Der Dokumentarfilm ist neben einer Kunstform gleichzeitig auch an „einen spezifischen Wirklichkeitsbezug“ , an den Anspruch auf möglichst große Authentizität der Bilder gebunden und steht somit an der Schwelle zwischen Subjektivität und Objektivität. In diesem Sinne stellt sich die Frage, wie die Gewichtung wissenschaftlicher Arbeitsweise und künstlerischer Gestaltung im Dokumentarfilm ausfällt.
Dziga Vertov, der erste Dokumentarfilmtheoretiker, sieht die Behauptung des Dokumentarfilmes als eigenständige Ausdrucksform im Rahmen der Entwicklung der Filmtechnik und vor allem der Filmmontage, sowie ihrеn Einsatz im Film. Dabei besteht er ausdrücklich auf die „Bereinigung“ der Filmsache von Fiktion, Drama oder Suggestion und somit für einen Film der Lebensfakten. In diesem Zusammenhang setzt Vertov eine klare Grenze zwischen dem Dokumentarfilm und dem Spielfilm. Der französische Anthropologe Jean Rouch dagegen, entwickelt die eigene Hypothese, dass ein Dokumentarfilm, wie jeder andere Film unweigerlich etwas Dramatisches, Fiktionales oder Subjektives in sich beinhaltet und sogar braucht.
Ich sehe die Stellung experimenteller Arbeit in ihrem Doppelcharakter, als grundlegend für die Untersuchung der Gewichtung von wissenschaftlichen Methoden und künstlerischer Gestaltung bei Vertov und Rouch. Auf der einen Seite ist das Experiment im Kontext wissenschaftlicher Arbeit eine planvolle Vorgehensweise zur Überprüfung und zur Begründung einer Theorie. Bezogen auf den Bereich der Kunst dagegen kann experimentelle Arbeit Ausdruck der persönlichen Sichtweise und der künstlerischen Improvisation des Filmregisseurs sein. Experiment und Wissenschaft, aber auch experimentelle Arbeit und künstlerische Gestaltung sind folglich eng miteinander verknüpft.
In diesem Zusammenhang möchte ich, am Beispiel vom „Mann mit der Kamera“ (1929) von Vertov und Rouchs „Chronik eines Sommers“ (1961) die Doppelnatur experimenteller Arbeit im Dokumentarfilm aufzeigen: das Verständnis vom Experiment- einerseits als empirisch-wissenschaftliche Methode und andererseits als künstlerisches Gestaltungsmittel im Film.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung
- 2 Kulturhistorischer Kontext bei Vertov
- 2.1 Das Konzept Bogdanovs
- 2.1.1 Der Kulturbegriff
- 2.1.2 Die proletarische Kunst
- 2.2 Das konstruktivistische Verständnis von Kunst
- 2.2.1 Das Material
- 2.2.2 Kunst und Material
- 3 Vertovs Konzept vom Dokumentarfilm als autonomes Medium
- 3.1 Filmkunst und Klassenbewusstsein
- 3.2 Kino-Pravda, Filmfakt und Filmtechnik
- 3.2.1 Kino-Pravda
- 3.2.2 Filmfakt und Filmchronik
- 3.2.3 Filmtechnik
- 3.3 Nichtspielfilm und wissenschaftliche Arbeit
- 3.3.1 Dokumentarfilm und Spielfilm
- 3.3.2 Kino-Glaz und die Stellung wissenschaftlicher Arbeit im Dokumentarfilm
- 4 Begriffliche Bestimmung des Experiments bei Vertov
- 4.1 Organisation und Experiment
- 4.1.1 Montage und Intervall
- 4.1.2 Experiment und Rhythmus
- 4.2 Wissenschaft und Technik
- 4.3 Wissenschaftliche Arbeit und persönliche Einstellung
- 5 Kulturhistorischer Kontext bei Jean Rouch
- 5.1 Film und Feldforschung
- 5.2 Marcel Griaule: Der Film in der ethnographischen Forschung
