Wird Jugendhilfe eingeschult? Schule und Jugendhilfe auf dem Weg in den Ganztag


Diplomarbeit, 2007

97 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Jugendhilfe - eine Standortbestimmung
1.1 Rechtliche Grundlagen und Funktion
1.2 Fachliche Leitlinien und Handlungsprinzipien
1.3 Historische Entwicklungslinien und -muster
1.4 Spannungsgefüge und Herausforderungen

2 Ganztägige Schulorganisation in Deutschland - eine historische Vergewisserung
2.1 Traditionsbestand
2.2 Ganztagsschulentwürfe in der Reformpädagogik bis 1945
2.3 Ganztagsschulentwicklung zwischen 1945 und 1989
2.4 Entwicklungen nach der Wiedervereinigung Deutschlands

3 »Agenda Ganztag«
3.1 Zur Aktualität der Ganztagsschule
3.2 Herausforderung »Bildung, Betreuung und Erziehung«
3.3 Die Ganztagsschule - Daten und aktuelle Definitionen
3.4 Das Investitionsprogramm »Zukunft Bildung und Betreuung«

4 Jugendhilfe im Ganztag
4.1 Zur Debatte um Jugendhilfe und Bildung
4.2 Zentrale Beweggründe für ein Engagement im Ganztag
4.3 Potenzielle Ressourcen für den Ganztagsbetrieb
4.4 Problemfelder und Risiken

5 Perspektive »Ganztagsbildung«
5.1 Das Konzept »Ganztagsbildung« nach Thomas Coelen
5.2 Potenziale des Modellvorschlags für die Kooperationspraxis

Resümee

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

Anhang

Einleitung

„Jugendhilfe und Schule sind in Bewegung geraten - jede Institution für sich und beide zusammen. […] In Ganztagsschulen treffen diese sich bewegenden Institutionen in ganz besonderer Form aufeinander“ (Knauer 2006: 35).

In den vergangenen Jahren wurde in Deutschland eine Debatte um ganztägige Schulorganisation entfacht, die gekoppelt an das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiierte vier Milliarden Investitionsprogramm »Zukunft Bildung und Betreuung« einen sichtbaren Anstieg ganztägig geführter Schulen in den Bundesländern auslöste. Das Thema ist brisant, steht es doch auch im Zusammenhang mit den »skandalösen« Ergebnissen der international vergleichenden Leistungsstudie PISA. Die deutsche Halbtagsschule mit ihrer bildungsorientierten Fachdidaktik kann den neuen gesellschaftlichen Erwartungen, mehr als nur »Unterrichtsschule« zu sein, kaum mehr gerecht werden. Neben der optimalen Unterrichtsgestaltung soll Schule auch auf soziale Probleme reagieren, die traditionell anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Familie und Jugendhilfe zugesprochen wurden (vgl. Deinet/ Icking 2006: 7). In der Folge wird die Ganztagsschule als ein Weg identifiziert, um zu zeitgemäßer »Bildung«, »Betreuung« und »Erziehung« zu gelangen. In diesem Zusammenhang werden auch die Perspektiven für eine Kooperation von Schule und Jugendhilfe neu diskutiert, wobei - und dies sei dieser Arbeit vorangestellt - die zentralen Begriffe »Bildung«, »Betreuung« und »Erziehung« je nach politischem bzw. fachdisziplinärem Zugang inhaltlich different belegt sind (vgl. Spies/ Stecklina 2005:8). Das Terrain Ganztag gilt daher als „professionspolitisch umkämpft“ (Vogel 2004: 33). Jüngst meldete sich beispielsweise Prof. Dr. Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in der WDR Sendung »Hart- aber fair« vom 22. November 2006 zu Wort und schlug erneut vor, die Offene Kinder- und Jugendarbeit aufzulösen und die Fachkräfte an die Schule zu verlagern. Auf diesen Vorstoß Pfeiffers zur Auflösung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit reagierte u.a. Dr. Benedikt Sturzenhecker, Professor am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Kiel, mit einer Stellungnahme unter dem Titel »Jugendarbeit ausbauen statt an Ganztagsschule verlegen!«[1].

Motivation

Die Wahl meines Diplomarbeitthemas »Schule und Jugendhilfe auf dem Weg in den Ganztag« hat zwei Ausgangspunkte. Den Praxisbezug zum Thema habe ich aufgrund meiner Tätigkeit in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und den damit verbunden Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit Lehrerinnen und Lehrern. Dabei fällt mir immer wieder auf, wie wenige Berührungspunkte sich zwischen den beiden Professionen in der Praxis ergeben, wenn gleich sich die beiden Institutionen Schule und Jugendhilfe an eine nahezu identische Zielgruppe richten - nämlich an Kinder und Jugendliche.

Mein wissenschaftliches Interesse am Thema wurde während meines Studiums der Sozialen Arbeit an der HAWK Hildesheim geweckt. In Seminaren sowie im Rahmen von Studienleistungen im Studienbaustein »Bildung und Soziale Arbeit« habe ich mich intensiver mit der Thematik »Verbindungslinien von Schule und Jugendhilfe« auseinandergesetzt. Anregend war darüber hinaus meine Teilnahme am »4. Niedersächsischen Präventionsmarkt - Kooperation von Schule und Jugendhilfe« am 21. September 2006 in Lüneburg. Daher erachte ich es als konsequent diese Thematik im weiteren Sinne auch in meiner Diplomarbeit zu behandeln. Für das Kooperationsfeld Ganztagsschule und Jugendhilfe habe ich mich dabei nicht zuletzt aufgrund dessen Aktualität und Brisanz entschieden.

Fragestellung und Erkenntnissinteresse

Wie der Titel meiner Diplomarbeit bereits anzeigt, beschäftige ich mich innerhalb der vorliegenden Arbeit mit der herausfordernden Frage »Wird Jugendhilfe eingeschult?«. Dahinter steht das Bild der Einschulung, dass ich mit der Idee bzw. Vorstellung eines Vorschulkindes verknüpfe, welches der Einschulung entgegen fiebert, um so schnell wie möglich groß bzw. endlich erwachsen zu werden. An die Einschulung sind folglich hohe Erwartungen geknüpft; sie bietet neue Möglichkeiten und eröffnet Zukunftsperspektiven. Gleichzeitig bedeutet die Einschulung für ein Kind aber auch, einen Großteil seiner Unbeschwertheit und Autonomie aufzugeben. Der Eintritt in die Schule ist ein erster Schritt in eine neue Lebensphase mit zum Teil ungeahnten inhärenten Konsequenzen.

Übertagen auf die Jugendhilfe stellt sich mir die Frage, ob es der Jugendhilfe im Kontext der aktuellen Ganztagsschuldebatte und -entwicklung ähnlich wie dem Kind ergeht? Dabei interessieren mich sowohl die Chancen und Risiken, die sich für die Jugendhilfe bei einer Beteiligung an der Durchführung schulischer Ganztagsangebote ergeben als auch die aktuellen politischen Entwicklungen, die den Weg von Schule und Jugendhilfe in den Ganztag maßgeblich mitgestalten. Hierbei soll jedoch vordergründig nicht diskutiert werden, inwiefern die Einführung der Ganztagsschule wünschenswert ist oder nicht. Vielmehr geht es darum, wie sich der unaufhaltsame Weg in den Ganztag für Schule und Jugendhilfe gestaltet und welche Perspektiven sich für eine Kooperation von Schule und Jugendhilfe »auf gleicher Augenhöhe« eröffnen.

