Hannah Arendt und die Kontroverse um „Eichmann in Jerusalem“


Masterarbeit, 2018

79 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Eichmann und seine Rolle in der NS-Maschinerie "Judenvernichtung"
2.1. Arendts Auffassung des banalen Eichmann
2.2. Eichmanns banales Taterbild in der Kritik

3. Rolle der Judenrate und der Widerstand im NS-Regime
3.1. Arendts Thesen zur Rolle der Juden im NS-System
3.2. Kritik an Arendts Auffassung bzgl. der Rolle der Juden in der Endlösung

4. Kritik am israelischen Gericht und dem Staat Israel
4.1. Arendts Kritik an den Rahmenbedingungen des Prozesses
4.2. Kritik an Arendts Anmerkungen zum Prozess

5. Kritik an Arendts Ausdrucksweise und Methodik

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Ich habe der Knesseth mitzuteilen - dai einer der gröiten nazistischen Kriegsverbrecher - Adolf Eichmann -der zusammen mit den Naziführern für die sogenannte Endlösung der jüdischen Frage -das bedeutet: für die Vernichtung von sechs Millionen europaischer Juden, verantwortlich war -sich in israelischem Gewahrsam befindet und seinem Prozei in Israel entgegensieht.1

Mit diesen Worten markierte der israelische Ministerprasident David Ben- Gurion den Beginn eines historischen Prozesses für die jüdische Öffentlichkeit. In Folge des Prozesses behandelten zahlreiche Lander das AusmaB der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und entwickelten ein Bewusstsein für die geschehenen Ereignisse.2 Das mediale Interesse an diesem Prozess war groB, weshalb zum ersten Mal überhaupt ein Prozess weltweit im Fernsehen übertragen wurde.3 Neben den digitalen Medien berichteten ebenso zahlreiche Printmedien lange und ausführlich über diesen Fall. Eine Journalistin aus dieser Reihe ist die Philosophin Hannah Arendt, die im Auftrag der Zeitschrift „New Yorker“ nach Israel reiste und insgesamt fünf Berichte verfasste. Arendt gehörte bereits zu diesem Zeitpunkt zu den prominentesten Intellektuellen New Yorks. Sie wurde die erste Frau, die an der Universitat in Princeton in einen Lehrstuhl berufen wurde und schrieb darüber hinaus bereits erfolgreiche Bücher zu totalitaristischen Staatssystemen. Damit galt sie als mehr als fahig, über den Eichmann-Prozess zu schreiben.4 Diese Berichte veröffentlichte sie nach dem Prozess in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalitat des Bösen“.

Die Thesen in Arendts Buch lösten eine groBe Kontroverse aus, in der sie Zustimmung und noch viel mehr Kritik erntete. In dieser Arbeit geht es um diese Kontroverse, die vor Allem in Amerika, in der ihre Berichte zuerst veröffentlicht wurden „eine Art Bürgerkrieg“5 unter Literaten auslöste. Die zu klarende Frage ist, aus welchen Gründen Arendts Thesen so stark in der Kritik standen. Dazu wird die Kontroverse in vier Themenbereiche eingeteilt, die sich allerdings leicht überschneiden können, da sowohl Arendts Thesen als auch die Kritik mehr als einem Themenfeld zugeordnet werden können. Um die Fragestellung zu beantworten und die geauBerte Kritik zu verstehen, werden neben der Kritik auch Arendts Thesen vorgestellt. Zuerst werden die Thesen zum Subjekt des Buchs Adolf Otto Eichmann beleuchtet. Dabei werden zunachst Arendts Thesen und Aussagen und im Anschluss die Kritik, sowohl positive als auch negative, vorgestellt. Im nachsten Kapitel werden Arendts Aussagen zur Haltung der Juden betrachtet sowie die Kritik in diesem Themenfeld. Das darauffolgende Thema gilt den Aussagen, Bemerkungen und Kritik zum Prozess in Jerusalem und den weiteren Rahmenbedingungen. Als letztes wird die Kritik zu Arendts Schreibstil und Methodik untersucht. Die Kritik wird in allen Themenbereichen in zeitgenössische Kritik sowie in jüngere Kritik eingeteilt, da der Fokus eher auf ersterem liegt.

Die Hauptquelle ist dabei Arendts Buch Eichmann in Jerusalem von 1963. Die hier verwendete Ausgabe ist die deutsche Übersetzung von Brigitte Granzow aus dem Jahr 1964. Obwohl kleine sprachliche Unterschiede vorhanden sein können, sind keine inhaltlichen Unterschiede durch die Übersetzung zu erwarten. Die Beitrage der Kritiker zur Kontroverse sind in drei Sammelwerken erschienen. Davon zwei im Jahr 1963, zum einen „Die Kontroverse“, herausgegeben von Friedrich A. Krummacher, sowie das Sammelwerk „Nach dem Eichmann Prozess.Zu einer Kontroverse über die Haltung der Juden“, herausgegeben vom Zentralrat der Juden in Deutschland. Viele dieser Beitrage, vor Allem die aus letzterem, sind von jüdischen Autorinnen und Autoren verfasst, wodurch eine klare positive Grundeinstellung zu pro-jüdischen Thesen zu erwarten ist. Viele dieser Beitrage sind ebenso meist aus dem Englischen, einige aus dem Hebraischen übersetzt. Das dritte Sammelwerk ist „Hannah Arendt revisited. ,Eichmann in Jerusalem4 und die Folgen“, herausgegeben von Gary Smith im Jahr 2000. Wie der Untertitel und das Erscheinungsjahr bereits verraten, gehen die Beitrage dieses Sammelwerks auf die Folgen dieser Kontroverse in den folgenden Jahrzehnten ein. Obwohl die Folgen nicht das Hauptaugenmerk dieser Arbeit sind, finden sich darin dennoch interessante AuBerungen zur Kontroverse selbst.

2. Eichmann und seine Rolle in der NS-Maschinerie "Judenvernichtung"

In diesem Kapitel der Arbeit werden die Thesen Arendts bezüglich des Angeklagten Adolf Eichmann aufgeführt und die dazu formulierten Kritiken wiedergegeben. Denn selbst beim Auftreten Eichmanns unterschieden sich die Auffassungen von Hannah Arendt und beispielsweise Gideon Hausner, dem israelischen Staatsanwalt und Klager, so dermaBen, dass man schon von Lagerbildungen in den Diskussionen sprechen kann.