- 5.2.1 Ethnographischer und Dokumentarfilm
- 5.2.2 Die Spezifik der ethnographischen Aufnahme
- 5.3 Der Film als originäres Ausdrucksmittel
- 5.3.1 Die Kamera als „,Federhalter”
- 5.3.2 Film als persönliche Kunst
- 6 Jean Rouch und der Dokumentarfilm als subjektive Filmkunst
- 6.1 Geteilte Ethnographie und Film
- 6.1.1 Feedbacktechnik, Kinointerview und „total participation”
- 6.1.2 Der ethnographische Film und die Objektivität
- 6.2 Der Film als Werk eines Autors
- 6.2.1 Autorenschaft und Film
- 6.2.2 Autorenschaft und Kunst
- 6.3 Cinéma-vérité
- 6.3.1 Cinéma-Vérité und Kino-Pravda
- 6.3.2 Ciné-Trance und Filmtechnik
- 6.3.3 Dokumentarfilm oder Spielfilm- wissenschaftliche oder nicht- wissenschaftliche Aufnahme
- 7 Die Stellung experimenteller Arbeit bei Rouch
- 7.1 Experiment und ethnographische Forschung
- 7.1.1 Experiment und ethnographischer Forschungsprozess
- 7.1.2 Experiment und wissenschaftliche Auswertung
- 7.2 Experimentelle Arbeit und Film
- 7.2.1 Experiment, Innovation und Filmtechnik
- 7.2.2 Bild, Montage und Experiment
- 8 ,,Der Mann mit der Kamera\" von Vertov als wissenschaftliches Kunst-Experiment
- 8.1 Analyse der formellen Struktur von Vertovs ,,Mann mit der Kamera“
- 8.1.1 „Der Mann mit der Kamera“ als technisches Experiment
- 8.1.2 Wissenschaftliche Experimente im „,Mann mit der Kamera”
- 8.1.3 Rhythmus und künstlerisches Experiment
- 8.2 Die Wissenschaft der Filmkunst
- 9 Die Verschmelzung von Wissenschaft und Kunst in Jean Rouchs „,Chronik eines Sommers”
- 9.1 Die,,Aussage\" der Bilder- exemplarische Film-Analyse von,,Chronik eines Sommers❝
- 9.1.1 Technisches Experiment im Film „,Chronik eines Sommers”
- 9.1.2 Wissenschaft und Experiment
- 9.1.3 Künstlerisches Experiment
- 9.2 Künstlerische Improvisation und die Infragestellung etablierter wissenschaftlichen Vorgehensweisen
- 10 Die Stellung experimenteller Arbeit bei Dziga Vertov und Jean Rouch
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Magisterarbeit befasst sich mit der Bedeutung experimenteller Arbeit im Dokumentarfilm am Beispiel von Dziga Vertov und Jean Rouch. Ziel ist es, die Verbindung von wissenschaftlicher Arbeitsweise und künstlerischer Gestaltung im Dokumentarfilm zu untersuchen und aufzuzeigen, wie Experiment sowohl als empirisch-wissenschaftliche Methode als auch als künstlerisches Gestaltungsmittel fungieren kann.
- Die Rolle des Experiments in der wissenschaftlichen Arbeit
- Die Einbeziehung des Experiments in die künstlerische Gestaltung
- Der Einfluss von kulturhistorischen Kontexten auf die Entwicklung des Dokumentarfilms
- Die Bedeutung von Filmtechnik und Montage für die künstlerische Gestaltung
- Die Verbindung von Objektivität und Subjektivität im Dokumentarfilm
Zusammenfassung der Kapitel
- Kapitel 1: Einleitung: Die Einleitung stellt den Dokumentarfilm als Kunstform mit einem Anspruch auf Authentizität vor und problematisiert die Spannung zwischen Subjektivität und Objektivität in diesem Genre. Vertov und Rouch werden als zwei zentrale Figuren im Dokumentarfilm vorgestellt, deren unterschiedliche Herangehensweisen an die Gewichtung von wissenschaftlicher Arbeit und künstlerischer Gestaltung beleuchtet werden.