Die vorliegende Diplomarbeit ist eine literaturgestützte Arbeit, so dass ich für die Bearbeitung meiner Fragestellung vorrangig die mir zur Verfügung stehende themenspezifische Fachliteratur nutze. Dabei greife ich insbesondere auf aktuelle Beiträge einschlägiger Autorinnen und Autoren in herausgegebenen Sammelbänden und Zeitschriften zurück. Darüber hinaus basieren meine Informationen u.a. auf Publikationen, die im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, des Deutschen Ganztagsschulverbandes GGT e.V. oder etwa der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe herausgegebenen wurden.

Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Diplomarbeit ist formal in fünf Kapitel gliedert. Im ersten Kapitel meiner Arbeit beginne ich mit einer Standortbestimmung der Jugendhilfe, die dem Leser innerhalb dieser Arbeit als Grundlage für die weiteren Ausführungen dienen soll und insbesondere im Hinblick auf die Rolle und Funktion der Jugendhilfe im Ganztag als zentral erscheint. Dabei werden die rechtliche Rahmung, die fachlichen Leitlinien, die historischen Entwicklungsmuster als auch die Besonderheiten der Jugendhilfe und deren aktuellen Herausforderungen herausgearbeitet.

Im zweiten Kapitel werde ich die historische Entwicklung der Ganztagsschule in Deutschland skizzieren. Diese historische Vergewisserung erscheint vor dem Hintergrund der aktuellen Ganztagsschulentwicklung insofern von Bedeutung, als dass »Ganztagsschule« traditionell ein reformpädagogisches Konzept schulischen Lernens ist und insbesondere durch reformpädagogische Bemühungen geprägt wurde.

Im anschließenden dritten Kapitel werden die aktuellen politischen Entwicklungen im Hinblick auf die Ausweitungen von Ganztagsschulen und Ganztagsangeboten in Deutschland beleuchtet. Dabei beschäftige ich mich insbesondere mit der Aktualität der Ganztagsschulidee und deren Zielperspektiven. Darüber hinaus sollen Daten zum derzeitigen Stand der Ausweitung von Ganztagsschulangeboten sowie zwei aktuelle Definitionen zur Ganztagsschule eingebracht und betrachtet werden. Eine Schlüsselrolle für den derzeitigen Ausbau von Ganztagsschulangeboten kommt dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiierten Investitionsprogramm »Zukunft Bildung und Betreuung« zu. Dieses Programm zur Stärkung ganztägiger Schulorganisation, als auch die damit einhergehenden bildungspolitischen Vorgaben zur Ganztagsschule sollen hier näher betrachtet werden.

Vor dem Hintergrund der im dritten Kapitel aufgezeigten politischen Rahmung der Ganztagsschulentwicklung werde ich mich im vierten Kapitel dieser Arbeit zunächst mit der von Jugendhilfeakteuren initiierten Fachdebatte um Jugendhilfe und Bildung befassen, die an ein modernisiertes Bildungsverständnis als Brücke für eine Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe im Ganztag anknüpft. Zudem sollen Beweggründe der Jugendhilfe für ein Engagement im schulischen Ganztag sowie deren Ressourcen für den Ganztagsbetrieb herausgearbeitet werden, um anschließen auf Problemfelder und Risiken der Jugendhilfe im Ganztag aufmerksam zu machen.

Das fünfte Kapitel der vorliegenden Diplomarbeit steht unter der Überschrift Perspektive »Ganztagsbildung«. Dabei befasse ich mich mit dem Konzept »Ganztagsbildung« von Thomas Coelens zur Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe im Ganztag, das innerhalb der jugendhilfespezifischen Fachliteratur als Perspektive für eine gemeinsame Gestaltung von Lern- und Lebenswelten für Kinder und Jugendliche in Zusammenspiel von Schule und Jugendhilfe diskutiert wird. Dieses Konzept soll vor dem Hintergrund der bisherigen Auseinandersetzungen und Erkenntnisse meiner Arbeit auf Potenziale hin befragt werden.

Abschließend werde ich in meinem Resümee zentrale Aspekte meiner Arbeit darlegen und zusammenführen, sowie offene, im Rahmen dieser Diplomarbeit entstandene weiterführende Fragestellungen aufzeigen.

1 Jugendhilfe - eine Standortbestimmung

Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, im Folgenden synonym gesetzt mit Jugendhilfe, als zentraler Gegenstand dieser Arbeit, zeichnet sich durch ihre Vielgestaltigkeit aus. Wenn im Rahmen dieser Arbeit von Jugendhilfe die Rede ist, soll nicht vergessen werden, dass es »die« Jugendhilfe gar nicht gibt. Vielmehr ist Jugendhilfe die Vielfältigkeit ganz unterschiedlicher Arbeits- und Handlungsfelder wie: Jugendarbeit in Verbänden und Jugendhäusern, Arbeit in Kindertageseinrichtungen, Straßensozialarbeit, Lebens- und Erziehungsberatung, Hilfen zur Erziehung, Arbeit mit delinquenten jungen Menschen, Arbeit in sozialen Brennpunkten, Schulsozialarbeit und vieles mehr (vgl. Thiersch 2003: 144f).

Die nachstehenden Basisinformationen, die das Wesen der Jugendhilfe in rechtlicher, institutioneller und fachlicher Hinsicht skizzieren, als auch der Blick auf historische Entwicklungslinien und -muster sowie Herausforderungen der Jugendhilfe, bilden die Verständnisgrundlage für diese Arbeit und sind nicht zuletzt für die Frage nach der Rolle und Funktion der Jugendhilfe im Ganztag relevant.

1.1 Rechtliche Grundlagen und Funktion

Kinder- und Jugendhilfe bietet in differenzierter Weise und vielfältiger Form Angebote und Leistungen für Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 0 und 27 Jahren sowie deren Familie und stellt ein Subsystem der Sozialpädagogik bzw. der Sozialen Arbeit dar (vgl. Olk/ Bathke/ Hartnuß 2000: 15; BMBF 2004: 57). Der Begriff selbst ist laut Maykus (2001: 114) nicht eindeutig definiert und wird außerordentlich weit interpretiert. Einigkeit bestehe jedoch darin, „daß mit Jugendhilfe ein Praxisfeld zwischen Sozialpädagogik und Recht verbunden ist, ein Praxisfeld, das dynamische Erziehungsprozesse und statische Rechtsformen verbinden, arrangieren muß“ (ebd.). Gesetzlich festgeschrieben hat Kinder- und Jugendhilfe dafür Sorge zu tragen, junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung zu fördern, Benachteiligung zu vermeiden und abzubauen, sowie positive Lebensbedingungen und eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten bzw. zu schaffen (vgl. SGB VIII §1 Abs. 3). Insofern ist der Auftrag der Jugendhilfe rechtlich fundiert.

Die nachstehende Abbildung stellt die Ziele, Aufgaben und entsprechenden Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe in einer Übersicht dar.

Abb. 1 Kinder- und Jugendhilfe - Ziele, Aufgaben, Institutionen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Jordan/ Sengling (2000: 13).

Die Jugendhilfe erfüllt ihren Auftrag, der als „gesellschaftliche Integrationsfunktion“ (Olk/ Bathke/ Hartnuß 2000: 16) bestimmt werden kann, demnach durch allgemein fördernde, direkt helfende und politische Maßnahmen bzw. Angebote (vgl. Jordan/ Sengling 2000: 12). Ihr Auftrag richtet sich somit an Individuum und Gesellschaft und beinhaltet ein politisches Mandat.

