Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
1.1. Die Liebe als quantifizierbare Verbindung
1.2. Die Liebe als Kommunikationscode
2. Theoretischer Rahmen
2.1. Wie ist soziale Ordnung möglich?
2.2. Wie ist Kommunikation möglich?
2.3. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
2.3.1. Das Medium der Liebe
2.3.2. Das Medium der Liebe zwischen Eltern und Kind
3. Die Kommunikationsmedien in Interstellar
3.1. Die symbiotische Nähe
3.2. Die erzwungene Referenzebene
3.3. Das Medium des Selbsterhalts wird sichtbar
3.4. Das Liebesmedium
4. Fazit
5. Quellenverzeichnis
5.1. Film
5.2. Sekundärliteratur
5.3. Internetquellen
1. Einleitung
Es obliegt nur wenigen Filmemachern, den schwierigen Spagat zwischen unterhaltsamen und zugleich intellektuell ansprechenden Filmen zu meistern und damit sowohl ein breites Publikum als auch Filmkritiker zu begeistern. Zu diesen wenigen gehört der Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Christopher Nolan, der sich durch seine filmisch traditionalistische und verschachtelte Erzählweise auszeichnet. Mit seiner Vorliebe für nichtlineare Erzählungen und dem kreativen Einsatz unterschiedlicher Zeitstränge, gehören seine Werke innerhalb der Online-Filmdatenbank IMDb zu den Bestbewerteten - so auch sein 2014 erschienener Science-Fiction-Film Interstellar, der von offizieller Seite mit insgesamt 44 Auszeichnungen honoriert wurde1. Dabei ist Interstellar, so meine Einschätzung, nicht nur Nolans bisher schönster Film, er trifft überdies den Nerv der Zeit, denn er spricht unsere Zukunftsängste vor dem Horizont nahender Bedrohungen durch den Klimawandel an. Die Handlung wird etwa in der Mitte des 21. Jahrhunderts situiert, wo der Mensch durch eine eingeschränkte Nahrungsmittelproduktion, einer zunehmenden Desertifizierung sowie sukzessiv abnehmenden Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre an den Rand seiner Existenz gedrängt wird. Während einerseits die Sandstürme sowie jährlichen Ernteeinbußen verdrängt werden und sich eine blinde Ignoranz für das ,besserwerdende nächste Jahr’ breitmacht, stellt sich andererseits eine sehr optimistische, ja stierköpfige Hoffnungsmentalität ein; die des Pioniers. „Mankind was born on earth, it was never meant to die here“ (00.37.02-00.37.05)2, heißt es in einem Zitat Coopers (Matthew McConaughey), dem alleinerziehenden Vater, Farmer und ehemaligen NASA-Pilot, der dazu bestimmt ist, ein dreiköpfiges Team an Wissenschaftlern samt Brand in eine fremde Galaxie zu führen. Die Hoffnung ist, eine neue Heimat zu finden, und geschürt wird sie durch ein Wurmloch, das potenziell bewohnbare Planeten in Reichweite der Astronauten bringt; eine Anomalie, die gerade dann auftritt, wo die Menschheit es dringend benötigt. Die Situation zeugt von einer Fügung; und so auch weitere Anspielungen, die das Sichtbare mit dem Opaken ästhetisch verweben.
