Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung / Problemstellung
Übergänge – Versuch einer Begriffsbestimmung
Übergangsbegriff & Übergangsformen
Ambivalenz von Lebenslauf und Biographie
Entstandardisierung
Individualisierung
Entstandardisierung und Individualisierung im Bildungssystem
Lebensweltorientierte Soziale Arbeit im Kontext biographischer Übergänge
Rolle der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit
Aufgabe der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit
Herausforderungen
Praxisbeispiel
Ausblick
Literaturverzeichnis
Einleitung / Problemstellung
Im Zuge der postmodernen „Multioptionsgesellschaft“ (Grunwald & Thiersch, 2016, S. 36) und resultierender Differenzierungs-, Pluralisierungs- also Individualisierungsformen (bzw. -optionen) ergeben sich ausgehend von der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes unter neoliberaler Flagge der ‚ freien ‘ Marktwirtschaft und einer reflexiven, vermeintlichen Trendwende des standardisierten Lebenslaufs ab der zweiten Hälfte des 20. Jhdt. neue gesellschaftliche Phänomene bzw. Probleme. Die Zustandswechsel respektive Zustandsänderungen zwischen den Lebensaltern bzw. -abschnitten treten vermehrt problematischer als auch unvorhersehbarer – d.h. potentiell riskanter und fragiler - in Erscheinung und münden in einer Ambivalenz aus ehemals bevormundendem Versorgungsstaat und nun aktivierendem Wohlfahrtsstaat, welcher im Zuge der Individualisierung die einst hegemoniale Verantwortung zur sozialen Rationalität auf das Individuum abgewälzt hat (Walther, 2013, S. 24). Bisherige Betrachtungsweisen von problematischen Zustandswechseln (im Folgenden als Übergänge bezeichnet) bis etwa zur Jahrtausendwende hin, fokussierten hauptsächlich Übergangsthematiken Jugendlicher mit Problemen im Übergang von Schule zu Beruf, wohingegen sich das gegenwärtige Spektrum von Übergängen aufgrund bereits angedeuteter postmoderner Vielfalt von Möglichkeiten und resultierender (postmoderner) Vielfalt von Problemen erheblich erweitert hat (Walther, 2013, S. 24; ebd., S. 27).
Im Zuge dieser Arbeit sollen zunächst der Übergangsbegriff und Übergangsformen beschrieben und in Zusammenhang zur Ambivalenz von Lebenslauf & Biografie gesetzt werden. Darauf aufbauend sollen die Rolle als auch der Aufgabenbereich einer Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit im Hinblick einer Gestaltung biographischer Übergange herausgearbeitet werden, um im Anschluss die resultierenden Herausforderungen für die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit auszumachen. Abschließend soll ein (fiktives) Fallbeispiel einen Einblick in ein mögliches, praktisches Szenario bieten.
Übergänge – Versuch einer Begriffsbestimmung
Übergangsbegriff & Übergangsformen
Unter Übergängen sind gemeinhin Wechsel von Lebensverhältnissen zu verstehen, welche sich kategorial im Sinne sozialen Status- bzw. Rollenwechseln (bspw. Alleinstehend – Beziehung – Familie, Krankheit – Gesundheit, Arbeit - Arbeitslosigkeit) als auch strukturell im Sinne von vorgefertigten, das heißt institutionalisierten Lebensspannen (bspw. Schule – Ausbildung – Erwerbstätigkeit) im Laufe eines Lebens (zwangsläufig) ergeben. (Walther, 2015, S. 36)
In jeder Gesellschaft besteht das Leben eines Individuums darin, nacheinander von einer Altersstufe zur nächsten und von einer Tätigkeit zur anderen überzuwechseln. Wo immer zwischen Alters- und Tätigkeitsgruppen unterschieden wird, ist der Übergang von einer Gruppe zur anderen von speziellen Handlungen begleitet [...] Es ist das Leben selbst, das die Übergänge von einer Gruppe zur anderen und von einer sozialen Situation zur anderen notwendig macht. (van Gennep, 1986, S. 15 zit. n Walther, 2015, S. 36)
Übergänge weisen demzufolge prozessualen Charakter von Änderungen der sozialen Verortung und damit der Identität innerhalb sozialer Gefüge auf, welche bestimmten Bedingungen im gesellschaftlichen/institutionellen Raum und derer sozialer Strukturen unterliegen.
