehen ist das Selbst nichts weiter als der Wunsch nach dem Verwirklichen seiner selbst. Das Selbst wird als Triebkraft der Selbstverwirklichung definiert, die Selbstverwirklichung als Wirklichwerden (oder Wirksamwerden) des Selbst. Solch eine um sich selbst kreisende Definition scheint unausweichlich, weil die Humanistische Psychologie keine Erklärung für die Wachstums- und Entfaltungskräfte hat, die sie entdeckt hat.

Weiter gilt das Selbst als „Zentrum der Persönlichkeit“ und als „innerster (guter oder wertneutraler) Kern“ des Menschen. Hier wird in dem Begriff Selbst von der Definition her gleich auch der Begriff Gut einbezogen (oder zumindest der Begriff Böse ausgegrenzt)! Mit den Aussagen „Das Selbst ist ein Sein“ oder „Das Selbst ist die Essenz“ (das innere Wesen) bekommt es existentielle Bedeutung. Kollbrunner setzt die Folge der Definitionen fort bis hin zu den Lehren des Buddhismus: „Das Selbst ist also das, was Buddha als ,unveränderliches Wesen, das in jedem Moment anders ist‘ bezeichnet hat […]“ (S. 289).

Da stets auch die Definition des Gegenteils zum besseren Verständnis des Eigentlichen beiträgt, fragt Kollbrunner auch, was der Ausdruck „das Selbst verlieren“ (oder „Entfremdung“) bedeutet. Es bedeutet, „daß das Individuum den Kontakt zu seinem innersten Kern, zu seinem Wesen verloren hat (oder […] daß der innerste Kern an Ausstrahlungskraft verloren hat)“ (S. 289). Auch Abraham Maslow kann in aller Kürze zunächst nur sagen, was er mit dem Selbst nicht meint:

„Das Wort ,Selbst‘ scheint abzustoßen, und meine Neudefinitionen und empirischen Beschreibungen versagen oft vor der mächtigen linguistischen Gewohnheit, das ,Selbst‘ mit ,selbstbezogen‘, ,egoistisch‘ und mit reiner Autonomie zu identifizieren“ (Maslow, 1973, S. 14f).

Das Selbst im Verständnis der Humanistischen Psychologie ist der innerste Kern des Menschen, das Zentrum der Persönlichkeit, die Quelle von Wachstum und Motivation – also gewissermaßen die Triebkraft oder Energiequelle des Menschen. Dabei gilt das Selbst von seiner Definition her als gut oder zumindest als wertneutral. Das Selbst, dessen Ausstrahlung und Verwirklichung Ziel des gesunden Menschen ist, wird damit zum Zentrum der Humanistischen Psychologie. Auf diese Weise erfüllen sich die Worte: Der Mensch ist das Maß aller Dinge.

3.4. Selbstverwirklichung

Selbstverwirklichung, so faßt Kollbrunner (1987) zusammen, „bedeutet nichts anderes als ,wirken lassen des Selbst‘, d. h., das Selbst, den innersten Kern des Menschen zur Wirkung kommen lassen“ (S. 290).

„Selbstverwirklichung ist die systematische Entfaltung der angeborenen Möglichkeiten des Organismus. Sie beruht auf der Anerkennung und dem Ausdruck (sich-ausdrücken lassen) des innersten Kerns, des Selbst des Menschen […] Selbstverwirklichung ist eher Emittieren (Ausstrahlen) als Imitieren (Nachahmen) von Verhalten. Selbstverwirklichung ist deshalb auch Selbstbestimmung, das willentliche und bewußte Erschaffen des eigenen Schicksals (oder: das Sich-selbst-akzeptieren als Schicksal-produzierende Kraft) […]“ (Kollbrunner, 1987, S. 290).

In diesem Zitat steckt eine Fülle von Fakten und Behauptungen, die in den weiteren Abschnitten genauer beschrieben, weitergeführt, aber auch hinterfragt und kritisiert werden.

3.4.1. Das höchste der Bedürfnisse

Selbstverwirklichung wird von der Humanistischen Psychologie als das höchste aller Bedürfnisse bezeichnet und unterscheidet sich grundlegend von den niedrigeren Bedürfnissen. Bedürfnisse, so das ursprüngliche Verständnis der Psychoanalyse, sind durch Mangelzustände ausgelöste psychische Spannungen. Diese Spannungen sind die Triebfeder des menschlichen Handelns. Das durch die Bedürfnisspannungen ausgelöste Verhalten zielt dann logischerweise auf die Beseitigung dieser Spannung hin. So gesehen sind Bedürfnisse etwas Negatives. Sie sind die Reaktion auf ein Defizit. Die Humanistische Psychologie hat das Konzept der Bedürfnisse um so entscheidende Punkte erweitert, daß ich es hier beleuchten möchte. Bedürfnisse des Menschen gelten – im Gegensatz zur Psychoanalyse – in der Humanistischen Psychologie nicht als negativ und unmittelbar konfliktauslösend, sondern werden dem Einzelnen weitgehend zugestanden.

3.4.1.1. Die Maslowsche Bedürfnispyramide

Berühmt geworden ist die Maslowsche Bedürfnispyramide, die veranschaulicht, wie Abraham Maslow die Grundbedürfnisse des Menschen in eine hierarchische Ordnung gebracht hat.

Schon Alfred Adler (1870–1937), der Begründer der Individualpsychologie, die den Hauptantrieb des menschlichen Handelns im Macht- und Geltungsstreben sieht, beschäftigte sich mit den Bedürfnissen des Menschen. Adler sagte, daß der Mensch in einer aufsteigenden Hierarchie Bedürfnisse nach Sicherheit, Bedeutsamkeit und Machtausübung habe. Abraham Maslow übernahm diesen Ansatz und verfeinerte ihn. Je tiefer ein Bedürfnis in dieser Pyramide steht, desto grundlegender ist es. Nach Maslow melden sich die höheren Bedürfnisse erst, wenn die niedrigeren befriedigt sind. Hier sind die Ansätze Adlers und Maslows zur besseren Übersicht nebeneinandergestellt (nach: Adams, 1987, S. 34):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Hierarchien der Bedürfnisse nach Alfred Adler und Abraham Maslow

Die Adlersche Hierarchie möchte ich hier nicht weiter betrachten. Wie ist nun die Maslowsche Pyramide zu deuten? Jeder Mensch hat Bedürfnisse, die sich im Laufe der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen verändern. Nach Maslow bauen die fünf grundlegenden Bedürfnisse aufeinander auf. Sobald ein Bedürfnis optimal befriedigt ist, wird das folgende Bedürfnis dominierend. Als letztes, anspruchsvollstes Bedürfnis entsteht, so Maslow, das der Selbstverwirklichung. Während die vier unteren Ebenen Defizit-Bedürfnisse darstellen, handelt es sich erst bei der Selbstverwirklichung um ein Wachstums-Bedürfnis . In manchen Quellen gibt es Formen der Bedürfnispyramide, die noch eine weitere Ebene oben aufgesetzt enthalten: die spirituellen Bedürfnisse (vgl. Dorsch, 1982, S. 80).