1.1. Die Liebe als quantifizierbare Verbindung
Im Zentrum der Handlung steht die Beziehung zwischen Cooper und seiner Tochter Murphy, kurz Murph (Mackenzie Foy, Jessica Chastain, Ellen Burstyn). Nachdem Cooper herausfindet, dass er als fähiger Pilot zur entscheidenden Rettungsmission für die Menschheit determiniert wurde, stellt sich für ihn die Herausforderung, seine Kinder auf der Erde zurückzulassen, wohlwissend, dass er sie womöglich nie wiedersieht. In seinem schmerzvollen Abschied hinterlässt er Murph noch eine persönliche Armbanduhr. Sie allerdings ist bestürzt und wütend, weil er sie verlässt und ihr grundlegendes Bedürfnis nach seiner Anwesenheit übergeht. Für Murph ist die Trennung einschneidend, und nachdem die Kommunikation an die Erde unterbrochen wird, vergehen Jahrzehnte der Ungewissheit über Coopers Rückkehr. Sein Versprechen diesbezüglich verblasst zunehmend, irgendwann gibt sie die Hoffnung über seine Rückkehr auf. Trotzdem scheint sie unbewusst etwas zu verbinden, was sie zurück zu ihrem alten Kinderzimmer führt, dort wo Cooper seinen schmerzhaften Abschied nahm. Als Kind vermutet sie dort einen Geist, der versucht, mit ihr über ihr Bücherregal zu kommunizieren - wie sich zum Ende herausstellt ist dies Cooper selbst. Räumlich und zeitlich weit entfernt, schwebt er schwerelos inmitten einer Projektion ihres Zimmers; nicht wirklich sichtbar für Murph. Er befindet sich inmitten von einem schwarzen Loch. Durch einen tesseraktförmigen Hyperraum unendlicher Bücherregale, welcher Zeit als physikalische Dimension abbildet, manipuliert er den Sekundenzeiger von Murph's Uhr. Intervallartig pflegt er einen Morsecode ein, durch den er rettungsentscheidende Daten an Murph sendet. Auf die Frage seines intelligenten Assistenzroboters TARS, wie er sich so sicher sein kann, dass Murph diese Daten selbst nach Jahrzehnten der Abwesenheit auffindet, antwortet Cooper feinfühlig, aber selbstbewusst: „Because I gave it to her.“ (02.31.29-02.31.30) Was dem einhergeht, ist seine Zuversicht über die schicksalshafte Verbindung zu Murph, die die eigentlich unwahrscheinliche Kommunikation ermöglicht. Auf TARS‘ Frage, wie das möglich ist, antwortet Cooper: „Love, TARS, love. [.] My connection with Murph, it is quantifiable. It's the key!“ (02.30.31-02.30.37).
1.2. Die Liebe als Kommunikationscode
Was hier zum Tragen kommt, bedient in auffälliger Weise ein grundlegendes Theorem des Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann: Kommunikation ist unwahrscheinlich, durch Medien wird sie wahrscheinlicher3. Ganz abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit, lebend in einem schwarzen Loch in die Vergangenheit zu kommunizieren - dies wird durch die Fiktion ästhetisch plausibilisiert -, befindet sich Cooper räumlich und zeitlich so weit entfernt von Murph, dass eine erfolgreiche Kommunikation selbst mit technischen Hilfsmitteln aussichtslos erscheint. Doch was Cooper hier als Lösung andeutet, ist nicht allein das Fatum der Liebe, sondern vor allem dessen mediale Bewandtnis, durch die sie seine Botschaft trotz der Hürden erhält. Wie das in Interstellar auf ästhetische Weise gelöst wird, lege ich in dieser Arbeit dar.
Als Bezugstheorie dient mir jene der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien Luhmanns, bei der ich dessen populär gewordene Ausprägung zum Liebesmedium herausgreife4. Allerdings lasse ich die kulturell hervorgebrachte Liebessemantik der Passion - jene, die Luhmann in Paarbeziehungen ausmacht -, beiseite, dies zum einen. Zum anderen gehe ich vorwiegend auf die Grundlegung in den sogenannten organischen Letztgarantien, ihrer symbiotischen Bewandtnis wie auch interaktionellen Bezugnahme ein. Unter Zuhilfenahme dieses Instrumentariums zeige ich auf, wie Interstellar Cooper und Murph über weite Strecken auf poetische Weise miteinander verbindet. Dabei wird im gleichen Zuge ein Medium hervorgebracht, das sich dem Selbsterhalt widmet und anschließend jenes der Liebe enthüllt. Eine Besonderheit dabei ist, dass es hier entgegen der literarischen Untersuchungen Luhmanns nicht um Liebespaare innerhalb einer komplexer werdenden und funktional differenzierten Gesellschaft geht, sondern um eine Eltern-Kind-Beziehung, die sich der Herausforderung einer ungewiss langen Trennung durch eine nahende Existenzbedrohung stellt. Dies stellt die Theorie vor Fragen der angemessenen Adaption, doch darauf gehe ich am Ende der nachfolgenden system- und kommunikationstheoretischen Erklärungen zu Luhmann ein.