Jordan und Sengling (2000: 14) fassen die Aufgabenbereiche der Jugendhilfe ferner zusammen und liefern folgende Funktionsbestimmung der Kinder- und Jugendhilfe:

„Jugendhilfe hat in Ergänzung zur Familie und neben Schule und Ausbildung junge Menschen in ihrer Entwicklung allgemeinerzieherisch zu fördern, durch Beratung und Unterstützung soziale Benachteiligungen und Entwicklungskrisen entgegenzuwirken, Hilfe zur Erziehung zu leisten, wenn das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen nicht gewährleistet ist, und an gerichtlichen Verfahren mitzuwirken. Zugleich soll Jugendhilfe sich anwaltschaftlich- politisch für besser Lebensbedingungen junger Menschen einsetzten. Damit verbunden ist die Erarbeitung und Durchsetzung korrigierender Alternativen ebenso wie die Vertretung der betroffenen Gruppe gegenüber anderen gesellschaftlichen Interessen und Gruppen“ (Jordan/ Sengling 2000: 14).

Je nach Handlungs- und Aufgabenbereich geht es in den einzelnen Angeboten und Leistungen der Jugendhilfe mit entsprechend unterschiedlicher Gewichtung und Akzentuierung um Bildung, Erziehung, Betreuung und Förderung von Kinder und Jugendlichen (vgl. BMBF 2004: 58). Als Funktionsträger in Form eines »Anwalts von Kindern und Jugendlichen« hat die Jugendhilfe grundlegend eine gesellschaftliche »Einmischfunktion« zu realisieren.

Die Zuständigkeit für die Kinder- und Jugendhilfe liegt in kommunaler Verantwortung bei Städten oder Landkreisen, die dafür Jugendämter einzurichten haben, sowie beim kommunalen Jugendhilfeausschuss, der sich aus Mitgliedern der Ratsfraktionen, aus Vertreterinnen und Vertretern der öffentlichen und freien Jugendhilfe als auch aus kompetenten Bürgerinnen und Bürgern zusammensetzt. Für die Rahmengestaltung der Kinder- und Jugendhilfe sind dagegen die einzelnen Bundesländer zuständig, währenddessen dem Bund insbesondere durch die gesetzliche Rahmenvorgabe im Hinblick auf eine einheitliche Gesetzgebung durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz eine anregende und fördernde Funktion zukommt (vgl. BMBF 2004: 58).

1.2 Fachliche Leitlinien und Handlungsprinzipien

Die Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes am 1. Januar 1991 in den westlichen Bundesländern[2] brachte in inhaltlich- konzeptioneller als auch rechtlich garantierender Hinsicht entscheidende Veränderungen für die Kinder- und Jugendhilfe mit sich. So formulieren Olk/ Bathke/ Hartnuß (2000: 16) evident: „Sie hat sich von einer repressiven und eingriffsorientierten Not- und Kontrollagentur zu einem modernen leistungs- und angebotsorientierten Hilfe- und Unterstützungssystem fortentwickelt, das seine Aufgaben an tendenziell alle Kinder und Jugendlichen richtet“ (Olk/ Bathke/ Hartnuß 2000: 16). Die bedarfsabhängigen Angebote und (Dienst-)Leistungen der offensiv konzipierten und verstandenen Jugendhilfe werden mit Handlungsprinzipien wie beispielhaft: »Leistung statt Eingriff«, »Prävention statt Reaktion«, »Demokratisierung statt Bevormundung« in Verbindung gebracht. Zudem wird die zeitgemäße Jugendhilfe seit Veröffentlichung des Achten Jugendberichtes der Bundesregierung 1990 unter der Prämisse der »Lebensweltorientierung«[3] gefasst und durch immanente Strukturmaximen wie »Prävention«, »Regionalisierung«, »Alltagsorientierung«, »Partizipation« und »Integration« bestimmt (vgl. Lauer 2000: 353f; vgl. Jordan/ Sengling 2000:14). Drilling (2002: 52f) erläutert diese Strukturmaxime bzw. fachlichen Leitlinien evident:

„[…] Prävention fordert die Orientierung der Arbeit an lebenswerten, stabilen Verhältnissen; Regionalisierung meint, dass Jugendhilfe innerhalb des Gemeinwesens, also gewachsenen Strukturen verortet sein muss und die bestehenden sozialen Netzwerke in die eigene Arbeit einbeziehen muss; Alltagsorientierung verlangt, Hilfestellungen stark an den Lebensumständen und -realitäten der Klientinnen und Klienten auszurichten, statt Universallösungen zu propagieren; Partizipation hebt das Recht zur Mitsprache und Mitbestimmung aller am Prozess Beteiligten hervor; Integration erfordert einerseits Angebote für Randgruppen und spezielle Zielgruppen, andererseits wird aber auch eine Angebotspalette für alle Kinder und Jugendlichen erwartet“ (Drilling 2002: 52f ).

Diese fachlichen Leitlinien können als charakteristisch für die Kinder- und Jugendhilfe angesehen werden, die sich darüber hinaus insbesondere durch ihre große Pluralität auszeichnet. Pluralität in der Jugendhilfe spiegelt sich dabei zum einen durch die freien Träger der Jugendhilfe wieder und wird durch das Subsidiaritätsprinzip gestützt und gestärkt (vgl. BMBF 2004: 59f). Zur Pluralität der Träger kommt die aufgezeigte Pluralität hinsichtlich der Aufgaben und Leistungen der Jugendhilfe.

1.3 Historische Entwicklungslinien und -muster

Die geschichtliche Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe ist bis in die jüngste Zeit in sich gebrochen und nicht widerspruchsfrei (vgl. Bock/ Seelmeyer 2005: 985).

Die historischen Wurzeln dieser Praxis können laut Lauer (2000: 352) einerseits in der christlich geprägten Arbeit der Findelkind- und Waisenhäuser des ausgehenden Mittelalters wie auch in der vom Zeitgeist der Aufklärung geprägten Idee von „Kindheit als eigenständige Welt neben der der Erwachsenen“ (ebd.) gesucht werden[4]. Andererseits erforderten die im Zuge der Industrialisierung hervorgerufenen sozialen Probleme, wie Verelendung durch die Umwälzung familiärer Lebensformen in den aufkommenden Großstädten, stärkere staatliche ordnungspolitische Interventionen, so dass Lauer (ebd.) hier die Anfänger der heutigen Kinder- und Jugendhilfe verortet. Bock/ Seelmeyer (2005: 985f) differenzieren dagegen drei zentrale Stränge, aus denen sich ihrer Ansicht nach das heutige Praxisfeld der Kinder- und Jugendhilfe entwickelte:

„[…] als ältester Strang lässt sich eine zunächst eng an die Armenfürsorge gekoppelte und damit eher sozialpolitisch motivierte Kinder- und Jugendfürsorge identifizieren. Der zweite Strang einer zwischen Jugendverbänden, Jugendbewegung und öffentlichen Jugendpflege entstandenen Jugendarbeit lässt sich eher dem Kontext von Erziehung und Bildung zuordnen. Als dritter Strang kann die öffentliche Kleinkindererziehung angesehen werden [...]“ (Bock/ Seelmeyer 2005: 986) .

Vor diesem Hintergrund lassen sich verschiedene Entwicklungsmuster der Kinder- und Jugendhilfe identifizieren, die der komplexen und mehrdimensionalen geschichtlichen Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe wohl am ehesten gerecht werden. Bock/ Seelmeyer (2005: 987) sprechen in diesem Kontext von einer „Verrechtlichung“ (ebd.), einer „Institutionalisierung“ (ebd.) und einer „Pädagogisierung“, die als charakteristische Entwicklungsmuster der Kinder- und Jugendhilfe bezeichnet werden können.

