Leseprobe
Inhalt
Einleitung
1. Was ist eine Spur?
2. Wo kommen Spuren vor?
3. Ordnung der Textstellen
3.1. Identität
3.2. Sozialität
3.3. Erinnerung
4. Das Ge-wohn-te
5. Digitale Spuren
Schluss
Literaturverzeichnis
Einleitung
Spurlos wohnen. Betritt einer das bürgerliche Zimmer der achtziger Jahre, so ist bei aller »Gemütlichkeit«, welche es vielleicht ausstrahlt, der Eindruck »Hier hast du nichts zu suchen« der stärkste. Hier hast du nichts zu suchen – denn hier ist kein Fleck, auf dem nicht der Bewohner seine Spur schon hinterlassen hätte: auf den Gesimsen durch die Nippsachen, auf den Polstersesseln durch Deckchen mit dem Monogramm, vor den Fensterscheiben durch Transparente und vor dem Kamin durch einen Ofenschirm. (Benjamin, 1994: S. 127.)
Dieses Zitat Walter Benjamins steht exemplarisch für seine Theorie der Spur. Es macht deutlich, dass Spuren menschlicher Existenz in den Einrichtungsgegenständen sichtbar werden. Und implizit zeigt es, dass im 19. Jahrhundert eine starke Verbindung zwischen den Menschen und ihren Dingen vorherrschte.
Der Spur auf der Spur sein – das bedeutet zunächst eine Extrapolation vornehmen. Wir wollen nicht nur in Nippsachen, Deckchen und Transparenten Spuren lesen, sondern auch andere alltägliche Dinge in den Blick nehmen. Nicht nur das 19. Jahrhundert hinterlässt spuren. Wenn Benjamin über Bücher, Tische, Tassen oder Teppiche spricht, scheinen auch diese Dinge die Fähigkeit zu besitzen Spuren zu speichern. Es stellt sich daher zunächst die Aufgabe die Struktur der Spur zu entschlüsseln. Im Anschluss daran werden wir jene Texte, in denen wir diese Struktur der Spur zugrunde legen können, in eine Ordnung bringen. Diese Ordnung soll uns helfen folgende Frage zu beantworten: Was sagen uns die Spuren, die Benjamin in den Dingen entdeckt? Die Hypothese lautet zweierlei: dass erstens die Bedeutung der Spuren darin liegt, dass sie die enge Verbundenheit zwischen Mensch und Ding sichtbar machen; und dass zweitens in dieser Subjekt-Objekt-Relation die Idee von Identität, Sozialität und Kultur beheimatet ist. Wir müssen daran anknüpfend auch die Frage versuchen zu beantworten, warum für Benjamin die Relevanz besteht diese Spuren in den Blick zu nehmen; und auch, ob wir heute immer noch davon sprechen können, dass sich die gesellschaftlichen Konzepte von Identität und Sozialität oder überhaupt von Kultur, als Schnittstelle von Spuren zwischen Menschen und Dingen etablieren. Wir werden sehen, dass sich Spuren zwar immer noch in dieser Schnittstelle abzeichnen, aber die vernetzte, digitale Welt, als neuer Spurenträger ins Auge gefasst werden muss. Benjamins Prognose über den Verfall der Spuren durch die Moderne, bekommt unter dem Licht der digitalen Welt, eine neue Stoßrichtung.
1. Was ist eine Spur?
Wir haben also zunächst die Aufgabe die Struktur der Spur zu entziffern. Ganz allgemein können wir sagen, eine Spur handele niemals von sich selbst. Sondern eine Spur weist immer über sich selbst hinaus – sie ist transzendent. Betrachten wir die Spur eines Fußabdruckes im Sand, so spricht dieser Abdruck nicht von sich selbst, sondern von einem anderen Subjekt, das zu einer bestimmten Zeit an diesem Ort gegenwärtig war. Spuren haben somit die Eigenschaft Vergangenes zu speichern. In ihrer Präsenz vergegenwärtigen sie das Vergangene. Was macht aber überhaupt eine Spur zu einer Spur? Eine Antwort auf diese Frage kann hier nochmals der Fußabdruck im Sand geben. Ist dieser Abdruck eine Spur, auch wenn wir uns nicht mit ihm beschäftigen? Transzendiert sich ein Fußabdruck im Sand, auch wenn wir nicht auf ihn achten oder ihn lediglich indifferent betrachten? Diese Fragen erinnern an Einsteins Polemik gegen die frühe Quantenmechanik: ob der Mond da sei, auch wenn wir nicht hinsähen. Was stark gemacht werden soll ist, dass eine Spur nur dann zu einer Spur werden kann, wenn sie erstens auch als solche erkannt wird; und sie zweitens einer zielgerichteten Fragestellung unterworfen ist. Die Fragen zu wem der Fußabdruck gehöre, wann und warum er an diesem und jenem Ort entstand, sind die Bedingung für die Transzendenz und den Begriff der Spur.