2. Theoretischer Rahmen
An erster Stelle luhmannschen Denkens steht die Überlegung, jeglichen sozialen Kontakt als System zu begreifen5. Das heißt, soziale Beziehungen als ein Innen in Differenz zu einem Außen, also der ihr gegebenen Umwelt zu betrachten6. Luhmanns Vorgehen ist dabei eher kontraintuitiv. Im Gegensatz zu seinem damaligen Dozenten Talcott Parsons, der ihn maßgeblich inspiriert hat, vollzieht er eine Umkehrung des Strukturfunktionalismus. Kurzgesagt: Die Systemstruktur geht aus der Handlung hervor und nicht umgekehrt7. Sein von hier an „unverändert durchgehaltenes Gene- ralthema“8 lautet: „Probleme wie ihre Lösungen sind grundsätzlich kontingent ange- setzt“9. Geht es dabei um die „grundsätzliche Möglichkeit von Ja/Nein-Alternativen“10 menschlicher Informationsverarbeitung, bezieht Luhmann dies auf die Selbst- und Fremdfestlegung innerhalb eines sozialen Gefüges11. Luhmann beschreibt dies als doppelte Kontingenz12: „Alles auf andere Menschen bezogene Erleben und Handeln ist darin doppelt kontingent, daß es nicht nur von mir, sondern auch von anderen Menschen abhängt, den ich als alter ego, das heißt als ebenso frei und ebenso launisch wie mich selbst begreifen muß.“13 Unter diesen Voraussetzungen „ist es zunächst unwahrscheinlich, daß eigenes Handeln überhaupt Anknüpfungspunkte (und damit: Sinngebung) im Handeln anderer findet; [...]“14 Woran sollen also soziologische Überlegungen anknüpfen, wenn soziales Handeln unwahrscheinlich ist? Gleichwohl geht mit Frage der Selbst- und Fremdfestlegung eine Selektion in der Sinngebung einher, womit sich zunächst ein Blick auf das zugrundeliegende Medium des Sinns anbietet.
2.1. Wie ist soziale Ordnung möglich?
Sinn geht Hand in Hand mit der Konstituierung und Ordnung von Wirklichkeit. Das bedeutet, die Welt wie sie psychisch und sozial erlebt und verarbeitet wird, setzt sich als „Gesamtheit von Sinnverweisungen [zusammen] [.] und dient [gleichzeitig] als Voraussetzung für die Aktualisierung der konkreten Inhalte“15. Dabei können real nicht alle Verweisungen auf einmal aktualisiert werden. Sinn konstituiert sich immer als die Hervorhebung des Aktuellen am Horizont des Möglichen. Vor diesem Hintergrund kommt Luhmann zur trivialen Feststellung, dass jeder Zufall oder Irrtum produktiv sein muss und notwendig Systembildung zur Folge hat16. Die doppelt kontingente Ausgangslage der Verhaltensunbestimmtheit, auch als „Ursituation des Sozia- len“17 verstanden wird einfach durch eine zeitliche Asymmetrisierung durchbrochen - es erfolgt irgendeine erste Handlung, auf die reaktiv weitere Handlungen folgen bis sich komplementäre Erwartungen bilden18. Diese Erwartungen, aber vor allem die Erwartungserwartungen, sind jene Strukturen, die aus den sozialen Handlungen hervor- gehen19. In diesem Rahmen konstituiert sich ein soziales System in Differenz zu der ihr gegebenen Umwelt. Der gemeinsam hervorgebrachte Sinnhorizont bildet dabei die Grenze. Zusammengefasst: Aus dem funktionalstrukturellen Ansatz entspringt ein Theorietyp, der das „Normale, alltäglich Erfahrbare für unwahrscheinlich erklär[t] und begreiflich mach[t], daß es trotzdem mit hinreichender Regelmäßigkeit zustande- kommt“20.
