Umsatzsteuerkriminalität. Darstellung und kritische Würdigung vor dem Hintergrund der Mehrwertsteuerreform


Bachelorarbeit, 2020

67 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Geschichte der Umsatzsteuer in Deutschland
2.1 1916-1967: Die Allphasen-Bruttoumsatzsteuer
2.2 1968-1977: Die Allphasen-Nettoumsatzsteuer
2.3 1978-1993: Das Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz
2.4 1993-2016: Der Umsatzsteuer-Binnenmarkt

3 Der Missing-Trader-Betrug
3.1 Die Beteiligten am Missing-Trader-Betrug
3.2 Das Streckengeschäft
3.3 Das Umsatzsteuerkarussell

4 Die Mehrwertsteuerreform
4.1 Entwicklung und Umsetzung der Mehrwertsteuerreform
4.2 Der zertifizierte Steuerpflichtig
4.2.1 Der zertifizierte Steuerpflichtige im Zusammenhang mit der Umsetzung des endgültigen Mehrwertsteuersystems
4.2.2 Die Voraussetzungen für den Erhalt der Zertifizierung
4.2.3 Kritische Betrachtung des zertifizierten Steuerpflichtigen
4.3 Der One-Stop-Shop
4.4 Die Steuerfreiheit innergemeinschaftlicher Lieferungen
4.4.1 Die innergemeinschaftliche Lieferung
4.4.2 Die neuen materiellen Voraussetzungen
4.4.3 Kritische Betrachtung der Steuerbefreiung

5 Fazit

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Entwicklung der Mehrwertsteuerlücke in Deutschland und Europa

Abb. 2: Die Mehrwertsteuerlücke in Europa im Jahr 2017

Abb. 3: 1916-1967: Die Allphasen-Bruttoumsatzsteuer

Abb. 4: Funktionsweise der Allphasen-Bruttoumsatzsteuer

Abb. 5: 1968-1977: Die Allphasen-Nettoumsatzsteuer

Abb. 6: Funktionsweise der Allphasen-Nettoumsatzsteuer

Abb. 7: 1978-1993: Das Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz

Abb. 8: Funktionsweise eines Streckengeschäfts

Abb. 9: Funktionsweise eines Umsatzsteuerkarussells

Abb. 10: Zeitliche Entwicklung der Mehrwertsteuerreform

1 Einleitung

Nachdem die Umsatzsteuer im Jahr 2018 ihr 100-jähriges Bestehen feierte, wür-digten der UmsatzsteuerForum e.V. und das Bundesfinanzministerium diesen Jah-restag mit der Laudatio „100 Jahre Umsatzsteuersteuer in Deutschland“.1 Mit den Wünschen zu weiteren 100 erfolgreichen Jahren, kündigte Prof. Dr. Hans Nies-kens, Vorsitzender des UmsatzsteuerForum e.V., diese Laudatio für eine Jubilä-umsfeier in Berlin an, die extra für diesen Anlass organisiert wurde und für die sich hochrangige Steuerrechtsexperten in die Liste der Festredner eingetragen haben.2

Dass für diese Festschrift kein begründeter Anlass bestand3, ist auf mehrere Grün-de zurückzuführen. Einer dieser Gründe, der die Erfolgsgeschichte der Umsatz­steuer trübt, ist die Mehrwertsteuerlücke, die die Differenz zwischen den erwarte-ten und den tatsächlich erzielten Mehrwertsteuereinnahmen darstellt.4 Wie man in Abbildung 1 erkennen kann, ist diese Mehrwertsteuerlücke in der europäischen Union zwischen den Jahren 2000 und 2011 stark angestiegen, während sie zwi­schen den Jahren 2012 und 2017 reduziert werden konnte. Demgegenüber ist die Mehrwertsteuerlücke in Deutschland in den letzten Jahren relativ konstant.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Entwicklung der Mehrwertsteuerl ücke in Deutschland und Europa Quelle: Eigene Erstellung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im Jahr 2017 wurde die Differenz zwischen den erwarteten und den tatsächlichen Mehrwertsteuereinnahmen in der gesamten europäischen Union auf 137,47 Milli-arden Euro geschätzt, von denen rund 18% auf das deutsche Umsatzsteuerwesen zurückzuführen sind. 5

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Die Mehrwertsteuerl ücke in Europa im Jahr 2017 Quelle: Europäische Kommission (2019 b), S. 2

