Die Einflüsse der Wiener Moderne auf Person und Werk Erich von Stroheims


Magisterarbeit, 1996

125 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Die Wiener Moderne als Hintergrund für das Filmschaffen Erich von Stroheims

2. Leben und Werk Erich von Stroheims
2.1. Biographie: Überblick
2.2. Die Filme: Einführung
2.2.1. BLIND HUSBANDS (1919)
2.2.2. THE DEVIL’S PASSKEY (1919)
2.2.3. FOOLISH WIVES (1920/21)
2.2.4. MERRY-GO-ROUND (1922/23)
2.2.5. GREED (1923)
2.2.6. THE MERRY WIDOW (1924/25)
2.2.7. THE WEDDING MARCH (1926/27)
2.2.8. QUEEN KELLY (1928/29)
2.3. Resümee

3. Die zentralen Einflüsse auf die Filme Stroheims: Europa und Psychologie
3.1. Europäische Einflüsse
3.1.1. Darstellertypisierung zum Ausdruck der Authentizität
3.1.2. Militär und Dekadenz als europäische Phänomene
3.1.3. Das literarische Moment als Konzept des Europäers
3.2. Psychologische Einflüsse

4. Die Umsetzungen der Dekuvrierung
4.1. Der Atavismus des Handelnden
4.2. Der Atavismus von Milieu, Lebensumfeld und Natur
4.3. Die Darlegung der Natur der handelnden Figuren im jeweiligen Umfeld
4.4. Die Dekuvrierung des Scheins durch die Bewegung
4.5. Die Dekuvrierung der Figuren durch stilistische Mittel
4.6. Die Dekuvrierung der Figuren durch deren Atavismus
4.7. Die Sezierung des Amerikanischen und des Amerikaners

5. Die Selbstinszenierung des Europäers als Darsteller

Schlusswort

Bibliographie

Anhang: Bildquellen

Einleitung

Als Erich von Stroheim 1919 BLIND HUSBANDS, seinen ersten Film als Regisseur drehte, hatte er bereits Erfahrung im Filmgeschäft gemacht. Er war bis zu diesem Zeitpunkt als Nebendarsteller zumeist als Schurke aufgetreten, wurde aber auch als militärischer Berater bei mehreren Filmen eingesetzt, wodurch er Erfahrungen im Bereich der Produktion sammelte. In diesem Zusammenhang entwickelte Stroheim eine besondere Vorliebe für die Wirkung der glamourösen Uniform, die ihm selbst, auch im Alltag getragen, die Aura des Besonderen verlieh und die er in seinen Filmen verwendete: eine durch die Uniform vermittelte kontinentale Aura, die im Laufe der 20er Jahre, das Jahrzehnt seines zentralen Schaffens, Stroheims alter ego werden sollte.

Angesichts der Tatsache, dass Stroheim 1909, im Alter von 24 Jahren, aus Österreich in die Vereinigten Staaten emigriert war, lässt sich die Vorliebe für eine derartige Selbstpräsentation rückfolgern. Mitgebracht hatte Stroheim nicht nur die Vorliebe für die Zurschaustellung des Selbst, sondern auch einen besonderen kontinentalen Blick, welcher sich in der Hinterfragung der kulturellen Rückständigkeit und sexuellen Verklemmtheit der Amerikaner, aber auch der Verabsolutierung der Familie als gesellschaftlicher Basis der amerikanischen Gesellschaft äußerte. Diese Faktoren sind Grundideen, auf die Stroheim seine Filme aufbaut.

Seine Filme vermitteln bei den Zuschauern durch eine satirische Sicht auf die Protagonisten einen verinnerlichten Einblick hervor: Sie erkennen unter der kaschierenden Fassade von Regenten, von durchschnittlichen Bürgern oder von Betrügern und Verführern die menschliche Eigentlichkeit. Die provokante Wirkung der Filme wird zudem durch die zynische Abbildung dieser Verhaltensmuster hervorgerufen: obgleich seine Filme größtenteils in Europa angesiedelt waren, strebte Stroheims dekuvrierender Stil den zeitgenössischen Moralauffassungen der Amerikaner entgegen. Augenblicke des Alltags einer europäischen Welt aus der Sicht des amerikanisierten Wieners bewirkten die Desillusion von naiven Vorstellungen einer glitzernden Aristokratie. So musste, wenn er seine Filme seinem Welt- und Menschenbild entsprechend schaffen wollte, seine filmische Phantasie die von Sittenstrenge bedingte Sicht der Amerikaner – wie es Stroheim selbst beschreibt[1] - provozieren.

Für einen Regisseur, der die ersten 24 Jahre seines Lebens in Wien zugebracht hatte und damit auch von der Atmosphäre der Stadt geprägt war, war ein solches freieres Verhältnis zur Erotik nichts Ungewöhnliches: Nicht etwa, dass die Sexualität selbst frei und offen behandelt wurde, sondern vielmehr, dass sie nicht verschwiegen wurde. Arthur Schnitzlers „Reigen“ etwa, geschrieben 1896/97 als Folge von zehn Dialogen, löste einen der größten Literatur- und Theaterskandale bei den Aufführungen in Wien und Berlin in den Jahren 1920/21 aus, dabei war das Stück als Roman „längst zum Gegenstand privater Lektüre geworden.“[2].

Um soziokulturellen Hintergrund der gesellschaftlichen Couleur Wiens zu erhellen, müssen Momente, die die Kultur dieser Zeit widerspiegeln, dargestellt werden. Eine starke Präsenz des Militärischen im Alltag der Bürger ist zu beobachten, in der Gesellschaft herrscht ein Nebeneinander von Bürgerlichkeit und Adel, bzw. Aristokratie, die Psychologie übt einen zunehmend stärkeren Einfluss auf Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft aus, wie man es beispielsweise in der Verwandtschaft der Literatur Schnitzlers und den Erkenntnissen Freuds feststellen kann. Alle diese Einflüsse finden sich im Werk des austro-amerikanischen Regisseurs wieder. Quintessentiell lässt sich dieser Hintergrund charakterisieren:

„Wiens bedeutendste Schriftsteller nicht allein, sondern auch seine Maler und Psychologen, sogar seine Kunsthistoriker waren erfüllt von der Problematik des einzelnen in einer zerfallenden Gesellschaft. Aus dieser Voreingenommenheit entwickelte sich Österreichs Beitrag zu einer neuen Gesellschaft.“[3]

Facetten dieser hier charakterisierten neuen Gesellschaft prägten Stroheim und flossen innerhalb seines Schaffens in die etablierte filmische Ästhetik ein zur Erweiterung des Spektrums des filmischen Ausdrucks. Es sind Beschreibungen des in jedem Menschen enthaltenen Abgründigen und direkte Bezugnahmen auf psychologische Konflikte, die sich im zwischenmenschlichen Bereich äußern – und dies ohne Sentimentalität, mit exakten Milieu-Darstellungen, die veräußerlichend das Abbild des Konfliktpotentials im Handelnden als Individuum und zwischen den Handelnden als Kollektiv bilden. Nicht das Geschehen selbst als vordergründige Action ist für Steroheim interessant, sondern die Wandlungen der Figuren in ihrer Eigentlichkeit, ausgelöst durch das dargestellte Geschehen der filmischen Handlung.

Die Thematik dieser Arbeit wird sich konzentrieren auf die Essenzen im Werk Stroheims, die geprägt sind von Einflüssen der Wiener Moderne und derer Bedeutungen für die Bezugnahmen auf amerikanische Verhältnisse. Das für das Kino Stroheims Typische soll durch die Herausarbeitung dieser Elemente in Stil und Themenausarbeitung durch den Erzähler Stroheim dargestellt werden.

Um die unterschiedlichen Aspekte in dieser Arbeit zu vereinen, müssen zu Beginn diese Ausgangsbedingungen von Zeit und Ort Wiens um die Jahrhundertwende dargestellt werden. Einzelne Momente, die für das Zeitkolorit exemplarisch sind - hier sind es Kultur, Politik und Geisteswissenschaft -, werden aufgeführt, ein Gesamtbild zusammenzusetzen, das dem Leser die Eigentümlichkeiten der Wiener Moderne und damit den Wiener Einfluss abzulesen behilflich sein kann. Die aus diesem Umfeld erfolgenden Lebensbedingungen Stroheims werden dabei der äußeren, kulturellen Entwicklung entgegengesetzt. So lässt sich die Prägung Stroheims transparent machen, um tiefer gehenden Interpretationen Raum zu geben.

Nach einer Darstellung des europäischen Hintergrundes (Teil 1) werden neben einer biographischen Einführung seine als Regisseur hergestellten Filme vorgestellt (Teil 2). Hierbei werden die Bezüge zu Zeit und Ort seiner Jugend berücksichtigt und elementare Betrachtungswinkel dargestellt, an denen man sein Verhältnis zu der untergegangenen Zeit der kontinentalen Monarchien ablesen kann. Im dritten Teil beziehe ich mich auf die Folgerung aus diesen Fakten: die europäischen Spuren und die psychologisch motivierten Einblicke werden angeführt (Teil 3), um anschließend die filmischen Methoden zur Entlarvung der Figuren zu untersuchen. Analysen ausgewählter filmischer Situationen werden die beschriebenen Fakten anschaulich machen.