Einhergehend damit, dass Übergänge eine Art ‚Umstrukturierung‘ von Lebensverhältnissen darstellen, welche von Akteur_Innen (biographische) Aneignungs- bzw. Gestaltungsleistungen abverlangen, wird als weiteres Charakteristikum deutlich, dass Übergänge keineswegs Erfolgsgarantien aufweisen: Übergänge können scheitern. (Stauber & Walther, 2016, S. 561f)
Biographische Übergänge vollziehen sich dabei in Anlehnung an Stauber (2014, S. 15ff) subjektseitig betrachtet immer gleichzeitig (synchron) ab, was bedeutet, dass die Veränderung bzw. der Wechsel von Lebensverhältnissen immer Einfluss auf nachgeschaltete und/oder parallele Lebensverhältnisse mit sich zieht. Als Beispiel wird die Erkrankung eines Elternteils (ergo ein Übergang familiärer Natur) und die notwendige Erhöhung der schulischen Autonomie des Kindes (ergo Übergang schulischer/kindlicher Verantwortung im Zusammenspiel zu familiärem Übergang) genannt. Zudem laufen Übergänge sowohl diachron als auch synchron ab, d.h. Übergänge in zeitlicher Dimension beeinflussen wiederrum die Statuten aller subjektseitig verorteten (sozialen) Rollen. Übergänge laufen nicht notwendigerweise linear ab, d.h. sind als reversible Vorgänge (Beendigung Partnerschaft – Auszug – Wiederaufnahme Partnerschaft) zu denken und immer sozial kontextualisiert aufzufassen. Übergänge sind zudem nicht passiv zu denken, sondern werden immer aktiv von Akteur_Innen vollzogen. Die strukturelle (also vorgefertigte, institutionalisierte) Bedingtheit von Übergängen – im Sinne eines Lebenslaufs - musste notwendigerweise aus der Vervielfältigung von Lebensformen bzw. der mit der Moderne und Postmoderne primär aufkommenden Industrialisierung entstehen. Durch die nachgeschaltete, sekundär aufkommende Demokratisierung und daraus resultierender Individualisierung von Lebensentwürfen, wurde es erforderlich, Übergänge im Sinne eines institutionellen Regelsystems zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Rationalität (d.h. zur Wahrung eines funktionierende Systems Gesellschaft) zu gestalten (Walther, 2013, S.18). Allerdings konstituiert die institutionalisierte Vorgabe eines Lebens(-laufs) und derer Übergänge das gegenwärtig (immer noch) vorherrschende erwerbsbezogene System in wechselseitiger Beziehung zu dessen Bildungssystem, biete aber im Zuge des „ Planungs- und Orientierungsparadoxons“ als Resultat der gesellschaftlichen Individualisierung (Stauber, 2014, S.12) bzw. der „Multioptionsgesellschaft“ (Grunwald & Thiersch, 2016, S. 36) – die Institutionalisierung/Individualisierung selbst legitimierend – einen Orientierungsrahmen oder besser: einen roten Faden im ‚Dschungel der Möglichkeiten‘ (und Gefahren) des Lebens (-laufs). Diese im Widerspruch zur Individualisierung des Lebensentwurfs stehende Standardisierung des Lebenslaufs resultierte also in einem idealtypischen ‚Normallebenslauf‘, welcher für alle gültig biographische Orientierung an „abgesicherten, als erreichbar geltenden und deshalb positiv sanktionierten …“ (Walther, 2013, S.19) Werten des Wohlfahrtsstaates ermöglichen sollte.
Übergänge weisen eine Polarität von struktureller als auch subjekt-seitiger Wesensart auf. Stauber und Walther (2016, S. 561f) sprechen hier von ‚normativer‘ (institutioneller) als auch ‚nicht-normativer‘ (biographischer) Perspektive, d.h. von Fokussierung auf von außen herangetragenen (erwünschten) Übergängen (von öffentlichem Interesse) und Übergängen, welche mehr oder minder bewusst außerhalb des Blickfelds öffentlichen bzw. wohlfahrtstaatlichen Interesses ‚passieren‘. Die Verzahnung beider ergeben die nachfolgend genannten Übergänge im gegenwärtigen Fokus gesellschaftspolitischen Interesses (Stauber, 2014, S. 13ff):
- Übergänge im Bereich Bildung, Ausbildung und Arbeit
- Übergänge in Herkunftsfamilien (Generationenbeziehung)
- Übergänge in Wohn- und Lebensformen („Nesthocker“-Diskurs)
- Übergänge zu eigenen Liebesbeziehungen und stabilen Partnerschaften
- Übergänge in die Elternschaft
- Übergänge (jugendkultureller) Lebensstile
Demgegenüber lassen sich Übergangsformen nach spezifischen Lebenslagen und Lebensaltern differenzieren, welche in nachfolgender Tabelle – nach Hamburger‘s (2012) „biographischer Ordnung der Sozialpädagogik“, weiterentwickelt von Walther (2015, S.46) - Aufgabenfelder einer pädagogischen Bearbeitung von Übergängen abbilden. Aus pädagogischer Sicht verdeutlicht diese Zusammenstellung, dass pädagogisches Handeln (hinsichtlich biographischer Übergänge) immer mehr oder minder direkt Bezugnahme auf Lebensläufe in sich birgt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Walther, 2015, S. 46