Die »Verrechtlichung« der Kinder- und Jugendhilfe nimmt ihren Ausgang in Regelungen zur Armenkindfürsorge, in Pflegekinderschutzbestimmungen, spezifischen Regelungen für Jugendliche im Strafrecht, gesetzlichen Festschreibungen zum Kinderschutz, aber auch in den preußischen Erlässen zu Vorschulerziehung und Jugendpflege (vgl. Bock und Seelmeyer 2005: 988) und mündet letztlich in das 1922 geschaffene Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, ein Gesetz, das in der alten BDR 1961 mit wesentlichen Ergänzungen als Jugendwohlfahrtsgesetz neu verkündet und nach über 20-jähriger Reformdiskussion - bezüglich der Notwendigkeit einer offensiven Jugendhilfe - am 1. Januar 1991 durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz abgelöst wurde (vgl. Lauer 2000: 352; Jordan/ Sengling 2000: 15). Das Kinder- und Jugendhilfegesetz bildet heute das Achte Sozialgesetzbuch.

Die »Institutionalisierung« der Kinder- und Jugendhilfe vollzieht sich im Laufe ihrer Entwicklung durch die „Verlagerung von einer im weitesten Sinne familialen zu einer organisationsförmigen Einbringung von Erziehungs- und Versorgungsleistungen“ (Bock/ Seelmeyer 2005: 988). Es entsprang ein immer ausdifferenzierteres System an spezifischen Einrichtungen sowie erste Jugendämter[5], die in der Zukunft „das organisatorische Herzstück einer institutionalisierten Jugendhilfe“ (ebd.) bilden sollten. Obwohl die Kinder- und Jugendhilfe in einigen Bereichen, wie der Heimerziehung, auf einen langen Prozess der Institutionalisierung zurückblicken kann, stellt sie ein außerordentlich dynamisches Feld dar. Viele Arbeitsfelder sind relativ jung und mit aktuellen Aufgaben betraut. Die Institutionen sind häufig nicht groß; die Traditionen zumeist wenig transparent und öffentlich nur bedingt anerkannt (vgl. ebd.; Thiersch 2003: 145).

Eine »Pädagogisierung« der Kinder- und Jugendhilfe zeigt sich mit den auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts datierten Anfängen sozialpädagogischer Praxen in der Arbeit mit Kinder und Jugendlichen. Es entwickelte sich „‚nach und nach eine auf Sozialisation und Erziehung ausgerichtete soziale Pädagogik’“ (Münchmeier 1981: 88 zit in Bock/ Seelmeyer 2005: 988), die jedoch mit einer „Individualisierung strukturell verursachter Problemlagen“ (Bock/ Seelmeyer 2005: 988) einhergeht. Probleme sowie deren Lösung werden demnach beim Individuum verortet, so dass der »Rest der Gesellschaft« überwiegend aus der Verantwortung der Problemlösung entlassen wird.

Festzuhalten bleibt, dass ausgehend von der Jugendfürsorge, der Jugendpflege und der Kleinkinderziehung die Schaffung gesetzlicher Grundlagen, die Ausdifferenzierung von Handlungsfeldern und organisatorischen Strukturen sowie die Entwicklung sozialpädagogischer Konzepte die Rahmung für die heutige professionelle Jugendhilfe bilden.

1.4 Spannungsgefüge und Herausforderungen

Die Jugendhilfe wurde und wird durch eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren und deren gegenseitige Beeinflussung geprägt. Zu diesen Einflussgrößen zählen insbesondere ökonomische Zwänge, politische Interessen[6] und geistige Strömungen[7] (vgl. Jordan/ Sengling 2000: 18).

Überdies bewegt sich Jugendhilfe in einem „Gemisch aus Fremderwartungen, Themenkonjunkturen, Selbstansprüchen und situativen Zwängen“ (Lindner 2003: 50), dass ich als ein wechselseitiges und in sich nicht widerspruchsfreies Spannungsgefüge begreife.

In diesem Spannungsgefüge steht die Jugendhilfe vor der Herausforderung ihren originären Auftrag, vielfältige Ansprüche, Erwartungen und Zwänge zu bearbeiten.

Unter Fremderwartungen können dabei beispielhaft verschiedenste, widersprüchliche Erwartungen seitens der Politik, der Öffentlichkeit und nicht zuletzt der Klientel verstanden werden, die dann wiederum im Spannungsverhältnis zu den selbsterhobenen Ansprüchen und fachlichen Leitlinien der Jugendhilfe stehen können. Darüber hinaus ist die Jugendhilfe bei ständig wechselnden Themenkonjunkturen, die sich plakativ und in Anlehnung an Hornstein (2004: 15) immer dann ergeben, wenn ein Thema in der Öffentlichkeit als kritisch, besorgniserregend oder beängstigend empfunden ist, involviert, indem sie aufgefordert wird, entsprechende Beträge zur Lösung des jeweils aktuellen Problemgegenstands zu erbringen[8] (vgl. ebd.). Auch hier bewegt sich die Jugendhilfe in einem Spannungsverhältnis aus eben diesen Konjunkturen mit ihren entsprechenden Anforderungen, öffentlichen Erwartungen und Ansprüchen der eigenen Profession. Unter situative Zwänge lassen sich letztlich jegliche sich ändernden Gegebenheiten und Rahmenbedingungen fassen, die die Jugendhilfe „im Horizont des Leitbildes Sozialer Gerechtigkeit“ (Heiner 2004: 155) vor die Herausforderungen stellt, ihre theoretisch formulierten und konzeptionellen Ansprüche an eine moderne und offensive Jugendhilfe in der alltäglichen Praxis zu realisieren, was allzu schnell in Überforderung mündet (vgl. Lindner 2003: 50).

Jugendhilfe als Subsystem Sozialer Arbeit handelt somit in einem nahezu paradoxen „Spannungsgefüge von gesellschaftlichen Anforderungen und individuellen Bedürfnissen bzw. Fähigkeiten sowie der Kompetenz des Austarierens von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, Hilfe und Kontrolle, Disziplinierung und Akzeptanz, Hilfegewährung und Hilfeverweigerung“ (Heiner 2004: 155). Diese komplexen Herausforderungen sind prägend und in der Praxis droht die Jugendhilfe, wie Lauer (2000: 354) attestiert, „durch immer wieder neu auftretende Einzelprobleme überrollt und auf alte - vermeintlich überwunde - Positionen zurückgeworfen zu werden“ (ebd.). So sieht sich die Jugendhilfe vor der Herausforderung, wie Sturzenhecker (2003: 53) stellvertretend für das konkrete Handlungsfeld der Jugendarbeit formuliert, eine „durch Politik und Erwachsenengesellschaft induzierte Überlastung […] mit ständig wechselnden […] Aufträgen“ (ebd.) zu kompensieren und im Ideal gegenüber ihrer Klientel zu negieren[9]. Dabei darf in Anlehnungen an Jordan/ Sengling (2000: 14f) nicht übersehen werden, dass Jugendhilfe mit gesellschaftlichen Benachteiligungen und Problemlagen konfrontiert wird, deren Ursachen weitgehend in sozioökonomischen Bedingungen zu suchen sind (ebd.). Im Bedarfsfall übernimmt sie daher überwiegend eine reagierende Funktion jedoch ohne „befriedigende diagnostische Verfahren und multiprofessionelle Methoden und entsprechende Leistungen entwickelt“ (Lauer 2000: 354) zu haben. So steht die Jugendhilfe „ohne ausreichend Strategien und Zielsetzungen des Handelns[10] “ (ebd.), sowie aufgrund ihrer Vielgestaltigkeit und Offenheit der Herausforderung und Gefahr gegenüber, sensibel und anfällig für Entwicklungen und Krisen zu sein (vgl. Thiersch 2003: 145f).

Insgesamt bietet Kinder- und Jungendhilfe in Deutschland ein thematisch umfangreiches und fachlich fundiertes Leistungsangebot für Kinder, Jugendliche und deren Familien, das auf eigene Paradigmen aufbaut. Jugendhilfeangebote sind auf eine umfassende Persönlichkeitsbildung und -entwicklung von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet und beziehen sich entsprechend des gesellschaftlichen Auftrags überwiegend auf sozialintegrative Leistungen.