Menschen, die über die Defizit-Bedürfnisse hinauswachsen und die Ebene der Selbstverwirklichung erreichen, sind nach Maslows Beobachtungen selten. Er spricht von einem Prozent und weniger (Kollbrunner, 1987, S. 293). Die meisten Menschen bleiben auf einer der niedrigeren Defizit-Ebenen stehen.

Die Darstellung der Pyramide kann mißverstanden werden. Es ist nicht so, daß ein höheres Bedürfnis erst auftritt, wenn ein niederes erfüllt ist – sondern es existiert vorher schon und wird dann erst dominant. Auch ein Baby braucht neben der Erfüllung der grundlegenden körperlichen Bedürfnisse beispielsweise zugleich auch Schutz und liebevolle Zuwendung. Gleichermaßen verliert auch ein Erwachsener nicht seine grundlegenden körperlichen Bedürfnisse. Man muß also davon ausgehen, daß stets alle Bedürfnisse – zumindest alle Defizitbedürfnisse – existieren, dabei aber einen unterschiedlichen und veränderlichen Stellenwert haben. Ein weiteres Mißverständnis könnte in der Schlußfolgerung liegen, daß es nicht mehr als fünf Bedürfnisse – die in der Pyramide dargestellten – gibt. Tatsächlich handelt es sich hier um Bedürfnisgruppen. Die Gruppe der körperlichen Bedürfnisse umfaßt beispielsweise so unterschiedliche Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Atemluft, aber beispielsweise auch Bewegung oder Schlaf.

Die Bedürfnispyramide übt auch auf Christen eine große Faszination aus. Sie gibt in komprimierter und glaubwürdiger Form das wieder, was wir ja selbst erleben, und sie kann unser Erleben bestätigen. Sie kann verstehen helfen, daß die Bedürfnisse auf den verschiedenen Stufen von unterschiedlicher Natur sind. Wir können nicht Bedürfnisse nach Sicherheit, Sozialkontakt (Liebe, Zugehörigkeit) oder Anerkennung (Wert­schät­zung) auf der körperlichen – also materiellen – Ebene befriedigen. Gerade das versuchen wir aber in unserer Wohlstands­gesellschaft. Die Folgen sind gut zu beobachten: Unzufriedenheit, Maßlosigkeit, Sucht und moralischer Verfall.

3.4.1.2. Defizit-Bedürfnisse in der Bibel

Das Maslowsche Bedürfniskonzept bestätigt offenbar das biblische Bild des bedürftigen Menschen. Beispielhaft habe ich zu jeder der vier unteren Be­dür­fnis­ebenen (De­fi­zit-Be­dürf­nis­se) ein Bibelwort herausgesucht, das die von Maslow gefundenen Bedürftigkeiten bestätigt und zeigt, wie Gott sich darum kümmert (Hervorhebungen von mir).

- Körperliche Bedürfnisse:

„Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr all dessen bedürft“ (Mt. 6,31) .

- Sicherheit, Schutz:

„Von David, dem Knecht des Herrn, der zum Herrn die Worte dieses Liedes redete, als ihn der Herr errettet hatte von der Hand aller seiner Feinde und von der Hand Sauls; vorzusingen. Und er sprach: Herzlich lieb habe ich dich, Herr, meine Stärke! Herr, mein Fels, meine Burg, mein Erretter; mein Gott, mein Hort, auf den ich traue, mein Schild und Berg meines Heiles und mein Schutz!“ (Ps. 18,1–3)

- Liebe, Zugehörigkeit, Geborgenheit, Sozialkontakt:

„Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei. [Wörtlich: ich will ihm eine Hilfe schaffen als sein Gegenüber (d. h. die zu ihm paßt)]“ (1. Mo. 2,18) .

- Wertschätzung, Anerkennung, Bestätigung:

„… Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld gegeben, Kusch und Seba an deiner Statt, weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe. Ich gebe Menschen an deiner Statt und Völker für dein Leben“ (Jes. 43,1–4) .

All diese Bibelworte faßt Fritz Rienecker in einem schönen Satz zusammen:

„Alle Geschöpfe leben in ihrer Schwachheit allein von der ständig neuen Schöpfergnade Gottes“ (Rienecker/Maier, 1996, Stichwort „Mensch“).

Und er verweist auf Hiob 34:

„Wenn er [Gott] nur an sich dächte, seinen Geist und Odem an sich zöge, so würde alles Fleisch miteinander vergehen, und der Mensch würde wieder zu Staub werden“ (Hiob 34,14–15) .

Beim genaueren Nachdenken über das Wort 1. Mose 2,18 „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei“, das meines Erachtens keineswegs ausschließlich im Zusammenhang mit der Ehe steht, ergeben sich bemerkenswerte Schlüsse. Erst Eva konnte Adams Bedürfnis nach Sozialkontakt, also nach einem ebenbürtigen Gegenüber erfüllen – Gott, der mit Adam persönlichen Umgang hatte, konnte (oder wollte) es nicht! Gott erfüllt dieses Bedürfnis nicht persönlich, sondern dadurch, daß er andere Menschen geschaffen hat, denen wir begegnen können, denen wir uns zugehörig fühlen dürfen, die wir lieben dürfen und von denen wir geliebt werden können.

Obwohl sich Gott in den ersten beiden und der vierten Bedürfnisebenen selber als unmittelbarer Erfüller der Bedürfnisse anbietet, können uns stets auch andere Menschen helfen, diese Bedürfnisse zu erfüllen. Zugleich sind wir aufgefordert, mit dem, was wir haben, an der Befriedigung der Bedürfnisse anderer mitzuhelfen – angefangen von den materiellen Bedürfnissen über Schutz bis hin zu Wertschätzung und Bestätigung. Hier liegen, um es schon einmal anzudeuten, mögliche Berufungsfelder! Das Schlüsselwort, das dahinter steckt, lautet: „Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat…“ (1. Petr. 4,10) . Obwohl dieses Wort der Gemeinde zugesprochen ist und sich auf den Gottesdienst bezieht, denke ich, daß es auch generell auf das Zusammenleben der Menschen übertragen werden kann und soll. Es ist aufschlußreich, daß der Begriff Bedürfnis auch in der Wirtschaftstheorie gebraucht wird – auch wenn er dort schon längst pervertiert ist, weil heute nicht mehr um der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse willen produziert wird, sondern um der Produktion selbst willen:

„In der Theorie der Marktwirtschaft wird die Produktion im Grunde von den Bedürfnissen der Wirtschaftssubjekte [= Konsumenten] bestimmt; in Wirklichkeit erzeugen aber die Produzenten durch die Bereitstellung bzw. Inaussichtstellung bestimmter Güter beim Konsumenten häufig erst ein Bedürfnis“ (Encarta, 1996, Stichwort Bedürfnis).