1. Die Wiener Moderne als Hintergrund für das Filmschaffen Erich von Stroheims

Die Kultur der Wiener Moderne, wie sie auch außerhalb Österreichs registriert wurde, wurde repräsentiert von Malern, Komponisten, Schriftstellern und Wissenschaftlern. Diese oben zitierte „Problematik des einzelnen in einer zerfallenden Gesellschaft“ (Schorske 1982, S.4) drückt die Unverträglichkeit der Eigentlichkeit der Individuen mit der gesellschaftlichen Homogenität des Kollektivs aus. Die Bewegung der Wiener Moderne entwickelte sich in der Zeit des fin de siècle bis in die letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Der besondere Stellenwert liegt nicht alleine darin, dass mit dem Einsetzen der Wiener Moderne die entsprechenden Bewegungen in anderen Städten Europas schon allmählich zu einem Ende kamen, sondern weil sich durch die lang andauernde feudalistische Epoche der KuK-Monarchie ein intellektueller Gegenpol bildete, dessen prägnanteste Insignien in der den Zustand hinterfragend eindringenden Psychoanalyse lag, die sich neben der Wissenschaft auch durch deren Interpretation in Kunst und Kultur äußerte.

Wien war ein multikultureller Schmelztiegel: Wissenschaft und Dichtung des Jungen Wien observierten die psychologischen Seiten der Menschen und erkannten die verschwiegenen und kaschierten Seiten der Menschen:

“[…] solid citizens beset with neurotic dreams, foot fetishes, molestations by relatives, and a host of paranoid fears and aberrant desires.”[4]

Das liberale Menschenbild wich einem psychologischen Menschenbild und dazu wirkten primär die Wissenschaft Sigmund Freuds und die Literatur des Jungen Wien und hinein. Diese Literatur umreißt Peter Sprengel:

„Die Erzählprosa Wiener Autoren zu Beginn des Jahrhunderts bietet formal wie inhaltlich ein uneinheitliches Bild. Neben der Fortschreibung, Trivialisierung oder Dogmatisierung bestimmter Tendenzen der Wiener Moderne gibt es diverse Formen der Abkehr von ihr: durch verstärkte Rückbindung an die Tradition oder durch gezielten Widerruf. Andere Autoren übernehmen spezifische Themen und Ansätze des jungen Wien auf veränderter Grundlage, so dass sich punktuelle Kontinuitäten zum Expressionismus ergeben. Das gilt in formaler Hinsicht vor allem für die Kurzprosa vom Typ der – zwischen Prosagedicht und Feuilleton changierenden – Skizze, inhaltlich etwa für die Dominanz der sexuellen und Kunst- bzw. Künstler-Thematik: Die Irrationalität des erotischen Erlebens und die produktive Existenz des Künstlers (oder die Selbststilisierung dazu) erscheinen als Fluchtwege aus der Normalität einer Bürgerlichkeit, die von den hier vorzustellenden Wiener Autoren ebenso übereinstimmend problematisiert oder abgelehnt wird, wie sie ihr selbst, nämlich ausnahmslos, entstammen.“[5]

Auch Stroheims Filme vermitteln ‚erotisches Erleben’, müssen zugleich auch als Selbstreflexion des Künstlers mit den Mitteln der literarisch-filmischen Umsetzung wie auch als Kontrapunkt von Bürgerlichkeit und Künstlertum verstanden werden. Doch nicht nur die Tatsache der Thematisierung der ‚Irrationalität erotischen Lebens’ ist im Hinblick auf die künstlerische Selbstverständlichkeit der Reflektion dieses Gegenstandes, die auch Stroheims Werk beherrscht, von Bedeutung, sondern auch der Moment, dass eine andere Seite des Stroheim’schen Charakterfundamentes durch die bürgerliche Erziehung konditioniert ist, die bestimmt ist von der Abkehr von ihr durch verstärkte Rückbindung an die Tradition oder durch gezielten Widerruf. Diese auch bei Stroheim zu erkennende Widersprüchlichkeit wird besonders seinen Aristokratie-Filmen Stoff für die Auseinandersetzung mit der Dekadenz der Herrscherklasse liefern. Doch trotz des progressiven Gedankens, den Status Quo seiner eigenen Klassenzugehörigkeit zu überwinden - den Gedanken des Wechseln Wollens in den Militär-Stand also - kann auf einen eher bürgerlichen Charakter geschlossen werden, denn gerade das Militär repräsentierte den Konservativismus der feudalen Machtstruktur. Ebenso kann hier das von seiner Heimatstadt beeinflusste Denken festgehalten werden.

Die Wechselseitigkeit von Lokalkolorit und literarischem Einfluss betont Adalbert Schmidt in seiner Arbeit über die Literatur Österreichs in dieser Zeit.

„Das Nacheinander der Generationen (im geistigen Raum) stellt sich oft als Nebeneinander dar. Verschiedene Lebensalter berühren sich, Werke und Wirkungen ihrer geistigen Repräsentanten greifen auch zeitlich ineinander. Neben dem Schaffen der Alten und Jungen steht das der Ältesten und Jüngsten und wirkt prägend mit am Antlitz einer Epoche.[…] Die Jahrhundertwende zeigt ein aus alten und neuen Zügen zusammengesetztes Gesicht. Überkommenes und unvermittelt Aufbrechendes stoßen hart aneinander. Die Haupt- und Residenzstadt Wien weitet sich zur Weltstadt und bewahrt doch ihre ländlich-idyllische Seele. Biedermeiersinn und Geschäftigkeit der Gründerjahre formen am neuen Wien. Zwischen der Stadt mit den Prunkbauten längs der Ringstraße und den dörflichen Gemeinden an den Weinhängen und Waldbergen entstehen die Vorstädte in einem nüchtern-sachlichen Gebrauchsstil […]. Aber Wien ist noch Wien – und diese Stadt versöhnlicher Besinnung inmitten des wilden Gewirrs der Gegensätze zieht die Auseinanderstrebenden immer wieder in ihren Bann. Wien gehört ihnen allen – und jedem in besonderer Weise.“[6]

Von einem anderen Ausgangspunkt aus versucht Emil Ertl (1860-1935) bei dem, „was an Kräften der Vergangenheit in diesem sterbenden Österreich zukunftsträchtig war, ins neue Jahrhundert hinüberzuretten. Es sind die Kräfte des Bürgertums, an die er sich dabei hält.“[7]

Das Nebeneinander zwischen Moderne und traditionellem Bürgertum bietet Stroheim Stoff für einige seiner Filme, insbesondere den in den europäischen Adelsklassen angesiedelten. Seine teilweise satirisch geprägten Figurenzeichnungen, mit denen er die Vertreter der Obrigkeit darstellt, ist dabei auch durch die Distanzierung der Sicht des amerikanisch geprägten Europäers zu deuten, welche die Dekadenz der feudalistisch strukturierten Gesellschaft mit einer teilweise durch seine Tätigkeit in Hollywood angenommenen filmischen Sicht beschreibt, die in Wien noch nicht derartig ausgeprägt war.

Die in Österreich vorherrschenden feudalistischen Machtstrukturen geben dem Militär eine omnipräsente Instanz. Der Autor Karl Ginzkey schildert in dem autobiographischen Buch Der Heimatsucher (1948) das Verhältnis des Militärs zum Bürgertum in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Adalbert Schmidt attestiert Ginzkeys Beschreibung der „Begegnung von Volk und Armee im verdämmernden Österreich, (das dieser) unter einem schönen Bild festgehalten“ hat, eine kennzeichnende Beschreibung der Wechselverhältnisse von Militär und Bürger, die mit der besonderen Bedeutung der Uniformen für die Wiener Mentalität verknüpft sind:

„Das Volk und die Armee! Auf einer meiner zahlreichen Entdeckungsfahrten hatte ich das Glück, die Zusammenfassung dieser beiden Begriffe in einem Bilde zu erleben, wie ich es mir farbiger und eindrucksvoller nicht hätte wünschen können. Ich war eines Sonntags, es war zu Sommeranfang und noch am frühen Nachmittag, an den Praterstern gekommen, der seinen Namen von der sternförmigen Anordnung der sechs großen Straßen ableitet, die sich in seinem Brennpunkte, dem Tegetthoff-Denkmal, schneiden. Aus allen Richtungen der Windrose strömte das Volk seinem alten getreuen Belustigungs-Ort, dem Prater, zu. Die Menge war so dicht, dass ich im einzelnen nicht viel übersah, und so verfiel ich auf den Gedanken, mich auf die Stufen des Tegetthoff-Denkmals hinaufzustellen, und von dort war mir nun Gelegenheit geboten, in einem unvergesslichen Bilde den Geist der Verträglichkeit und des vergnügten Zusammenhalts zu ahnen, der Österreichs im Kern so verschiedene Völker zu dieser Feiertagsstunde immer noch einte. Es waren nicht die bunten Uniformen der Soldaten allein, all die in der Sonne glitzernden, so verschiedenen Abzeichen ihrer Waffengattung und ihrer kriegerischen Würde; nicht minder, ja noch lebhafter leuchteten die freudig verwegenen Farben der sie begleitenden Weiblichkeit auf, der Schwestern, Bräute und Sonntagsliebchen der wackeren Soldaten, und sie waren meist in ihren prächtigen Nationalkostümen erschienen, Töchter all der verschiedenen Völkerschaften, die ihre dienstbare weibliche Jugend als Köchinnen, Ammen und Dienstmädchen der gastlichen Reichshauptstadt anvertraut hatten, so wie sie ihre Söhne der Armee überantworteten. Alles dies strömte nun unablässig an mir vorbei der unsterblichen Zauberbuden- und Tanzwelt des Wurstelpraters zu, der ihnen seinen vielverheißenden musikalischen Wirrwarr auf Flügeln eines verliebten Sommerwindes entgegen trug. – Mir aber war, bei Gott, zumute, als nähme ich so für mich allein eine Parade des alten Österreich ab, das immer noch im Bilde bestand, feierlich und friedlich zugleich.“[8]

Die Beschreibung dieser Militärparade vermittelt einen Eindruck des Lokalkolorits, welches auch Stroheim geprägt hat; in THE WEDDING MARCH veranschaulicht Stroheim diese Atmosphäre durch den frühen Einsatz von Technicolor.

Stroheim weist auf, was das von der Zeit bedingte Ergebnis der Befindlichkeit der Zeitgenossen, gleich was auch immer sie taten, war. Er hatte das Wiener Gefühl anhand eines an Karl Kraus erinnernden satirischen Humors, der Teil der Wiener Mentalität ist, zynisch und bissig auf filmischer Ebene wiedergegeben[9]. Thematisch und stilistisch führte er dies durch die keine gesellschaftliche Schicht verschonende satirische Reflektion in der Zeichnung und Darstellung seiner Figuren durch. In seiner Selbstdarstellung übernahm er die den Vertretern der österreichischen Machthierarchie zueignen Attribute, die er durch seine zur Schau getragenen Uniformen überspitzt karikierte.

Stroheim, der in Wien „ohne Zweifel Konzerte, Opern und Theaterstücke besucht“[10] hatte, kannte moderne Künstler wie Gustav Mahler, Richard Strauss und Arthur Schnitzler und war mit dem von dargestellten Milieu vertraut.

Peter Sprengel schreibt über Schnitzler:

„Die Texte Arthur Schnitzlers aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg führen einen Gattungstyp fort, der schon die Anfänge seines Erzählwerks in den neunziger Jahren charakterisierte: die novellistisch zugespitzte Skizze zur Exponierung eines psychologischen oder psychosozialen Problems, oft mit einer gewissen Heiterkeit oder einer ironischen Pointe vorgetragen. Die alternative Option einer erzählerischen Großform im Dienste der akribischen Gestaltung eines seelischen Konflikts in der Kontinuität seiner Entwicklung, erstmals in STERBEN erprobt, wird mit der bedeutenden Erzählung FRAU BERTA GARLAN (1901) erneuert und bildet spätestens seit der thematisch verwandten Großerzählung FRAU BEATE UND IHR SOHN (1913) den dominierenden Typ Schnitzlerscher Prosa.“[11]

Auch Stroheim vermittelt mit psychologischer Tiefe betrachtete Personen-, Handlungs- und Zustandsbeschreibungen, um deren Empfindungsnuancen auf visuell-narrativer Ebene zu öffnen. Dies wird beispielsweise durch einen wiederkehrenden Blick der Betroffenen - wehrlose weibliche Figuren - erreicht: durch die Überwindung der Trennung der Perspektive von Zuschauer und Figur, verbunden mit der Darstellung der Augen, die deutliches Zeugnis von deren Gefühlen ablegen, empfindet der Betrachter die Tiefe der Emotionen äußerst intensiv.

Die von Sprengel angesprochenen Methoden der „novellistisch zugespitzten Skizze zur Exponierung eines psychologischen Problems“ oder der „alternativen Option einer erzählerischen Großform im Dienste der akribischen Gestaltung eines seelischen Konflikts in der Kontinuität seiner Entwicklung“ weisen als literarische Darstellungsmöglichkeiten der inneren Konflikte Gemeinsamkeiten mit Stroheims psychologischen Zeichnungen. Die scheinbar unbedeutenden Ereignisse, Gesten und Verhaltensschemata oder die Verfolgung der Figuren in den Räumen, mittels langer Einstellungen, innerhalb ihrer zwischenmenschlichen Konflikte sind Ausdrucksmöglichkeiten der filmisch-visuellen Enthüllung der Eigentlichkeiten der Figuren.

Auch die Ironie des Satirikers Karl Kraus bildet eine von Stroheim angewandte Reflektionsmöglichkeit im Rahmen seiner Figurenzeichnungen. Karl Kraus war ein zynischer Kritiker des alten monarchischen Wertekanons. Josef Rattner zitiert in einem Aufsatz über Kraus Erich Heller, der u. a. darauf hinweist, dass

„Erich Heller in seinem Aufsatz Karl Kraus (in: Die Wiederkehr der Unschuld) beschreitet einen ähnlichen Denkweg, indem er darauf hinweist, dass Kraus einer Generation von ‚Analytikern der Dekadenz’ innerhalb der Habsburger-Monarchie angehörte, die teilweise jüdischen Ursprungs waren und meistens aus dem Bürgertum oder Großbürgertum stammten, dem sie als Künstler oder Wissenschaftler in irgendeiner Form den Rücken kehrten. Diese hochgebildeten Neuerer oder Rebellen […] hatten noch eine solide bürgerliche Ausgangsbasis, eine Sozialisation nämlich, die einen innengelenkten Charaktertypus (D. Riesman) ermöglichte.“[12]

Man erkennt die Wichtigkeit der Bedeutung der Außenseiterrolle des Juden in der von christlichen Wertmaßstäben bestimmten Gesellschaft. Die von Rattner angeführten teilweise jüdischen Künstler und Wissenschaftler sind Franz Kafka, Gustav Mahler, aber auch Arthur Schnitzler. Es sind „Neuerer und Rebellen“, wie der Autor bemerkt, also Künstler, die, bedingt durch ihren Status der Nichtzugehörigkeit zur christlichen Gesellschaft, diese durch eine emotionalere Sichtweise reflektierten.

So hatte Arthur Schnitzler zu Beginn des 20. Jahrhunderts das von einem militärischen Denken beherrschte Zusammenleben mittels einer literarisch dargestellten psychologischen Tiefe umrissen. Seine Erzählung ‚Leutnant Gustl’ legt offen, dass das Militär - und damit die militärische Präsenz der monarchischen Herrschaft – sich zu blinder Gewalt mit dem Anschein von Ehre und formaler Einhaltung der entsprechenden Rituale, also zu einem reinen Selbstzweck, entwickelt hat. Schnitzler stellt die Selbstverständlichkeit des Militärs und dessen Gewalt in Frage, wohingegen bei Stroheim die Darstellung des Militärs als Ausdruck der Macht, der staatlich organisierten Gewalt oder auch der Täuschung eingesetzt wird. Dass die Uniform eine leere Hülle ist, deren Attribute von Ritterlichkeit und Ehrhaftigkeit um die Jahrhundertwende kaum noch zutreffen, konstatiert Elisabeth Madlener in ihrem Essay „…Die Duellfrage ist in ihrem Kern eine Sexualfrage“:

„Kritische Geister wie beispielsweise der Historiker Georg von Below [bezeichnen] „die verbreitete Meinung von dem deutsch-ritterlichen Ursprung des Duells als Legende“ und konstatieren, dass bereits im 19. Jahrhundert von seiner Ehrbarkeit gezehrt wird, da es in den meisten Fällen zweideutige und unmoralische Affären heiligen sollte.“[13]

Von besonderem Einfluss auf die Filme Stroheims war die Verwissenschaftlichung des Unbewussten durch Sigmund Freud. Schnitzler arbeitete die Theorien seiner Wissenschaft in eine literarische Form. Sowohl Freud wie auch Schnitzler lebten in Wien, nahmen jedoch trotz bestehender Geistesverwandtschaft kaum Kontakt miteinander auf. Freud schrieb jedoch im Jahr 1922 einen Gratulationsbrief an Schnitzler zu dessen sechzigstem Geburtstag, worin er dessen literarische Motive anspricht:

„[...] ich habe immer, wenn ich mich in ihre schönen Schöpfungen vertiefe, hinter deren poetischem Schein die nämlichen Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse zu finden geglaubt, die mir als die eigenen bekannt waren. Ihr Determinismus wie ihre Skepsis – was die Leute Pessimismus heißen -, Ihr Ergriffensein von den Wahrheiten des Unbewussten, von der Triebnatur des Menschen, Ihre Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten, das Haften ihrer Gedanken an der Polarität von Lieben und Sterben, das alles berührte mich mit einer unheimlichen Vertrautheit.“[14]

Die „Wahrheiten des Unbewussten“, die „Triebnatur des Menschen“, die „Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten“ und die „Polarität von Lieben und Sterben“ sind Motive Freuds, die Stroheim in unterschiedlicher Ausprägung den Motiven seiner Handlungsträger innerhalb ihrer besonderen Antriebe zuordnet.