2.2. Wie ist Kommunikation möglich?
Von dem gleichen Theorietyp ist die Frage: Wie ist Kommunikation möglich? Erklären lässt sich diese mit einem Exkurs in Luhmanns ungewöhnliches Verständnis von Kommunikation. So ist diese ist erstens keine Informationsübertragung im Sinne eines Transports oder dergleichen, sondern eine „Synthese aus drei Selektionen [.]: Information, Mitteilung und Verstehen“21. Zweitens - dies resultiert aus der systemtheoretischen Perspektive - dienen als Kommunikationsteilnehmer die Instanzen ,Al- ter‘ und ,Ego‘ bzw. ,Sender‘ und ,Empfänger‘, die, wenn auch intuitiv mit dem Menschen in Verbindung zu bringen, theoretischer Bewandtnis sind22. Auf einer übergeordneten Ebene spricht Luhmann hierbei auch von sinnkonstituierenden psychischen Systemen23, wobei soziale Systeme von der Sinnkonstituierung freilich nicht ausgeschlossen sind. Letztlich ist zu berücksichtigen, dass Kommunikation auf Ebene eines sozialen Systems die Letzteinheit bzw. spezifische Operation darstellt und so gesehen nur aus analytischen Motiven ,künstlich‘ expliziert werden kann24.
Die Explikation sieht wie folgt aus: Im ersten Schritt wird durch Alter eine Information seligiert. Das heißt, Alter beurteilt etwas in seiner Umwelt als relevant und konstruiert damit Information in Form von Reduzierter Komplexität’25. Aus „ein[em] unermeßlich[n] Potential [.] virtuelle[r] Information“26 wird etwas zu realer Information gemacht. Daraus lässt sich schließen, dass sich „Aussagen über die Welt [.] nur als Aussagen über Umwelten von Systemen treffen [lassen]“27. In einem zweiten Schritt seligiert Alter aus dieser eigens konstruierten Ordnung, welche Information mitgeteilt wird und in welcher Form das geschieht, etwa schriftlich oder mündlich, über ein Telefonat oder im Beisein, etc. Eine Mitteilung ist also immer eine bestimmte Informationsselektion, die andere Möglichkeiten ausschließt, sowohl inhaltlich als auch formal. Im schließlich dritten Akt liegt es an der empfangenden Instanz, also an Ego, die Mitteilung zu verstehen. Dabei ist nicht der inhaltliche Sinngehalt oder die Richtigkeit der Aussage entscheidend, sondern, dass „zwischen Mitteilung und Information unterschieden und der Unterschied verstanden wird“28. Damit wird die oben genannte Synthese aus den drei Selektionen ersichtlich. Sie beinhaltet bereits die ersten beiden Selektionen, vereint diese als eine Operation und bringt im Differenzverstehen Kommunikation zustande.
Da es sich nun hierbei um das ,künstliche Aufgliedern‘ der Letzteinheit handelt, liegt es nahe, dieses Prozedere weiterzudenken, schließlich, so Luhmann in seiner abstrakt theoretischen Formulierung, kommuniziert die Kommunikation in einem System weiter29. Das heißt, in der Anschlusskommunikation - hierzu wird der Begriff der vierten Selektion eingeführt30 - kann Ego Alters Aussage, die im Regelfall ein bestimmtes Sinnangebot bereithält, annehmen oder ablehnen. Dabei wechselt Ego in die Rolle Alters, sodass es sich hierbei eigentlich um den Wiederbeginn der ersten Selektion, der Konstruktion von Information, handelt. Daraus wird ersichtlich, dass „die Kommunikation des Annehmens oder Ablehnens des Sinnvorschlags einer Kommunikation [.] eine andere Kommunikation“31 ist. Ersichtlich wird auch, dass das dafür erforderliche Medium der Sprache einer binären Codierung unterliegt. Das bedeutet: „[F]ür alles was gesagt wird, [stellt] Sprache eine positive und eine negative Fassung zur Verfü- gung“32 und erweitert somit den „Kontingenzraum, für den in der Kommunikation zu unterstellen ist, daß alles, was bejaht wird, auch verneint werden kann und umge- kehrt“33. Dabei ist die Aufspaltung in Ja und Nein zunächst völlig wertneutral. Theoretisch ist es zunächst irrelevant, ob Konsens zwischen Sender und Empfänger erzielt wird. Sofern weitere Selektionen in „ ständig weiterlaufenden Unterscheidungen zwischen Ja und Nein“34 erfolgen, das System sich demnach soziokulturell ausdifferenziert, wird die Kommunikation in irgendeiner Weise fortgeführt. Luhmann spricht hierbei von dem „Mechanismus evolutionärer Selektion “35, einer „sich selbst konditi- onierenden“36 Differenzierung, die „ohne Autor“37 verläuft. Gleichwohl präsumiert er, „dass diese Situation eine Art Kulturevolutionsprogramm in dem Sinne gewesen ist, dass man sich ständig bemühen musste, Ablehnungen unwahrscheinlich zu machen, obwohl sie zunächst einmal wahrscheinlich sind“38, gesetzt die Problematisierung der Kommunikationsvoraussetzungen. Aus Sicht des Senders werden in diesem Zusammenhang drei Hürden formuliert, die „als Schwellen der Entmutigung [...] zum Unterlassen einer Kommunikation“39 führen und zugleich die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation begründen.