Ambivalenz von Lebenslauf und Biographie
Lebenslauf und Biographie wurden bislang getrennt beschrieben, als einerseits strukturelle, d.h. institutionalisierte Seite, andererseits als subjekt-seitige Bewältigung von Anforderungen des Lebens. Dabei spielt das Verhältnis von Lebenslauf und Biographie die entscheidende Rolle im Spannungsfeld von Übergängen, da „alle lebenslaufbezogenen Übergänge … auch biografisch angeeignet werden [müssen]“ (Stauber & Walther, 2016, S. 562). Im Rückblick auf die ‚normative‘ bzw. ‚nicht-normative‘ Perspektive von Übergängen bzw. Bewältigungsanforderungen des Lebens, sei die Beziehung von Lebenslauf - als zeitliche Abfolge von Ereignissen eines Lebens von Geburt bis zum Tod – und Biographie - als subjektiv konstruierte (als auch gedeutete) Geschichte von Erfahrungszusammenhängen – beschrieben: es ergibt sich eine konstitutionelle, wechselseitige Relation von Ereignis (Lebenslauf) und Motiv (Biographie). Die Spannung im Beziehungsgefüge resultiert nun daher, dass jegliche subjekt-seitig verorteten Motive zu einem gelingenden Leben, gesellschaftlicher bzw. institutioneller Anreize als auch Rahmenbedingen unterliegen. Diese institutionelle Rahmung der Biographie (im Resultat eines biographischen Lebenslaufs) zwingt die Subjekte zur Übernahme von (vorgegebenen oder vorgelebten) Rollenmustern und ergo zur Bewältigung von Aneignungsprozessen derselbigen. An der (Übergangs-) Stelle, an welcher diese (geforderten) Aneignungsprozesse nicht mit dem Motiv des Subjekts korrelieren – also misslingen – entsteht eine Spannungsspitze „im Sinne einer gestörten Aneignung von Selbst- und Weltverhältnissen [Inkongruenz der Anforderungen von Biographie und Lebenslauf]“ (Walther, 2013, S. 22).
Entstandardisierung
Wesentliche Triebfeder der Ambivalenz von Lebenslauf und Biographie, ist der (vermeintliche) Trend der Entstandardisierung des Lebenslaufs, als institutioneller Stempel aufkommender Individualisierungs- bzw. Pluralisierungskonzepte seit Mitte des 20. Jahrhunderts (Walther, 2013, S. 24). Besonders Arbeits- und Familienverhältnisse sind flexibler respektive pluraler geworden, Lebensformen haben sich vervielfältigt. Schulbildungswege, Berufseintritt, Eintritt in das klassische Erwachsenenalter, Familiengründung und Familienformen sind flexibler, autonomer als auch altersvariabler geworden und haben vorbestehende soziale ‚normative‘ Paradigmen abgelöst. Die neue Form von (individueller) Handlungsvielfalt fordert gleichzeitig neue Formen von Handlungszwängen.
Individualisierung
Der im Zuge der Veränderung der Lebensweisen, der ‚Aufweichung‘ der staatlichen Lebens-Etiketten seit Mitte des 20. Jhdt. hinsichtlich eines ertragreichen, sozialstrukturierten Kollektivs aus der traditionellen Klassenteilung Arbeiter und Bürgertum heraus entstandene Prozess der Vervielfältigung von Möglichkeiten, wird als Individualisierung bezeichnet. Kern der Individualisierung ist ein mehr an Freiheit gegenüber vorhergehenden Generationen, mit dem (kollateralen) Nebenprodukt, das gesellschaftliche Themen peu á peu aus der (einstigen) Verantwortung des Staats auf das Individuum übertragen werden. Entgegen eines humanistischen Aufklärungs-Gedankens spricht, dass im Zuge der Individualisierung kein Augenmerk darauf gelegt wurde (wird), ob die Individuen auf zur Selbstbestimmung notwendige Ressourcen zurückgreifen können bzw. dass fehlende Ressourcenverfügbarkeit mit selbstverschuldet, unterentwickelten Bewältigungskompetenzen gleichgesetzt werden (Stauber, 2014, S. 12). Damit löst die Bivalenz der Individualisierung das Problem von erstrebten Freiheits-Ansprüchen der Individuen und versetzt diese gleichzeitig in die Position der (optimierenden) Selbststeuerung, die das mehr an Freiheit, das mehr an Möglichkeiten dadurch garantieren und evtl. sogar noch erweitern soll, wenn ausreichend Bildung, Kompetenzen und soziale Funktionsfähigkeit entwickelt bzw. ‚angeschafft‘ werden - das heißt wenn mehr in institutionelle Werte investiert bzw. mehr an institutionellen Vorgaben orientiert wird.