Bedeutenden Anteil an der Mehrwertsteuerlücke hat der europaweite Mehrwert-steuerbetrug. So gehen schätzungsweise jährlich 50 Milliarden Euro an Steuergel-dern aufgrund der verschiedensten Betrugsformen im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer verloren.6

Die Aktualität dieses Themas zeigt die im Dezember 2019 veröffentlichte Studie „The EU Self-Surplus Puzzle: An Indication of VAT Fraud?“ des Kieler Instituts für Weltwirtschaft in Zusammenarbeit mit dem Münchener Ifo-Institut. Darin untersuchten zwei Wissenschaftler die Daten des Handels innerhalb aller 28 euro-päischen Mitgliedstaaten und stellten fest, dass die europäischen Mitgliedstaaten durch den Import und Export von Waren und Dienstleistungen innerhalb der eu-ropäischen Union einen Handelsüberschuss in Höhe von 307 Milliarden Euro er-wirtschaftet haben.7 Aufgrund der Tatsache, dass Wirtschaftsgüter, die aus einem Mitgliedstaat exportiert, in einem anderen Mitgliedstaat importiert werden und sich somit die Handelssummen aufheben müssen, dürfte dieser Handelsüber-schuss jedoch nicht entstehen.8 Zusammenfassend vermuten die Wissenschaftler, dass die Ursache für diesen Handelsüberschuss in einem massiven Mehrwertsteu- erbetrug innerhalb der europäischen Union liegt.9 Trotz der Aktualität dieser Stu-die ist der Mehrwertsteuerbetrug kein neuartiges Phänomen, sondern viel mehr als „Geburtsfehler“10 der Mehrwertbesteuerung anzusehen, das seit der Einführung des Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetzes im Jahr 1993 und dem damit einherge-henden Besteuerungssystem des innergemeinschaftlichen Handels sowie der Auf-hebung der Grenzkontrollen eine neue Dimension erreicht hat.11 Dieses als Über-gangsregelung gedachte Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz ist nach Auffassung der europäischen Kommission veraltet und sehr betrugsanfällig, weshalb sie in ihrer Mitteilung „Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer - Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum: Zeit für Reformen“ die Umgestaltung des bestehenden Mehrwertsteuersystems in Gang brachten.12

Dass diese Reform notwendig ist, sieht auch Pierre Moscovici, Kommissar der europäischen Union für Wirtschafts- und Finanzangelegenheiten, Steuern und Zoll. Seiner Meinung nach ist die fallende Tendenz der Mehrwertsteuerlücke auf das vorteilhafte wirtschaftliche Klima und einige kurzfristige Maßnahmen der europäischen Union zurückzuführen, eine umfassende Reform sei dennoch unum-gänglich, um diese positive Entwicklung weiterhin voranzutreiben.13 Diese zu-künftige Mehrwertsteuerreform zielt darauf ab, ein robustes und durch den Ein-satz digitaler Technologien effizienteres Mehrwertsteuersystem zu entwickeln, das für Unternehmen einfach anzuwenden ist und durch die Reduzierung der Be-trugsanfälligkeit zur Senkung der Mehrwertsteuerlücke beiträgt.14

Ziel dieser Ausarbeitung ist es zu untersuchen, inwiefern sich die gegenwärtige Entwicklung des Mehrwertsteuersystems positiv oder negativ auf die Betrugsan-fälligkeit der Mehrwertsteuer auswirkt. Diese Untersuchung wird eingeleitet mit einem historischen Überblick über die Entwicklung der Mehrwertsteuer in Deutschland und Europa, bei der neben dem historischen Kontext auch kurz auf die Stärken und Schwächen der einzelnen Mehrwertsteuersysteme eingegangen wird. Im nächsten Schritt wird der Mehrwertsteuerbetrug beispielhaft am soge-nannten Missing-Trader-Betrug erklärt. Der Schwerpunkt dieser Ausarbeitung wird anschließend auf die Mehrwertsteuerreform gelegt. Hier wird zuerst auf die Entwicklung der Mehrwertsteuerreform eingegangen, bevor einzelne, geplante oder bereits eingeführte Maßnahmen, die zur Eindämmung des Mehrwertsteuer-betrugs beitragen sollen, einer kritischen Würdigung unterzogen werden.