Wien war die Stadt, in der die wissenschaftliche Strömung der Psychoanalyse besonders intensiv fokussiert wurde. Freud „wagte zu fragen, ob und wie körperliche Symptome auf geistig-seelischen Ursachen beruhen könnten.“[15]. Seine Wirkung hatte in der Zeit der Jahrhundertwende, als die Ideenwelt des Positivismus durch ihn auch auf die menschliche Psyche übergriff, eine nachhaltige Wirkung, die sich auch im Übergreifen auf die Literatur äußerte. Freud, der „dem Zeitgeist folgte“[16], hatte einen „unbestrittenen Einfluss […] auf sämtliche Bereiche unseres Alltagslebens: Gesellschaft, Kunst, Sprache, Familienbeziehungen“[17]. Dies trifft auch auf die Situation im Europa der Jahrhundertwende zu, denn er war „zum Propheten einer quasireligiösen Strömung geworden“[18], der durch seine Ideen erreichte, dass die „Psychoanalyse […] rasch den Ruf einer Befreiungsbewegung [erwarb], die mit den Verklemmungen des untergegangenen Kaiserreichs aufräumt[e]“[19]. Zudem untersuchte Freud auch „die weibliche Sexualität, die bis dahin nur dazu diente, Kinder zu zeugen“[20]. Dass Stroheims Blick dahingehend sensibilisiert war, lässt sich an seinen Filmen erkennen. Insbesondere das künstlerisch motivierte Behandeln des Erotischen und der freizügigen Aussprache der Triebnatur, wie es bei Ibsen oder Schnitzler geschieht und in Europa der Bestandteil eines sich weiterentwickelnden Kunstschaffens und einer wissenschaftlichen Strömung war, wurde in den USA zu einer Unsittlichkeit abgestempelt. Stroheim selbst bestätigt dies in der Negation durch einen Aufsatz aus den 40er Jahren, in dem er die überspitzte Sittlichkeit der puritanischen Haltung in den USA beschreibt:

„Bei meiner Ankunft in den Vereinigten Staaten im Jahre 1909 war es noch üblich, von Beinkleidern anstelle von Hosen und von Gliedmaßen anstelle von Beinen zu sprechen. Die schlimmsten Flüche lauteten „Gol darn it! “ – „By heck!“ und „Son of a gun!”. Die bloße Tatsache, dass diese Redewendungen, phonetisch gesprochen, denen schrecklich nahe kamen, die wirklich gemeint waren, zeigt die Heuchelei bei ihrer Anwendung. Die verhüllende Bekleidung, die beide Geschlechter beim Baden trugen, die Länge der Damenröcke und der Petticoats sprechen für sich. Eine Frau, die ein alkoholisches Getränk zu sich nahm oder die in der Öffentlichkeit rauchte, wurde als Prostituierte angesehen.“[21]

Aus dieser Zeit heraus betrachtet werden die Skandale, die seinen Filmen folgten und in den Vereinigten Staaten üblich waren, evident. Die Offenheit für künstlerische Entwicklungen, die Europa zu einem kulturellen Zentrum der westlichen Welt machte, war für Stroheims Betrachtungsweise ein feststehender Status. Diese Aufgeschlossenheit ließ ihn, im Gegensatz zu anderen Filmschaffenden seiner Zeit, Schaustellungen und Verhüllungen, aber auch erotisch bedingte Handlungsmotivationen wesentlich offener begegnen und sie in seine Filme involvieren.

Auch in der Schnitzler’schen Verbindung von psychologischer Tiefe und oberflächlichem Glanz findet Stroheim Stoff für die Darstellung der unterschiedlichen Ausbildungsformen menschlicher Abgründe, die er den Themen und Motiven seiner Filme zuordnet. Dabei weisen Themenwahl oder Stilistik der Wiener Autoren mit den entsprechenden Merkmalen innerhalb der Filme Stroheims nicht nur oberflächliche Verwandtschaften auf - sie zeugen eher von einer tieferen Sicht des Regisseurs, die mit den Motivationen der zeitgenössischen Autoren deutliche Verbindungen aufweist.

Stroheims Filme thematisieren das Alte Wien mit einer die Vertreter der Monarchie psychologisch durchleuchtenden Beschreibung. Die Monarchien Europas waren in ihrer Entwicklung stagniert und auf einer Stufe der Übergewichtung nationaler Wertigkeiten stehen geblieben. In der Zuspitzung der national-monarchistischen Grundstimmung entwickelte sich ein allmählicher Auflösungsprozess, der sich in einer Überschätzung der eigenen Macht, forciert durch eine offensive Militarisierung, äußerte. Im Verhöhnen der Schattenseiten des Militaristischen greift Stroheim die Wirkung des Militärs an und deckt so das Element auf, welches die überzogene Wertung der Uniform aus dem allgemeinen Auflösungsprozess der Monarchie in Wechselwirkung entstehen lässt. Das dem Volk gegebene nationale Gefühl, unterstrichen durch die Omnipräsenz des Militärs und dem Wissen um die eigene Unbesiegbarkeit, lässt im durchschnittlichen Bürger des Staates eben diesen irrationalen Nationalismus entstehen, der sich im Feiern des eigenen Volkes äußert und im Notfall auch mit der Waffe verteidigt wird. Stroheim als ein von dieser überspitzten Kultivierung des Glanzes von Uniform und Monarchie direkt betroffener Wiener Bürger hatte in der Absenz dieser Stimmungen in den USA demgegenüber ein pragmatisches Verhältnis eingenommen, wie ich in Folge darlegen werde.

2. Leben und Werk Erich von Stroheims

In diesem Abschnitt werden die wechselseitigen Bedingungen der Faktoren seiner Biographie, seines kulturellen Hintergrundes durch seine Kindheit und Jugend in Wien und deren Einflüsse innerhalb seiner Filme als Regisseur, aber auch als Darsteller und Schöpfer seines eigenen Idealbildes veranschaulicht werden. Sie liefern die Grundlage für das Verständnis der in den folgenden Teilen erörterten Zentralelemente der thematisierten europäischen Klassenkonflikte und schließlich der psychologischen Figurenzeichnungen innerhalb eines konkret beschriebenen Prozesses der Veranschaulichung der internen Handlungsmotive seiner Figuren.

2.1. Biographie

Erich von Stroheim wurde am 22.September 1885 als Sohn des Kaufmanns Benno Stroheim und dessen Frau Johanna Bondy geboren. Beide Elternteile waren jüdischen Glaubens. Als Sohn jüdischer Kaufleute – sein Vater war Hutmacher und hatte ein Geschäft – verkehrte er nicht in den Kreisen, mit denen er seinen späteren Aussagen zufolge Umgang hatte. Auch sein wenig aristokratischer Akzent wies ihn als Kleinbürger aus und erschwerte einen Aufstieg in höhere Gesellschaftsschichten.

Von 1901 bis 1904 studierte er an der Grazer Handelsakademie und wohnte bis 1906 in Graz. Er hatte in dieser Zeit mehrere Kontakte mit dem Militär. Im Zeitraum von 1906 bis 1907 versuchte er erstmalig, in die Armee einzutreten, wurde jedoch als untauglich erklärt und zurückgestellt. Er konnte nur in die Armee eintreten, indem er sich auf eigene Kosten in sie einkaufte. So wurde er im Dezember 1906 als freiwilliger Gefreiter in die Armee aufgenommen und im April 1907 als Invalide, „unfähig, Waffen zu tragen“[22], wieder entlassen. Auch ein dritter Versuch in die Armee einzutreten, der 1908 erfolgte, blieb erfolglos. Im selben Jahr konvertierte er zum Christentum.

Schon der Überblick auf Stroheims Wiener Jahre lassen mehrere Motive, die in seinem späteren Filmschaffen eine Rolle spielen, erkennbar werden, nämlich Kirche und Religiosität als Fessel und Dogma des Individuums sowie Militär als Repräsentant der feudalen Machtstruktur wie auch der Zurschautragung eines zwiespältigen Scheins. Besonders die von ihm bewunderte Montur des Militärs wird Stroheim als Darsteller von Offizieren und anderen Uniformträgern wie auch als Regisseur durch subtile Einblicke in die Charaktere unter dieser Hülle zum Hauptthema seiner Filme machen.

Stroheim arbeitete eine Zeit lang im Laden seines Vaters, nachdem er seine militärischen Bestrebungen aufgegeben hatte, doch im April 1909 ging sein Vater in Konkurs. Stroheim verließ Wien und erreichte Amerika am 26. November 1909.

Er lebte in New York in ärmlichen Verhältnissen und wechselte häufig seine Jobs. 1913 heiratete er Margaret Knox. Ihr gegenüber gab er bereits militärische Ränge vor, die er nicht hatte. Die Ehe wurde im Mai 1914 geschieden. Im Sommer dieses Jahres arbeitete er erstmals bei den Dreharbeiten eines Films mit: Es war Birth Of A Nation (1914/15, Regie: David Wark Griffith), wo er lediglich als Stuntman mitwirkte, und so, nach mehreren Beschäftigungen abseits der Filmbranche, beschloss er, eine filmische Laufbahn in Hollywood zu beginnen.

Anfänglich wirkte Stroheim in kleinen Produktionen mit, in denen er Handwerk, Technik, filmische Wahrnehmung und letztlich auch den modus seiner Selbstdarstellung zu beherrschen und perfektionieren lernte. Dabei machte es ihm eine fingierte militärische Laufbahn in Österreich leicht, entsprechende Jobs, etwa als militärischer Berater, zu bekommen, um auf diese Weise zusätzliche Erfahrungen bei der Film-Produktion zu machen. Hierbei ließ er sich von D.W. Griffith, bei dem er zwar anfänglich nur an drei Filmen als Komparse mitwirkte, später jedoch als technischer Direktor und Militärberater mitarbeitete, durch dessen akribisches Streben nach Authentizität beeinflussen. Von John Emerson, dem Regisseur von sechs Filmen zwischen 1915 und 1917, in denen Stroheim jeweils Nebenrollen hatte, lernte er das technische know how.

In der Gesamtheit der Nebenrollen zwischen 1915 und 1919, in denen er auf sein Image als Typ des preußischen Offiziers reduziert war, liegt die Grundlage des Hass-Images von Stroheim, das er ausbaute, bis er durch den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg zur endgültigen Gestalt des man you love to hate wurde. Diese klischierten Rollen des Hunnen-Typus war eine Ausweitung seiner selbst geschaffenen Figur, die für ihm die Möglichkeit bot, nicht in der Anonymität, die sein Leben in Wien geprägt hatte, unterzugehen. Die Rolle als ‚von’ Stroheim war ein Ausdruck seines Neuanfangs. Davon ließ er auch in seinem privaten Umfeld nicht ab und schließlich konstruierte er die Figur, die er in Hollywood durch sein Image perfektionierte:

“in America, he could be reborn. He would be an aristocrat, a high-ranking army officer, and a Catholic. [...] He crowned himself von, and he would live up with a vengeance.”[23]

Auch nahm er so die Antifigur des Feindes der Amerikaner, wie sie im Ersten Weltkrieg vorherrschte, an. Damit hatte er zwar die Anonymität überwunden, zugleich jedoch auf das Image dieser Gestalt reduziert. Doch in einem Land, welches relativ uninformiert über die Besonderheiten der europäischen Kultur war, konnte ein – wenn auch selbsternannter – Experte des europäischen Militärwesens, mit einem guten Darstellungstalent begabt, viel erreichen. Zudem verdiente er Geld und war dem ärmlichen Milieu, in dem er in seinen Anfangsjahren in den Vereinigten Staaten lebte, entronnen.

Seine vom Kriegsgegner durch Namen, Erscheinung, Kleidung und Verhalten geprägte Erscheinung war eine bewusste Provokation,

“a risky way of getting attention, but von Stroheim always took advantage of the opportunity to live dangerously”[24],

die auch für seine Filme als Regisseur zutraf. Dabei setzte er die Mittel der Filmindustrie und Publicity gezielt ein. Er wusste, welches Potential der Manipulation der Film hatte und verband es mit seiner selbst geschaffenen Figur als Hunne. Diese Figur war nach Beendigung des Ersten Weltkrieges natürlich nicht mehr gefragt. Die bis dahin erworbenen Kenntnisse setzte Stroheim in seinen nun folgenden eigenen Regie-Arbeiten progressiv ein und sein europäischer Hintergrund würde seine Arbeiten als Regisseur, aber auch als Darsteller beeinflussen.

Seine ab 1917 gedrehten Filme waren dabei durch die nun stärkere Akzentuierung seiner Nebenrollen am einflussreichsten für seine weitere Laufbahn. In HEARTS OF THE WORLD (1918, Regie: D.W. Griffith) spielte er eine tragende Rolle und wirkte als technischer Direktor und militärischer Berater mit. In THE HEART OF HUMANITY (1919, Regie: Allen Hollubar) spielte er seine erste Hauptrolle. Auch in dem Film SYLVIA OF THE SECRET SERVICE (1917, Regie: George Fitzmaurice) hatte Stroheim eine wichtige Rolle und die Regie-Assistenz. Der Kameramann Arthur Miller hebt hier Stroheims „considerable knowledge of German militarism“[25] hervor, der sich mit seinem Fanatismus um Transparenz verbindet. Es musste alles original sein: die Unterwäsche, der Kaviar, der Champagner. Die Wahrhaftigkeit der Darstellung von Ox-Blood und Kaviar zu Beginn von FOOLISH WIVES liegt in Stroheims Augen darin, dass die Wahrhaftigkeit der Einstellung erst dann greifbar wird, wenn die dargestellten Objekte echt sind, nicht jedoch ähnlich aussehende Nachbildungen sind.

„Ihre Eleganz und Opulenz, die sprichwörtliche Akribie und Perfektion, vor allem aber ein hypernaturalistischer Gestaltungswille, der selten in der Abstraktion der Montage seine Repräsentanz fand, aber um so häufiger in der direkten Eins-zu-eins-Wiedergabe der inszenierten Realität, bleiben beispiellos in der Filmgeschichte.“[26]

Die für diese wahrhaftige Milieuzeichnung notwendige Vertrautheit mit den Wiener Milieus wie auch seine Lehrjahre bei Griffith lieferten Stroheims Filmen das empirische und praktische Potenzial, seinen charakteristischen Stil der Authentizität auf die Leinwand zu bringen, um eine wirkliche Glaubwürdigkeit zu erreichen.

Mit seinem ersten Film als Regisseur, BLIND HUSBANDS (1919) wurde Stroheim über Nacht berühmt und erhielt weitere Filmaufträge. BLIND HUSBANDS ist der einzige größtenteils in vorgesehener Länge vorhandene Film Stroheims. Von seinem zweiten Film, THE DEVIL’S PASSKEY (1919) lässt sich keine Kopie nachweisen. Sein dritter Film, FOOLISH WIVES (1920/21), dessen Produktionskosten durch Stroheims Sorgfalt um Authentizität, die stellenweise an Maßlosigkeit grenzte, in Millionenhöhe stiegen, wurde von der vorgesehenen Länge von sechs Stunden auf ca. zwei Stunden gekürzt. Bis auf THE DEVIL’S PASSKEY spielte Stroheim stets selbst die Hauptrollen der uniformierten Verführer und hätte dies auch bei seinem vierten Film MERRY-GO-ROUND (1922/23) gemacht, wenn der Produzent Irving Thalberg nicht darauf bestanden hätte, die Hauptrolle mit einem anderen Darsteller zu besetzen. Nur auf diese Weise konnte man ihm im Falle des Übersteigens der vorgesehenen Produktionszeit und -kosten die Regietätigkeit entziehen, denn mit Stroheim als Schauspieler war man zugleich gezwungen, ihn auch als Regisseur zu beschäftigen. Damit wurde die Rolle, für die Stroheim eigentlich sich selbst vorgesehen hatte, mit dem Schauspieler Norman Kerry besetzt. Infolge Stroheims Bestreben, seine Heimatstadt Wien möglichst perfekt wiederzugeben, verlor er sich in der Akribie des angestrebten Vollkommenen. Er verlor den Sinn für Geschlossenheit, neue Bilder und Szenen wurden zusätzlich gedreht und bereits gedrehte Szenen wurden erweitert. Stroheims Haltung war die der Missachtung der finanziellen Seite der Produktion, denn er wollte ein totales Kunstwerk schaffen, durch welches er die Stimmung der Bewegung Wiens filmisch umsetzen wollte. Da hierdurch die Vorgaben überstiegen wurden, entzog Irving Thalberg ihm die Regie. Daraufhin wechselte Stroheim das Studio, um nunmehr bei der Goldwyn-Company den Film GREED (1923) zu drehen. Der Film entstand an Originalschauplätzen in San Francisco und bemühte sich um eine wirklichkeitsgetreue Umsetzung der Romanvorlage McTeague von Frank Norris. Dieser Film hätte in der von Stroheim vorgesehenen Fassung eine Dauer von ca. neun Stunden gehabt, die, nachdem der Film mehrfach geschnitten wurde, nur noch ca. zwei Stunden betrug. Stroheim äußerte sich dazu später:

„Als ich gesehen hatte, wie die Zensoren meinen Film verstümmelt hatten, dem meine ganze Liebe gehörte, gab ich alle meine Ideale und Träume, wirklichkeitsnahe künstlerische Filme zu schaffen, auf. Jetzt werde ich nach Bestellung Filme machen.“[27]

Somit war sein darauf folgender Film die Verfilmung einer Operette von Franz Léhar, THE MERRY WIDOW (1924/25), den er als Auftragsarbeit drehte. Er war sein kommerziell erfolgreichster Film. Spurenelemente seiner authentischen Darstellung, wie sich im Schmutz bewegende Schweine oder die Darstellung eines perversen Millionärs, geben THE MERRY WIDOW teils authentische, teils satirische Attribute. Der darauf folgende Film war THE WEDDING MARCH (1926/27). Trotz seiner Resignation aufgrund der Verstümmelung von GREED wurde dieser Film, in dem er auch selbst die Hauptrolle übernehmen konnte, ein Höhepunkt seines Schaffens. The Wedding March erweitert den Stoff von MERRY-GO-ROUND und verlagert die konzentriert die Handlung auf den Prozess der Wandlung der Hauptfiguren innerhalb der Entwicklung ihrer klassenübergreifenden Liebe. Auch dieser Film existiert nur in fragmentarischer Form.