Erstens ist es fraglich, dass der Empfänger den Sinnkontext versteht, „gegeben die Trennung und Individualisierung ihres Bewußtseins“40. Hinzu kommt, dass es durch räumliche und zeitliche Extensionen problematisch wird, „daß eine Kommunikation mehr Personen erreicht, als in einer konkreten Situation anwesend sind“41. Und letztlich stellt sich die Frage, wie es „gelingt zur Annahme des Kommunikationsangebots zu motivieren“42. Damit wird umso fraglicher, wie eigentlich Kommunikation möglich ist und es liegt nahe, darauf mit Kommunikationsmedien zu antworten. Sie sind „[d]ie- jenigen evolutionären Errungenschaften, die [.] Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches [.] transformieren“43, womit sich Luhmanns Definition eines sozialen Systems in Kurzform anknüpfen lässt: Es ist die ins Wahrscheinliche umgeformte Unwahr- scheinlichkeit44. Damit wird die Frage nach der Möglichkeit an eine Medientheorie überantwortet. Grundlegend dafür ist zunächst die Sprache, die über symbolische Ge- neralisierungen45 Wahrnehmungen substituiert und darüber die Möglichkeit eröffnet, über Dinge, die außerhalb des unmittelbaren Wahrnehmungshorizontes liegen, zu informieren. Dem kommt das Medium der Schrift hinzu, das es ermöglicht, „Kommunikation über den zeitlich und räumlich begrenzten Kreis der Anwesenden hinauszutra- gen“46. Damit wird zwar der Empfängerkreis expandiert, sodass eine Kommunikation mit höherer Wahrscheinlichkeit zustande kommt, die Annahmewahrscheinlichkeit jedoch sinkt. Für Sender und Empfänger konstatiert Luhmann: „Schrift steigert, weil sie interaktionelle Kontrollen ausschaltet, das Risiko der Selbst- und Fremdtäuschung und das Risiko der Ablehnung von Kommunikationen. Mehr Information heißt normalerweise: weniger Akzeptanz, und auch darauf kann nur in der Gesellschaft mit eigenen Einrichtungen der Abhilfe reagiert werden“47. Diese Einrichtungen - das sind die symbolisch generalisierten Erfolgs- bzw. Kommunikationsmedien, um die es im folgenden Kapitel geht - ermöglichen es, die Annahme von Selektionsofferten auch ohne interaktionelle Kontrollen zu verwahrscheinlichen48.