2 Die Geschichte der Umsatzsteuer in Deutschland 2.1 1916-1967: Die Allphasen-Bruttoumsatzsteuer

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: 1916-1967: Die Allphasen-Bruttoumsatzsteuer Quelle: Eigene Erstellung

Der Ursprung der deutschen Umsatzsteuer ist auf den 26. Juni 1916 zu datieren, als der deutsche Reichstag ein Gesetz zum Warenumsatzstempel mit Wirkung zum 1. Oktober 1916 eingeführt hat.15 Dieser Warenumsatzstempel regelte die Besteuerung inländischer gewerblicher Warenlieferungen sowie gewerbliche Wa-renlieferung aus privater Hand16 und besteuerte jeden Warenumsatz auf jeder Wirtschaftsstufe mit 1%.17 Die Gründe der Einführung dieser Steuer lagen in den enormen Finanznöten des deutschen Reiches während des ersten Weltkrieges.18

Da das Aufkommen des Warenumsatzstempels hinter den Erwartungen zurück-blieb19, 20 führte man am 26. Juli 1918 ein neues Umsatzsteuergesetz ein, welches eine selbstständige Reichsteuer implementierte und auf dem System der soge-nannten Allphasen-Bruttoumsatzsteuer basierte. Hierbei wurden Steuern auf alle Leistungen innerhalb geschäftlicher Tätigkeit sowie auf den Eigenverbrauch er-hoben. Der Steuersatz betrug anfänglich gemäß §6 Abs. 1 UStG 1918 0,5%, wur-de aber im Laufe der Zeit immer wieder herauf- und herabgesetzt, und erreichte im Jahr 1957 bei einem Steuersatz von 4% den Höchstwert.

Unter der Allphasen-Bruttoumsatzsteuer versteht man ein System, bei dem auf jeder Stufe des Wirtschaftsablaufs die Steuer von einem wachsenden Bruttoent-gelt erhoben wird21, was bedeutet, dass die endgültige Steuerbelastung mit jeder Wirtschaftsstufe, die sie vom Hersteller zum Endverbraucher durchlief, umso mehr zunahm.22

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4: Funktionsweise der Allphasen-Bruttoumsatzsteuer Quelle: Seer (2018), S. 9

Im Laufe der Zeit geriet diese Allphasen-Bruttoumsatzsteuer jedoch immer mehr in die Kritik. Da die Umsatzsteuer seit Beginn ihrer Einführung eine Objektsteuer darstellt, bei der persönliche Verhältnisse des Steuerschuldners nicht in Betracht gezogen werden23, 24 kommt es dazu, dass Leistungsempfänger, die ein verhält-nismäßig geringes Einkommen zur Verfügung haben, stärker von der Umsatzsteu-er betroffen sind. Diese sogenannte regressive Wirkung der Umsatzsteuer ist da-rauf zurückzuführen, dass der Konsum im Vergleich zum Einkommen unterpro-portional wächst, sodass Leistungsempfänger mit höherem Einkommen einen größeren Anteil ihres Verdienstes zum Sparen nutzen können. Des Weiteren stellt die Kumulativwirkung der Allphasen-Bruttoumsatzsteuer einen weiteren Kritik-punkt dar25, der mit steigendem Steuersatz immer lauter wurde. 26 27 Auf der einen Seite war es im Fall von Exportfällen schwer festzustellen, mit wie viel Steuer eine Ware, die mehrere Wirtschaftsstufen durchlaufen hat, belegt wurde, was eine Entlastung dieser Ware nur schwer möglich machte. Auf der anderen Seite führte die Tatsache, dass die steuerliche Belastung einer Ware umso geringer war, je weniger Unternehmer an der Herstellung und Vertrieb beteiligt waren, dazu, dass große Unternehmen, die ohne den Einsatz anderer Unternehmer Waren herstellen und vertreiben, umsatzsteuerlich bevorteilt wurden. Das wiederrum führte zu einer Benachteiligung kleiner und mittelständischer Unternehmen.