Aktuell ist die Jugendhilfe im Zuge der öffentlich geführten Ganztagsschuldebatte aufgefordert, Position zum Ganztag zu beziehen und verstärkt mit Schule im Rahmen von Ganztagsangeboten zu kooperieren. Das Thema Ganztagsschule hat dabei trotz angesprochener Heterogenität der Jugendhilfe für drei Handlungsfelder der Jugendhilfe besonderer Bedeutung: für den Bereich der Kindertagesstätten und zwar hauptsächlich in Bezug auf den Übergang in die Primarstufe, für die Jugendarbeit und insbesondere deren Kooperation mit Ganztagsschulen der Primar- und Sekundarstufe I sowie für die Jugendsozialarbeit als Kooperationspartner im Rahmen ganztägiger Schulorganisation für den Bereich Übergang von Schule in Ausbildung, Beruf bzw. Erwerbstätigkeit oder in Bezug auf besondere Problemlagen wie Schulabstinenz (vgl. Oelerich 2005: 46). Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegt insbesondere auf dem Bereich der Jugendarbeit und somit auf der Kooperation mit Ganztagsschulen der Primarstufe und Sekundarstufe I.

2 Ganztägige Schulorganisation in Deutschland - eine historische Vergewisserung

Die Diskussion um ganztägige Schulorganisation ist in Deutschland nicht neu, sondern hat eine lang zurückgreifende Geschichte (vgl. Ludwig 2004: 209). Ein Blick in diese Geschichte der Ganztagsschulentwicklung dient nicht dem Selbstzweck, sondern gibt Auskunft über Hintergründe bestimmter Entwicklungen. So soll der nachfolgende Ausflug zu den historischen Wurzeln der Ganztagsschule zugunsten des besseren Verständnisses ihrer aktuellen Hindernisse und zukünftigen Perspektiven dienen. Dabei werden auch Aussagen über das historisch gewachsene Verhältnis von Schule und Jugendhilfe getroffen, das die angehende Kooperation von Schule und Jugendhilfe im Ganztag maßgeblich mitbestimmen wird.

2.1 Traditionsbestand

In Deutschland ist weitgehend in Vergessenheit geraten, dass es im 19. Jahrhundert in vielen Ländern des heutigen Europas und so auch in Deutschland allgemein üblich war, Schule ganztägig - im Sinne einer zeitlich auf den Tag ausgedehnten, systematischen Beschulung von Kindern und Jugendlichen - zu organisieren. In Anlehnung an den Rhythmus der damaligen Arbeitswelt fand der Unterricht zu jener Zeit in der Regel vormittags von 8.00 bis12.00 Uhr und nachmittags von 14.00 bis 16.00 Uhr statt. In der längeren Mittagspause gingen Lehrkräfte und Schülerschaft nach Hause, um im Kreise ihrer Familien das Mittagessen einzunehmen und eine Ruhepause einzulegen. Dieses Organisationsmodell mit geteiltem Unterricht am Vor- und Nachmittag kann in Anlehnung an Ludwig (2004:210) als »traditionelle« Ganztagsschule bezeichnet werden und hielt sich in Deutschland im Volksschulwesen bis in das 20. Jahrhundert hinein. Die heute in der Bundesrepublik geläufige Halbtagsschule etablierte sich Ende des 19. Jahrhunderts zunächst im höheren Schulwesen[11]. Das Volksschulwesen folgte diesem Muster bald mit Rücksichtsnahme auf die damals noch weit verbreitete Kinderarbeit in der Landwirtschaft und im Gewerbe. Schule konzentrierte sich folglich mehr und mehr auf den Vormittag. Die unter diesen Bedingungen in Deutschland neu eingeführte Halbtagsschule verstand sich, wie auch die damit abgelöste »traditionelle« Ganztagsschule, im Kern als Unterrichtsschule. In anderen Ländern wie England, Frankreich und allen voran den USA wurde der ganztägige Organisationsrahmen der Schule hingegen beibehalten und zugleich durch neue Strukturelemente und Aufgabenstellungen angereichert. So wurden über den Unterricht hinaus erzieherische, sozialpädagogische und sozialpolitische sowie didaktisch-pädagogische Aufgaben von der Schule übernommen, die in Deutschland seinerzeit überwiegend als Angelegenheit der Familie und der außerschulischen Jugendhilfe betrachtet wurden, so dass eine Neukonzeption der ganztägig geführten Schule in Deutschland ausblieb. Was in den anderen Ländern seit jeher als selbstverständlich gilt[12], bleibt so in Deutschland eher die Ausnahme. Die deutsche Schule beschränkte sich vornehmlich auf die Unterrichtsaufgabe und wurde überwiegend als Halbtagsschule organisiert (vgl. Tillmann 2004: 193; Ludwig 2004: 210f; Ludwig 2005: 261ff; Geißler 2005: 82f).

Für die Schülerschaft und vor allem für die Oberklassen des höheren Schulwesens in Deutschland eröffnete der schulfrei gewordene Nachmittag neue Möglichkeiten. Demgemäß erfuhr das außerschulische Vereinsleben der Jugend in Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts einen enormen Aufschwung[13] ; Schule dagegen gelang es nur wenig, ihr aufgegebenes Nachmittagsterrain durch außerschulische Angebote wie Schülerchor oder Turngruppe zurück zu gewinnen (vgl. Geißler 2005: 83).

Damit einher ging in der weiteren Entwicklung auch eine klare institutionelle Trennung und Aufgabendifferenzierung von Schule und Jugendhilfe. Dies spiegelt sich vor allem in der Definition von Bäumler aus dem Jahre 1929 wieder, „in der Sozialpädagogik als, ‚alles was Erziehung, aber nicht Schule und nicht Familie ist’ bestimmt wurde“ (Stecklina 2005: 206). Zu dieser Weichenstellung trugen sowohl die Reichsschulkonferenz von 1920 als auch das 1922 verabschiedete Reichsjugendwohlfahrtsgesetz maßgeblich bei. Dort wurden die Aufgaben und Organe einer eigenständigen Jugendwohlfahrt als dritte Erziehungsinstanz neben Schule und Familie gesetzlich verankert (vgl. Olk/ Bathke/ Hartnuß 2000: 11ff). Bestimmend für das Verhältnis von Schule und Jugendhilfe ist folglich bis heute die im 20. Jahrhundert historisch gewachsene institutionelle Trennung und funktionale Ausdifferenzierung der beiden Erziehungssysteme[14]. Vor diesem Hintergrund wird der Blick zunächst wieder auf die Entwicklungslinien der »modernen« Ganztagsschule in Deutschland gerichtet, die mehr sein will als »Unterrichtsschule«. Zur Konzeption und Realisierung einer solchen Schule als Alternative zur Halbtagsschule trägt die deutsche Reformpädagogik maßgeblich bei.

2.2 Ganztagsschulentwürfe in der Reformpädagogik bis 1945

Durch die Bemühungen der frühen Reformpädagogik um 1900, insbesondere als Reaktion auf die verbreitete Halbtagsschule, die etwa aufgrund ihres engen Zeitregiments, ihrer kognitiven Einseitigkeit, ihrer autoritären Lehrer-Schüler-Beziehung sowie ihrer Zeugnis- und Zensurensprache unter Reformpädagogen umstritten war, entstanden in Deutschland seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder konzeptionelle Entwürfe moderner Ganztagsschulmodelle, die teilweise auch realisiert wurden. Es sind im Wesentlichen die deutschen Landerziehungsheime[15] des Reformpädagogen Hermann Lietz, das Halbinternat[16] des Reformpädagogen Ernst Klaff sowie die Wald- und Freiluftschulbewegung[17] die in Deutschland auf dem Weg zur modernen Ganztagsschule eine anregende Rolle spielten[18]. In diesen Konzepten wurden „Eckpunkte eines pädagogisch gestaltbareren Lern- und Lebensraums erkennbar, der die Bildung des ganzen Menschen in den Mittelpunkt rückte“ (Beutel 2005: 104). Demnach wurden bereits vor der Zeit der Weimarer Republik von vielen Reformpädagogen so genannte „Lebensgemeinschaftsschulen“ (Tillmann 2004: 195) statt „Buchschulen“ (ebd.) gefordert, die sich den Fragen zur Integration sozialpädagogischer Aufgaben in den Schulalltag stellten.