3.4.1.3. Wachstums-Bedürfnisse in der Bibel

Wie ist es denn aber mit der Selbstverwirklichung? Den Begriff Selbstverwirklichung gibt es in der Bibel nicht. Tatsächlich finden sich in der Bibel nur Aussagen, die das Gegenteil fordern – Selbstverleugnung (Mt. 16,24).

- Selbstverwirklichung: keine Aussagen…

Spannend aus biblischer Sicht ist dann noch die Frage, was es mit den „spi­ri­tu­el­len Bedürfnissen“ auf sich hat, die hin und wieder ganz an der Spitze der Bedürfnispyramide auftauchen. Könnten vielleicht folgende Bibelstellen diese Bedürfnisse etwas genauer fassen?

- Spirituelle Bedürfnisse:

„Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden“ (Mt. 5,6) .

„Wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt“ (Joh. 4,14) .

„Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten“ (Joh. 6,35) .

„»Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht«“ (Mt. 4,4) .

Es geht in diesen Bibelworten um ein Sättigen geistlicher Bedürfnisse. Wann brechen diese Bedürfnisse auf? Welcher Art sind sie genau? Steht ein Mangel dahinter, oder ein Wachstum? Ich lasse diese Fragen hier bewußt offen, denn sie scheinen den Rahmen dieser Arbeit zu sprengen. Und sie scheinen nicht wirklich auf die Maslowsche Bedürfnispyramide zu gehören. Da sie als höchste (= edelste?) Bedürfnisse ganz oben aufgesetzt werden, müßten sie nach dem Maslowschen Bedürfniskonzept Wachstums-Bedürfnisse (statt De­fi­zit-Be­dürf­nis­se) sein. Die werden aber aus dem Inneren des Menschen heraus befriedigt, nicht – wie diese Bibelworte zeigen – von außen.

Aus dem bloßen Anblick der Bedürfnispyramide muß unklar bleiben, was genau mit diesen spirituellen Bedürfnissen gemeint ist. Handelt es sich um ein religiöses Tun, um Werke der Selbstgerechtigkeit? Dann unterscheiden sie sich nicht wesentlich von der Selbstverwirklichung. Wenn es sich aber eher um eine Art „geistlicher Armut“ (Mt. 5,3), also um ein geistliches Defizit handelt, dann gehören diese Bedürfnisse nicht als Wachstums-Bedürfnisse an die Spitze der Pyramide. Im weiteren wird noch deutlich werden, welche Beobachtungen Maslows vermutlich dazu geführt haben, daß auch die spirituellen Bedürfnisse immer wieder in der Pyramide zu finden sind. Diese Beobachtungen führen den Begriff der Selbstverwirklichung weit über sich selbst hinaus – auch hin zum Beru­fungs­the­ma. Maslow, der ganz und gar ungläubige Wissenschaftler, kommentiert seine Beobachtungen an solchen Menschen, die er ganz oben in der Bedürfnispyramide eingereiht hätte, so:

„Ich habe viele Lektionen von diesen Leuten gelernt, aber eine ist hier von besonderer Bedeutung: Ich fand, daß diese Menschen häufig berichteten, so etwas wie mystische Erlebnisse gehabt zu haben, Momente von tiefer Ehrfurcht, Momente intensivsten Glücks oder sogar der Verzückung, Ekstase oder Seligkeit. Ich sage Seligkeit, weil das Wort Glück manchmal zu schwach ist, um diese Erfahrung zu beschreiben. […] Das Wenige, das ich bis dahin über mystische Erfahrungen gelesen hatte, brachten sie mit Religion in Verbindung, mit Visionen des Übernatürlichen. Und wie die meisten Wissenschaftler hatte ich ungläubig die Nase darüber gerümpft und alles als Unsinn abgetan, als Halluzination oder Hysterie vielleicht, als höchstwahrscheinlich pathologisch… Aber die Menschen, die mir das erzählten oder über solche Erfahrungen schrieben, waren nicht krank. Es waren die gesündesten Menschen, die ich finden konnte“ (Maslow, zit. in Nefiodow, 2000, S. 244).

Ob es sinnvoll ist, die geistlichen Bedürfnisse als höchste Bedürfnisse ganz oben (also ganz zum Schluß) einzureihen, bleibt dahingestellt. Aus biblischer Sicht ist eine solche Darstellung abzulehnen. Doch ein anderer Platz in der Hierarchie macht auch keinen Sinn. Hier stößt die bekannte Form und Darstellungsweise der Bedürfnispyramide an ihre Grenzen.

Exkurs: Ein biblisches Bedürfniskonzept

Bestätigen die biblischen Betrachtungen nun wenigstens teilweise das humanistische Bedürfniskonzept? Zweifellos erleben wir uns als bedürftige Wesen. Das macht auch die Faszination der Maslowschen Pyramide aus – sie veranschaulicht, was wir erleben. Aber wir verlieren leicht die Tatsache aus den Augen, daß diese Bedürfnishierarchie den alten Menschen beschreibt, ist sie doch ein Ergebnis der Beobachtung des alten Menschen. Alle genannten Bedürfnisse dienen dem Selbst! Auch und gerade die Selbstverwirklichung an der Spitze, die nach Maslow im Aufwärtsstreben der Bedürfnisse das erste nicht-egoistische, schenkende ist, dient ja dem Selbst.

„Die Verwirklichung meiner Bedürfnisse – und selbst wenn es sich um das Bedürfnis zu schenken handelt – kommt aus einer klar egozentrischen Motivation“ (Adams, 1987, S. 38).

Wie könnte ein Bedürfniskonzept aus biblischer Sicht aussehen? Grundlegend ist die Tatsache, daß unsere Existenzgrundlage worthaft ist. Ohne das Reden Gottes würde nichts existieren. Gottes Worte sind die erste Ursache unserer Existenz, und sie erhalten auch in jeder Hinsicht unsere Existenz. Deshalb sollte dieses Wort am Anfang des biblischen Bedürfniskonzepts stehen:

- „»Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht«“ (Mt. 4,4) .

Da wir grundsätzlich auf die Gemeinschaft zu Gott und zueinander angelegt sind, wir also Bedürfnisse nach Gemeinschaft haben, wäre das Doppelgebot der Liebe der nächste Schritt:

- „»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt« […] Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten“ (Mt. 22,37.39–40) .