Fast alle Kritiker griffen die Thesen Arendts bezüglich Eichmanns auf, da diese Thesen in dem Rahmen eines Mordprozesses mit Millionen Opfern eine Einzigartigkeit darstellten.6 Dabei merken viele Personen an, Arendts Portrat von Eichmann entspreche der Wahrheit und sei deutlich besser sei als die Darstellung Hausners. Letztere Darstellung übernahmen die Richter.7 Ein Grund für die Kontroversitat dieser Thesen könnte die Ausdrucksweise Arendts sein, zu der es ein eigenes Kapitel in dieser Arbeit gibt. Dana Villa merkt in seinem Aufsatz an, Arendt habe es nicht geschafft, ihre These des banalen Eichmanns ausreichend deutlich zu formulieren, sodass es vielen Kritikern nicht gelang, diese These richtig zu verstehen.8

Ursache dieser Unterschiede in den Auffassungen der beiden Personen könnten ihre verschiedenen Herkünfte und Erfahrungen sein. Wahrend Hausner als bekennender Jude Eichmann aus der Sicht eines potentiellen Opfers sieht und seine Charakterisierung dementsprechend offen negativ ausfallt, erscheint die Beschreibung Arendts, die als typische Universalistin angesehen wird, im Vergleich milder.9

Fest steht aber auch folgendes: Diese Thesen haben dem Fall eine sehr groBe mediale Prasenz verschaffen, sodass Menschen, die sich mit dem Holocaust nicht auskannten, mit diesem Ereignis befassten und informierten.10

2.1. Arendts Auffassung des banalen Eichmann

Diese mediale Prasenz sah allerdings wahrend desProzessesvor Ort noch anders aus: Nach dem anfanglichen groBen Interesse mit einem vollen Gerichtssaal, schrumpfte die Zahl der Journalisten sowie politischen Vertretern von in- und auslandischen Organisationen mit fortschreitender Zeit. Anfangs nahmen 450 Journalisten, 45 Diplomaten und 50 Vertreter von Organisationen teil, daneben waren 165 Sitze für das allgemeine israelische Publikum sowie 30 Sitze für Touristen. Die Journalisten verschwanden mit der Zeit und einige der Platze wurden von Israelis besetzt. Jedoch merkt Arendt an, dass es sich vermehrt um altere Generationen handelt statt um jüngere.11

Mit den in diesem Rahmen gesammelten Eindrücken formuliert Arendt mehrere Thesen, von denen eine die „Banalitat des Bösen“ ist (der Untertitel von Arendts Buch). Die angesprochene Banalitat liegt im totalitaren System begründet, welches die Menschen ausnutzt und sie in eine Befehlskette einspannt, die das Verantwortungsgefühl für die eigenen Taten aufhebt. Arendt war der Meinung, dass diese Tatsache aber keinesfalls das Abwalzen der eigenen Verantwortung auf das System entschuldige.12 Die NS-Bürokratie erfordere allerdings keine persönliche Grausamkeit der involvierten Menschen, um den Betrieb am Laufen zu halten.13 Diese Erkenntnis sieht sie bereits beim Vortragen der Anklagepunkte durch Hausner am Anfang des Prozesses, der versucht „Eichmann in den Mittelpunkt der Verhandlungen zu stellen“, ihn als „Zentralfigur des Völkermords“ sowie als „Hauptinitiator“ des Holocausts zu bezeichnen.14 Laut Arendt zeigten seine Anführungen lediglich, dass Eichmann „nichts weiter war als der ,unschuldige‘ Vollstrecker irgendeines geheimnisvollen Geschicks“15. Im Grunde kritisiert sie die Haltung der Anklage gegenüber Eichmann, ihn als jemanden darzustellen, der er nicht sei. Der Grund dafür sei die Wichtigkeit des Prozesses für Israel; Hausner wollte Eichmann „um jeden Preis aufbauen“16 und war sich für falsche Behauptungen nicht zu schade. In diesem Zusammenhang bezeichnete sie Eichmann nicht als einen Ungeheuer, so wie es die Anklage tat, sondern als einen „Hanswurst“17, was angesichts seiner Taten viel Kritik erfahren hat.

„Das beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, dafi er war wie viele und dafi diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind.“18

Somit betrachtete Hannah Arendt den Angeklagten Eichmann als jemanden unter vielen, niemand besonderes und sie stützte diese These mit den Gutachten mehrerer Psychologen, die Eichmann ein normales Verhalten bescheinigten.19

Die Banalitat des Verbrechers rühre somit nicht von einer schlechten bzw. bösen Psyche, sondern vom „Nicht-Denken“. Eichmann war laut Arendt nicht in der Lage, sich normal auszudrücken, sich in die Lage anderer hineinzuversetzen, also empathisch zu sein sowie generell von niedrigem Intellekt. Seine Ausdrucksweise entspreche 16 Jahre nach Kriegsende immer noch dem NS- Jargon. Dies erkennt Arendt an den sogenannten Sprachreglungen der Nazis, die nichts weiter als Redensarten und Schlagworte der NS-Bürokratie seien. Charakteristisch für die Sprachreglungen seien endlosen Satze, die er ohne erkennbaren Syntax formuliere und mehrere Redensarten aneinanderreihe: [...] was er sagte, war stets das gleiche, und er sagte es stets mit den gleichen Worten. Je langer man ihm zuhörte, desto klarer wurde einem, dafi diese Unfahigkeit, sich auszudrücken, aufs engste mit einer Unfahigkeit zu denken verknüpft war.20

Ein Beispiel dafür war die Bezeichnung „Umsiedlung“, welche innerhalb des NS-Regimes die Deportation der Opfer in die Todeslager sowie die dortige Vergasung bedeutete. Jedes Mal, wenn Juden in einen Zug steigen mussten, um umgesiedelt zu werden, war das das Todesurteil. Bereits in den Polizeiverhören mit den israelischen Beamten vor dem Prozess wurde deutlich, dass Eichmann noch diese Sprachreglungen benutzte und sein Denkmuster in diesem Rahmen verankert ist:

Als Eichmann im Polizeiverhör gefragt wurde, ob die Direktive, „unnötige Harten zu vermeiden“, nicht einen ironischen Klang habe, angesichts der Tatsache, dafi die Bestimmung dieser Menschen sowieso der sichere Tod war, verstand er die Frage gar nicht, so fest verankert war in ihm die Überzeugung, dafi nicht Mord, sondern einzig die Zufügung unnötiger Schmerzen eine unverzeihbare Sünde sei.21

Eichmann war also durchaus imstande, Menschen in den Tod zu schicken, war aber durch seinen Makel, nicht denken zu können, nicht in der Lage, angemessen darüber zu sprechen.22

Des Weiteren sprach Arendt Adolf Eichmann die Fahigkeit der Empathie ab. In seinen Schilderungen, in denen Eichmann von der Zusammenarbeit mit den Juden sprach, wurde ihr deutlich, dass er sich nicht in die Lage, vor Allem die Gefühlslage der Juden hineinversetzen konnte. Arendt schildert hier einige Falle, in denen Eichmann standig von Zusammenarbeit sprach, wo allerdings klar ist, dass die Juden zu dieser Arbeit gezwungen wurden.23 Von Zusammenarbeit kann hier keine Rede sein. Arendt empfand Eichmanns Schilderungen als komisch, da er sich selbst als jemanden mit „normalem, menschlichen“24 Mitgefühl sehe. Möglicherweise liegt diese Sichtweise daran, dass sich Eichmann selbst als Zionist betrachtet. Arendt erwahnt ironischerweise, dass Eichmann wahrend seiner Zeit in dem Sicherheitsdienst (SD, vor 1938 als er nach Wien abgeordnet wurde) der Nazis das Buch „Judenstaat“ gelesen habe, was aus ihm ab dem Zeitpunkt für immer einen Zionisten gemacht habe.25 Eichmann war nun davon überzeugt, die Aussiedlung der Juden aus Deutschland voranzutreiben, was ihn in eine Reihe mit den Zionisten stellte. Das aber seine Gründe für dieses Ziel sich von denen der jüdischen Zionisten grundlegend unterschieden erkannte er nicht.

Der dritte Grund für die nicht vorhandene Denkfahigkeit Eichmanns stellte für Arendt Eichmanns niedriger Intellekt dar. Als altester Sohn seiner Familie hat Eichmann auf Grund von schlechten Leistungen die Realschule sowie das Berufskolleg abbrechen müssen und ist nur durch die Mithilfe seiner Verwandten zu einem Job gelangt. Vor dem Start der Endlösung hat Eichmann an dem Madagaskar-Plan gearbeitet, der vorsieht, dass die vier Millionen Juden nach Madagaskar ausgesiedelt werden sollten. Auf der französischen Kolonie Madagaskar solle demnach ein Judenstaat errichtet werden, der die europaischen Juden aufnehmen soll. Dass die Franzosen ihre eigene Kolonie nicht leichtfertig abgeben würden, war den meisten im NS-System klar. AuBerdem konnte das Deutsche Reich sich nicht leisten, eine Schiffsflotte bereitzustellen, die vier Millionen Menschen den weiten Weg nach Afrika transportieren sollen. AuBerdem wurde die Schiffsroute von der britischen Marine beherrscht, die zu dem Zeitpunkt ein Gegner NS-Deutschlands war. AuBer Eichmann und möglicherweise ein paar andere Personen glaubte also niemand an die Verwirklichung des Plans.26 Arendt sieht in diesem Plan zusatzlich einen psychologischen Effekt: Der Madagaskar-Plan war als die einzige Lösung angepriesen wurden. Da dieser nicht erfüllt werden konnte blieb nur noch die Vernichtung der Juden übrig. In den höchsten Parteikreisen war die Endlösung seit frühestens Marz 1941 bekannt. Eichmann beteuerte, dass er von der Endlösung erst sehr viel spater erfahren hat. Im Marz 1941 erfuhr Eichmann eine andere Veranderung: Er wurde zum Leiter der seiner Abteilung im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) ernannt. AuBerdem anderte sich der Name der Abteilung von „Raumungs- und Umsiedlungsfragen“ zu „Judenangelegenheiten - Raumungsangelegenheiten“. Dieser deutliche Fokus auf die Juden hatte jedem klargemacht, dass die jüdische Auswanderung gescheitert ist und sich Deportationen anbahnen. Eichmann hingegen sei das entgangen:

Von diesem Augenblick an hatte ihm, obwohl er noch nicht über die „Endlösung“ informiert worden war, klar sein müssen, dafi nicht nur mit der Auswanderung definitiv Schlufi war, sondern dafi an ihre Stelle Deportierungen treten sollten. Aber Eichmann war nicht der Typ, Andeutungen zu verstehen, und da ihm niemand direkt gesagt hatte, was los war, dachte er nach wie vor in Begriffen von „ verstarkter Auswanderung“.27

Allerdings stellte sich heraus, dass Eichmann von den unteren Befehlsempfangern einer der ersten war, die davon unterrichtet wurden. Ab diesem Augenblick wurden die bereits erwahnten Sprachreglungen eingeführt, damit der eigentliche Kern der Endlösung von auBenstehenden geheim gehalten werden konnte. Jeder, der von der Endlösung erfuhr, also auch Eichmann, avancierte von einem bloBen Befehlstrager zu einem Geheimnistrager.28

Aus diesem Unvermögen zu denken entwickelte sich laut Arendt eine Gedankenlosigkeit, dass auch Eichmanns Gewissen beeinflusst habe. So entstand ihre nachste These: Eichmann hat kein normales Gewissen. Eichmann selbst sieht sich stets als reinen Befehlsempfanger, als einen gesetzestreuen Bürger, der seine Pflichten erfüllt habe. Er selbst behauptet, er habe nicht nur Befehle ausgeführt, sondern auch die Gesetze befolgt.29 Aufgrund der Gesetzeslage im Dritten Reich sowie der allgemeinen Stimmung der damaligen deutschen Bevölkerung brauchte Eichmann kein schlechtes Gewissen haben, denn sein Gewissen entsprach der Stimme der deutschen Gesellschaft.30 Auf die Frage der Richter, warum Eichmann den Befehl nicht verweigert habe, antwortete er, dass eine offene Befehlsverweigerung nicht möglich gewesen sei: „Unter den damaligen Verhaltnissen war ein solches Verhalten nicht möglich. Es hat sich ja auch niemand so verhalten.“31 Allerdings belegen Dokumente aus der NS-Zeit, wie „überraschend einfach“ es für Nazis gewesen ist, von ihren Posten in der Vernichtungsmaschinerie versetzt zu werden, ohne dass ihnen daraus negative Folgen entstanden waren. Arendt folgert, dass Eichmann kein schlechtes Gewissen hatte. Er hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn er den Befehlen nicht nachgekommen ware.32 Den Grund dafür sieht Arendt in der damaligen besonderen Gesetzeslage: Neben der Verfassung und den herkömmlichen, schriftlich festgehaltenen Gesetzen, die rein formal die Gesetzgebungsprozesse durchlaufen, sind Hitlers Worte genauso Gesetz. Eichmann schildert vor Gericht, ein solches Gesetz brauche keine schriftliche Fixierung. In dieser Lage war das Führerwort Gesetz und herkömmliche Gesetze, die dagegensprechen, ungesetzlich.33 Mit dieser Theorie wird begründet, weshalb Eichmann im Juli 1945 noch 1500 Juden deportierte, obwohl Befehle von Himmler und Horthy eingingen, die Deportationen zu beenden.34 Eichmann empfand diese Befehle als widersprüchlich mit dem direkten Führerbefehl zur Endlösung.

All dies tauscht nicht darüber hinweg, dass Eichmann wusste, was er mit seiner Arbeit tat. Arendt schildert Eichmanns Erfahrungs-Prozess in Bezug auf die Geschehnisse in den Todeslagern sehr ausführlich. Eichmanns Vorgesetzter Heinrich Müller schickte Eichmann mehrmals in die Todeslager Globocnik, Kulmhof, Minsk und Lemberg, um einen Bericht über den Fortschritt der Endlösung zu erhalten. Beim ersten Anblick der Aktionen im Zusammenhang mit der Endlösung wurde Eichmann schlecht, die darauffolgenden Male beobachtete er die Aktionen nicht persönlich.35 So ersparte sich Eichmann die genauen Details der Tötungsmaschinerie, wusste allerdings doch genug, um Müller Bericht zu erstatten:

Eichmann ist niemals bei einer Massenerschiefiung dabeigewesen, er hat niemals von nahem den Vergasungsvorgang beobachtet, noch hat er je die Selektion der Arbeitsfahigen [...] auf der Rampe mit angesehen, die in Auschwitz den Vergasungen vorausging. Er hat mit eigenen Augen gerade genug gesehen, um genau Bescheidzu wissen, wie die Vernichtungsmaschinerie funktionierte [...].36

Damit ist auch formalrechtlich geklart, dass sich Eichmann völlig im Klaren war, wohin er die Opfer deportierte und welches Schicksal sie an ihrer Destination erwarten würde.37 Eichmann brauchte aber vier Wochen um seine Erfahrungen zu verarbeiten, Arendt bezeichnet diese vier Wochen als den Zeitraum, an dem Eichmanns Gewissen normal funktionierte. Nach den vier Wochen „kehrte es gleichsam um und funktionierte in genau der entgegengesetzten Weise.“38 Grund für den Wandel war diesmal nicht die allgemeine Stimmung der Bevölkerung, die, wie es schien, für die Endlösung stand. Dieses Mal fand Eichmann Zustimmung in seinem beruflichen Umfeld. Die Wannsee-Konferenz hat Eichmann gezeigt, dass die NS-Führungsriege fest hinter den Planen zur Endlösung stand. Wenn diese Manner, die schlieBlich das Land führten und in Eichmanns Augen die wahren Befehlsgeber nach Hitler sind, die Endlösung unterstützten, hat Eichmann laut eigenen Angaben keinen Grund für ein schlechtes Gewissen. Er hatte keine Schuldgefühle. Denn sie stellten sich nicht nur hinter das Ziel der Endlösung, sondern machten eigene Vorschlage zur Durchführung. Und da Eichmann so gut wie keinen Widerstand seitens der Deutschen gemerkt hat (die erst auftraten als es als sicher galt, dass Deutschland den Krieg verlieren würde), beruhigte er sein Gewissen und tat die ihm aufgetragene Arbeit.39 Diese Arbeit, so beschreibt es Himmler, ist zwar eine schwere Aufgabe, die aber entsprechend einzigartig sei, da sie nur einmal alle zweitausend Jahre erscheine. Mit dieser Beschreibung der angeblichen Last, der auf dem Deutschen Reich liege, haben die NS-Funktionare die Opferrolle umgekehrt und sich selbst und das deutsche Volk als die eigentlichen Leidtragenden bezeichnet.40

Die nachste These Arendts befasst sich mit dem Charakter Eichmanns: Er sei auf sich selbst fixiert und habe nur seine Karriere im Blick gehabt. Sein Blick war dementsprechend immer nach oben gerichtet, auf eine höhere Position in der Hierarchie. Arendt sieht ihre These darin bestatigt, dass sich Eichmann nicht an die Momente mit Menschen niedrigeren Ranges erinnern, allerdings sehr genaue Beschreibungen seiner Erinnerungen mit Ranghöheren Menschen liefern konnte. Und durch seinen Streben nach einer höheren und in seinen Augen besseren Position ist er förmlich in seiner Arbeit aufgegangen, er erhielt Anerkennung und wurde öfters mit Beförderungen belohnt. Bezüglich ihrer ersten Erklarung verweist Arendt darauf, dass sich Eichmann nur auf Vorgange erinnere, „die in direktem Zusammenhang mit seiner Laufbahn standen.“41 Ein konkretes Beispiel dafür ist seine Reise nach Bratislava im Jahr 1942. Wahrend seines Aufenthalts in Bratislava wurde ein Attentat auf seinen Vorgesetzten Heydrich erfolgreich durchgeführt, doch Eichmann, so erklart Arendt spöttisch, erinnerte sich lediglich an das Kegelspiel mit dem damaligen Innenminister der Slowakei Sano Mach. Was daran besonders war ist die Tatsache, dass Eichmann diese Geschichte einmal in dem Sassen-Interview erzahlte und Jahre spater nahezu identisch im Polizeiverhör, diesmal mit dem kleinen Zusatz, dass sein Vorgesetzter ermordet worden sei. Arendt vermutet, dass Eichmann sich durch diese Einladung geehrt gefühlt habe; er habe nicht oft Einladungen von Regierungsmitgliedern erhalten.42 Diese Fixierung auf seine Karriere und das Gefühl, zu den Erhabeneren zu gehören lieB ihn die alltaglichen Geschehnisse wie die Deportationen und die Folgen seiner Arbeit ausblenden. Eichmann habe sich dabei „niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte“.43 Wenn es um Fakten ging, wie zum Beispiel das Datum des Angriffs auf Russland wusste Eichmann nicht weiter. Im Kontrast konnte er sich, wie bereits erlautert, noch an seine Phrasen, also die Sprachreglungen, erinnern.44 Daher schien es für Arendt klar, dass Eichmann es vorzog lieber als Obersturmbannführer zu sterben als ein Angestellter der Vacuum Oil Company, für die er vor seiner NS-Laufbahn tatig 45 war.45

Eichmann selbst beschreibt dies mit seinem Interesse an seiner Arbeit, die ihm zu einem Idealisten gemacht habe. Für ihn reiche es nicht aus, an eine Idee zu glauben. Man müsse diese Idee leben und daher bereit sein, alles und jeden dafür zu opfern. Dabei habe er sich nicht von Gefühlen beeinflussen lassen, die in Konflikt mit seiner Idee stünden.46 Um diese konkurrierenden Gefühle zu unterdrücken trickste sich Eichmann sogar selbst aus: Er bog sich die Morallehre Immanuel Kants so zurecht, dass sie auf seine Situation im NS-Regime passte. Diese nannte er den kategorischen Imperativ für den „Hausgebrauch des kleinen Mannes“. Grob formuliert ist die Quelle des eigenen Handelns nicht mehr die praktische Vernunft, sondern der Willen des Führers.47 Die daraus folgende Arbeitsmoral schien Früchte zu tragen: Zwischen 1937 und 1941 wurde er viermal befördert und als Obersturmbannführer wurden ihm und seiner Abteilung eine gröBere Rolle mit der „Endlösung der Judenfrage“ anvertraut. Dieser relativ schnelle berufliche Aufstieg wurde ihm nach der NS-Zeit zum Verhangnis: Seine Position in der NS-Hierarchie brachte ihn regelrecht in Jerusalem vor Gericht.48

An dieser Stelle knüpft Hannah Arendt ihre These wieder an Eichmanns Stellung, an seine Bedeutung in der NS-Maschinerie. Sein Organisationstalent bei der Durchführung der Deportationen war für die Nazis zwar sehr willkommen, aber eine besonders wichtige Person war er nicht, schon gar nicht so besonders, wie es die Anklage sah. Eichmann selbst bestatigt das, er sei zwar kein kleines Radchen im System gewesen, allerdings auch kein „groBes Tier“.49 Diese Aussage entspricht auch nicht der ganzen Wahrheit: Eichmann und seine Abteilung waren zustandig für die Durchführung der Judentransporte. Sein Büro war zustandig für die Organisation und Durchführung der Vernichtung der Juden. Ohne seine Arbeit waren die Opfer nicht in die Todeslager angekommen und hatten nicht ermordet werden können. Allerdings wurde in seinem Büro oftmals nur der Transport bestatigt bzw. grünes Licht gegeben; Bestimmungsort und Anzahl der zu transportierenden Menschen wurden an anderer Stelle bestimmt.50 Für Arendt wird dadurch klar, dass Eichmanns Stellung nicht sehr bedeutend sei:

Sein Posten erwies sich nur deswegen als so entscheidend wichtig, weil die letztlich rein ideologisch bestimmte Kriegführung des Dritten Reiches der „Judenfrage“ eine immer gröfiere Bedeutung zumafi, bis sie schliefilich in den Jahren der Niederlage, von 1943 an, wirklich phantastische Proportionen annahm.51

Sein Referat war zwar das Einzige, welches sich offiziell mit der Judenfrage beschaftigte. Inoffiziell taten das so gut wie alle Referate und Amter im Deutschen Reich. Sie standen in einer Konkurrenz zueinander, alle Amter wollten die höchsten Mordzahlen vorweisen. Die Folge daraus ist erneut die Abwalzung der eigenen Mitschuld an den Verbrechen auf die anderen Amter.52 Eichmann erlebte diese Konkurrenz selbst mit seinem Nisko-Plan. Kurz nach dem Angriffskrieg auf Polen im September 1939 sollte ein Judenreservat in Nisko, Polen, errichtet werden. Die Juden sollten in dieses Reservat deportiert werden. Eichmann wurde mit der Ausarbeitung des Plans beauftragt. Kurz nach dem Anlaufen des Plans stellte sich Hans Frank, Generalgouverneur Polens, gegen den Plan, weshalb dieser scheiterte. Eichmanns Referat gewann in dieser Zeit des Kriegs an Bedeutung, doch dies nützte im Konkurrenzkampf zwischen den Amtern nicht viel.53 Dadurch folgert Arendt, dass Eichmanns Rolle an der Endlösung wesentlich kleiner war, als vor dem Prozess angenommen. Wahrend des Prozesses stellte sich seine Mitschuld zweifelsfrei heraus, nur war er kein Drahtzieher der Endlösung wie vor dem Prozess angenommen. Die Anklage habe ihm eine „phantastisch übertriebene Rolle“54 zugewiesen. Diese Annahme sei durch mehrere Gründe entstanden: Zum einen verleitete Eichmanns Prahlerei zur Annahme, er sei eine sehr bedeutende NS-Persönlichkeit gewesen. Zum anderen versuchten sich andere NS-Funktionare wahrend den Nachkriegsprozessen auf Eichmanns Kosten zu entlasten. Als letzten Grund nennt Arendt seine Position als einziger offizieller Beamter für Judenangelegenheiten, wodurch er in jüdischen, also auch in israelischen Kreisen sehr bekannt war.55

Im Nachhinein stellt sich heraus, dass Arendts Sichtweise und ihre Beschreibung Eichmanns die Oberhand gewonnen hat. Das Bild des banalen Eichmanns, auch wenn es teilweise anders bezeichnet wird, wurde in den folgenden Jahrzehnten vielfach übernommen. Yaacov Lozowick beschreibt dieses Bild wie folgt:

Generationen von Lehrern, Journalisten, Theologen, Politikern und Wissenschaftlern haben es als Tatsache übernommen, dai der Hauptunterschied zwischen Adolf Eichmann und dem Groiteil der Menschheit einer besonderen historischen Situation geschuldet ist: Die meisten von uns, waren sie dem gleichen historischen Zeitgeist wie Eichmann ausgesetzt gewesen, hatten sich vermutlich ebenso wie er mitreifien lassen.56

Wenn ein GroBteil der Menschheit das Gleiche getan hatte, ware der GroBteil der Menschheit antisemitisch, rassistisch und generell menschenverachtend. Das ist aber nicht der Fall. Die eigentliche Gefahr gehe vom totalitaren System aus, welches einer relativ normalen Person eine dermaBen groBe Macht verleihen kann, welche, gepaart mit der Möglichkeit sich in der verzweigten Bürokratie zu verstecken, gravierende Folgen nach sich ziehen kann. Arendt versucht nicht mit ihrer Beschreibung Eichmanns Schuld klein zu reden, sondern möchte verdeutlichen, dass die Gefahr für die Menschen nicht von einem Eichmann ausgeht, sondern von dem totalitaren System, welches ihm die Macht verleiht. Das Banale an Eichmann ist dabei seine kritiklose bereitwillige Mitarbeit in diesem System.

2.2. Eichmanns banales Taterbild in der Kritik

Für ihre damals völlig neuartigen Thesen bzgl. eines Schwerverbrechers stand Hannah Arendt stark in der Kritik. Viele Kritiker konnten nicht fassen, dass eine renommierte Intellektuelle einen NS-Funktionar verteidigen konnte. Denn so schien es einigen Menschen: Sie waren der Auffassung, Arendt verteidige Eichmann und bezeichne ihn deshalb als banal, was er offensichtlich nicht sei. Diese Kritiker finden sich zumeist in der damaligen Zeit Anfang der 1960er Jahre und argumentieren eher emotional, wohingegen die jüngeren Kritiken bzw. Analysen einen doch objektiveren Blick auf die Thesen haben. Diese können Sie auch deshalb haben, da seit dem Erscheinen des Buches weitere Fachwissenschaftliche Arbeiten erschienen sind, welche die Themen der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie analysierten und neue Kenntnisse bzw. verfeinerte Thesen hervorbrachten. Diese konnten Arendt als auch die zeitgenössischen Kritiker nicht kennen, weshalb die Kritiken zeitlich sortiert betrachtet werden.

Angefangen bei den zeitgenössischen Kritikern fallen vor Allem jüdische Personen auf, die durch ihre religiösen Ansichten verstandlicherweise sehr emotional auf Arendts Thesen reagierten. Die Thesen Arendts wurden als parteiisch aufgefasst, sie habe mit ihren Thesen die Verantwortlichkeiten Eichmanns zu lindern versucht und habe deshalb diesen Eindruck erweckt.57 Robert Rie vermutete dahinter eine Sympathieentwicklung Arendts mit Eichmann, der wahrend des Prozesses entstanden sei. Dies passiere vor Allem juristischen Laien: „Wahrend langer ProzeBdauer spinnt sich eine Art Sympathiegewebe zwischen den Beteiligten an.“58 Dadurch beeinflusst und durch die Tatsache, dass Arendt nicht die komplette Quellenlage angeschaut habe59, habe sie sich von Eichmann bluffen lassen und seine „faustdicken“ Lügen geglaubt.60 Ein Beispiel dafür liefert Ernst Simon: Eichmann behauptete im Prozess, er könne sich an seine Durchsetzung gegen die Anordnung Admiral Horthys, dem damaligen Staatsoberhaupt Ungarns, nicht erinnern, dessen Folge die Deportationen von 1500 Juden war. Arendt schrieb, Eichmann könne sich nicht an die Person Horthy und dementsprechend an seine Durchsetzung gegen ihn erinnern, da er in seinen Augen keine gehobene Persönlichkeit sei. Laut Simon konnte das nicht stimmen, denn Eichmann war auch selbst von höher gestellten Juden beeindruckt und an den slowakischen Minister Sano Mach konnte er sich auch erinnern, obwohl dieser kein Staatschef oder Admiral war.61 Hinter Arendts Leichtglaubigkeit vermutet Simon daher die bewusste Unterlassung von Informationen. Sie habe Eichmann früh in eine Kategorie eingeordnet und ihre Thesen dementsprechend aufgebaut und formuliert. Nun wolle sie nicht ihren eigenen Thesen widersprechen und konstruiere die Informationen, die sie in ihr Buch aufnahm, nach ihrem Willen. Es sei „der systematisch durchgeführte Wille, recht zu behalten.“62 Zwei weitere Kritiker Arendts steuern zu dieser These zwei Beispiele zu: Rie erklart, Arendt lasse auBer Acht, dass Eichmann der alleinige Judenreferent des Deutschen Reiches war. Dadurch sei er maBgeblich an den Verbrechen an den Juden verantwortlich und diese Tatsache müsse in der Verurteilung beachtet werden.63 Auch seine Aussage, er ware durch die Auseinandersetzungen und Kompetenzstreitigkeiten mit anderen Ressorts beschaftigt und hatte für seine Tatigkeit keine Zeit, könne durch seine Stellung als alleiniger Judenreferent nicht stimmen. SchlieBlich trug er als Referent die „primare Verantwortung in dem ihm zugewiesenen Arbeitsbereich: der Ausrottung des Judentums in ganz Europa [...].“64 Zusatzlich führt Robert Kempner das Beispiel der Wannsee-Konferenz an. Eichmann wollte sich entlasten, indem er die anderen Anwesenden nicht als Parteigenossen ansah. Arendt glaubte ihm, doch auch diese Aussage stimmte nicht. Die anwesenden Personen wussten nicht nur schon von der Endlösung, sie und die ihnen unterstehenden Ressorts standen zu dem Zeitpunkt bereits seit Monaten in Vorbereitung. Unter diesem Licht erscheint es nicht verwunderlich, dass bis auf eine Person alle Anwesenden Mitglieder der NSDAP seien, teilweise auch Mitglieder der SS.65

Manés Sperber sah in Eichmann einen „Prahlhans“ ohne Vorstellungsvermögen. Auch Sperber sah in Eichmann einen Lügner, der zwar die Wahrheit erzahle, aber wichtige Details auslasse, um die eigene Verantwortung und Schuld abzuwalzen:

„Ja, er log, aber mit der Wahrheit. Denn in Wirklichkeit hatten seine Taten die Grenze seines Wesens weit überstiegen; nicht nur, weil sie mafilos waren, sondern weil er selbst ja niemals ihr Ursprung war.“66

Er verstecke sich dabei hinter dem Kadavergehorsam, den schon Arendt erwahnte: Er befolgte Befehle, ohne diese zu hinterfragen. Eichmann würde damit andeuten, dass er gar keine Macht hatte, was Sperber durchaus unsinnig erscheint. Zwischen ihm und Hitler standen nicht mehr als drei Manner. Und mit dem blinden Gehorsam den Eichmann erbrachte würde er unbegrenzte Macht erhalten, um seine Befehle durchführen zu können.67 Diese Macht habe Eichmann oft genug ausgenutzt was ihn nicht so banal mache wie Arendt behaupte. Die Beweisführung habe oft genug gezeigt, dass er „brutal und unbarmherzig“68 war. Dies zeigen die Deportation der ungarischen Juden 1944, andere Zeugenaussagen und auch Eichmann selbst vor Gericht.69 Auch Golo Mann sieht Eichmann als jemanden der wusste, was er tat. SchlieBlich habe er die Todeslager selbst besucht und wusste daher das Ziel seiner Deportationen. „So harmlos und gutmütig, wie sie ihn ausmacht, [kann er] wahrend seines Tuns nicht gewesen sein.“70 Diese Unklarheiten, die durch Arendts Buch ausgelöst wurden, fand Eva Michaelis-Stern besorgniserregend. Die Thesen Arendts seien gefahrlich, da sie insgesamt schlüssig formuliert würden und der Durchschnittsleser einfach von ihnen überzeugt werden könne. Es könne der Eindruck entstehen, dass Eichmanns Verantwortung an der Endlösung kleiner sei als der israelische Staat es zeigen wolle.71

Einer der erbittertsten Kritiker Hannah Arendts war Michael Musmanno. Der amerikanische Richter beklagte die Verbreitung falscher Tatsachen seitens Hannah Arendts. Als Beispiel nannte er die Aussage Arendts, Eichmann habe in seiner gesamten Karriere nur ein einziges Mal den Befehl zur Tötung gegeben, um 8000 serbische Juden durch ErschieBen zu töten. Dies widerspreche mit anderen Fallen: Eichmann habe als Chef der NS-Einsatzgruppe in Ungarn 434351 Juden nach Auschwitz deportieren lassen, die dort starben. Da diese Deportationen auf seinen Befehl hin erfolgten, sei dieser auch ein Tötungsbefehl. Das zweite Beispiel sind die 1500 Juden, die von Horthy aus Auschwitz zurückgeschickt wurden. Diese habe Eichmann unverzüglich nach Auschwitz schicken lassen, wo sie durch Vergasung starben. AuBerdem nennt Musmanno den Fall der 4000 französischen Kinder, die auf Eichmanns Vorschlag hin nach Auschwitz deportiert wurden. Insgesamt habe Eichmann über zwei Millionen Juden alleine in das Todeslager Auschwitz geschickt, von dessen eigentlicher Nutzung er bestens informiert war.72 AuBerdem weist er sehr deutlich darauf hin, Eichmann sei kein Zionist. Viele Dokumente, die im Prozess dem Jerusalemer Gericht vorgelegt wurden, widersprechen dieser Aussage. AuBerdem nennt er ein konkretes Beispiel aus Eichmanns Entscheidungen, die höchst antizionistisch ist:

„ 1944, als sogar Hitler (Hitler!) befahl, dafi einigen Tausend ungarischen Juden die Auswanderung nach Palastina gestattet werden solle (freilich nicht aus Sympathie, sondern als Teil eines eigenen Plans), widersetzte sich Eichmann, wie der Reichsbevollmachtigte Veesenmayer berichtete, seinem Führer mit der Begründung, dafi die Juden "wichtiges biologisches Material seien, viele von ihnen alte Zionisten, deren Emigration nach Palastina höchst unerwünscht sei. "73

Eine direkte Antwort auf Musmannos Kritik kam von Bruno Bettelheim, einem der prominentesten Befürworter Arendts. Entgegen anderer Auffassungen verstand er Arendt mehr als befahigt, über den Eichmann-Fall zu schreiben und zu berichten. Durch ihre früheren Werke zu totalitaren Systemen verstehe sie, dass sich „unsere MaBstabe von Normalitat nicht auf das Verhalten in totalitaren Gesellschaften anwenden“74 lassen. Diese Diskrepanzen lieBen sich alleine daran festhalten, dass in diesem Prozess eine einzige Person für den Mord an mehreren Millionen Menschen angeklagt werde. Dieses Missverhaltnis überfordere unsere Fantasie, unsere Gefühle und unser Wertesystem. Denn dieser funktioniere lediglich in den GröBenordnungen des Einzelnen, nicht in der von Millionen. Dadurch entstehe das Unverstandnis, wie ein System einer relativ zufallig ausgesuchten Person eine derartige Macht geben kann, mit dessen Hilfe Millionen den Tod finden.75 Aus diesem Unverstandnis für die GröBenordnungen heraus war es der Anklage wichtig, Eichmann einen eigenhandig durchgeführten Mord nachzuweisen, wie im Falle des Jungen in Ungarn. Der Beweis des Mords in diesem speziellen Fall hatte nichts an den anderen Millionen Opfern geandert, für deren Tod Eichmann weiterhin mitverantwortlich sei. Allerdings ware der Beweis einer gewesen, den die Öffentlichkeit mit dem uns vertrauten Moral- und Rechtsvorstellungen nachvollziehen könnte76 Somit ware nur eine banale Person wie Eichmann in der Lage gewesen, in diesem System und in dieser Position wirkungsvoll zu arbeiten. Ware er banaler gewesen, hatte er nicht so wirkungsvoll gearbeitet, ware er menschlicher gewesen (also weniger banal), hatte ihn seine Humanitat bzw. sein Gewissen davor bewahrt, überhaupt diese Arbeit durchzuführen.77 Bettelheim kritisiert Musmanno sowie andere Kritiker Arendts, sie würden die Diskussion in andere Bahnen lenken wollen. In diesem Prozess gehe es nicht um Eichmann, sondern dem totalitaren System. Arendt weise daraufhin, dass das totalitare System solche Machtstrukturen nur dadurch aufbauen und Verbrechen in dieser GröBenordnung durchführen könne, weil sie die Opposition verstummen lieBe. Dazu nennt Bettelheim ein Beispiel aus dem Prozess: Als Zeuge wurde Probst Grüber, einer der wenigen nicht-jüdischen Zeugen im Prozess, von den Richtern gefragt, ob er auf Eichmann eingeredet hatte, dass sein Verhalten aus theologischer Sicht unmoralisch sei. Diese Frage verneinte Grüber, denn Worte seien nutzlos gewesen. Daraus folgert Bettelheim, dass man Eichmann glauben sollte, wenn er behaupte, es gebe keine Stimmen von auBen. Wenn selbst ein „frommer Mann wie Probst Grüber so leise sprach, daB seine Stimme unhörbar blieb“, könne man Eichmanns Behauptung nachvollziehen.78 Auf die Frage, weshalb Eichmann nicht trotzdem ausgestiegen sei, antwortet Bettelheim mit der Signifikanz des Einzelnen im Totalitarismus. Die Bürokratie des totalitaren Staates laufe weiter und ein Einzelner kann daran nichts bewirken. Wenn eine Person die Verwirklichung des Zieles, des obersten Gesetzes des Staates, behindere, würde er vernichtet werden. Nicht aus Hass gegenüber dem Individuum oder dem persönlichen Vorteil eines anderen, sondern aus Gehorsam gegenüber dem Gesetz.79

[...]


1 Der Spiegel (1960): Der Endlöser. In: Der Spiegel 25/1960, 15.06.1960. Online verfügbar unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-32417089.html, zuletzt geprüft am 30.08.2018.

2 Stahl, Daniel (2013): Nazi-Jagd. Südamerikas Diktaturen und die Ahndung von NS- Verbrechen. Zugl: Jena, Univ., Diss., 2012. 2. Aufl. Göttingen: Wallstein. S. 127.

3 Cesarani, David (2004): Adolf Eichmann. Bürokrat und Massenmörder; Biografie. Berlin: Propylaen. S. 358.

4 Grafton, Anthony (2000): Arendt und Eichmann am EBtisch. In: Gary Smith (Hg.): Hannah Arendt revisited. "Eichmann in Jerusalem" und die Folgen. Orig.-Ausg., Erstausg., 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 57-77.S. 58.

5 Elon, Amos (2000): Hannah Arendts Exkommunizierung. In: Gary Smith (Hg.): Hannah Arendt revisited. "Eichmann in Jerusalem" und die Folgen. Orig.-Ausg., Erstausg., 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 17-32.S. 17.

6 Rabinbach, Anson (2000): Hannah Arendt und die New Yorker Intellektuellen. In: Gary Smith (Hg.): Hannah Arendt revisited. "Eichmann in Jerusalem" und die Folgen. Orig.-Ausg., Erstausg., 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 33-56.S. 33.

7 Mann, Golo (1964): Der verdrehte Eichmann. In: Friedrich A. Krummacher (Hg.): Die Kontroverse Hannah Arendt, Eichmann und die Juden. München: Nymphenburger Verlagshandlung, S. 190-198.S. 192.

8 Villa, Dana R. (2000): Das Gewissen, die Banalitat des Bösen und der Gedanke eines reprasentativen Taters. In: Gary Smith (Hg.): Hannah Arendt revisited. "Eichmann in Jerusalem" und die Folgen. Orig.-Ausg., Erstausg., 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 231-263. S. 254.

9 Lozowick, Yaakov; Münz, Christoph (2000): Hitlers Bürokraten. Eichmann, seine willigen Vollstrecker und die Banalitat des Bösen. Zürich: Pendo. S. 18.

10 Vgl. Grafton 2000, S. 67f.

11 Vgl. Cesarani 2004, S. 359.

12 Wojak, Irmtrud (2002): Eichmanns Memoiren und die „Banalitat“ des Bösen. In: Joachim Perels und Kerstin Freudiger (Hg.): NS-Tater in der deutschen Gesellschaft. Hannover: Offizin- Verl. S. 17-39.S.31.

13 Simon, Ernst (1963): Hannah Arendt - eine Analyse. In: Bitaon Publishing Co. Ltd. (Hg.): Nach dem Eichmann Prozess. Zu einer Kontroverse über die Haltung der Juden. Tel-Aviv, S. 51-97. S.59.

14 Vgl. Cesarani 2004, S. 369f.

15 Ebd. S. 369f.

16 Arendt, Hannah; Granzow, Brigitte (1964): Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalitat des Bösen. Von der Autorin durchges. u. erg. dt. Ausg. München: Piper Verlag. S. 208.

17 Ebd. S. 83f.

18 Ebd. S. 326.

19 Ebd. S. 53f.

20 Ebd. S. 77f.

21 Arendt und Granzow 1964, S. 143.

22 Ebd. S. 183.

23 Ebd. S. 76f.

24 Ebd. S. 78f.

25 Ebd. S. 69.

26 Vgl. Arendt und Granzow 1964, S. 108f.

27 Ebd. S. 196f.

28 Vgl. Arendt und Granzow 1964, 118f.

29 Ebd. S. 173.

30 Ebd. S. 163.

31 Ebd. S. 126f.

32 Ebd. S. 53.

33 Ebd. S. 186.

34 Ebd. S. 243.

35 Vgl. Arendt und Granzow 1964, S. 120ff.

36 Ebd. S. 124.

37 Ebd. S. 125.

38 Ebd. S. 130.

39 Vgl. Arendt und Granzow 1964,S. 149-152.

40 Ebd. S. 140f.

41 Ebd. S. 92.

42 Vgl. Arendt und Granzow 1964, S. 114.

43 Ebd. S. 17.

44 Ebd. S. 117.

45 Ebd. S. 61.

46 Ebd. S. 70.

47 Ebd. S. 174f.

48 Ebd. S. 95.

49 Vgl. Arendt und Granzow 1964, S. 86f.

50 Ebd. S. 192.

51 Ebd. S. 102.

52 Ebd. S. 102f.

53 Ebd.S. 105-108.

54 Arendt und Granzow 1964, S. 253.

55 Ebd.S. 253-255.

56 Vgl. Lozowick und Münz 2000, S. 17.

57 Trevor-Roper, Hugh (1964): Wie unschuldig war Eichmann? In: Friedrich A. Krummacher (Hg.): Die Kontroverse Hannah Arendt, Eichmann und die Juden. München: Nymphenburger Verlagshandlung, S. 182-189. S. 184.

58 Rie, Robert (1964): Literarisches Nachspiel zum Eichmann-ProzeB. In: Friedrich A. Krummacher (Hg.): Die Kontroverse Hannah Arendt, Eichmann und die Juden. München: Nymphenburger Verlagshandlung, S. 33-38. S. 34.

59 Arendts Quellenlage und Methodik ist Gegenstand des 5. Kapitels dieser Arbeit.

60 Kempner, Robert M. W. (1964): Der "miBverstandene" Adolf Eichmann. In: Friedrich A. Krummacher (Hg.): Die Kontroverse Hannah Arendt, Eichmann und die Juden. München: Nymphenburger Verlagshandlung, S. 82-84. S. 82.

61 Vgl. Simon 1964, S. 73f.

62 Ebd. S. 60.

63 Vgl. Rie 1964, S. 37.

64 Vgl. Kempner 1964, S. 83.

65 Vgl. Kempner 1964, S. 82.

66 Sperber, Manés (1964): Churban oder Die unfaBbare GewiBheit. In: Friedrich A. Krummacher (Hg.): Die Kontroverse Hannah Arendt, Eichmann und die Juden. München: Nymphenburger Verlagshandlung, S. 9-32. S. 18.

67 Ebd. S. 26.

68 Trevor-Roper 1964, S. 186.

69 Ebd. S. 186.

70 Vgl. Mann 1964, S. 193.

71 Michaelis-Stern, Eva (1964): Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck! In: Friedrich A. Krummacher (Hg.): Die Kontroverse Hannah Arendt, Eichmann und die Juden. München: Nymphenburger Verlagshandlung, S. 152-160. S. 153.

72 Musmanno, Michael A. (1964): Der Mann mit dem unbefleckten Gewissen. In: Friedrich A. Krummacher (Hg.): Die Kontroverse Hannah Arendt, Eichmann und die Juden. München: Nymphenburger Verlagshandlung, S. 85-90. S. 87f.

73 Ebd. S. 86f.

74 Bettelheim, Bruno (1964): Eichmann - das System - die Opfer. In: Friedrich A. Krummacher (Hg.): Die Kontroverse Hannah Arendt, Eichmann und die Juden. München: Nymphenburger Verlagshandlung, S. 91-113. S. 92.

75 Vgl. Bettelheim: Eichmann. 1964, S. 92f.

76 Ebd. S. 95.

77 Ebd. S. 93f.

78 Ebd. S. 98f.

79 Vgl. Bettelheim: Eichmann. 1964, S. 102.

Ende der Leseprobe aus 79 Seiten

Details

Titel
Hannah Arendt und die Kontroverse um „Eichmann in Jerusalem“
Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
79
Katalognummer
V914844
ISBN (eBook)
9783346230997
ISBN (Buch)
9783346231000
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hannah Arendt, Eichmann, Arendt, Nationalsozialismus, Israel, Juden, Judentum, Prozess, Schauprozess
Arbeit zitieren
Fatih Karahan (Autor:in), 2018, Hannah Arendt und die Kontroverse um „Eichmann in Jerusalem“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/914844

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