Ganztagsschulmodelle in der Weimarer Republik

Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlitten die Reformbemühungen um alternative Schulformen in Deutschland einen Rückschlag, wurden jedoch nach 1918 wieder aufgenommen und weiterentwickelt. Mitte der 1920er- Jahre soll es in Deutschland über 40 Tageswaldschulen gegeben haben (vgl. Ludwig 2005: 267). In diesem Kontext schreibt Ludwig (2005: 268): „Eine reformpädagogisch geprägte moderne Ganztagsschule für alle war in Form von Modellschulen realisiert“ (ebd.).

Weitere Ansätze für die Ganztagsschulentwicklung gab es bei Paul Oestereich, in dessen Einheitsschulidee bereits essentielle Merkmale moderner Ganztagsschulpraxis erkennbar werden: „Schule muss mit dem Leben korrespondieren (Lebensschule), sie muss sich von der lediglich fachlichen Vermittlung von Wissen lösen und sich öffnen für gesellschaftliche Themen und Handlungsfelder (Öffnung der Schule). Sie soll das Lernen durch Aspekte der Rhythmisierung mittels verschiedener Betätigungs- und Lernformen effektiver und menschennäher gestalten […]“ (Beutel 2005: 105). Schließlich sei noch der an die moderne Ganztagsschulidee geknüpfte Gesamtschulgedanke von Fritz Karsen erwähnt, der besonders Aspekte einer demokratisch sowie sozial gerecht verfassten Gesellschaft beinhaltete. Dieses Modell einer Gesamtschule in Ganztagsform stand im Berliner Stadtteil Neukölln Ende der 1920er- Jahre kurz vor der Verwirklichung, wurde dann aber aufgrund der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nicht mehr realisiert (vgl. Beutel 2005: 105; Ludwig 2005: 270).

Versucht man aus den beschriebenen reformpädagogischen Ganztagsschulentwürfen zentrale Strukturelemente heraus zu kristallisieren, so ergeben sich in Anlehnung an Ludwig (2004: 214) vor allem diese: Mittagsessen und Freizeitangebote, AGs und Neigungskurse, Förderunterricht, Integration der Hausaufgaben, neue Unterrichtsformen, flexible Stundenplangestaltung und Rhythmisierung, enge Zusammenarbeit mit den Eltern, Öffnung der Schule zum Leben und Ausgestaltung als Lebensraum, Ausbau des schulischen Beratungswesens, mehr Gelegenheit für Schüleraktivitäten, Wandelung der Lehrerrolle. Diese sind im Wesentlichen die Gesichtspunkte, die heute insbesondere durch die Programmatik des Ganztagsschulverbandes GGT[19] verkörpert werden und als unerlässlich für eine Ganztagsschule angesehen werden müssen.

Ganztagsschulrelevante Entwicklungen zur Zeit des Nationalsozialismus

Im Zuge der staatlichen Ideologisierung und Instrumentalisierung des Schul- und Bildungswesens durch das nationalsozialistische Regime wurde die freie Entfaltung reformpädagogischer Schulreformbestrebungen in Deutschland nahezu unmöglich gemacht. Im Exil wurden einige ganztagsschulrelevanten Ansätze der deutschen Reformpädagogik[20] weitergeführt und nach 1945 wieder in die damalige schulpädagogische Diskussion um die ganztägige Organisation der Schule im Nachkriegsdeutschland eingebracht (vgl. Beutel 2005: 105; Ludwig 2005: 271f; Ludwig 2004: 214).

2.3 Ganztagsschulentwicklung zwischen 1945 und 1989

Nach dem Ende des Nationalsozialismus sind in der späteren BRD und der späteren DDR völlig unterschiedliche Entwicklungen zu verzeichnen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass weder im westlichen noch im östlichen Teil Deutschlands nach Kriegsende die Vorstellungen der Besatzungsmächte bezüglich eines ganztägig verpflichtenden Schulsystems für Schülerinnen und Schüler im Alter von 6 bis 15 Jahren aufgenommen wurden. Sowohl die BRD als auch die DDR hielten nach Kriegsende und der damit einhergehenden Entnazifizierung der Schulen an der traditionsgebundenen deutschen Halbtagsschule mit Vormittagsunterricht fest, wenn gleich auf dem Gebiet der DDR in den ersten Nachkriegsjahren reformpädagogische Ansätze in die Überlegungen zur Neukonzeption des Schulwesens einflossen (vgl. Geißler 2005: 81; Bettmer/ Prüß 2005: 1532).

Ganztagsschuleentwicklung in der BRD

In der BRD sind es vor allem Lina Meyer- Kulenkampff und Hermann Nohl deren Konzepte den modernen Ganztagsschulgedanken wieder einleiten. Erste Umsetzungen dieser neuen reformpädagogischen Pläne erfolgten seit Mitte der 1950er- Jahre und sind vor allem dem Engagement des 1955 von Reformpädagogen gegründeten und heute noch aktiven Ganztagsschulverbands, die »Gemeinnützige Gesellschaft Tagesheimschule« GGT, zu verdanken (vgl. Ludwig 2004: 215; Beutel 2005: 105; Ludwig 2005: 271f). „Man kann sagen, dass in diesen, von reformpädagogischen Denken geprägten Bestrebungen zwischen 1945 und 1965 alle wichtigen Formen ganztägiger Schulerziehung konzipiert und realisiert wurden, die auch in der heutigen Diskussion eine Rolle spielen“ (Ludwig 2004: 215).

In der zweiten Hälfte der 1950er- Jahre wurde im Zuge der Einführung der Fünftagewoche das »Für und Wider« der Ganztagsschule öffentlich intensiv diskutiert. Zudem wurden zwischen 1955 und 1965 erstmals repräsentative empirische Forschungsergebnisse zu Fragen ganztägiger Schulorganisation vorgelegt. Die Ganztagsschule galt seither als fester Bestandteil des Schulwesens der BRD und wurde bildungspolitisch in Form von Modell- und Versuchsschulen als Angebot akzeptiert (vgl. Ludwig 2004: 216; Ludwig 2005: 272).

In der darauf folgenden Zeit der sozialwissenschaftlich und sozialpolitisch orientierten bundesdeutschen Bildungsreform zwischen 1965 und 1975 ergab sich für die innere Entwicklung der Ganztagsschule, trotz äußerlich steigender Zahl[21], eine nicht unbeachtliche Diskontinuität. So wurden Motive der Begabtenförderung und der verbesserten Chancengleichheit durch ganztägige Schulorganisation derart beherrschend, dass die übrigen facettenreichen Zielsetzungen der Ganztagsschule bestenfalls randständig zur Geltung gebracht wurden (vgl. Ludwig 2004: 216f; Beutel 2005: 105f; Ludwig 2005: 272). Darüber hinaus wurde Schule vor dem „Hintergrund eines behavioristisch akzentuierten Lernbegriffs […] als bestmögliche Organisation von Lernprozessen verstanden und die Ganztagsschulorganisation vornehmlich funktional als Optimierungsmittel für dieses Zentralverständnis von Schule gesehen“ (Ludwig 2004: 217). Diese Entwicklungstendenz der Ganztagsschule hin zur „traditionellen ‚Lernschule’ auf neuem Niveau“ (ebd.) kann bis heute keinesfalls widerspruchsfrei zu den reformpädagogischen Leitideen ganztägiger Schulorganisation gesehen werden.