Als Menschen sind wir nicht nur geistlicher, sondern auch materieller Natur. Daraus ergeben sich materielle Bedürfnisse, die Gott bekannt sind, und die er befriedigen will.

- „Euer himmlischer Vater weiß, daß ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen“ (Mt. 6,33) .

Mit diesen Bibelworten verbinden sich Aufforderungen zum Handeln – sie stellen nicht nur ein theoretisches Konzept dar. Sie stellen unsere Bedürfnisse nicht in den Mittelpunkt, sondern in einen größeren Rahmen. Wenn wir Mangel verspüren, sollen wir nicht den Blick auf andere Menschen verlieren. Sie verspüren ihn ja auch. Damit soll nach Gottes Absicht unsere Bedürftigkeit zu einem gegenseitigen Geben und Nehmen führen, und es soll gemeinsam zu Gott hinführen.

Weiter soll unsere Aufmerksamkeit größeren Dingen gelten, als wir es sind. Unser Streben soll nicht vordergründig unseren eigenen Bedürfnissen gelten, sondern dem Reich Gottes, der Herrschaft Gottes in uns und in der Welt. Stets führt die Blickrichtung von uns und unseren eigenen Bedürfnissen weg. Damit dreht die Bibel Maslows Bedürfnispyramide auf den Kopf. Befriedigungen grundlegender Bedürfnisse sind nicht das, was wir zuerst anstreben sollen. Es sind „nur Nebenprodukte, die einer Aktivität auf höherer Ebene ,beigegeben‘ werden“ (Adams, 1987, S. 49).

3.4.2. Wachstum

Selbstverwirklichung gilt – im Gegensatz zu allen anderen „niedrigeren“ Defizit-Bedürfnissen – als Wachstums-Bedürfnis. Aber warum ist es uns ein Bedürfnis, zu wachsen? Woher kommt eigentlich die Energie, die Wachstum bewirkt, die Verhalten „aus­strah­len“ läßt? Was ist da in uns, das uns antreibt? Woher kommt das, was sich in mir entfalten will?

In diesem Abschnitt gibt es mehr Fragen als Antworten. Jeder kann sie selbst aufnehmen und weiter durchdenken. Vielleicht wird zu der einen oder anderen Frage auch eine Diplomarbeit geschrieben?

3.4.2.1. „Defizit-Motivation und Wachstums-Motivation“

(Überschrift: Maslow, 1973, S. 37.)

Defizit-Motivation, also die auf Defiziten beruhende Motivation, die zu Handlungen führt, die das Defizit beseitigen sollen, ist trotz vieler Forschungen in den verschiedenen psychotherapeutischen Ansätzen immer noch schwer definierbar. Das Problem liegt darin, daß nichts Äußerliches beobachtbar ist. Die Motivation ist immer subjektiv, kommt immer aus dem Inneren des Individuums. Maslow definiert ganz naheliegend, aber nicht sehr tiefsinnig: „Ich bin motiviert, wenn ich ein Verlangen, oder ein Bedürfnis oder eine Sehnsucht oder einen Wunsch oder einen Mangel verspüre“ (Maslow, 1973, S. 38). Äußerlich kann man lediglich die Folgen des Mangels beobachten. Das Fehlen verursacht Krankheit (so Maslow), das Vorhandensein vermeidet Krankheit, die Wiederherstellung heilt Krankheit.

„Es sind diese Bedürfnisse, die essentielle Defizite im Organismus darstellen, leere Löcher sozusagen, die um der Gesundheit willen gefüllt werden müssen; überdies müssen sie von außen durch andere, mit dem Subjekt nicht identische Menschen gefüllt werden“ (Maslow, 1973, S. 38).

Erklärt werden solche Defizit-Bedürfnisse mit „Begriffen des Gleichgewichts, der Homöostase, der Spannungsreduktion, der Abwehr“ (S. 38) und dergleichen. Das Verdienst der Humanistischen Psychologie ist es, daneben „eine Tendenz zum Wachstum oder zur Selbstvervollkommnung anzunehmen“ (S. 38). Maslow führt verschiedene Gründe dafür an (vgl. S. 39):

- Psychotherapie, soweit sie über den Aufbau von Abwehr gegen Schmerz und Angst hinausgeht, setzt einen Drang nach Gesundheit voraus.
- Die Reorganisation der Fähigkeiten eines Menschen nach einer Hirnverletzung erfordert eine Tendenz zu höherer Selbstorganisation.
- Einige Psychoanalytiker erklären Neurosen als Verzerrung von Wachstums- und Vervollkommnungs-Impulsen.
- Kreativität kann nur mit Begriffen von Wachstum und Spontaneität erklärt werden.
- Die Beobachtung gesunder Kinder zeigt ihre Freude am Wachsen, Reifen und Vorwärtskommen, am Ausprobieren neuer Fähigkeiten und Möglichkeiten (während die Freudsche Theorie behauptet, die Kinder müßten ständig aus ihren Anpassungs- und Ruhezuständen in neue, beängstigende Situationen hineingestoßen werden, damit sie sich weiterentwickelten – was auf verunsicherte und verängstigte Kinder zutreffen mag).

Was bei all diesen Forschungen mit den Begriffen Wachsen, Individuation, Autonomie, Selbstentfaltung oder Produktivität benannt wurde, faßt Maslow unter dem Begriff Selbstverwirklichung zusammen. Definieren kann er diese Wachs­tums-Mo­ti­va­tion allerdings ebensowenig wie die Defizit-Motivation. Man wisse noch zu wenig über das Wachstum, um es definieren zu können. (vgl. S. 40). Dennoch versucht Maslow, Selbstverwirklichung zu definieren

„[…] als fortschreitende Verwirklichung der Möglichkeiten, Fähigkeiten und Talente, als Erfüllung einer Mission oder einer Berufung, eines Geschicks, eines Schicksals, eines Auftrags, als bessere Kenntnis und Aufnahme der eigenen inneren Natur, als eine ständige Tendenz zu einer Einheit, Integration oder Synergie innerhalb der Persönlichkeit“ (S. 41).

Selbstverwirklichung als „Erfüllung einer Berufung“ und als „bessere Kenntnis der eigenen inneren Natur“ – genau das sind Themen dieser Arbeit.

3.4.2.2. Die Energiequelle des Wachstums

Menschen, die einen Drang nach Gesundheit, Kreativität, Wachstum, Vervollkommnung, Reifung usw. in sich tragen, die Freude am Spiel mit den Möglichkeiten haben, müssen eine besondere innere Antriebsquelle haben, die sie in eine solche Richtung drängt. Aber an keiner Stelle der humanistischen Literatur, die ich gelesen habe, fand ich Angaben darüber, woher diese Wachstumsenergie kommt. Sie wird einfach vorausgesetzt. Doch die Frage läßt sich nicht beiseite schieben: Woher kommt das, was sich in mir entfalten will?