2.3. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
Wie sich aus den bisherigen Ausführungen bereits ableiten lässt, kommt den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien eine funktional-gesellschaftlich entscheidende Rolle zu: Sie sind die Grundlage zur „Konstitution von Systemzusammen- hängen“49, da sie die Fortsetzung von Selektionsketten gewährleisten und ergo die Reproduktion eines Systems gewährleisten. Zu diesen Kommunikationsmedien zählen Macht und Recht, (wissenschaftliche) Wahrheit, Geld bzw. Eigentum, Werte, Kunst sowie Liebe50. Sie vereinen Selektion und Motivation zur Annahme in sich, weshalb sie in der frühen Version Luhmanns als Erfolgsmedien bezeichnet werden51. Hier einige Beispiele zur Verdeutlichung: „Ego nimmt Alters Befehl an, eine Strafe zu zahlen, weil Alter Macht besitzt; Ego nimmt Alters Behauptung an, daß die Erde um die Sonne kreist, weil es sich um eine wissenschaftliche Wahrheit handelt; Ego nimmt Alters Vorschlag an, den Abend zusammen zu verbringen, weil er Alter liebt“52. Doch wie kommt es überhaupt dazu, dass zunächst „völlig disparat erscheinende[], soziale[] Phänomene[]“53 als Medien klassifiziert werden?
Die oben eingeführte interaktionelle Kontrolle oder vielmehr das Interaktionssystem beschreibt im Grunde genommen die Referenzebene der symbolisch generalisierten Erfolgsmedien54. Es kennzeichnet sich zuvorderst dadurch, seine „Grenze zur Umwelt [...] anhand der Differenz von unmittelbarer Anwesenheit und Abwesenheit“55 zu ziehen. Dabei handelt sich um ein sogenanntes „einfaches Sozialsystem“56 - eines, in dem die Teilnehmer verbal kommunizieren können und damit einhergehend einen latenten Erwartungsrahmen für Anschlussentscheidungen mit Tendenz zur Annahme der Selektionsofferten beanspruchen. Gewisse „Pressionselemente“57 fördern hier den Kommunikationserfolg, beispielsweise bestimmte „Sinnzeichen“, die „über die Kommunikation hinaus auf unterstellte Notwendigkeiten der Annahme der Selektion“58 verweisen. So entstehen nebenbei auch Ontologien, die letztlich durch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien abgelöst werden können - beispielsweise, wenn jemand die Schnörkel auf einer Tonvase als schön auszeichnet und andere Anwesende dem beistimmen59. Hier wird eine Selektionsofferte als Prämisse weiteren Kommunizierens angenommen - die Kommunikation ist erfolgreich und das Medium Kunst wird hervorgebracht, welches zur weiteren Verwendung bereitsteht60. Was sich bis hierhin bereits andeutet, ist, dass die „Theorie der symbolisch generalisierten Erfolgsmedien [.] nach der Möglichkeit von Ordnungsbildung über konkret räumlich und zeitlich gebundene Interaktionen hinaus fragt“61.
[...]
1 Vgl.: https://www.imdb.com/title/tt0816692/awards?ref_=tt_ql_op_1, [30.03.2020 18:44:00]
2 Alle Zeitangaben basieren auf der DVD-Fassung: Nolan, Christopher: Interstellar. USA; UK. 2014.
3 Vgl.: Luhmann: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation.
4 Luhmanns Bücherpaar zum Thema der Liebe - das sind Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität von 1982 sowie seine Seminarvorlage Liebe. Eine Übung von 1969 - erweisen sich mit Blick auf seine Absatzzahlen als die beliebtesten Werke innerhalb seines Oeuvres. Vgl.: Hellmann: Niklas Luh- mann: Liebe als Passion. S. 218.
5 Vgl.: Kneer; Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. S. 33.
6 Vgl.: Krause: Luhmann-Lexikon. S. 207.
7 Vgl.: Luhmann: Soziologie als Theorie sozialer Systeme. S. 113f.
8 Krause: Luhmann-Lexikon. S. 7.
9 Ebd.
10 Kiss: Grundzüge und Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie. S. 5.
11 Luhmann: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung. S. 13.
12 Vgl.: Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. S. 316ff; Vgl. auch: Ders.: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme. S. 13ff.
13 Luhmann: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung. S. 62f.
14 Luhmann: Soziale Systeme. S. 165.
15 Baraldi: Sinn. In: Baraldi et al: GLU. S. 171.
16 Vgl.: Luhmann: Soziale Systeme. S. 165.
17 Baecker: Form und Formen der Kommunikation. S. 93. Vgl. auch: Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. S. 321ff.