Ernüchterung auf die große Reformeuphorie erfolgt Ende der 1970er- Jahre, die mit einer kritischen Überprüfung der sozialwissenschaftlich bestimmten Bildungsreform einherging. Ganztagsschulekonzepte wurde fortan wieder ohne Gesamtschule diskutiert und aufbauend auf neue Erkenntnisse der Sozial-, Freizeit- und Interkulturellen Pädagogik konzipiert (vgl. Tillmann 2004: 195; Ludwig 2004: 217; Beutel 2005: 106f; Ludwig 2005: 273). Abermals stoßen reformpädagogische Unterrichts- und Schulmodelle mit alternativen Formen des Lehrens und Lernens auf Interesse, jedoch bleibt die „dringliche Anfrage nach einer verstärkten Einführung von ganztägig arbeitenden Schulen mit einer gewissen Steuerung über alle Schularten“ (Appel 2003: 19 zit. n. Beutel 2005: 106) erneut unbeantwortet. In den darauf folgenden Jahren hat es in der Bundesrepublik keine relevanten Debatten über Ganztagsschulen mehr gegeben, wenngleich die reformpädagogischen Bemühungen seit den 1980er- Jahren kontinuierlich anhielten (vgl. Tillmann 2004: 195f; Beutel 2005: 106).

Das System ganztägiger Bildung und Erziehung in der DDR

Im Schulwesen der DDR verwob sich „Herkömmliches und Reformerisches auf dem Ideenvorrat gebundener Erziehung unter sozialistischer Ideologieprämisse“ (Geißler 2005: 89). Wie im westlichen Teil Deutschland wurde die Halbtagsschule aus der vorkriegsdeutschen Schultradition übernommen. In Besinnung auf eine gewisse Tradition und Erfahrung der Internatserziehung in Deutschland, etwa aus der Landschulheimbewegung in der Weimarer Republik und mit Blick auf die Sowjetunion entstanden Anfang des Jahres 1957 in der DDR erste Pläne zur Errichtung sog. Tagesheimschulen[22]. Die erste dieser Art wurde mit Beginn des Schuljahres 1957/ 58 eröffnet; weitere 10 Tagesheimschulen folgten bis zu Beginn des Schuljahres 1959/ 60 (vgl. Geißler 2005: 89f; A. Richter 2005: 229). Geißler (2005: 90) schreibt zum Zweck der Tagesheimschule evident: „Als Versuchsschule diente die Tagesheimschule vor allem dazu ‚neue Formen der Kollektiverziehung’ sowie der‚ Verbindung der unterrichtlichen, außerunterrichtlichen und außerschulischen Erziehungs- und Bildungsarbeit’ zu erproben“ (ebd.). Ein Nachmittagsangebot für alle Klassenstufen sowie ein räumlich integrierter Hort mit gleich bleibendem Personal waren dabei obligatorisch. Insgesamt blieben die Erfahrungen mit Tagesheimschulen jedoch eher ambivalent, wohl nicht zuletzt aufgrund der übereilten Einrichtung ohne hinreichend pädagogisches Konzept. Insbesondere in Ost- Berlin stieß die Tagesheimschule zudem bei den Eltern sowie den Schülerinnen und Schülern auf wenig Resonanz (vgl. Geißler 2005: 90f).

Im Januar 1960 sprach Walter Ulbricht, der erste Mann im Staat, erstmals öffentlich davon „in Zukunft allen Kindern eine ganztägige Bildung und Erziehung zu ermöglichen“ (Geißler 2005: 91). Anstelle des Hortsystems könne problemlos zur Tagesschule übergegangen werden, die für die »Kinder der Arbeiter« ein Mittagessen bereithält und die Möglichkeit bietet unter Aufsicht Hausaufgaben anzufertigen, um sich dann Sport und Spiel zu zuwenden[23]. Die flächendeckende Einführung der Tagesschule scheiterte jedoch am erhöhten Finanz- und Personalbedarf, so dass der Schulhort zur hauptsächlichen »Organisationsform der ganztägigen Bildung und Erziehung« wurde (vgl. Geißler 2005: 91f). Der Versuch ganztägige Bildung und Erziehung über die sukzessive Einrichtung entsprechender Einzelschulen voranzutreiben wurde gänzlich aufgegeben. Indessen erfolgte, basierend auf der Überlegung ein »einheitliches System der Bildung und Erziehung vom Säuglings- bis zum Schulalter« zu schaffen, ab 1965, im Rahmen des entsprechenden Gesetzes zum einheitlichen sozialistischen Bildungswesen, ein umfassender Systemausbau, der sowohl den Kindergarten, den Schulhort als auch die schulisch organisierten außerunterrichtlichen Angebote erfasste[24] (vgl. Geißler 2005: 93/ 95f). Die Schule stand den ganzen Tag offen; Unterricht und Freizeit gingen in einem Konzept umfassender Erziehung ineinander über. Neben Lehrkräften und weiterem pädagogischen Personal waren auch Eltern, Betriebsangehörige und Vertreter der sozialistischen Öffentlichkeit als Erziehungskräfte in den Schulalltag einbezogen. Die entsprechenden Aktivitäten wurden von einem „stellvertretenden Direktor für außerunterrichtiche Tätigkeit“ (zit. n. Geißler 2005: 97) koordiniert. Dementsprechend bilanziert Geißler (2005: 97): „Alles in allem hatte die DDR auf ihrem kleinen Territorium, […] das weltweit und historisch wohl am dichtesten geknüpfte Netzt von Erziehungseinrichtungen aufgebaut und zielgerichtet umgesetzt, alles unentgeltlich, alles teuer“ (ebd.). So finden sich nahezu alle Merkmale eines nach dem Vormittagsunterricht offenen Ganztagsschulangebotes wieder, wie: warmes Mittagessen, Hausaufgabenbetreuung, gebundene und ungebundene Freizeitangebote, Förderangebote, AGs und Neigungskurse, Werkstatt- und Produktionsunterricht sowie Kooperation mit außerschulischen Jugendeinrichtungen. Jedoch bezog sich das Betreuungskonzept letztlich immer auf staatliche Interessen und nahm individuelle Neigungen nur dann auf, wenn sie politisch anschlussfähig waren (vgl. ebd.). Die Freizeitgestaltung verband sich mit politischer Erziehung und wurde vornehmlich von den staatlichen Kinder- und Jugendorganisationen »Junge Pioniere« und »Freie Deutsche Jugend« getragen, deren Pionier- bzw. FDJ- Aktivitäten an den Ort Schule gebunden waren (vgl. A. Richter 2005: 230). Dennoch erfüllten sich die hohen Erwartungen hinsichtlich der Erziehungswirkung und Schulleistungsverbesserung nur bedingt, so dass nach über zwanzigjährigem Bestand die Grenzen dieser Schule gegen Ende der DDR deutlich spürbar wurden. Die Leitidee Freizeit maximal schulisch zu binden, musste im Zuge der verstärkten Entfaltung jugendkultureller Gruppen in eigenen Lebensräumen jenseits der Schule aufgegeben werden (vgl. Geißler 2005: 86/ 98f).

[...]


[1] Diese Stellungnahme ist im Internet unter: >http://www.soziale-arbeit-und-gesundheit.fh-kiel.de/lehrende/hauptamtliche/daten_bsturzenhecker/Pfeiffer8_1_07Sturzenhecker.pdf< publiziert.

[2] In den neuen Bundesländern erlangte das KJHG mit dem Beitrittstermin am 3. Oktober 1990 seine Gültigkeit (vgl. Flösser/ Otto/ Tillmann 1996: 20).