Aufgrund der hierdurch fehlenden Wettbewerbsneutralität entschied das Bundes-verfassungsgericht am 20. Dezember 1966, dass die Allphasen-Bruttoumsatzsteuer gegen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes verstoße und erklärte diese für verfassungswidrig.28

2.2 1968-1977: Die Allphasen-Nettoumsatzsteuer

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5: 1968-1977: Die Allphasen-Nettoumsatzsteuer Quelle: Eigene Erstellung

Ersetzt wurde die Allphasen-Bruttoumsatzsteuer aus dem Jahr 1918 durch die Allphasen-Nettoumsatzsteuer mit Vorsteuerabzug, welche am 29. Mai 1967 in einem neuen Umsatzsteuergesetz verabschiedet wurde und am 01. Januar 1968 in Kraft getreten ist.29 30 Die Allphasen-Nettoumsatzsteuer unterscheidet sich von der Allphasen-Bruttoumsatzsteuer darin, dass das Nettoentgelt, sprich das Entgelt abzüglich der Umsatzsteuer, und nicht mehr das Bruttoentgelt als Bemessungs-grundlage herangezogen wird. Zusätzlich ist der Unternehmer zum Vorsteuerab­zug berechtigt.

Der Vorsteuerabzug erlaubt es dem Unternehmer, die ihm berechnete und von ihm gezahlte Umsatzsteuer, die im Zuge von Lieferungen oder sonstigen Leistun-gen für sein Unternehmen angefallen ist, als Vorsteuer vom Finanzamt zurück zu verlangen. Dieses Konzept des Vorsteuerabzugs hat zur Folge, dass im Laufe der Wirtschaftskette nicht mehr das Unternehmen, welches an der Herstellung einer Ware beteiligt war, steuerlich belastet wird, sondern nur noch der Endverbraucher.

Somit stellt die Allphasen-Nettoumsatzsteuer ein wettbewerbsneutrales Besteue-rungssystem dar.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6: Funktionsweise der Allphasen-Nettoumsatzsteuer Quelle: Seer (2018), S. 10

Die Umstellung des Umsatzsteuersystems war aufgrund von zwei Motiven unum-gänglich.31

Der erste Grund für die Umstellung ist die im vorherigen Kapitel beschriebene Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht die Allphasen-Bruttoumsatzsteuer aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und der hieraus folgenden Wettbewerbsver-zerrung für verfassungswidrig erklärt hat. 32

Der zweite Grund lag in der Befürchtung der europäischen Wirtschaftsgemein-schaft, dass Zollgrenzen durch Steuergrenzen ersetzt werden könnten, was einer weiteren europäischen Harmonisierung im Weg stehen würde.33 Dieser Prozess der wirtschaftlichen Harmonisierung der Mitgliedstaaten konnte nicht ohne Ein-fluss auf ihre Steuersysteme funktionieren, weswegen die Reform des Umsatz-steuersystems in Gang gebracht wurde.34

Dieses Vorhaben wurde mit der am 11. April 1967 verabschiedeten ersten und zweiten Richtlinie des Rates der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Har-monisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern eingeleitet. Das Hauptziel dieser Richtlinie war es, „im Rahmen einer Wirtschaftsunion einen ge-meinsamen Markt zu schaffen, auf dem ein gesunder Wettbewerb herrscht und der ähnliche Merkmale aufweist wie ein Binnenmarkt. Voraussetzung für die Ver-wirklichung dieses Zieles ist es, dass in den Mitgliedstaaten zuvor Rechtsvor- schriften über die Umsatzsteuern angewandt werden, durch welche die Wettbe-werbsbedingungen nicht verfälscht und der freie Waren- und Dienstleistungsver-kehr im Gemeinsamen Markt nicht behindert werden.“35

Die erste Richtlinie schrieb allen Mitgliedstaaten vor, bis zum 1. Januar 1970 die Allphasen-Nettoumsatzsteuer mit Vorsteuerabzug als gemeinsames Umsatzsteu-ersystem einzuführen und zielte darauf ab, die Wettbewerbsneutralität der Um-satzsteuer für den grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsverkehr zu gewährleisten.36 Die zweite Richtlinie regelte dahingehend die Struktur und die Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, lies dabei den Mitgliedstaaten jedoch noch erhebliche Freiheiten hinsichtlich der Anzahl und Höhe der Steuersätze.37

Einen erheblichen Fortschritt in den Harmonisierungsbestrebungen brachte die am 17. Mai 1977 verabschiedete sechste Richtlinie, die als das ursprüngliche Herz-stück des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gilt.38 Diese Richtlinie enthielt einige detaillierte Regelungen, welche in der zweiten Richtlinie weitgehenden offen gelassen wurden. So wurden hier beispielsweise Regelungen zur Steuerbar-keit, Steuerbefreiungen und des Vorsteuerabzugs geklärt, jedoch konnte der Mi-nisterrat eine Harmonisierung der Bemessungsgrundlage nicht erreichen, was da-zu führte, dass diese sechste Richtlinie eine Reihe von Lücken, Sonderregelungen und Ausnahmen sowie eine große Anzahl an Übergangsbestimmungen beinhalte-te.39