Stauber (2014, S.12) bezeichnet die Individualisierung als Mythos und als wesentlichen Grund für die Entstehung des „Planungs- und Orientierungsparadoxon“ von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, welchen im Zuge der Entstandardisierung zwar jegliche Handlungsvollmacht zugesprochen wird, eine Gefühl von Handlungsfähigkeit allerdings ausbleibt; welche „planen … sollen, aber permanent an die Grenzen von Planbarkeit … stoßen“; welche sich an allem orientieren können, ohne eine Orientierung zu haben. Anders ausgedrückt könnte dies bedeuteten: (individuelle) Freiheit und der Zwang zur Entscheidung stehen in kausalem Zusammenhang.
Daraus ließe sich schlussfolgern, dass Individualisierung zu einer Pluralisierung von sozialen Risiken respektive sozialen Unsicherheiten führen könnte.
Entstandardisierung und Individualisierung im Bildungssystem
Auffallend im Wechselspiel von Entstandardisierung und Individualisierung ist ein gegenläufig beobachtbarer Trend nämlich eine Stagnation im Bildungssystem: während jenseits des Schulsystems flexiblere Lebensläufe hinsichtlich Altersvariabilitäten sowie normativer Abfolgen von Lebensstationen bzw. -rollen (bspw. Arbeitnehmer/Steuerzahler, Familienvater, etc.) propagiert werden, findet im Bildungswesen für Heranwachsende (auch im akademischen Bereich – siehe Bologna-Prozess) eine gegenläufige Entwicklung von Standardisierung bzw. De-Individualisierung statt, wobei das Bildungswesen dem (auferlegten) Selbstoptimierungs-Trend der Arbeitnehmer_Innen der freien Wirtschaft unterliegt. Im Zuge dessen haben sich u.a. die Durchlaufzeiten bspw. im gymnasialen Bereich – siehe G8-Reform – verringert, die Einschulungsgrenzen nach unten verlagert und auch Änderungen im Bereich der Wiederholung (Limitierung) von Klassenstufen ergeben. Resultierend kann festgehalten werden, dass das Bildungssystem die harten Bandagen eines (standardisierten) Arbeitsmarkts zum Zwecke der optimierten Selektion, des erhöhten Kompetenzerwerbs und adäquater Altersbindung übernommen haben könnte: im Bildungssystem ist keine Individualisierung auszumachen, dieses gleicht nach wie vor einem Massenbetrieb, schnellstmöglich, mit geringem Aufwand lebens- oder besser arbeitsfähige Produkte zu generieren.
Lebensweltorientierte Soziale Arbeit im Kontext biographischer Übergänge
Im Diskurs Lebenslauf und Biographie nimmt die Soziale Arbeit generell eine Vermittlungs- oder auch Schnittstellenfunktion zwischen Anforderungen der Gesellschaft / des Staates und den biographischen Wünschen und Vorstellungen derer Adressat_Innen ein. Dabei kommt der Sozialen Arbeit hauptsächlich – neben wenigen präventiven Handlungsbereichen - die unangenehme Position zu, Symptomträger_Innen eines Systems als Klientel führen zu dürfen. Im Zuge dessen wird die Definition der Aufgabe der Sozialen Arbeit nach Schröer und Thiersch (2005) „als Unterstützung bei der Bewältigung des Lebenslaufs“ (Stauber & Walther, 2016, S. 560) nochmals verdeutlicht. Die Bewältigung des Lebenslaufs bezieht sich dabei auf bereits ausgeführten institutionellen Charakter eines Normallebenslaufs in Diskrepanz zu biographischen Wünschen und Vorstellung ein ‚gelingendes‘ Leben in einem gelingenden Alltag zu konstruieren. Die dabei auftretenden Spannungen aus normativen Anforderungen und Ressourcen der Individuen treten logischerweise erst als als Bewältigungs- bzw. Assimilierungsprobleme zutage, wenn sich Zustände – genauer Lebensphasen – verändern und in Eigenregie nicht umgesetzt werden können. Diese als (problembehaftete) Übergänge beschriebenen Veränderungen und derer Friktionen sind es, die als (Lebens-)Situation(en) zum Interesse der Sozialen Arbeit werden.
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