An dieser Stelle bleiben viele Fragen offen. Zugleich muß hier erneut Kritik am Selbstverwirklichungskonzept ansetzen. Sie bezieht sich zugleich auf die Evolutionstheorie, denn auch dort ist von Entfaltung (Entwicklung, Wachstum) die Rede. Worum handelt es sich eigentlich bei Entwicklung?

Entwicklung beschreibt allgemein die (meist als gesetzmäßig angenommene) Veränderung von Dingen oder Erscheinungen durch die Aufeinanderfolge von verschiedenen Formen oder Zuständen. In der Biologie ist das beispielsweise der Werdegang der Lebewesen von der Eizelle bis zum Tod. Ein von seinem Sinn her ähnlicher Begriff ist die Organisation (z. B. im Rahmen der Selbstorganisation, siehe S. 45), die ich hier in der Bedeutung von planmäßiger Gestaltung oder planmäßigem Aufbau verstehe.

Entwicklung – im Sinne von Höherentwicklung bzw. von Selbstorganisation – erfordert mehrere Voraussetzungen:

- Energiezufuhr: Eine Entwicklung auf einen höheren Zustand hin ist immer eine Entwicklung auf einen Zustand höherer Energie hin.
- Informationszufuhr: Eine Entwicklung zu höherer Komplexität (Ver­floch­ten­heit, Viel­schich­tig­keit, Organisationsgrad) benötigt die Zufuhr zusätzlicher Informationen.
- Ein Ziel: Besonders wenn Entwicklung mit Organisation gleichgesetzt wird, wird deutlich, daß hier eine Planmäßigkeit und eine Zielstrebigkeit – ein Ziel – erforderlich ist. Der „blinde Zufall“ hat hier keinen Platz.

Deshalb ergibt sich hier die Feststellung: Selbst organisation (ein von der Humanistischen Psychologie vorausgesetztes Phänomen) gibt es nicht. Ich muß mir ja immer schon etwas Herauszubildendes vorstellen, bevor ich es herausbilden kann. Wo es Entwicklung gibt, muß es auch einen Entwickler geben, jemanden, der ein Ziel verfolgt und die Möglichkeit hat, es durch sein ordnendes Eingreifen (Ener­gie- und Informationszufuhr) zu schaffen. Dieser Entwickler muß eine Person sein! Wer ist dieser Entwickler? Wer hat die Ziele der „Vollmenschlichkeit“ ge­setzt? Sind es göttliche Ziele? Drängt uns der Heilige Geist zur Selbstverwirklichung? Oder sind die Ziele des Feindes? Sind diese Ziele, wie sie in den zitierten Merkmalen zutage treten, als solche überhaupt richtig erkannt?

Das Phänomen von Wachstum und Entwicklung, mit dem die Humanistische Psychologie rechnet, entspricht dem Konzept der Evolution. Auch die Evo­lu­tions­theo­rie behauptet, daß da etwas von selbst, innerhalb langer Zeiträume und mit Hilfe von Zufallsprozessen, wächst – sich in Richtung einer höheren Ordnung bewegt. Obwohl die Evolutionstheorie von den meisten Menschen akzeptiert wird, ist sie in Fachkreisen umstritten. Sie widerspricht nämlich, wie übrigens auch das Leben an sich, den bekannten Naturgesetzen. In der Natur sind nicht Prozesse von Höherentwicklung zu beobachten (zumindest nicht ohne geordnete und zielgerichtete Zufuhr von Energie und Information), sondern im Gegenteil Verfallsprozesse. Wissenschaftlich ausgedrückt: Sich selbst überlassen, neigt die Natur zur Zunahme von Entropie. Mit „Entropie“ werden unumkehrbare Prozesse wie Vergänglichkeit und Sterblichkeit beschrieben. Auch das Konzept der Homöostase, des Strebens nach Gleichgewicht bzw. nach Ausgleich von Spannungen, ist eine Erscheinung von Entropie. Leben ohne Spannungen bedeutet Tod! Sollen solche Prozesse umgekehrt werden, dann ist das nur durch ein absichtsbedingtes, ordnendes Eingreifen einer Person – z. B. Gott – möglich. Daß es unabhängig von menschlichem Tun so etwas wie Wachstum gibt, läßt sich so auf Gott zurückführen.

Die Energiequelle des Wachstums, das die Humanistische Psychologie beobachtet, liegt also offenbar bei Gott – obwohl das nicht zum humanistischen Weltbild paßt. Damit stellen sich neue Fragen: Ist Selbstverwirklichung etwas von Gott Beabsichtigtes? Kann es dann noch Selbstverwirklichung genannt werden, oder handelt es sich um etwas anderes? Läßt sich Selbstverwirklichung wirklich auf eine Wachstumsenergie zurückführen, oder muß sie ganz anders erklärt werden? Die Fragen müssen hier offen bleiben. Zunächst einmal weiter mit Maslow.

3.4.2.3. Wie selbstverwirklichende Menschen sind

„Selbstverwirklichende Menschen, Menschen also, die einen hohen Grad der Reife, Gesundheit und Selbsterfüllung erreicht haben, können uns so viel lehren, daß sie manchmal fast wie eine andere Rasse menschlicher Wesen erscheinen“ (Maslow, 1973, S. 83).

Es ist überwältigend, von den Eigenschaften selbstverwirklichender Menschen zu lesen. Daher folgt hier ein längeres Zitat von Jürg Kollbrunner, der Beobachtungen verschiedener Vertreter der Humanistischen Psychologie (Maslow, Bonner, Fromm, Neill, Perls, Rogers) zusammengefaßt hat. Sie alle haben erforscht, wohin selbstverwirklichende Menschen wachsen, was die Merkmale der „Voll­mensch­lich­keit“, des Zieles von Selbstverwirklichung, sind. Trotz so mancher Fremd­wörter und Fachbegriffe (die wichtigsten davon sind im Glossar ab S. 247 erklärt), verfehlt dieser Text sicher nicht seine Wirkung. Des­halb erspare ich mir auch einen Kom­men­tar dazu.