2.3 1978-1993: Das Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 7: 1978-1993: Das Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz Quelle: Eigene Erstellung

Nachdem im Jahr 1977 die 6. Richtlinie des Rates der europäischen Wirtschafts-gemeinschaft verabschiedet wurde, ist der Harmonisierungsauftrag nach Art. 8a EWGV, der die Verwirklichung des Binnenmarktes bis zum 31.12.1992, genauer gesagt die Abschaffung der Grenzkontrollen, vorsah, ins Stocken geraten.40 1985 kam es dann allerdings, durch das Weißbuch zur Vollendung des Binnen-marktes, zu einem erneuten Versuch, die Umsatzsteuerharmonisierung voranzu-treiben.

Inhalt des Weißbuchs war die Einführung eines innergemeinschaftlichen Umsatz-steuersystems nach dem Ursprungslandprinzip.41 Weitere Ziele waren die Ab-schaffung der Steuergrenzen zwischen den Mitgliedstaaten sowie die Erfüllung der Wettbewerbsneutralität der Umsatzsteuer.42 Um diese Ziele zu erreichen, war die Umstellung vom Bestimmungslandprinzip auf das Ursprungslandprinzip vor-gesehen, bei dem Umsätze im europäischen Gemeinschaftsgebiet genauso besteu-ert werden sollten, wie es bei einem Inlandsumsatz der Fall war.43 Dieses soge-nannte Gemeinsame-Markt-Prinzip sah zusätzlich vor, dass die vom Unternehmer gezahlte Umsatzsteuer als Vorsteuer im Bestimmungsland abzugsfähig ist, dabei sollte es keine Rolle spielen, in welchem Mitgliedstaat sie entrichtet wurde.44 Des Weiteren war ein Clearingverfahren vorgesehen, durch das die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens so geregelt werden sollten, als hätte man eine Besteue-rung nach dem Bestimmungslandprinzip durchgeführt.45

Die Einführung des europäischen Umsatzsteuer-Binnenmarkts brachte im Laufe der Zeit jedoch auch einige Kritikpunkte mit sich.46 47 48 49 50

Das als Übergangsregelung gedachte Gesetz ist für die Unternehmer, die es an-wenden müssen, nur schwer zu überschauen51, da die Rechtslage aufgrund des fehlenden Vorhandenseins eines einheitlichen Rechts im Gemeinschaftsgebiet komplizierter wurde52, was insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen zu-sätzliche Schwierigkeiten verschaffte.53 Des Weiteren wurden die Grenzkontrol-len zwar abgeschafft, die Aufgaben der Grenzkontrollstellen wurden demgegen-über jedoch beibehalten und die Verwaltungsarbeiten der damit befassten Behör-den in die Unternehmen verlagert.54 Zusätzlich führt der Wegfall der Grenzfor-malitäten zu einem Mehraufwand in Form von weiteren Meldepflichten und einer Fülle von Rückfragen im Zusammenhang mit ausländischen Umsatzsteuer-Identifikationsnummern.55 Das ursprünglich verfolgte Ziel der Verfahrensverein-fachung wurde durch diese Übergangsregelung eher ins Gegenteil verkehrt.56