18 Vgl.: Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. S. 319ff.
19 Vgl.: Baraldi: Erwartungen. In: Ders., et al: GLU. S. 45-49.
20 Luhmann: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme. S. 12.
21 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. S. 190.
22 Vgl.: Luhmann: Soziale Systeme. S. 191.
23 Vgl.: Kneer; Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. S. 57, 60.
24 Vgl.: Berghaus: Luhmann leicht gemacht. S. 86.
25 Zum Begriff der Komplexität, vgl.: Luhmann: Komplexität. S. 206.
26 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. S. 46.
27 Berghaus: Luhmann leicht gemacht. S. 40.
28 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. S. 97.
29 Vgl.: Berghaus: Luhmann leicht gemacht. S. 87.
30 Vgl.: Luhmann: Soziale Systeme S. 203.
31 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. S. 83; Vgl. auch: Ders.: Soziale Systeme. S. 195.
32 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. S. 221.
33 Ebd. S. 222.
34 Berghaus: Luhmann leicht gemacht. S. 106.
35 Luhmann: Systemtheorie, Evolutionstheorie und Kommunikationstheorie. S. 199.
36 Luhmann: Soziale Systeme. S. 589. Zitiert nach: Kneer; Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. S. 118.
37 Ebd.
38 Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. S. 309.
39 Luhmann: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. S. 27.
40 Ebd. S. 26.
41 Ebd. S. 26.
42 Berghaus: Luhmann leicht gemacht. S. 108.
43 Luhmann: Soziale Systeme. S. 220.
44 Vgl.: Luhmann: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. S. 30.
45 Zur Erklärung symbolischer Generalisierung kann Detlef Horsters Begriffsgliederung mit Blick auf symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien herangezogen werden. In seiner Einführung Niklas Luhmann führt er den Symbolbegriff auf das griechische ,symbolon‘ zurück. Dies heißt so viel wie „zusammenwerfen oder zusammenfügen“ und steht ein für eine zerbrochene Münze, die im Rahmen einer Gastfreundschaft wieder ineinandergefügt wird. Als Erkennungsmerkmal gegenseitigen Wohlwollens „,dient [es] als Zeichen des Zusammenhanges von Vertrautem und Unvertrautem im Vertrauten““. Die Generalisierung, so Krause mit Verweis auf Talcott Parsons, an dem sich Luhmann auch diesbezüglich orientiert, zielt auf den Sachverhalt, dass sich der symbolische Akt in verschiedensten Situationen anwenden lässt. Vgl.: Horster: Luhmann. S. 133f. Zitate: Ebd. S. 133; Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. S. 189. Zitiert nach: Horster: Luhmann. S. 134.
46 Luhmann: Soziale Systeme. S. 219.
47 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. S. 290.
48 Vgl.: Bachmann: Niklas Luhmann: Medien zwischen Erfolg und Anschluss der Kommunikation. S. 214f.
49 Ebd. S. 216.
50 Vgl.: Corsi: Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. In: Ders. et. al.: GLU. S. 189f.
51 Vgl.: Bachmann: Niklas Luhmann: Medien zwischen Erfolg und Anschluss der Kommunikation.
52 Corsi: Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. In: Ders. et. al.: GLU. S. 190.
53 Bachmann: Medien und die Koordination des Handelns. S. 15.
54 Vgl.: Bachmann: Niklas Luhmann: Medien zwischen Erfolg und Anschluss der Kommunikation. S. 214.
55 Bachmann: Niklas Luhmann: Medien zwischen Erfolg und Anschluss der Kommunikation. S. 214.
56 Luhmann: Einfache Sozialsysteme. S. 22.
57 Luhmann: Soziale Systeme. S. 204.
58 Ebd. S. 205.
59 Vgl.: Horster: Niklas Luhmann. S. 137.
60 Vgl.: Corsi: Struktur. In: Ders. et. al: GLU. S. 184; Vgl. auch: Luhmann: Soziologie als Theorie sozialer Systeme. S. 119.
61 Bachmann: Niklas Luhmann: Medien zwischen Erfolg und Anschluss der Kommunikation. S. 215.