„So sind selbstverwirklichte Menschen:

- Ihre Wahrnehmung ist vorwiegend idiographisch und ganzheitlich. Sie halten Tatsachen allein als niemals ausreichende Begründung einer Wahrheit. Wahrheit ist für sie mit einem persönlichen ästhetischen Urteil verbunden.
- Sie haben eine ungewöhnliche Fähigkeit, sich selbst, andere Menschen und überhaupt die ganze Realität korrekt wahrzunehmen. Verstellungen, Verschleierungen, Masken und Unehrlichkeit erkennen sie leicht.
- Sie haben eine große intellektuelle und emotionale Konflikttoleranz. Das Unbekannte, das Mystische und das Rätselhafte fürchten sie nicht; im Gegenteil: sie fühlen sich stark angezogen von den Geheimnissen des ganzen Universums.
- Sie empfinden allgemein selten Angst. Insbesondere gegenüber ihrem eigenen Innern, den eigenen geheimen Impulsen, Emotionen und Gedanken sind sie furchtlos. Sie verwenden wenig Zeit und Energie, um sich gegen sich selbst zu schützen.
- Sie sind stets offen für das Hier und Jetzt, für das, was hier und jetzt gerade geschieht.
- Sie haben eine wundervolle Fähigkeit, die fundamentalen Dinge des Lebens mit Ehrfurcht, Freude und gar Ekstase immer wieder frisch und naiv zu genießen. Sie können staunen.
- Sie können gute und lustvolle Tiere sein, mit herzhaftem Appetit und Selbstgenuß, ohne Bedauern, Schamgefühle oder Entschuldigungen.
- Sie empfinden oft Lebensfreude und Euphorie, manchmal Gelassenheit und Ruhe und seltener (aber nicht weniger intensiv) Trauer, Wut oder Angst.
- Sie hören auf ihre eigene innere Stimme, suchen ihre leitenden Werte in ihrem eigenen Innern und versuchen stets neue Werte aufzufinden, oder alte Werte neu zu entdecken. Ihre leitenden Werte sind eher Werte des Seins und des Wachstums als Werte des Habens oder ,Coasting-Werte‘ (= Werte der gesunden Regression).
- Sie sind tief kreativ, und zwar im Sinne der Kreativität besonderer Talente (im Kochen, im Theorienentwerfen, im Kindererziehen, im Singen…) wie auch im Sinne der Kreativität der Selbstentfaltung selbst.
- Sie haben einen ausgeprägten Humor und sind in ihren Witzen tiefsinnig und nicht verletzend.
- Sie arbeiten oft hart, lieben ihre Arbeit und lieben es, effektiv zu sein.
- Sie übernehmen bewußt Verantwortung für ihr Leben und manchmal auch für Teile des Lebens anderer. Wenn sie wissen, was das Richtige ist, tun sie es auch. Sie sind eher Problem-zentriert als Ich-zentriert. Sie finden ihre persönliche Integration in der Anpassung an eine Welt, die sie selbst maßgebend mitgestalten.
- Sie sind zu tiefen und harmonischen zwischenmenschlichen Beziehungen imstande, gewöhnlich aber nur mit wenigen Menschen. Sie ,benötigen‘ andere Menschen nicht, sie sind wenig abhängig von diesen und fürchten sie nicht. Sie haben kein Bedürfnis, von jedem geliebt zu werden. Zeitweilig haben sie ein starkes Bedürfnis nach Privatsphäre und Zurückgezogenheit.
- Sie sind ehrlich, offen und können sich sehr direkt ausdrücken. Auch im aggressiven Ausdruck sind sie direkt, aber nicht verletzend. Sie unterdrücken weder ihre Sexualität noch ihre Aggressivität, sondern integrieren ihre sexuellen und aggressiven Bedürfnisse voll in ihr ganzes Leben.
- Sie sind relativ unabhängig von ihrer eigenen Kultur und Umgebung, doch prahlen sie nicht damit, nur im sich von anderen zu unterscheiden.
- Sie ziehen die Unsicherheit einer ungewissen Zukunft der Sicherheit einer stabilen Existenz vor.
- Sie lernen intrinsisch, d. h.: Sie lernen von selbst, was sie lernen wollen.
- Sie sind dich den verschiedenen Seiten ihrer Person sehr bewußt und bestrebt, aus sich einen besseren (= volleren) Menschen zu machen. Sie sind stets bemüht, ihre eigene Liebesfähigkeit und ihre Fähigkeit zu kritischem, unsentimentalem Denken weiter zu entwickeln.
- Sie empfinden Liebe und Achtung gegenüber dem Leben in all seinen Manifestationen. Sie zeigen sich in ihrer Haltung anderen Menschen gegenüber demokratisch und erweisen allen Menschen Achtung.
- Sie genießen es, die Selbstverwirklichung von anderen Menschen und deren Glücklichsein zu beobachten und zu unterstützen.

Im Leben (Erleben und Handeln) selbstverwirklichter Menschen lösen sich viele Dichotomien auf. So können diese Menschen zugleich egoistisch (auf sich selbst bezogen) und selbstlos sein; Arbeit und Spiel bilden für sie oft eine Einheit, und ihr Erkennen und Begehren (Kopf und Herz) sind meist nicht voneinander getrennt. Sie sind oft mühelos selbstdiszipliniert, so daß Pflicht und Vergnügen für sie dasselbe werden“ (Kollbrunner, 1987, S. 294ff).

3.4.2.4. Wie das Wachstum geschieht

Als Gegensatz zum „Zur-Ruhe-Kommen“ bei der Befriedigung von Defizit-Mo­ti­va­tio­nen beschreibt Maslow die Wachstums-Motivation so:

„Wenn wir jedoch Menschen untersuchen, die vorwiegend wachstums-motiviert sind, wird die Ruhekonzeption der Motivation vollkommen nutzlos. Bei solchen Menschen erzeugt Befriedigung zunehmende und nicht abnehmende Motivation, erhöhte und nicht niedrigere Aufregung. Der Appetit wird intensiver und größer. Sie wachsen aus sich selbst heraus; anstatt immer weniger zu wollen, verlangt ein solcher Mensch immer mehr, z. B. Bildung. Der Mensch kommt nicht zur Ruhe, sondern wird aktiver. Der Appetit auf das Wachstum wird durch die Befriedigung schärfer und nicht stumpfer. Wachsen ist – in sich selbst – ein lohnender und aufregender Prozeß, z. B. die Erfüllung von Sehnsüchten und Ambitionen, etwa der Ehrgeiz, ein guter Arzt zu werden; die Erlangung bewunderter Kunstfertigkeiten, wie Geige spielen oder ein guter Tischler sein; der ständige Zuwachs an Verständnis für Menschen oder für das Universum oder für sich selbst; die Entwicklung der Kreativität in jedem Bereich, oder – am wichtigsten – einfach der Ehrgeiz, ein guter Mensch zu sein“ (Maslow, 1973, S. 45).