„Die Produktion des Films dauerte alles in allem acht Monate, und die Kosten überstiegen nicht 1¼ Millionen Dollar, und dennoch beschuldigte man Stroheim, er verschwende Zeit und Geld. Den Schnitt des zweiten Teils THE HONEYMOON (oder THE MARRIAGE OF A PRINCE) übergab man zuerst Sternberg und dann einem gewissen Julian Johnston. […]. Stroheim hat sich von der Autorenschaft des verstümmelten Films öffentlich distanziert, denn bei den Kürzungen ist nicht nur der Charakter der vorkommenden Gestalten geändert worden, sondern teilweise auch die Fabel.“[28]

Der letzte ausschließlich von Stroheim selbst in Szene gesetzte Film, der auch sein letzter Stummfilm war, trug den Titel QUEEN KELLY (1928/29). Stroheim drehte den Film als Auftragsarbeit für den Star Gloria Swanson nach einem eigenen Drehbuch. Dieser Film beschreibt die Entwicklung einer in einer Klosterschule aufwachsenden Waisen, die sich durch männliche Lust und eigene naive Unschuld zu der Besitzerin eines Bordells wandelt. Nach etwa ⅓ des Films wurde die Produktion unterbrochen, teilweise aus Gründen einer möglichen Zensur, teilweise durch das drohende Aufkommen des Tonfilms. Der Film wurde später mit einer die Handlung des Films im Sinne Stroheims ignorierenden Struktur und wesensfremden Synchronisierung ohne des Regisseurs Autorisierung veröffentlicht.

In diesen drei letzten Filmen

„kommt Stroheims Qualität als Regisseur und Schöpfer zum Ausdruck. Einerseits stellt er die kaiserlich-königliche Herrschaft als lächerlich und sinnlos bloß, andererseits begibt er sich als sentimentaler Tourist in das Land seiner Jugendzeit. Daher rührt die Zwiespältigkeit der Filme, in denen zum ersten Mal neben der unbarmherzigen Satire echte Gefühle und Sympathie zu den Helden zu spüren ist, wenn sie ihre Maske haben fallen lassen.“[29]

Nachdem er schließlich den Film WALKING DOWN BROADWAY (1932/33) gedreht hatte, der jedoch nicht als ein für Stroheim typischer Film gilt und darüber hinaus von den Regisseuren Alfred Werker und Edwin Burke fertig gestellt wurde, drehte er nur noch in seiner Eigenschaft als Darsteller, u. a. mit Jean Renoir (LA GRANDE ILLUSION, 1937) und Billy Wilder (SUNSET BOULEVARD, 1950). Die meisten dieser Filme drehte er jedoch lediglich aus finanziellen Gründen und sind Variationen des Offizierstypus.

„Sieht man die Kontinuität seiner Auftritte als Darsteller in Filmen von Wiene, Wilder oder Anthony Mann, wird der große Einfluss augenfällig, den Stroheim auf seine Regisseure ausübte. Fast immer durfte er in der ersten Einstellung eine Zigarette rauchen, kärgliche Frisur und Phantasieuniform trotzten beharrlich dem Einfluss übel meinender Masken- und Kostümbildner. Stroheim inszenierte sich selbst, auch wenn er nicht Regie führte. Die schönste dieser Rollen ist wohl die des Bauchredners mit gerochenem Herzen in seinem ersten Tonfilm THE GREAT GABBO (1930, Regie: James Cruze).“[30]

Am 12. Mai 1957 starb er, enttäuscht von seinem Leben, im Château Maurepas.

2.2. Die Filme: Eine Einführung

In der folgenden Einführung in Stroheims Filme werde ich die von Stroheim vorgesehenen, nicht jedoch filmisch erhaltenen Handlungsabläufe darstellen, da nur anhand dieser Beschreibungen eine Annäherung an die filmischen Gedanken Stroheims erfolgen kann.

Seine ersten Filme beschreiben auf direkte Weise innereheliche Konflikte. Zugleich sind sie auch eine Betrachtung der amerikanischen Gepflogenheiten am Beispiel mehrerer Ehepaare. Die Trilogie BLIND HUSBANDS (1919), THE DEVIL’S PASSKEY (1919) und FOOLISH WIVES (1920/21) stellt die durch Krisensituationen entstehenden Konflikte amerikanischer Ehepaare im europäischen Ausland dar. Die Ursachen liegen in der Achtlosigkeit der Ehemänner, der Bewusstwerdung der Vernachlässigung ihrer Ehefrauen und der durch eine kontinentale Nonchalance verschleierten Lüsternheit der Nebenbuhler, welcher der Ehefrau

„kunstvoll all die kleinen Aufmerksamkeiten [widmete], die der ‚blinde’ Ehemann in seiner Selbstgefälligkeit vernachlässigte. So stand er in scharfem Gegensatz zu dem Ehemann, der als tumber und ungeschliffener Tugendbold erscheint, während er selbst den ritterlichen […] Liebhaber darstellte, dessen Verlockungen die einsame amerikanische Ehefrau fast erliegt.“[31]

Die Varianten der Behandlung der zwischenmenschlichen Beziehungskon-stellationen in diesen Filmen dienen der Fokussierung der Mentalität der amerikanischen Eheleute: als blind husbands oder foolish wives – Blindheit und Torheit sind die die Beziehung der Eheleute bestimmenden Bedingungen der amerikanischen Mentalität, die Stroheim in diesen Filmen anhand von Dreiecksbeziehungen beschreibt. Diese verarbeitet er auch in GREED: die Handlungsträger sind dabei motiviert von monetären Begierden und atavistischen Trieben. Diese werden mittels einer realistischen Darstellungsweise beschrieben, wodurch Stroheim die Schattenseiten der in Amerika als unantastbar geltenden familiären Strukturen des Kleinbürgertums sezieren konnte.

Das Moment der Dreiecksbeziehung wird in seinen Aristokratie-Filmen dagegen nur sekundär thematisiert. Es dient vielmehr als Hintergrund für die sich aus vielfältigeren Motiven zusammensetzenden Handlungen: als Widerstand gegen die Erfüllung der Liebe zwischen den gesellschaftlichen Klassen, wie Stroheim es insbesondere in THE WEDDING MARCH einfühlsam beschreibt. QUEEN KELLY ist der Film innerhalb seines Gesamtwerks, worin die Dreieckskonstellation der Protagonisten am schwächsten ausgeprägt thematisiert wird. Stroheim konzentriert sich hier alleine auf die Beziehung der Figuren innerhalb ihrer Klassenzugehörigkeiten und ihrer Determination durch die Religiosität.

Es sind in diesen Filmen vor allem die Thematisierungen der zwischen den gesellschaftlichen Klassen entstehenden Liebe und den damit einhergehenden Hindernissen. Erst wenn die Verständigung des Paares das (durchaus berechtigte) Misstrauen überwunden hat, kann eine unvoreingenommene und ehrlich gemeinte Annäherung stattfinden. Dem wiederum stehen die Widerstände von Seiten der Vertreter aus den eigenen Schichten entgegen. Die Widerstände liegen auf der Seite der Erbfolge, Staatsraison, der finanziellen Notwendigkeit und drücken die Starrheit der in einer anachronistischen kontinentalen Aristokratie sich entwickelt habenden Konvention aus. Die subjektiv motivierten Ursachen dieser Hindernisse, Antipathie oder Eifersucht, stehen den politischen Widerständen gegenüber. In Queen Kelly variiert Stroheim diese subjektiven Momente. Es sind hier die strenge Religiosität des Klosters, welche die Handlungsträgerin Kelly einschränkt, verstößt und zu einer Bordellbesitzerin werden lässt.

Durch die sich entgegenstehenden Milieus – hier der Adel, dort das Bürgertum, bzw. das Kloster – war es Stroheim möglich, die Konflikte, die er selbst in seiner Wiener Zeit hinnehmen musste, darzustellen. Auch konnte er durch die Zeichnung beider Milieus stereotype Charakterzuweisungen umgehen und seine europäischen Hintergründe in die Schilderung einfließen lassen – dies war ein Beweggrund für die Wahl seiner Sujets und entsprach seinem Streben nach Authentizität.