2.4 1993-2016: Der Umsatzsteuer-Binnenmarkt

Als größter Nachteil der Einführung des europäischen Binnenmarkts ist jedoch die Tatsache zu nennen, dass sich dieses System, durch die Einführung der Umsatz-steuerbefreiung von Lieferung in die EG-Mitgliedstaaten und die Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs im Mitgliedstaat sowie die Aufhebung der Grenzkontrollen und Zollformalitäten57 als sehr betrugsanfällig herausgestellt hat. Diese Betrugsanfälligkeit lässt sich an der Tatsache zeigen, dass man im Jahr 1995 noch davon ausging, dass es durch den Wegfall der Grenzkontrollen zu kei-nem vermehrten Steuerausfall komme. Jedoch wurde bereits im Jahr 1997 das Betrugsvolumen auf fünf Milliarden DM geschätzt58, im Jahr 2003 lag dieser Steuerausfall bereits im zweistelligen Milliarden Bereich.59 Auch wenn die Ge-nauigkeit dieser Schätzungen mit Vorsicht zu genießen ist, da sie mal in Euro, mal in deutscher Markt, mal für Deutschland und mal für die gesamte europäische Union genannt werden sowie auch nicht genau klar ist, wie diese Zahlen ermittelt wurden, bleibt festzuhalten, dass der Schaden durch den Umsatzsteuerbetrug enorm und die Tendenz steigend war.60 Begünstigt wird diese Entwicklung in Deutschland zusätzlich dadurch, dass die Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs durch den föderalistischen Aufbau der Finanzverwaltung gehindert wird, sodass sich die europaweit agierenden Steuerhinterzieher nicht von den isoliert arbeiten-den Landesfinanzverwaltungen fürchten müssen.61

Diese erheblichen Steuerausfälle sind zu einem großen Teil auf die Prinzipien des Umsatzsteuerkarussells und der Streckengeschäfte zurückzuführen, welche zwei der am weitverbreitetsten Betrugsformen im Zusammenhang mit der Umsatzsteu-er darstellen und auf deren Funktionsweise im nächsten Kapitel eingegangen wird. 62

Auch wenn die Umsatzsteuerausfälle im Laufe der Zeit leicht zurückgegangen sind, wurde noch kein probates Mittel gefunden, um den Umsatzsteuerbetrug und somit auch die Umsatzsteuerausfälle endgültig einzudämmen, was sich an den enormen Umsatzsteuerausfällen erkennen lässt, die jährlich ermittelt werden. Die-se wurden im Jahr 2017 europaweit auf 137,47 Milliarden Euro geschätzt, von denen rund 18% auf die Bundesrepublik Deutschland zurückzuführen sind. Dieser Umsatzsteuerbetrug war unter anderem ein Beweggrund für die Mitteilung der Kommission über einen Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer vom 07. Ap­ril 2016, welche einen einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum als Ziel titulierte und somit ein nächster Schritt im Harmonisierungsvorhaben darstellte.63 Letzten Endes war dieser Aktionsplan der Anstoßpunkt, welcher eine weitrei-chende Mehrwertsteuerreform durch die europäische Union eingeleitet hat und auf welche im Kapitel 4 detailliert eingegangen wird.

3 Der Missing-Trader-Betrug

Wie bereits in den vorherigen Abschnitten beschrieben, ist die Umsatzsteuer seit Einführung des Binnenmarktgesetzes 1993 aus verschiedenen Gründen sehr be-trugsanfällig. Auch wenn es immer wieder neue Formen des Betrugs gibt, so ist das Vorgehen der Betrüger immer ähnlich.64 Es wird versucht, durch die Mecha-nismen des Allphasen-Nettoumsatzsteuersystems zu profitieren65, indem zwi-schengeschaltete Unternehmen versuchen zu verschleiern, dass das leistende Un- ternehmen die Umsatzsteuer nicht abführt, während der Leistungsempfänger den Vorsteuerabzug in Anspruch nimmt.66

Ein großer Teil dieses Steuerbetrugs ist auf den Missing-Trader-Betrug und des-sen Ausprägungsformen des sogenannten Streckengeschäfts und Umsatzsteuerka-russells zurückzuführen. So entfallen in Deutschland einer Studie zufolge 12,35% der Steuerausfälle auf diese Betrugsformen.67 68 Zwar sind diese Betrugsformen bei weitem nicht die einzigen Möglichkeiten, um Steuern zu hinterziehen, jedoch haben diese Betrugsfälle meist sehr hohe Betrugsvolumina zum Gegenstand. Ge-raten solche Fälle dann in die Öffentlichkeit, schwindet die Vorstellung eines funktionierenden Steuerstaates und setzt die politischen Organe stark unter Druck, diese Problematik unter Kontrolle zu bekommen. 69 Beim Missing-Trader-Betrug bewegen Hintermänner, die in der Öffentlichkeit nicht auftreten, risikobereite Personen, die sich bereit erklären, nach wenigen Mo-naten abzutauchen, dazu, mit Hilfe von gefälschten Ausweisen eine GmbH zu gründen. Als Anreiz versprechen die Hintermänner hohe Gewinne und verharmlo-sen das strafrechtliche Risiko. Gelingt dies, durchlaufen hochwertige Güter, wie zum Beispiel Computerteile, Handys, Edelmetalle, Medikamente aber auch Lu-xusautos70, ein- oder mehrmals eine Lieferkette, was eine Umsatzsteuerverkür-zung möglich macht.71 Das Ausmaß und der Einfluss dieser von kriminalistisch organisierten Banden begangenen Steuerhinterziehung72 werden in einem Sonder-bericht des europäischen Rechnungshofs aus dem Jahr 2015 deutlich, nach dem lediglich 2% der am Karussell teilnehmenden Gruppierungen für insgesamt 80% des Hinterziehungsvolumens verantwortlich sind.73