Auffällig ist, daß Maslow hier als Beispiele für Wachstums-Bedürfnisse, die bei ihrer Erfüllung Lust auf mehr machen, auch Ehrgeiz (Streben nach Ehre) oder Bewunderung nennt, die in der Bedürfnis-Hierarchie eher unter Wertschätzung und Anerkennung rangieren und damit Defizit-Bedürfnisse sind. Ist die Trennung zwischen Defizit- und Wachstums-Bedürfnissen nicht so klar zu ziehen? Liegt hier der Grund, warum wir Wachstum auch als Bedürfnis im eigentlichen Sinn erleben – als ein Defizit, das befriedigt werden will? Oder ist das einfach ein Hinweis darauf, daß auch Selbstverwirklichung eigentlich ein egoistisches, und kein schenkendes, Bedürfnis ist?

An anderer Stelle schreibt Maslow über das Wachstums-Bedürfnis:

„Je mehr man bekommt, um so mehr will man, so daß diese Art des Wollens endlos ist und niemals erreicht oder befriedigt werden kann“ (S. 48).

Das klingt nach Maßlosigkeit und Grenzenlosigkeit – handelt es sich etwa um eine Art Sucht? Kann man Selbstverwirklichung mit Selbstsucht gleichsetzen? Ein wichtiges Merkmal von Sucht ist freilich der Kontrollverlust, also der Verlust der Fähigkeit, sein Verhalten in bezug auf die Bedürfnisbefriedigung zu steuern. Ob ein Mensch das Maß seiner Selbstverwirklichung steuern kann, oder ob er – sobald er beim Durchlaufen der Bedürfnispyramide ganz oben angelangt ist – sich unweigerlich selbst verwirklichen muß, bleibt mir unklar.

Wie findet nun Wachstum überhaupt statt? Maslow selbst stellt in diesem Zu­sam­men­hang interessante Fragen: Warum wachsen Kinder – oder warum nicht? Woher wissen sie, in welche Richtung sie wachsen sollen? Wie schaffen sie es, zu wachsen, ohne sich darum zu bemühen? Wie kann ein Mensch zugleich sein und werden? Maslows schlägt dieses Konzept vor:

„Wachstum findet statt, wenn der nächste Schritt vorwärts subjektiv erfreulicher ist als die vorherige Befriedigung, die uns vertraut und sogar langweilig geworden ist; der einzige Weg, auf dem wir je erfahren können, was für uns richtig ist, beruht auf der Erfahrung, daß wir uns in dem einen Fall subjektiv besserfühlen als in einem anderen Fall. Die neue Erfahrung bestätigt sich selbst und nicht durch irgendein äußeres Kriterium. Sie ist selbstrechtfertigend, selbstbestätigend“ (S. 58f).

Diese Erklärung begründet Wachstum rein subjektiv. Persönliche Vorlieben, deren Entstehen ein Geheimnis bleibt, machen uns spontan Schritt für Schritt zu etwas Höherem und Weiterentwickeltem und rechtfertigen jeden unserer Wachstumsschritte. Mehr noch:

„Das gesunde Kind, nur seiend, als Teil seines Seins, ist zufällig und spontan neugierig, wißbegierig, verwundert, interessiert. Auch wenn es nicht zweckgerichtet, nicht bewältigend, expressiv, spontan, nicht von irgendeinem der gewöhnlichen Bedürfnisse motiviert ist, neigt es dazu, seine Kräfte auszuprobieren, hinauszulangen, absorbiert, fasziniert, interessiert zu sein, zu spielen, zu fragen, die Welt zu manipulieren. Erforschen, Manipulieren, Erleben, Interessiertsein, Wählen, Sich-Freuen, Genießen – das alles kann als Eigenschaft des reinen Seins gesehen werden und doch zum Werden führen, obwohl in einer heiteren Art und Weise, zufällig, ungeplant, nicht vorweggenommen. Spontane, kreative Erfahrung kann und wird ohne Erwartungen, Pläne, Voraussicht, Zweck oder Ziel stattfinden“ (S. 59).

Damit wird diese Art von Wachstum zu einer Verlängerung der Evolution. Nach der Evolutionslehre „spielt“ die Natur ebenso wie ein Kind mit dem Lebendigen, um durch Versuch und Irrtum etwas Besseres, Höherentwickeltes zu schaffen. Ein spontanes Wachstum „ohne Erwartungen, Pläne, Voraussicht, Zweck oder Ziel…“ Aus dem Sein des Vorhandenen folgt ein Werden zum Weiterentwickelten. Diese Gedanken, wie Maslow sie formuliert, üben eine starke Faszination aus.

Doch sogleich ergeben sich grundsätzliche Fragen: Spricht Maslow hier nicht mehr von der Selbstverwirklichung? Wenn nicht – wovon dann? Wenn doch – wie ist es dann möglich, daß Kinder von klein auf solche Wachstums-Motivation zeigen, wo doch eigentlich zunächst die Befriedigung der Defizit-Bedürfnisse vorausgesetzt wird (die nur wenige Menschen überhaupt erleben)? Immerhin setzt Maslow in seinem Bild ja eine Bedürfnisbefriedigung oder „Sättigung“ voraus:

„Nur wenn das Kind satt und gelangweilt ist, wird es bereit sein, sich anderen, vielleicht ,höheren‘ Freuden zuzuwenden“ (S. 59).

Aus diesem Satz scheint mir übrigens der Geist der antiautoritären Erziehung zu sprechen, die dem Kind alle Wünsche erfüllen will und keine Grenzen setzen darf, um ihm ein ungestörtes Wachstum zu ermöglichen. Doch bekanntlich hat sich dieses Erziehungskonzept nicht bewährt. Da aus biblischer und wissenschaftlicher Sicht auch die Evolutionstheorie zurückzuweisen ist (vgl. 3.4.2.2. „Die Energiequelle des Wachstums“, S. 46), verdichtet sich der Verdacht, daß hiermit das ganze Maslowsche Konzept der Selbstverwirklichung fallen könnte. Dennoch will ich dieses Konzept weiter betrachten, da es so weit verbreitet ist, und da es außerdem doch so manche brauchbaren Gedanken enthält.

3.4.2.5. Entscheidung zwischen Wachstum und Sicherheit

Nach dem Vorausgegangenen stellt sich ungeachtet der vielen zweifelnden Fragen von meiner Seite auch für Anhänger der Selbstverwirklichung die Frage, warum und wodurch dieses Wachstum so oft gebremst wird. Maslow sieht vor allem die Macht der unbefriedigten Sicherheitsbedürfnisse, die ein Kind von der Entwicklung zurückhalten. Neben dem Bedürfnis, in die Welt hinauszureichen gibt es immer noch die Bedürfnisse nach Sicherheit, nach Schutz vor Schmerz, Verlust oder Furcht.

So gibt es in jedem Menschen eine Kraft, die ihn nach vorne zieht, die in die Zukunft hineinreicht, die Neuem zugewandt ist, während er seines Selbst sicher sein kann. Auf der anderen Seite gibt es eine Kraft, die an der Vergangenheit, am Bewährten und Vertrauten hängt. Es ist die Angst vor Risiken und Gefahren, die Angst vor dem Verlust dessen, was man bereits besitzt, die Angst vor Unabhängigkeit, Freiheit, Getrenntheit (vgl. Maslow, 1973, S. 60).

„Das Grunddilemma oder der Konflikt zwischen den defensiven Kräften und den Wachstumstrends begreife ich als existentiell, in der tiefsten Natur des Menschen eingebettet, jetzt und für immer in der Zukunft“ (Maslow, 1973, S. 60).

Maslow folgert, daß „der Prozeß des gesunden Wachstums als eine nie endende Serie von Situationen der freien Wahl“ zu verstehen ist (S. 61). Mit diesen Situationen wird der Mensch an jedem Punkt seines Lebens konfrontiert. Sie stellen ihn immer wieder vor die Entscheidung „zwischen den Freuden der Sicherheit und des Wachstums, der Abhängigkeit und Unabhängigkeit, der Regression und des Fortschritts, der Unreife und Reife“ (S. 61). Dabei bringt Sicherheit erstaunlicherweise ebenso Ängste und Freude mit sich, wie Wachstum.

„Wir entwickeln uns voran, wenn die Freude am Wachstum und die Angst vor der Sicherheit größer sind als die Angst vor dem Wachstum und die Freude an der Sicherheit“ (S. 61).

Wenn Freude (oder Vergnügen – Maslow benutzt das englische Wort delight) als Entscheidungsgrundlage in all unseren Lebenssituationen gilt, dann muß man daraus schließen können, „daß das, was gut ,schmeckt‘, im Sinne des Wachstums ,besser‘ für uns ist“ (S. 61). Stimmt das wirklich, angesichts der Tatsache, daß z. B. die meisten Kinder nicht genug Süßigkeiten bekommen können? Maslow setzt voraus, daß unsere Entscheidungen wirklich frei sein müssen, damit sie gut für uns sein können, und er verweist darauf, daß wir noch zu wenig über die Gründe für schlechte und falsche Entscheidungen wissen.

Vorwärtsentwicklung findet gewöhnlich in kleinen Schritten statt. Aus der Sicherheit kann man nur so weit hinausgehen, daß der Rückzug in die Sicherheit noch möglich ist. Nur die gefestigte Sicherheit erlaubt das Auftreten höherer Bedürfnisse und Impulse, hinauszulangen. Fällt das Sicherheit Vermittelnde weg, so entsteht ein Bestreben nach Rückkehr in die Sicherheit – die Suche nach Sicherheit wird stärker als die Suche nach Neuem, „Sicherheits-Bedürfnisse sind mächtiger als Wachstums-Bedürfnisse“ (S. 63). Je mehr die Sicherheits-Bedürfnisse erfüllt sind, desto weniger wichtig sind sie, und desto weniger bremsen sie das Wachstum (vgl. S. 62f). Daß Sicherheit die Voraussetzung für Wachstum ist, scheint uns unbewußt als eine Selbstverständlichkeit zu gelten.

„Und wiederum praktiziert der gute Elternteil, der Therapeut oder Erzieher so, als würde er verstehen, daß Sanftheit, Liebenswürdigkeit, Achtung der Angst und Verständnis der Natürlichkeit defensiver und regressiver Kräfte notwendig sind, damit das Wachstum nicht einer überwältigenden Gefahr gleicht, sondern einer erfreulichen Aussicht. Man impliziert sein Verständnis, daß Wachstum nur aus Sicherheit kommen kann. Man fühlt, daß es gute Gründe gibt, wenn die Abwehrmechanismen eines Menschen sehr starr sind, und man ist bereit, geduldig und verständnisvoll zu sein, auch wenn man den Pfad kennt, den das Kind beschreiten ,sollte‘“ (S. 66).

Wichtig ist, daß der Mensch (Maslow schließt hier immer wieder auch besonders Kinder ein) die anstehenden Entscheidungen selbst trifft. Dazu muß er selber Erfahrungen gemacht haben, selber die Freude an Neuem erlebt haben. Niemand darf für einen Menschen zu oft entscheiden, um sein Selbstvertrauen und seine Entscheidungsfähigkeit nicht zu schwächen. Andererseits braucht der Mensch (vor allem das Kind) Hilfe, ohne die er zu verängstigt sein würde, um etwas Neues zu wagen. Wo liegt aber der goldene Mittelweg zwischen Freiheit und Hilfe? Er scheint nicht so leicht zu finden zu sein.

Der Mensch steht in seinem Leben fortwährend vor Entscheidungen zwischen Sicherheit – dem Beharren im Bekannten und Bewährten – und Wachstum – dem Streben nach Neuem und Unbekannten. Das Bedürfnis nach Sicherheit ist mächtiger als das nach Wachstum. Für Wachstum entscheidet der Mensch sich nur aus Sicherheit heraus – das Sicherheitsbedürfnis muß ausreichend befriedigt sein, bevor der Mensch das Bedürfnis nach Wachstum verspürt. Der Verlust von Sicherheit führt zu Rückzug und Regression, die Suche nach Sicherheit wird vorrangig. – Der gleiche Sachverhalt mit anderen Worten beschrieben: Das „existentielle Grunddilemma“ (Maslow) des Menschen ist der Konflikt zwischen Angst und Mut. Damit beschreibt Maslow das Grundproblem des gefallenen Menschen überhaupt: die Sünde, die Trennung von Gott. Angst resultiert aus der Trennung von Gott, sie läßt sich immer auf eine Todesangst zurückführen. Andererseits kann die Gewißheit der Geborgenheit – in Gott, abbildhaft aber auch in menschlichen Beziehungen – Mut geben, in die Freiheit hineinzugehen.

3.4.2.6. Beziehungen zu anderen Menschen

Im folgenden stelle ich die Beziehungen defizit-motivierter und wachstums-mo­ti­vier­ter Menschen zu ihrer Umwelt einander gegenüber:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Vgl. Maslow, 1973, S. 48ff.)

[...]

Ende der Leseprobe aus 262 Seiten

Details

Titel
Berufung. Selbstverwirklichung oder Gottesbegegnung?
Hochschule
IGNIS-Akademie für Christliche Psychologie
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2000
Seiten
262
Katalognummer
V9038
ISBN (eBook)
9783638158503
ISBN (Buch)
9783638809702
Dateigröße
1870 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Berufung, Selbstverwirklichung, Gottesbegegnung
Arbeit zitieren
Reimar Lüngen (Autor:in), 2000, Berufung. Selbstverwirklichung oder Gottesbegegnung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9038

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