- Kapitel 2: Kulturhistorischer Kontext bei Vertov: Dieses Kapitel beleuchtet den kulturhistorischen Rahmen, in dem Vertov seine Arbeit verortet. Dabei werden das Konzept Bogdanovs, ein wichtiger Vertreter der Proletkult-Bewegung, sowie der Einfluss des Konstruktivismus auf die Kunst untersucht.
- Kapitel 3: Vertovs Konzept vom Dokumentarfilm als autonomes Medium: Dieses Kapitel widmet sich Vertovs Konzept vom Dokumentarfilm als eigenständige Ausdrucksform. Dabei werden die Filmtechnik und die Filmmontage, sowie Vertovs Anspruch auf „Bereinigung“ der Filmsache von Fiktion und Suggestion thematisiert.
- Kapitel 4: Begriffliche Bestimmung des Experiments bei Vertov: Dieses Kapitel untersucht die Rolle des Experiments im Rahmen von Vertovs theoretischen Überlegungen. Montage, Intervall, Rhythmus und die Verbindung von wissenschaftlicher Arbeit und persönlicher Einstellung werden dabei in den Fokus gerückt.
- Kapitel 5: Kulturhistorischer Kontext bei Jean Rouch: Dieses Kapitel beschreibt den kulturhistorischen Kontext von Jean Rouchs Arbeit. Dabei wird die Rolle des Films in der ethnographischen Forschung und die Bedeutung von Marcel Griaule als Wegbereiter in diesem Bereich hervorgehoben.
- Kapitel 6: Jean Rouch und der Dokumentarfilm als subjektive Filmkunst: Dieses Kapitel analysiert Rouchs Konzept vom Dokumentarfilm als subjektive Kunstform. Dabei werden die „geteilte Ethnographie“, die „total participation“ und die Frage der Objektivität im Dokumentarfilm untersucht.
- Kapitel 7: Die Stellung experimenteller Arbeit bei Rouch: Dieses Kapitel befasst sich mit der Bedeutung des Experiments in Rouchs ethnographischer Forschung und Filmkunst. Die Verknüpfung von Experiment, Innovation und Filmtechnik sowie die Rolle von Bild und Montage stehen im Zentrum.
- Kapitel 8: „Der Mann mit der Kamera“ von Vertov als wissenschaftliches Kunst-Experiment: Dieses Kapitel analysiert Vertovs Film „Der Mann mit der Kamera“ in Bezug auf die Rolle des Experiments in der formalen Struktur. Das Kapitel untersucht sowohl technische und wissenschaftliche Experimente als auch die künstlerische Gestaltung des Films.
- Kapitel 9: Die Verschmelzung von Wissenschaft und Kunst in Jean Rouchs „Chronik eines Sommers“: Dieses Kapitel befasst sich mit Rouchs Film „Chronik eines Sommers“ und analysiert die „Aussage“ der Bilder. Dabei werden technische, wissenschaftliche und künstlerische Aspekte des Experiments beleuchtet.
Schlüsselwörter
Dokumentarfilm, Experiment, Wissenschaft, Kunst, Dziga Vertov, Jean Rouch, „Der Mann mit der Kamera“, „Chronik eines Sommers“, Montage, Intervall, Rhythmus, Filmtechnik, Ethnographie, Cinéma-vérité, Kino-Pravda, Proletkult, Konstruktivismus, Objektivität, Subjektivität.
- Quote paper
- Kalina Petkova (Author), 2007, Experiment, Wissenschaft und künstlerische Gestaltung bei Dziga Vertov und Jean Rouch , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90917