Die Ausnahme hiervon bildet GREED – nicht alleine, weil dieser Film nicht in Europa angesiedelt war, sondern vor allem in der Akzentuierung des sozialen Hintergrundes der Hauptfiguren:

„Der Film […] ist ein Extrakt von Schmutz, Depressionen und einem entsetzlichen Bild von einer entrechteten menschlichen Natur. Aber es ist gleichzeitig eine scharfe unbeugsame Wahrheit, ein Extrakt von Realismus, ausgedrückt mit mächtigen filmischen Mitteln. […] Stroheim hat unzweifelhaft die Typen seiner Helden wie auch ihre Reaktionen überzeichnet. Aber einem Künstler muss es gestattet sein, typische Erscheinungen mit krassen Farben zu zeichnen, und nichts ist für Amerika typischer als der moralische Zerfall durch die Jagd nach dem Geld.“[32]

Der Amerikaner aus der amerikanischen Trilogie wird nunmehr zum zentralen Objekt der filmischen Beschreibung, dabei jedoch wesentlich intensiver dargestellt, da er in seinem Milieu agiert und nicht in dem für ihn fremden Europa. Es wird das Milieu der Mittel- und Unterschichten beschrieben und innerhalb dieses Milieus die Entwicklungen unterschiedlicher Charaktere.

Stroheim, der in seinen Filmen durch filmische Mittel die Befindlichkeit der Figuren auslotet, verwendet dafür nicht nur Milieuschilderungen und die Darstellung zwischenmenschlicher Verhaltensmuster, sondern auch in der Handlung selbst liegende Beschreibungen. Deutlich wird dies durch die Figuren der Brüder Mirko und Danilo in THE MERRY WIDOW, die in der Vorlage auf eine Figur konzentriert sind. Stroheim spaltet durch eine vor die Handlung der Operette gesetzte Vorgeschichte, so dass die Hauptfigur Danilo durch einen Zwillingsbruder, Mirko, erweitert wird. Bevor sich die abschließende Lösung des Konfliktes entwickelt, müssen die Brüder gegeneinander und damit gegen sich selbst kämpfen. Somit ist schließlich festzuhalten, dass Stroheims Filme primär die Tiefenstrukturen seiner Figuren beschreiben, dagegen weniger die Grundhandlung überbetonen.

2.2.1. BLIND HUSBANDS (1919)

In BLIND HUSBANDS stellt Stroheim, der hier erstmals Regie, Buch und Hauptrolle innehat, ein Dreiecksverhältnis zwischen einem amerikanischen Chirurgen, dessen Frau und einem österreichischen Offizier dar. Der Stroheim-Typ wirkt in dieser Rolle durch seine militärische Arroganz insgesamt narzisstisch-selbstverliebt wirkt, als Karikatur eines Vertreters des kontinentalen Militärs. Die Figuren sind weniger als konkrete Fälle denn als Fall beispiele zu interpretieren: als Exempel für die Bedürfnisse eines Ehepartners innerhalb der Ehe per se. Der Film wird bestimmt von den Spannungen, die in dieser zwischenmenschlichen Konfliktsituation entstehen. In deren Verlauf stellt Stroheim traditionell eindeutige Schuldzuweisungen in Frage: nicht der Verführer ist derjenige, dem die Schuld an einem Seitensprung zuzuweisen ist, sondern bereits der Ehemann, der die Frau vernachlässigt und in dessen emotionaler Entfernung von seiner Frau deren Belastung liegt, an der die Ehe leidet und der Stroheims Aufmerksamkeit gilt:

“One of the most frequent reasons for divorce is ‚alienation of affection’…And the reason within the reason is the fact that ‚the other man’ steps in with his sincere (or insincere) attentions just when the husband in his self-complacency forgets the wooing wiles of his prenuptial days … Guilty! Says the world condemning ‚the other man’…But what of the husband?”[33]

Entsprechend werden die Handlungsträger auch bezeichnet mit The Husband, The Wive, The Other Man.

Der Handlungsort ist angesiedelt in den Alpen. Die Hauptfiguren - der Chirurg Dr. Armstrong und dessen Frau, sowie der Offizier Erich von Steuben - kommen zum gleichen Zeitpunkt in Cortina D’Ampezzo an. Schon früh beginnt sich Steuben für Mrs. Armstrong zu interessieren: Er ist zuvorkommend, macht ihr Komplimente oder kleinere Geschenke. Trotz des deutlichen Eifers Steubens reagiert Armstrong weder auf diese Bemühungen, noch erkennt er das Liebesdefizit seiner Frau, auf das die Bestrebungen des Offiziers ausgerichtet sind:

Von Steuben: „You were created for nothing else but love – love with its longings – its ecstasies.“

Mrs. Armstrong: „You must not talk that way. I am married – and I love my husband.“

Von Steuben: „Husband? Love? How can one love alone?“[34]

Lediglich Sepp Innerkofler, ein einheimischer Bergführer, der Armstrong sein Leben verdankt, erkennt das Problem und verhindert mehrere Verführungsversuche. Nachdem Mr. Armstrong eine Schatulle, ein Geschenk Steubens, neben deren Bett findet, beginnt er Verdacht einer ehelichen Untreue seiner Frau zu schöpfen. Tags darauf besteigen die Reisenden – Steuben, die Armstrongs und Innerkofler – den Monte Cristallo bis zur letzten Berghütte vor dem Gipfel zu besteigen, wo es zu einer Zuspitzung des Konflikts kommt. Steuben erhält von Mrs. Armstrong einen Brief, in dem sie ihn bittet, sich von ihr zu distanzieren. Trotzdem versucht Steuben, bei ihr einzudringen. Innerkofler jedoch, der Mrs. Armstrong vor Steubens Annäherungsversuchen bewahren will, hatte bereits unmittelbar nach deren Ankunft auf der Hütte sein eigenes Zimmer gegen das Ihre gewechselt, so dass Steuben seinen Versuch aufgeben muss.

Am nächsten Morgen, als Mr. Armstrong den Berggipfel besteigen will, zwingt Innerkofler Steuben, sich Armstrong anzuschließen. Auf dem Gipfel kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen den beiden Kontrahenten, in deren Folge Armstrong ihn auffordert, ihm zu gestehen, ob ihn seine Frau für ihn verlassen wolle. Steuben, der annimmt, dass Armstrong die Wahrheit nicht glaubt, beantwortet diese Frage bejahend. Doch dies ist eine Lüge, denn:

Steuben: „I lied because I was afraid you wouldn’t believe the truth.“[35]

Aufgrund dieser Lüge lässt Armstrong ihn ohne Seil auf dem Gipfel zurück. Bei seinem Abstieg findet Armstrong den enthüllenden Brief seiner Frau, welcher Steuben beim Aufstieg aus der Hosentasche gefallen war und erfährt so die Wahrheit. Wenig später Steuben stürzt beim Versuch eines Abstiegs in den Tod.

“…the spirit of the mountain had spoken…and again everything was still…still as everlasting death.“[36]

Durch diese Schuld und das Einsehen seines unangebrachten Misstrauens sensibilisiert, verlässt Armstrong mit seiner Frau Cortina diesen Ort.

Der Film konzentriert sich auf die Oberflächen der dargestellten Beziehungen. Seine Bildsprache weist dabei deutlich auf die Motive der Personen innerhalb ihrer Konflikte hin: etwa die Sehnsucht von Mrs. Armstrong im Angesicht der Bewusstwerdung ihrer Vernachlässigung, die sie gleichzeitig durch die Avancen Von Steubens in einen emotionalen Konflikt führen. Besonders das Verhalten Steubens, verbunden mit seiner Physis und Uniform, bilden in ihrer Gesamtheit einen Kontrast zur Intellektualität des Ehemanns.

Der Verführer handelt dabei nicht etwa kriminell oder gewalttätig. Auch gebraucht er keine falsche Fakten vortäuschenden Manipulationsstrategien. Er verwendet seinen Charme und macht keinen Hehl aus seinem erotischen Interesse an der Ehefrau von Dr. Armstrong. Die nicht eindeutig zuzuweisenden Grundeigenschaften Steubens lassen beim Zuschauer dabei eine emotionale Indifferenz entstehen, die die Entwicklung eines objektiven und unvoreingenommen gebildeten Urteils zulässt.

Für den zeitgenössischen Amerikaner war diese Figur, die sich als Europäer in amerikanische Angelegenheiten mischt und dabei die Institution der Ehe in Frage stellt, der Ausdruck des eigentlich Unamerikanischen. Man sollte diese Figur hassen, doch man erkennt in dieser Figur, die durch eine Selbstverständlichkeit und die genussvolle Veräußerlichung der militärischen Attribute wirkt, eine unterschwellig wirkende Faszination. Stroheim lässt diese Figur durch das Faszinosum der Waffe, das auch und insbesondere von den Amerikanern geteilt wird, wirken. Auch die weiteren leichtlebigen Eigenschaften Steubens sind eher bewundernswert als ablehnenswert: sein Erfolg bei Frauen, die Uniform. Lediglich seine selbstverliebte Facette fügt dieser Figur negative Eindrücke hinzu. Steuben, dessen einzige Interessen hedonistischer Natur sind, ist zudem sensibler als der intellektuelle Ehemann. Die Aufmerksamkeit Steubens wird in mehreren Szenen verdeutlicht, z.B. in der Exposition, als er sich dem Ehepaar Armstrong äußerst charmant vorstellt. Der Ehemann dagegen scheint seiner Frau gegenüber reserviert und gleichgültig zu sein, während Steuben ihr explizit seine Aufmerksamkeit widmet und sie dadurch empfänglich für seine Schmeicheleien macht, sie ihren Selbstwert als Frau erkennen lässt und gleichzeitig die Missachtung durch ihren Ehemann deutlich bewusst macht. Er stellt hier die Selbstverständlichkeit der Ehe zur Diskussion und macht durch die Konzentration auf die Konfliktsituation der Dreiecksbeziehung die Persönlichkeiten der einzelnen Figuren transparent. Stroheim löst dieses Dilemma durch den Tod des Verführers, doch die Frage, inwieweit durch diesen Ausgang eine Läuterung der Figuren stattfinden kann, bleibt offen. Der charmante Nebenbuhler ist ausgeschaltet, die Ehefrau hat nicht gesündigt und der Ehemann hat keine unmoralische Tat vollbracht, da er den Nebenbuhler nicht den Berggipfel hinab geworfen hat. So könnte der Ehemann geläutert werden. Die Lösung des Konfliktes insgesamt ist jedoch unbefriedigend.

Der Konflikt wird in einem von der Zivilisation unberührten Raum ausgetragen. Die beschriebenen Prozesse der Auseinandersetzungen werden durch die Aufwärtsbewegungen der Beteiligten allegorisiert. Die Handlungsräume verengen sich und die Figuren rücken zusammen. Mit dieser Zuspitzung werden der finale Konflikt und dessen Lösung für den Zuschauer spürbar. Die Räume werden enger: Gasthof → Berghütte → Gipfel, bis schließlich die beiden Kontrahenten, konzentriert aufeinander, ihren Konflikt alleine austragen. Im Ablauf der Intensivierung der Konzentration der Figuren aufeinander werden die Charaktereigenschaften der Männer offenbar. Gute und niederträchtige Charakteristika der Figuren bedingen sich gegenseitig. Der ‚Gute’ wird durch seinen Argwohn und der daraus entstehenden Reaktion zum ‚Bösen’. Der ‚Böse’ wird zum Opfer des Misstrauens des vermeintlich Guten, und erhält damit einen ‚guten’ Zusatz.

Bereits in der Handlung von Stroheims Debütfilm wird das Motiv der Lüge verwendet. Steuben lügt aus Angst aufgrund des Briefes, weswegen er auch auf dem Gipfel und damit dem sicheren Tod ausgeliefert zurückgelassen wird. Seiner eigenen Aussage zufolge bezwang Steuben fast alle Berge der Welt:

Mrs. Armstrong: „I’ve heard him say that he has climbed most of the mountains of the world.“[37]

Sein Interesse an der Besteigung liegt in der Beherrschung, der Macht, weniger in der Transzendenz, die durch Innerkofler und Mr. Armstrong Ausdruck findet:

Steuben: „My pleasure has always been to master them.“[38]

Im Ausdrücken seiner Macht über die Berge wird Steubens heuchlerisches Wesen akzentuiert - der Abstieg hätte für ihn kein Problem sein dürfen, doch seine Unehrlichkeit wird ihm zum Verhängnis. Dies ist ein in allen weiteren Filmen variiert werdendes Motiv.

BLIND HUSBANDS zeigt schon viele in Stroheims weiteren Filmen wiederholt auftauchenden Motive: das Infragestellen von Wertigkeiten, die dekuvrierte Maske und das dadurch entstehende Verhängnis, unbefriedigte Sexualität, die Infragestellung der Familie als heilige Institution und die Uniform als erotisch konnotierte Komponente. Die in seinen weiteren Filmen sich entwickelnden Kerngedanken, die in diesem Debüt-Film enthalten sind, vermitteln, dass Stroheims filmische Entwicklung sich eher auf die Intensivierung denn auf eine Erweiterung gründet: die gleichen Motive in ähnlicher Anordnung mittels einer im Lauf seiner Entwicklung subtiler werdenden Verwendung von Kerngedanken und –Motiven.

[...]


[1] Stroheim, Erich von: Movies and Morals. In: Decision (New York), Vol.1, Nr.3, März 1941. Veröffentlicht in: Jacobsen, Wolfgang / Belach, Helga / Grob, Norbert. Erich von Stroheim. Berlin: Stiftung Deutsche Kinemathek und Argon Verlag GmbH 1994. S. 177 f.

[2] Janz, Rolf-Peter / Laermann, Klaus. Arthur Schnitzler. Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de Siècle. Stuttgart: Metzler 1977. S. 55.

[3] Schorske, Carl E.: Wien. Geist und Gesellschaft im fin de siècle. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 1982. S. 4.

[4] Lennig, Arthur. Stroheim. Lexington/Kentucky: The University Press of Kentucky 2000. S. 7.

[5] Sprengel, Peter. Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918. München: C.H. Beck Verlag 2004. S. 249.

[6] Schmidt, Adalbert. Dichtung und Dichter Österreichs im 19. und 20. Jahrhundert. 1. Band. Salzburg/Stuttgart 1964. S. 211.

[7] Schmidt 1964. S. 212 f.

[8] Schmidt 1964. S. 217.

[9] Im Vorfeld möchte ich auf die folgen werdende Darstellung des Satirikers Karl Kraus verweisen.

[10] Lennig 2000. S. 6.

[11] Sprengel 2004. S. 239.

[12] Rattner, Josef: Karl Kraus oder Revolte als Sprachkritik und Satire. Veröffentlicht in: Josef Rattner / Gerhard Danzer: Österreichische Literatur und Psychoanalyse. Literaturpsychologische Essays. Würzburg: Königshausen und Neumann 1998. S. 127.

[13] Madlener, Elisabeth: ... Die Duellfrage ist in ihrem Kern eine Sexualfrage. In: Wolfgang Pircher (Hrsg.): Début eines Jahrhunderts. Essays zur Wiener Moderne. Wien: Falter Verlagsgesellschaft m. b. H. 1985. S 174.

[14] Rattner, Josef: Arthur Schnitzler oder Freuds ‚Doppelgänger’ in Wien. Veröffentlicht in: Rattner / Danzer 1998. S. 71.

[15] Siehe: Lakotta, Beate: Die Natur der Seele. In Spiegel 16 (2005). S.176-189.

[16] Ebd.

[17] Ebd.

[18] Ebd.

[19] Ebd.

[20] Ebd.

[21] Stroheim 1941. Veröffentlicht in: Jacobsen, Belach, Grob: Erich von Stroheim.

[22] Lennig 2000. S. 13.

[23] Lennig 2000. S. 17.

[24] Koszarski, Richard: Von: The life and films of Erich von Stroheim. New York: Proscenium Publishers Inc. 2001. S. 28.

[25] Koszarski 2001. S. 27.

[26] Kothenschulte, Daniel: Geliebter Haustyrann. Erich von Stroheim-Retrospektive der ‚Berlinale’. In: film-dienst 8 (1994).

[27] Toeplitz, Jerzy: Geschichte des Films 1895-1933. Band 1. München: Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins 1987. S. 294.

[28] Toeplitz 1987. S. 407.

[29] Toeplitz 1987. S. 406.

[30] Kohlenschulte 1994.

[31] Stroheim 1941. Veröffentlicht in: Jacobsen, Belach, Grob: Erich von Stroheim.

[32] Rotha Paul: The Film till Now. London: Vision Press Ltd. 1949, S.158. In Toeplitz 1987. S.294.

[33] Zwischentitel: 00:02:12.

[34] Dialog in den Zwischentiteln 00:32:19 – 00:32:46.

[35] Zwischentitel: 01:22:26.

[36] Zwischentitel: 01:30:26.

[37] Zwischentitel: 00:49:24.

[38] Zwischentitel: 00:24:33.

Ende der Leseprobe aus 125 Seiten

Details

Titel
Die Einflüsse der Wiener Moderne auf Person und Werk Erich von Stroheims
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Institut für Filmwissenschaft)
Note
2,0
Autor
Jahr
1996
Seiten
125
Katalognummer
V90685
ISBN (eBook)
9783638052627
ISBN (Buch)
9783656208525
Dateigröße
1996 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Reflexion über die europäische Vergangenheit des Regisseurs, dessen Werke Meilensteine des amerikanischen narrativen Films in den 20er Jahren waren. Es beginnt mit einer Darstellung der Kultur Wiens um die Jahrhundertwende und konzentriert sich besonders auf die psychologischen Motive, die der Regisseur äußerst vielschichtig in seine Werke einwirkte
Schlagworte
Einflüsse, Wiener, Moderne, Person, Werk, Erich, Stroheims
Arbeit zitieren
Otto Peter Boller (Autor:in), 1996, Die Einflüsse der Wiener Moderne auf Person und Werk Erich von Stroheims, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90685

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