Wir stoßen damit auf die Frage, wie Benjamin auf jene Spuren aufmerksam geworden ist, in welchen er das Antlitz des 19. Jahrhunderts erblickt. Wir haben bereits in der Einleitung darauf hingewiesen, dass Benjamin in den alltäglichsten und gewöhnlichsten Dingen Spuren entdeckt. Aber diese Spuren entziehen sich – folgen wir unserer Theorie – einem naiven Blick. Sie benötigen daher einen geschickten Archäologen. Aber auch der grabende Archäologe braucht, um diese Spuren lesen zu können, eine zielgerichtete Frage, die ihm den Blick eröffnet. Es scheint, dass der Blick für Benjamins Spurensuche durch die Moderne und deren veränderte Produktionstechnik, eröffnet wurde. Die Moderne generiert eine Störung der Tradition des 19. Jahrhunderts – und erst in dieser Zäsur werden die Spuren für Benjamin sichtbar. Das heißt, erst dann hinterlassen die alltäglichen Dinge Spuren, bzw. werden Spuren sichtbar, wenn auf einmal Dinge produziert werden, die den traditionellen Dingen gänzlich widersprechen. Somit ist die Erzeugung der Differenz zwischen Alt und Neu ausschlaggebend für Benjamins Spurensuche.
2. Wo kommen Spuren vor?
Versuchen wir zunächst die Frage ex negativo zu erhellen. Nie kommen Spuren bei Benjamin auf natürlichem Terrain, d. h. weder im Sand, noch auf Waldwegen oder ähnlichem vor. Auch findet sich nirgends die Beschäftigung mit Spuren, die auf oder im Menschen vorkommen können, wie beispielsweise als Narben oder in der Psyche. Sein Blick fokussiert sich vielmehr auf die häuslichen Dinge; und damit Dinge, die das menschliche Leben strukturieren. Es handelt sich um Mobiliar, Tassen, Bücher, Pulte, Schränke, Teppiche und Stühle. Dabei verteilt sich Benjamins Spurensuche auf diverse Texte. Besonders in Teilen des Passagenwerks und in Denkbilder, aber auch in Einbahnstraße zeichnet Benjamin seine Theorie der Spur. Jedoch ist diese Theorie keine streng analytische. Sie besitzt unklare Grenzen und bewegt sich meist in assoziativen Sphären. Man muss Benjamins Theorie der Spur hermeneutisch angehen. Man muss selbst der Spur auf der Spur sein und sich als Archäologe betätigen. Es gilt also nun die verschiedenen Textstellen über Spuren herauszuarbeiten. Dabei wird versucht die Textstellen aus den verschiedenen Werken in eine Ordnung zu bringen. Diese Ordnung soll uns sodann eine Archäologie der Spur ermöglichen.
3. Ordnung der Textstellen
Unser Versuch die Texte zu ordnen gestaltet sich als durchaus schwierig. Denn die Texte verhalten sich zu einem sehr großen Teil polysemantisch. Das bedeutet, sie oszillieren zwischen verschiedenen Bedeutungsinhalten. Das befähigt die Texte jedoch dazu immer mehr sagen zu können. Folglich gibt es auch keine zweiwertige Logik, die sich zwischen Ja und Nein, Weiß und Schwarz entscheiden müsste.
Wir wählen für unserer Arbeit drei Ordnungen aus, die wir unter Identität, Sozialität und Erinnerung zusammenfassen. Diese drei Typen lassen sich aus den verschiedenen Texten herausarbeiten. Wir wollen zeigen, dass die Struktur der Spur – so wie wir sie aus den Texten Benjamins lesen – jeweils auf eine oder mehrere dieser Ordnungen verweist. Identität, Sozialität und Erinnerung stehen dementsprechend für die Bedeutung einer jeweiligen Spur. Wenn wir davon sprechen, dass Spuren immer auf etwas verweisen, dann sind es diese drei Konzepte, die Benjamins Spuren sichtbar machen können.
3.1. Identit ät
Einbahnstraße: Nicht nur Kleider machen Leute. Denn obschon diese Redewendung am unverhohlensten zum Ausdruck bringt, was mit Identität gemeint ist, sieht Benjamin, dass es überhaupt alle hergestellten Dinge seien, die nicht mehr indifferent jede soziale Schicht bedienten. Die produzierten Dinge trügen die Spur der Kennzeichnung – sie stempelten ihren Besitzer ab. Sie tragen die Spuren sozialer Schichtung. Sie handeln von Armut und Reichtum: „Eine edle Indifferenz gegen die Sphären des Reichtums und der Armut ist den Dingen, die hergestellt werden, völlig abhanden gekommen. Ein jedes stempelt seinen Besitzer ab, der nur die Wahl hat, als armer Schlucker oder Schieber zu erscheinen“1, heißt es da. Haste was, dann biste 1 was! wird durch die Ränge der Gesellschaft geschrien. Wenn wir schon dabei sind: Haben oder Sein, heißt es da bei Fromm; und „es scheint […], als bestehe das eigentliche Wesen des Seins im Haben, so daß nichts ist, wer nichts hat.“2 Offenbar herrscht eine eigentümliche Verbindung zwischen den Dingen und ihren Besitzern. So, als ob nicht die Subjekte Herrscher über die Dinge wären, sondern die Dinge Herrscher über die Subjekte sind. Wir können hier eine Brücke zu Benjamin schlagen. In Ich packe meine Bibliothek aus macht Benjamin die Spur der eigenen Identität sichtbar, indem er seinen Büchern eine Art von Imperativ zu Grunde legt. Bei der Betrachtung seiner noch in Kisten verstauten Bücher erinnert er sich daran, dass es die Suche nach jenen Büchern war, die ihn dazu brachte die entlegensten Teile von Städten zu erfahren: „Wie viele Städte haben sich mir nicht in den Märschen erschlossen, mit denen ich auf Eroberung von Büchern ausging.“3 Es scheint, als riefen die Bücher Benjamin aus den verborgensten Teilen der Städte an, um ihn anzuleiten auf die Jagd nach ihnen zu gehen. Es ist diese enge Verbundenheit, die zwischen Benjamin und seinen Büchern waltet und die ihm zu dem macht, was er ist. Was hat das mit Identität zu tun? Vielleicht kann folgende Assoziation hilfreich sein: Würden wir nicht versucht sein die Identität Kolumbus dadurch definieren, dass auch er Städte und Länder erschlossen hat, weil er auf Eroberung war? Wie streng ist er mit der Santa Maria verwoben? Wie sehr hat sie ihn auf den Pfad seiner Entdeckungen gebracht? Welches Wissen würde uns dieses Schiff über Kolumbus preisgeben, wenn wir jenen Spuren nachgingen?
Was darüber hinaus die Bücher Benjamins angeht, so ist es nicht bloß dieser sonderbare „Eigensinn“ dieser Dinge, welcher ihm seine Identität verleiht. Der Blick auf die Bücher verrät auch eine Spur darüber, dass das Sammeln von Dingen eine Identitätsspur erzeugt. Auch Benjamin sieht sich als „echten Sammler“.4 Beim auspacken seiner Bibliothek verrät er uns etwas über jenes identitätsstiftende Moment der Sammlung: „Das Phänomen der Sammlung verliert, indem es sein Subjekt verliert, seinen Sinn.“5 Gleichwohl könnte man argumentieren, dass das Subjekt auch seinen Sinn verliere, wenn es seine Sammlung verliert. Natürlich ist der Mensch nicht identisch mit seiner Sammlung, und auch nicht jeder Mensch sammelt um des Sammelns Willen. Dennoch sammeln sich im Laufe des Lebens etliche Dinge an, die, werden sie verloren, verkauft oder gestohlen, einen Teil der eigenen Identität mit sich entledigen. Nicht umsonst hängt an dem Verlust von teuren6 Möbelstücken oder anderen Besitztümern ein partieller Verlust des eigenen Ichs.
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1 Benjamin, Walter: Einbahnstraße. Suhrkamp: Frankfurt a. M., 1955. S. 37.
2 Fromm, Erich: Haben oder Sein. Deutscher Taschenbuch Verlag: München, 1995. S. 27. Hervorhebung durch Autor.
3 Benjamin, Walter: Denkbilder. Suhrkamp: Frankfurt a. M., 1994. S. 91.
4 Benjamin, Walter: Denkbilder, S. 127 ff.
5 Ebenda, S. 95.
6 „Teuer“ im Sinne von „geschätzt“ und „lieb“. Übrigens auch eine Spur im Wort die uns viel darüber verrät warum es immer noch den Anschein mache, teure Dinge seien gute Dinge.