Bevor im Folgenden auf die genaue Funktionsweise der Streckengeschäfte und des Umsatzsteuerkarussells eingegangen werden kann, müssen im Vorhinein eini-ge Begrifflichkeiten geklärt werden.

3.1 Die Beteiligten am Missing-Trader-Betrug

Da die Funktionsweise des Streckengeschäfts und des Umsatzsteuerkarussells einige Gemeinsamkeiten aufweisen, das Karussellgeschäft, um genau zu sein, eine Erweiterung des Streckengeschäfts ist, werden die beteiligten Parteien des Stre-ckengeschäfts beim Umsatzsteuerkarussell lediglich um zwei Position erweitert. Sowohl beim Streckengeschäft als auch beim Umsatzsteuerkarussell tritt der Mis­sing-Trader sowie der Buffer auf. Beim Umsatzsteuerkarussell sind demgegen-über noch der In-/Out-Buffer und der Distributor beteiligt.

Wie der Name dieser Betrugsform schon erahnen lässt, ist der Missing-Trader das zentrale Element des Missing-Trader-Betrugs.74 Hierunter versteht man „einen für Mehrwertsteuerzwecke registrierten Unternehmer, der, möglicherweise in betrü-gerischer Absicht, Gegenstände oder Dienstleistungen ohne Zahlung der Mehr-wertsteuer erwirbt oder zu erwerben vorgibt und beim Weiterverkauf dieser Ge-genstände oder Dienstleistungen Mehrwertsteuer in Rechnung stellt, die geschul-dete Mehrwertsteuer aber nicht an die zuständige staatliche Stelle abführt“.75 Die­ses Unternehmen mit Sitz in der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist somit verantwortlich für die erfolgende Steuerhinterziehung und löst sich oftmals schnell auf, sobald sich herausstellt, dass die Steuerfahndungsbehörde gegen sie ermittelt.76

Europäische Kommission, Verordnung EG Nr. 1925/2004 vom 29. Oktober 2004 den Buffer um Unternehmen handeln, die ohne ihr Wissen in ein Umsatzsteuerka-russell oder ein Streckengeschäft eingebunden werden.

[...]


1 Vgl. Widmann (2018), S. 617

2 Vgl. Nieskens (2018), S. 1 - 2

3 Vgl. Stadie (2018), S. 919

4 Vgl. Europäische Kommission (2019), S. 1

5 Vgl. Europäische Kommission (2019), S. 2

6 Vgl. Europäische Kommission (2016), S. 3

7 Vgl. Braml/ Felbermayr (2019), S. 1

8 Vgl. Zeit Online (2020), o.S.

9 Vgl. Braml/ Felbermayr (2019), S. 1

10 Endbrügger (2018), S. 685

11 Vgl. Pahne (2006), S. 63

12 Vgl. Europäische Kommission (2016), S. 3

13 Vgl. Europäische Kommission (2019), S. 1

14 Vgl. Europäische Kommission (2016), S. 4

15 Vgl. Zerres (1978), S. 22

16 Vgl. Jacobs (2006), S. 658

17 Vgl. Zerres (1978), S. 22

18 Vgl. Stadie (2018), S. 904; Jacobs (2006), S. 655

19 Vgl. Hahn (2018), S. 135

20 Vgl. im Folgenden Lippross (2012), S. 31

21 Vgl. Zerres (1978), S. 10

22 Vgl. Jakob (2009), S. 9

23 Vgl. Naumann (2019), S. 22

24 Vgl. im Folgenden Jakob (2009), S. 2 - 3; Kußmaul (2014), S. 422

25 Vgl. Naumann (2019), S. 23

26 Vgl. Stadie (2018), S. 906

27 Vgl. im Folgenden Waigel (1993), S. 1

28 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 20.12.1966 - 1 BvR 320/57; Hahn (2018), S. 148