[3] Ausführlich zur Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit: Thiersch (2003).

[4] Insbesondere Jean Jacques Rousseau (1712- 1778) betonte „die Eigenständigkeit und das Eigenrecht des Kindes als Kind“ (Jordan/ Sengling 2000: 25) und schließlich waren es die Pädagogen des Neuhumanismus wie Humboldt und Schleiermacher, die die Kinder- und Jugendfürsorge in Hinblick auf das höchste Erziehungsziel der Aufklärung – die Selbsttätigkeit des Menschen - prägten (vgl. ebd.).

[5] Erste Jugendämter entstanden bereits um 1910, wie etwa in Hamburg (vgl. Schmidt 2005: 831).

[6] Bsp.: Arbeitsmarkts-, Bevölkerungs-, Bildungs- und Sozialpolitik (vgl. Jordan/ Sengling 2000:18).

[7] Bsp.: Aufklärung, Neuhumanismus, Reformpädagogik (vgl. Jordan/ Sengling 2000:18).

[8] Dies galt und gilt beispielhaft für die öffentliche Diskussion um die Zunahme von Kriminalität und Gewalt im Kindes- und Jugendalter mit der Anforderung »Prävention«, als auch für die aktuelle Bildungsdebatte im Zuge der PISA- Studie mit der Anforderung »Bildung« (vgl. Hornstein 2004:15).

[9] Insbesondere die Jugendarbeit bewegt sich seit ihren Anfängen in einem unauflöslichen „Spannungsverhältnis zwischen der Orientierung an jugendlichen bzw. jugendkulturellen Abgrenzung- und Autonomiebestrebungen einerseits und stattlich-politischer Aufgaben Zuweisung andererseits“ (Scherr 2004: 87). Dieses Spannungsverhältnis ist für eine verberuflichte, rechtlich abgesicherte und staatlich finanzierte Jugendarbeit unauflöslich, „weil sie auf Grund dieser Einbindungen die Legitimität staatlicher Aufgabenzuweisungen nicht generell ignorieren kann, solange das Prinzip der Freiwilligkeit der Teilnahme gilt, aber auch darauf angewiesen ist, sich an den Bedürfnissen und Interessen Jugendlicher zu orientieren“ (ebd.).

[10] In Anlehnung an Bock/ Seelmeyer (2005: 996) steht eine „systematische Verortung der Kinder- und Jugendhilfe in einer Theorie Sozialer Arbeit“ (ebd.) bislang weitgehend aus.

[11] Der geteilte Unterricht galt im Zuge neuer Urbanität und Mobilität als unzeitgemäß. Der doppelte Schulweg war unbequem und brachte eine hohe zeitliche Belastung der Schülerschaft mit sich. Zudem stand der Nachmittagsunterricht „vielfach in Kollision mit dem Lebensstil und Freizeitverhalten wohlsituierter Bürgerfamilien im prosperierenden Kaiserreich“ (Geißler 2005: 82). So wurde die bisherige Lernstunde in Preußen 1911 auf üblicherweise 45 Minuten herabgesetzt. Aller Unterricht wurde in fünf, maximal sechs Stunden zusammenhängend am Vormittag erteilt. Hausaufgaben sorgten dafür, dass die Schule auch über den Vormittag hinaus im Bewusstsein der Schüler blieb (vgl. Geißler 2005: 83).

[12] Frankreich ist beispielsweise das Land mit der längsten Ganztagsschuletradition in Europa. Bereits seit 1881 ist Schule in Frankreich synonym mit Ganztagsschule gesetzt und auch sprachlich existiert keine Trennung. So gibt es kein französisches Wort für Ganztagsschule (vgl. Veil 2002: 29).

[13] „Mitte der 1920er Jahre dürfte etwa jeder dritte Jugendliche Mitglied eines oder auch mehrerer der bald über einhundert Jugendverbände und -bünde gewesen sein“ (Geißler 2005: 83).

[14] Ausführlich hierzu: Homfeldt (2004: 41-68).

[15] 1898 gegründetes Gymnasium in Internatsform in ländlicher Umgebung (vgl. Ludwig 2005: 263).

[16] 1906 entwickelte ganztägig geführte Tagesschule (vgl. Ludwig 2004: 212).

[17] Als erste Schule dieser Art wurde 1904 die Waldschule Charlottenburg in einem Kiefernwald am Rande der Stadt gegründet, um originär kränkliche Großstadtkinder aus Charlottenburger Volksschulen in den Sommermonaten ganztägig zu betreuen und gesundheitlich als auch pädagogisch zu fördern. Diese Einrichtung kann als erste Realisierung moderner Ganztagsschulerziehung in Deutschland bezeichnet werden und erfuhr als ganztägig geführte Schule eine mehrfache Ausweitung. Ursprünglich für Volksschüler gedacht wurde ab 1910 auch Jungen und Mädchen der höheren Schule und schließlich aller Schulen das gesamte Schuljahr über ganztägig beschult und betreut (vgl. Ludwig 2004: 213; Ludwig 2005: 266f).

[18] Ausführlich hierzu: Ludwig (2005: 263- 271).

[19] Hierzu: GGT (2002).

[20] Beispielsweise durch Kurt Hahn und Minna Specht (vgl. Ludwig 2004: 214).

[21] Enorme Schubkraft erhielt die Ganztagsschulausweitung sowohl durch die 1968 und 1969 veröffentlichten Empfehlungen des Deutschen Bundesrats als auch durch die angestrebte Verknüpfung von Ganztagsschule und Gesamtschule (vgl. Ludwig 2004: 216).

[22] Dies kam nicht von ungefähr. Als Teil der Kriegsfolge mussten von den öffentlichen Referaten der Jugendhilfe/ Heimerziehung circa 370000 Kinder und Jugendliche betreut werden (vgl. Geißler 2005: 90).

[23] „Neben vermehrtem staatlichen Erziehungseinfluss und den beschäftigungspolitischen Effekten versprach diese Idee Senkung der beängstigend hohen Sitzenbleiberquoten und die Bewältigung des kaum vermindert hohen Lernpensums“ (Geißler 2005: 91).

[24] Spätestens seit 1980 bestand ein bedarfsgerechtes Angebot, das nahezu alle Kinder erfasste, „um sie schulvorbereitend, ganztägig und nach komplexen ‚Erziehung- und Bildungsprogrammen’ unterrichtsfähig zu machen. Gleiches galt für den von 6.00 bis 18.00 Uhr geöffneten Schulhort, den schließlich rund 85 Prozent der Kinder von Klasse 1 bis 4 besuchten. Drittens hielt die Schule im wachsenden Maße ein weitgefächertes Angebot an außerunterrichtlichen Nachmittags- und Freizeitangeboten bereit […]. Etwa 80 Prozent der der Schülerinnen und Schüler der Klassen 1 bis 10 wurden von diesen Formen schulisch geleiteter Freizeit vom Bastelnachmittag bis zur AG Informatik mehr oder weniger erreicht“ (Geißler 2005: 96).

Ende der Leseprobe aus 97 Seiten

Details

Titel
Wird Jugendhilfe eingeschult? Schule und Jugendhilfe auf dem Weg in den Ganztag
Hochschule
HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst - Fachhochschule Hildesheim, Holzminden, Göttingen
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
97
Katalognummer
V91403
ISBN (eBook)
9783638046275
ISBN (Buch)
9783638941648
Dateigröße
1714 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wird, Jugendhilfe, Schule, Jugendhilfe, Ganztag
Arbeit zitieren
Kristin Escher (Autor:in), 2007, Wird Jugendhilfe eingeschult? Schule und Jugendhilfe auf dem Weg in den Ganztag, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/91403

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