Der Art. 17 I des Montrealer Übereinkommens. Das Ende der luftfahrttypischen Gefahr


Hausarbeit (Hauptseminar), 2020

35 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

2. Struktur der Haftung für Passagierschäden im MÜ
a. Anwendungsbereich
b. Das Haftungssystem des MÜ für Passagierschäden

3. Luftfahrttypische Gefahr

4. Die Begründung der luftfahrttypischen Gefahr
a. Wortlaut und Systematik
b. Historische Argumente
c. Sinn und Zweck I
d. Exklusivität des MÜ
e. Sinn und Zweck II
f. Alternative Vorschläge
g. Ergebnis

5. Vergleich mit anderen Haftungen

6. Die Luftfahrttypik in der Praxis
a. BGH NJW 2018, 861
b. EuGH C-532/18
c. US Entscheidungen

7. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Am 04.11.2003 trat das Übereinkommen vom 28. Mai 1999 zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Montrealer Übereinkommen) mit Hinterlegung der 30. Ratifizierungsurkunde unter anderem in Deutschland in Kraft.1 Mittlerweile gilt es in 136 Staaten2 und stellt ein umfassendes Regelwerk zur Haftung für den internationalen Lufttransport zwischen den Unterzeichnerstaaten dar. Das Montrealer Übereinkommen (MÜ) löste das bis dahin geltende und noch aus dem Jahr 1929 stammende Warschauer Abkommen (WA) ab.3 Die vielfachen Versuche, das Warschauer Abkommen zu modernisieren, hatten zu einem zersplitterten Regelwerk geführt, welches die Rechtsanwendung enorm erschwerte. Dieser Zustand sollte durch das MÜ beendet werden.

Bereits zu Zeiten des WA war in der Fachwelt umstritten, ob der zum Tod oder einer Verletzung eines Passagiers führende Unfall aus einer luftfahrttypischen Gefahr resultieren muss. Dieser Text versucht, einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage zu leisten. Um dies beantworten zu können, soll zunächst das Haftungssystem des MÜ beschrieben werden. Anschließend folgt eine Darstellung des Streits über das Erfordernis der luftfahrttypischen Gefahr im Rahmen des Passagierschadens nach Art. 17 I MÜ. Die Stellungnahme, ob eine solche luftfahrttypische Gefahr erforderlich ist, soll auch mittels des Vergleichs mit anderen Haftungsvorschriften im internationalen Personentransport begründet werden und hängt maßgeblich davon ab, wann die Sperrwirkung des MÜ nationale Haftungsvorschriften ausschließt. Der letzte Teil dieser Arbeit behandelt die aktuelle Rechtsprechung in Europa und den USA zur Frage der luftfahrttypischen Gefahr und endet mit einem Ausblick, auf welche Haftungsmaßstäbe sich Airlines in Zukunft in diesen Jurisdiktionen einstellen müssen.

2. Struktur der Haftung für Passagierschäden im MÜ

a. Anwendungsbereich

Der Anwendungsbereich des MÜ umfasst nach Art. 1 MÜ den Lufttransport zwischen zwei Vertragsstaaten. Wegen der vielen Vertragsstaaten sowie insbesondere der Umsetzung im Rahmen der europäischen Verordnung VO (EG) Nr. 2027/97 in der durch die VO (EG) Nr. 889/2002 geänderten Fassung ist das MÜ das wichtigste Haftungsregime für Passagierschäden im Luftverkehr. Nach der genannten Verordnung gilt das MÜ für die Verbraucherhaftung von Luftfahrtunternehmen auch für Inlandsflüge innerhalb eines EU-Mitgliedsstaates.4 Damit gelten für innerdeutsche Flüge nur noch dann die Haftungsregeln des § 44 LuftVG, wenn der Flug von einer nicht-europäischen Fluggesellschaft durchgeführt wird.5 Die EU erweiterte den Anwendungsbereich des MÜ somit stark.

b. Das Haftungssystem des MÜ für Passagierschäden

Die Haftung für Passagierschäden nach dem MÜ besteht aus einem Zusammenspiel verschiedener Normen des MÜ. Zentrale Vorschrift ist Art. 17 I MÜ. Demnach hat der Luftfrachtführer den Schaden zu ersetzen, der durch die Tötung oder körperliche Verletzung eines Reisenden entsteht. Dies gilt nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat. Auf den Begriff des Unfalls wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch näher eingegangen. Der nicht intuitive Begriff des Luftfrachtführers wird in der amtlichen Übersetzung des MÜ durchgehend verwendet und umfasst alle Luftverkehrsgesellschaften auch bei der Passagierbeförderung.6

Die Ausgangsregelung des Art. 17 I MÜ wird ergänzt durch die Art. 20, 21 und 29 MÜ. Zunächst regelt Art. 20 MÜ die Enthaftungsmöglichkeit des Luftfrachtführers bei dem Vorwurf eines Mitverschuldens gegen den Geschädigten, welchen er gem. Art. 20 S. 2 MÜ auch den Rechtsnachfolgenden des verstorbenen Geschädigten entgegenhalten kann. Dieser Mitverschuldensvorwurf ist die einzige Entlastungsmöglichkeit, die der Luftfrachtführer bis zur Grenze von 128.821 Sonderziehungsrechten (SZR) geltend machen kann.7 SZR sind eine spezielle Währungseinheit des Internationalen Währungsfonds8, welche auf den vier Währungen Dollar, Euro, Yen und britisches Pfund basiert.9 Das Umrechnungsverfahren ist in Artikel 23 MÜ beschrieben. Die im MÜ festgeschriebene Grenze von 100.000 SZR wurde mit Wirkung zum 28.12.2019 zuletzt auf palindromische 128.821 SZR erhöht,10 was mit Stand 17.06.2020 knapp 158.000 Euro entspricht.11

Übersteigt der pro Passagier entstandene Schaden die Grenze von mittlerweile 128.821 SZR, so kann der Luftfrachtführer eine über diesen Betrag hinausgehende Zahlung unter Berufung auf die in § 21 II MÜ genannten zwei Entlastungsmöglichkeiten verweigern. Dieser kann vortragen, dass er den Schaden nicht verschuldet hat oder dass der Schaden schuldhaft von einem Dritten verursacht wurde. Die Beweislast liegt beim Luftfahrtunternehmer.

Das Haftungssystem des MÜ für Passagierschäden schafft somit eine Gefährdungshaftung bis zur Schwelle von 128.821 SZR.12 Danach gilt eine Verschuldenshaftung mit der Beweislastumkehr zugunsten des Geschädigten.

3. Luftfahrttypische Gefahr

Die Beurteilung, ob ein Fall der Haftung für Passagierschäden nach Art. 17 I MÜ vorliegt, wurde in der Vergangenheit und insbesondere von deutschen Gerichten an ein ungeschriebenes Merkmal geknüpft: Die luftfahrttypische Gefahr.13 Dieses Erfordernis wurde in der deutschen Rechtsprechung erstmalig vom BGH in NJW 1979, 495 f. aufgestellt und hat sich seitdem in vielen weiteren Gerichtsentscheidungen wiedergefunden.14

Wann sich eine luftfahrttypische Gefahr in einem Schaden realisiert hat, wird nicht einheitlich beantwortet. Teilweise wurde vertreten, dass das Ereignis derart mit dem Luftverkehr verbunden sein müsse, dass es einzig im Kontext des Luftverkehrs auftreten darf. Dies hat der BGH 2018 ausdrücklich verworfen und sah einen Unfall dann als luftfahrttypisch an, „wenn sich ein Risiko verwirklicht, das sich aus der typischen Beschaffenheit oder dem Zustand eines Luftfahrzeugs oder einer beim Ein- oder Ausstieg verwendeten luftfahrttechnischen Einrichtung ergibt.“15 Der US Court of Appeal nahm eine Haftung nach dem WA an, wenn der Unfall durch luftfahrtspezifische Umstände begünstigt wurde oder entstanden ist.16 Nicht erforderlich war dem Gericht nach hingegen, dass der Unfall ausschließlich im Luftverkehr auftreten kann. Dem ist auch zuzustimmen, da die Einzigartigkeit im Luftverkehr kein taugliches Abgrenzungskriterium ist. Selbst ein Flugzeugabsturz ließe sich als nicht luftfahrttypisch klassifizieren. Schließlich entgleisen auch Züge und Autos verunfallen.17

Weitere Gerichte verstanden die aus ihrer Sicht erforderliche Luftfahrttypik als Abgrenzung zum allgemeinen Lebensrisiko. Diese Abgrenzung wurde durch die Gerichte jedoch uneinheitlich vorgenommen. So lehnte das LG Köln beispielsweise die Beförderung eines Passagiers mit einem Caddie im Flughafengebäude als nicht luftfahrttypisch ab.18 Ebenso wenig sei das Ausrutschen auf einer Flugzeugtoilette ein luftfahrttypischer Unfall.19 Eine bemerkenswerte Entscheidung traf das OLG Frankfurt.20 Es sah die allergische Reaktion einer Passagierin auf die verteilten Erfrischungstücher als luftfahrttypische Gefahr an. Zwar zähle eine allergische Reaktion grundsätzlich zum allgemeinen Risiko und sei nach Auffassung des Gerichts somit eigentlich nicht nach dem MÜ ersatzfähig. Die Passagierin informierte die Bordbesatzung jedoch über ihre Allergie und stellte dadurch einen luftfahrttypischen Bezug her, da sie sich dem Ereignis durch die luftfahrttypische Besonderheit des abgeschlossenen Raumes nicht entziehen konnte. Somit sei das Ereignis nicht mehr dem allgemeinen Lebensrisiko zuzuordnen.

Die Definition des BGH aus 2018, dass sich aus der typischen Beschaffenheit oder dem Zustand eines Luftfahrzeugs oder einer beim Ein- oder Ausstieg verwendeten luftfahrttechnischen Einrichtung ergibt, wann ein Unfall als luftfahrttypisch anzusehen ist, beseitigt die Abgrenzungsschwierigkeiten nur in seltenen Fällen. Die Subsumption unter diese Definition macht die Beurteilung erforderlich, wann die typische Beschaffenheit des Luftfahrzeugs zu einem Unfall geführt hat. Dies erfordert wieder die Abgrenzung der Luftfahrttypik zum allgemeinen Lebensrisiko, welche sich im Rahmen der deutschen Rechtsprechung als das maßgebliche Kriterium herausgestellt hat. Die Gerichte kommen im Rahmen dieser Abgrenzung jedoch zu teils völlig unterschiedlichen Ergebnissen, so dass der Ausgang eines Verfahrens fast zufälligen Charakter erhält:21 Die Entscheidung über die allergische Reaktion auf die verteilten Erfrischungstücher des OLG Frankfurt legt als Maßstab nur an, dass sich der Passagier nicht der Einwirkung durch die Besatzung entziehen konnte. Nach dieser Definition wäre auch eine harte Landung ein luftfahrttypischer Unfall, welche das LG Düsseldorf jedoch zum allgemeinen Lebensrisiko zählte.22

4. Die Begründung der luftfahrttypischen Gefahr

Nachdem nun erläutert wurde, was unter der Luftfahrttypik zu verstehen ist, sollen nachfolgend die Argumente für und wider dieser Voraussetzung dargestellt werden.

Dabei sind für die Auslegung des MÜ als Völkerrechtlicher Vertrag die Auslegungsgrundsätze des Art. 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WVRK) anzuwenden.23 Ausgangspunkt ist der Wortlaut der Vorschrift.24 Da alle Sprachen des Abkommens als gleichwertig anzusehen sind und die Interpretation losgelöst von nationalem Recht zu erfolgen hat, sind auch die Gerichtsentscheidungen anderer Vertragsstaaten zu berücksichtigen.25 Der Wortlaut ist außerdem im systematischen Zusammenhang und nach Sinn und Zweck der Bestimmung auszulegen.26

a. Wortlaut und Systematik

Für das Erfordernis der Luftfahrttypik spricht das Haftungssystem des Art. 17 I MÜ, welcher als Gefährdungshaftung ausgestaltet ist und dementsprechend kein Verschulden der Airline voraussetzt. Der Zweck eines solchen Haftungssystems ist es, den Passagier vor den Gefahren eines legalen Risikos, welches durch die Airline in Form der Luftbeförderung geschaffen wurde, zu schützen. Wenn die Airline für eine solche Gefahr haften muss, dann sollte dies auch nur für durch die Beförderung geschaffene, mithin luftfahrttypische Gefahren, gelten.27

Auf den Wortlaut von Art. 17 I MÜ stützen vor allem angloamerikanische Gerichte ihre Entscheidungen für das Erfordernis der Luftfahrttypik.28 Für einen Anspruch aus dem MÜ, müssen Passagierschäden gem. Art. 17 I MÜ aus einem Unfall resultieren. Das Verständnis des Unfallbegriffs wurde maßgeblich durch den Supreme Court in der Saks-Entscheidung geprägt.29 Demnach ist ein Unfall „an unexpected or unusual event or happening that is external to the passenger“, also ein unerwartetes oder ungewöhnliches Ereignis das von außen kommt. Der BGH definiert mit Verweis auf „die Rechtsprechung“ den Unfall als „grundsätzlich jedes auf einer äußeren Einwirkung beruhende, plötzliche Ereignis, durch das der Reisende getötet oder verletzt wird“30

Der Begriff Unfall (in der französischen Originalsprache: "accident") ist im Zusammenhang mit Art. 17 II MÜ zu lesen, der für Gepäckschäden gilt. Dieser setzt nur ein Ereignis ("evénement") voraus.31 Aufgrund dieser unterschiedlichen Wortwahl sei davon auszugehen, dass sich die Verfasser des MÜ bewusst für den engeren Begriff Unfall als ein bestimmtes, nicht beliebiges Ereignis entschieden hätten.32 So wollten die Verfasser auch den Anwendungsbereich entsprechend eng halten.33 Den Verfassern des MÜ könne mit dieser Formulierung auch kein Fehler unterlaufen sein, sei die Problematik der Luftfahrttypik bereits zu Zeiten des WA bekannt gewesen. Der „Fehler“ hätte durch eine neue und klare Formulierung für oder gegen das Erfordernis ausgeräumt werden können.

Nach Hans Thor bedeutet schon die Formulierung des Haftungszeitraums „an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen“, dass ein enger Bezug zum Luftfahrzeug für die Haftung nach Art. 17 I MÜ vorausgesetzt werde.34 Er begründet dies insbesondere in Abgrenzung zur Formulierung „während der Luftbeförderung“ gem. Art. 18 I MÜ für Schäden an Fracht. „Während der Luftbeförderung“ bedeute „während aller für die Erfüllung der Pflicht zur Luftbeförderung erforderlichen Handlungen“35 und eröffne damit einen im Vergleich zu Art. 17 I MÜ deutlich weiteren Haftungsrahmen.

Ferner wird der Wortlaut des Art. 28 MÜ als Beleg für das Erfordernis der Luftfahrttypik angeführt.36 Art. 28 MÜ regelt eine Vorauszahlungspflicht der Airline für den Fall des Todes oder der Körperverletzung eines Passagiers und sei somit in direktem Zusammenhang mit Art. 17 I MÜ zu lesen. Art. 28 verwendt den Begriff „Luftfahrzeugunfall“. Dies sei als Konkretisierung des Unfallbegriffs in Art. 17 I MÜ in die Richtung zu verstehen, dass nur luftfahrttypische Risiken erfasst seien.

Zusammengefasst sprechen folgende Wortlautargumente für das Erfordernis der Luftfahrttypik: Die Verwendung des Begriffs Unfall statt Ereignis, die Anforderung, der Unfall müsse „an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen“ erfolgt sein sowie der Wortlaut des Art. 28 MÜ, welcher von „Luftfahrzeugunfall“ in Zusammenhang mit Art. 17 I spricht.

Letztgenanntem Argument ist jedoch entgegenzuhalten, dass Art. 28 MÜ nur der Formulierung nach ausschließlich für Luftfahrzeugunfälle gilt. Würde man jedoch von dieser unglücklich gewählten Formulierung auf den Anwendungsbereich des Art. 17 I MÜ schließen, so wären nur Abstürze oder Kollisionen erfasst, weil sie dem allgemeinen Verständnis nach einzig als solche Luftfahrzeugunfälle zu verstehen sind.37 Ferner ist auch nicht vollends überzeugend, dass die Verwendung des Wortes „Unfall“ eine Luftfahrttypik erforderlich mache. Vor dem Inkrafttreten des MÜ wurde der Begriff Unfall -wie ausgeführt - maßgeblich durch die Saks-Entscheidung aus dem Jahr 1985 geprägt. In dieser Leitentscheidung hat der Supreme Court das Erfordernis der Luftfahrttypik nicht erwähnt38 und wich damit von der Rullmann-Entscheidung des New York Supreme Court ab, in welcher das Gericht erst zwei Jahre zuvor eine Luftfahrttypik für erforderlich hielt.39 Den Verfassern des MÜ war die Entscheidung des US Supreme Courts bekannt. Wenn sie davon hätten abweichen wollen, hätten sie dies im MÜ klargestellt und das Erfordernis der Luftfahrttypik ausdrücklich erwähnt. Dies ist jedoch nicht geschehen. Es spricht also sehr viel dafür, dass die Verfasser des MÜ die Ansicht des US Supreme Court geteilt haben und deshalb die Luftfahrttypik bewusst nicht in das Abkommen übernahmen.

Art. 21 II lit. b MÜ unterstützt diese Interpretation. Dieser erlaubt der Airline, sich für Schäden über der Grenze von 128.821 SZR für solche Schäden zu exkulpieren, die von einem Dritten mindestens fahrlässig verursacht wurden. Wenn sich die Airline für Drittschäden exkulpieren kann, dann müssen diese im Umkehrschluss auch vom Begriff des Unfalls in Art. 17 I MÜ umfasst sein.40 Damit wird im MÜ nun gesetzlich ausdrücklich eine Konstellation geregelt, die unter dem WA noch vom US District Court Puerto Rico vom 02.09.2005 in der Entscheidung Garcia Ramos vs. Transmeridian Airlines abgelehnt wurde. Dem Passagier, der durch den Sturz eines unbekannten anderen Passagiers verletzt wurde, wurde in Ermangelung eines luftfahrttypischen Unfalls kein Anspruch aus dem WA gegen die Airline zugesprochen. Begründet wurde dies damit, dass es an einer neben dem Vorliegen eines Unfalls erforderlichen Funktionsstörung oder sonstigen Abweichung von einem normalen Luftfahrzeugbetrieb mangelte.41 Durch Dritte kann diese Abweichung vom Normalbetrieb jedoch höchstens in Form von terroristischen Angriffen und Sabotageakten verursacht werden.42 Auch unter die vom BGH 2018 aufgestellte Definition der Luftfahrttypik43 lassen sich lediglich solch kriminellen Handlungen subsumieren. Der Ansicht des BGH und des District Court Puerto Rico folgend, wären nur solch kriminelle Akte luftfahrttypische Unfälle. Da aber die Schädigung eines Dritten explizit vom MÜ umfasst ist und dies sich dem Wortlaut nach nicht nur auf solche kriminellen Akte beschränken soll, kann das Erfordernis der luftfahrttypischen Gefahr unter dem MÜ keine Voraussetzung mehr sein.

Auch aus systematischer Sicht ist das Erfordernis der Luftfahrttypik zu kritisieren. Das MÜ verpflichtet die Airline in Art. 17 I zur Gefährdungshaftung. Als Ausgleich für die geschaffene Gefahr durch die Airline, muss der Passagier zur Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs nur einen Unfall im Haftungszeitraum nachweisen. Damit ist auch dem Umstand Rechnung getragen, dass regelmäßig nur die Airline über weitergehende Kenntnisse der Unfallumstände verfügt. Diese Privilegierung wird durch das Erfordernis der Luftfahrttypik jedoch ausgehebelt. Ob ein Unfall luftfahrttypisch ist, muss der Passagier beweisen, weil es ein zur Begründung seines Anspruchs erforderlicher Umstand ist. Man könnte zwar auch eine Beweislastumkehr begründen, weil die für die Darlegung der Luftfahrttypik erforderlichen Daten, wie die Flugdaten oder die genaue Beschaffenheit des Flugzeuges, allein der Airline zugänglich sind und damit in ihre Sphäre fällt. Nach der Rechtsprechung, zuletzt das Oberlandesgericht Wien zweitinstanzlich in dem zu dem nachfolgend noch zu besprechenden Urteil des EuGH, obliegt die Beweislast jedoch dem Passagier.44 Damit konterkariert das nicht kodifizierte Merkmal der Luftfahrttypik den gesetzlich gewährten Vorteil des Passagiers, keinen Nachweis über solche Umstände erbringen zu müssen, für welche die Airline in der Regel einen deutlichen Informationsvorsprung genießt.

b. Historische Argumente

Es lassen sich historische Argumente für die Notwendigkeit der Voraussetzung „Luftfahrttypik“ anführen. Mit diesen setzt sich insbesondere Jahnke auseinander. Zunächst führt sie aus, dass weder in den Protokollen zum WA noch in denen zum MÜ der Begriff der Luftfahrttypik erwähnt sei.45 Allerdings vertraten die an der Entstehung des WA beteiligten Herren Goedhuis und Riese die Auffassung, für die Passagierhaftung sei eine luftfahrttypische Gefahr erforderlich.46 So wies Goedhuis auf dem 5. International Air Navigation Congress 1930 in Den Haag explizit darauf hin, das Kriterium der Typik müsse dem Art. 17 WA hinzugefügt werden.47 Dies führt Schmid zu der Annahme, das Ablehnen der luftfahrttypischen Gefahr als Haftungsvoraussetzung führe zu einer von den Verfassern des MÜ nicht erwünschten weil zu weiten Haftung.48

Die Auseinandersetzungen im Rahmen der Warschauer Konferenz, die einen Bezug zum Erfordernis der Luftfahrttypik aufweisen könnten, waren vielmehr Fragen des Haftungszeitraums. So ging der an der Konferenz beteiligte Giannini davon aus, dass ein an Bord stattgefundener Unfall zwangsläufig einen Bezug zur Luftfahrt aufweise.49 Dieses Argument führen auch die französischen Gerichte im Rahmen des Art. 17 I MÜ an. Die luftfahrttypische Gefahr wird in Frankreich nicht separat geprüft. Es wird vielmehr vom Haftungszeitraum auf einen ausreichenden Bezug zur Luftfahrt geschlossen.50

Auch die an der Konferenz von Den Haag beteiligten Herren Guldimann und Mankiewicz hielten die Typik nicht für erforderlich.51 Dass die Forderung ihres Kritikers Goedhuis nicht in den Dokumenten zur Entstehung des WA bzw. des MÜ oder nach seiner Rede 1930 in den Änderungen des Abkommens zu finden ist, zeige auf, dass die Verfasser dieses ihnen bekannte Problem im Rahmen der Abkommen nicht durch Aufnahme der Luftfahrttypik in das Gesetz lösen wollten.52

Die historische Auslegung spricht mithin gegen das Erfordernis einer Luftfahrttypik.

c. Sinn und Zweck I

Sinn und Zweck der Haftung gem. Art. 17 I MÜ ergeben sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 2, 3 und 5. Grund 3 nennt den umfassenden Verbraucherschutz unter dem Grundsatz des vollen Schadensausgleichs, Punkt 5 die Vereinheitlichung der Regelungen zum internationalen Lufttransport. Nach Erwägungsgrund 2 war eines der Ziele des MÜ, die opaken Strukturen des seit 1929 mehrfach und nicht einheitlich für alle Staaten reformierten Warschauer Abkommens mit seinen Änderungen und privatrechtlichen Modifikationen abzulösen und Rechtsklarheit und –sicherheit durch Vereinheitlichung zu schaffen.53

Ein derart frei auszulegendes Kriterium wie die Luftfahrttypik schaffe jedoch das genaue Gegenteil zu diesem Erwägungsgründen, was sich anhand der oben dargestellten, unterschiedlichen Gerichtsentscheidungen zeigt.54

Wie unvorhersehbar Entscheidungen über die Luftfahrttypik sind, soll folgendes Beispiel verdeutlichen: Das Servieren von kostenlosen Speisen an Bord ist typisch für den Luftverkehr. Ist nun dieses Essen verdorben und der Passagier erleidet eine Lebensmittelvergiftung, müsste man eine Haftung nach MÜ annehmen.55 Wird das gleiche Essen in der Business Class kostenlos verteilt, in der Economy Class jedoch verkauft, so erleiden alle Personen den gleichen Schaden aufgrund des gleichen Umstandes. Dadurch, dass der Passagier der Economy Class sein Essen jedoch separat bezahlt hat und dieser Vorgang auch in einem Zug, Restaurant oder Kino hätte eintreten können und mithin zum allgemeinen, nicht luftfahrttypischen Risiko zu zählen ist, soll die Airline für das gleiche Verhalten nicht nach dem MÜ haften.56 Dieses Ergebnis scheint insbesondere dann fragwürdig, wenn die Airline bei der Zubereitung oder Kühlung fahrlässig handelte oder seine Passagiere, auch wenn dies ein seltener Fall sein dürfte, sogar vorsätzlich schädigen wollte.

[...]


1 Littger/Kirsch, S. 563.

2 https://www.icao.int/secretariat/legal/List%20of%20Parties/Mtl99_EN.pdf.

3 Schmid/Müller-Rostin, S. 3516.

4 Littger/Kirsch, S. 567.

5 Ebd. Fn. 29.

6 Schaefer, Rn. 408.

7 Strauch, Der Haftpflichtprozess, Rn. 21.

8 Art. 23 I MÜ.

9 https://www.imf.org/external/np/exr/facts/deu/sdrd.htm.

10 BGBl. II 2019 S. 1098.

11 Konkret: 157.906,80; https://cuex.com/de/xdr-eur, Zugriff am 17.06.2020.

12 BGH NJW 2018, 861.

13 BGH NJW 1979, 495 f.; mwN: Giemulla, Frankfurter Kommentar, Einleitung Rn. 39.

14 Ebd.

15 BGH NJW 2018, 861.

16 Jahnke, S. 163.

17 Ebd, S. 166.

18 LG Köln Urt. v. 12. 5. 2011 – 8 O 257/10 über juris.de.

19 AG Frankfurt/Main, Urt. v. 28. 1. 2016 zitiert nach: Strauch, Der Haftpflichtprozess, Kapitel 29 Rn 90.

20 OLG Frankfurt/M. NJW-RR 14, 824.

21 Jahnke, S. 166.

22 LG Düsseldorf, RRa 2008, S. 34: Zwar zum Unfallbegriff, in der Begründung jedoch auf Luftfahrttypik übertragbar.

23 EuZW 2010, 459.

24 NJW 2016, 1433.

25 Schaefer, Rn. 399.

26 EuGH NJW 2016, 1433.

27 Führich.

28 Strauch, Der Haftpflichtprozess, Kapitel 29, Rn. 95.

29 U.S. Supreme Court, Air France v. Saks.

30 BGH NJW 2018, 861.

31 Benkö/Kadletz, S. 70 .

32 Schmid, Frankfurter Kommentar, Art. 17 MÜ Rn. 12.

33 Ebd.

34 Thor, S. 278.

35 Ebd.

36 Reuschle, Art. 17, Rn. 26.

37 Reuschle, Art. 17, Rn. 26.

38 Jahnke, S. 162.

39 N.Y. Supreme. Court, Rullman v. Pan American, 122 Misc. 2d 445, 1983.

40 Reuschle, Art. 17 MÜ Rn. 16.

41 Jahnke, S. 164.

42 Diese Einordnung ablehnend: Schoner, S. 258.

43 BGH NJW 2018, 861: „wenn sich ein Risiko verwirklicht, das sich aus der typischen Beschaffenheit oder dem Zustand eines Luftfahrzeugs oder einer beim Ein- oder Ausstieg verwendeten luftfahrttechnischen Einrichtung ergibt“.

44 OLG Wien, Urt. v. 30.08.2016.

45 Jahnke, S. 163.

46 Kehrberger, S. 143.

47 Jahnke, S. 164.

48 Schmid, Frankfurter Kommentar, Art. 17 MÜ, Rn. 17.

49 Jahnke, S. 165.

50 Ebd., S. 163.

51 Kehrberger, S. 143; Reuschle, Art. 17 Rn. 25.

52 Jahnke, S. 164.

53 BT-Drs. 15/2285, S. 48.

54 Kehrberger, S. 143.

55 Auch wenn dies anders vertreten werden kann, soll der Verzehr von verdorbenem Essen in diesem Beispiel nach Jahnke, S. 165 als Unfall zu klassifizieren sein.

56 Vgl. Jahnke, S. 165.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Der Art. 17 I des Montrealer Übereinkommens. Das Ende der luftfahrttypischen Gefahr
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
1,7
Autor
Jahr
2020
Seiten
35
Katalognummer
V915493
ISBN (eBook)
9783346223678
ISBN (Buch)
9783346223685
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Luftrecht, Montrealer Übereinkommen, luftfahrttypische Gefahr, Luftfahrttypik
Arbeit zitieren
Vincent Hofmann (Autor:in), 2020, Der Art. 17 I des Montrealer Übereinkommens. Das Ende der luftfahrttypischen Gefahr, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/915493

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