29 Vgl. Lippross (2012), S. 32

30 Vgl. im Folgenden Zerres (1978), S. 13 - 19

31 Vgl. Lutzke (1967), S. 110

32 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 20.12.1966 - 1 BvR 320/57

33 Vgl. Lutzke (1967), S. 110

34 Vgl. Von der Groeben (1970), S. 93

35 Europäische Kommission (1967), S. 1

36 Vgl. Pahne (2006), S. 26

37 Vgl. Pahne (2006), S. 27

38 Vgl. Sikorski (2016 b), S. 44

39 Vgl. Panning (2000), S. 14 - 16; Wachweger/ Schlienkamp (1977), S. 121

40 Vgl. Panning (2000), S. 16

41 Vgl. Europäische Kommission (1985), S. 5

42 Vgl. Pahne (2006), S. 29

43 Vgl. Meyer (1993), S. 7

44 Vgl. Pahne (2006), S. 29

45 Vgl. Panning (2000), S. 17

46 Vgl. Tiedke (2004), S. 11; Jochum (2005), S. 89

47 Vgl. Tiedke (2004), S. 11; Jochum (2005), S. 89

48 Vgl. Tiedke (2004), S. 11; Jochum (2005), S. 89

49 Vgl. im Folgenden Birkenfeld/ Forst (1998), S. 176 - 177

50 Vgl. im Folgenden Panning (2000), S. 19

51 Vgl. im Folgenden Birkenfeld/ Forst (1998), S. 180

52 Vgl. Langer (1992), S. 22

53 Vgl. Sikorski (2016 b), S. 44

54 Vgl. Sender et al. (1998), S. 5

55 Vgl. Meyer (1993), S. 7

56 Vgl. Birkenfeld/ Forst (1998), S. 201 - 202

57 Vgl. Schenk (1992), S. 47; Meyer (1993), S. 7

58 Vgl. Birkenfeld/ Forst (1998), S. 201

59 Vgl. Meyer (1993), S. 7

60 Vgl. Sikorski (2016 b), S. 45

61 Vgl. Pahne (2006), S. 63

62 Vgl. Deutscher Bundestag (2003), S. 3

63 Vgl. Tiedke (2004), S. 11; Jochum (2005), S. 89

64 Vgl. Kemper (2005), S. 1

65 Vgl. Graf/ Bisle (2006), S. 222

66 Vgl. Europäische Kommission (2016), S. 3

67 Vgl. Jochum (2005), S. 89

68 Vgl. Endbrügger (2018), S. 685

69 Vgl. Jochum (2005), S. 89

70 Vgl. Peters Schönberger GmbH (2005), S. 12

71 Vgl. im Folgenden Kemper (2009), S. 752

72 Vgl. im Folgenden Niuwenhuis (2005), S. 177

73 Vgl. Klawikowski et al. (2002), S. 121

74 Vgl. Graf/ Bisle (2006), S. 222

75 Vgl. Kemper (2006), S. 593

76 Vgl. Europäischer Rechnungshof (2015), S. 9

Ende der Leseprobe aus 67 Seiten

Details

Titel
Umsatzsteuerkriminalität. Darstellung und kritische Würdigung vor dem Hintergrund der Mehrwertsteuerreform
Hochschule
Universität Trier
Note
1,7
Autor
Jahr
2020
Seiten
67
Katalognummer
V907811
ISBN (eBook)
9783346201492
ISBN (Buch)
9783346201508
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mehrwertsteuerreform, Mehrwertsteuerbetrug, Missing-Trader-Betrug, Umsatzsteuer, Umsatzsteuerkarussell, zertifizierter Steuerpflichtiger, One-Stop-Shop, innergemeinschaftliche Lieferung, Europäische Union, Mehrwertsteuerlücke, Binnenmarkt
Arbeit zitieren
Marius Hammes (Autor:in), 2020, Umsatzsteuerkriminalität. Darstellung und kritische Würdigung vor dem Hintergrund der Mehrwertsteuerreform, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/907811

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Umsatzsteuerkriminalität. Darstellung und kritische Würdigung vor dem Hintergrund der Mehrwertsteuerreform



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden