Unzulässige Erweiterungen bei Patentansprüchen. Wie lassen sie sich ermitteln?

Unter Berücksichtigung des BGH-Urteils vom 09.06.2015 - X ZR 101/13 - Polymerschaum II


Seminararbeit, 2016

31 Seiten, Note: 1,0 - Hervorragend


Leseprobe


Inhalt

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

A. Problemaufriss

B. Unzulässige Erweiterung nach dem Patengesetz (PatG)
I. Ausgangsverfahren
1. Streitverfahren „Rotorelemente“
2. Streitverfahren „Polymerschaum II“
II. Unzulässige Erweiterung im Laufe des Erteilungsverfahrens
1. Gesetzliche Regelungen
a. Die Regelung des § 38 Satz 1 PatG
b. Die Regelung des § 38 Satz 2 PatG
c. Die Bestimmung der §§ 21 Abs. Nr. 4 PatG
d. Die Bestimmung der § 22 PatG
2. Begriffsbestimmung
3. Ermittlung der unzulässigen Erweiterung
a. Gegenstand des Patents
i. Streitfall „Rotorelemente“
(1) Entscheidung des BPatG
(2) Entscheidung des BGH
ii. Streitfall „Polymerschaum II“
(1) Entscheidung des BPatG
(2) Entscheidung des BGH
iii. Auslegung des Patentanspruchs
(1) Anwendung des § 14 PatG und Art. 69 EPÜ
(2) Auslegungsgrundsätze
a) Auslegung anhand des Wortsinngehalts
b) Funktionsorientierte Auslegung
c) Auslegungshilfe
d) Heranziehung der Anspruchsgeschichte
b. Vergleich mit der ursprünglichen Offenbarung
c. Fachmann
III. Fallgruppen der unzulässigen Erweiterung
1. Die einschränkende Änderung
a. Zulässige Beschränkung
b. Unzulässige Erweiterung: „Winkelmesseinrichtung“
2. Unzulässige Erweiterung durch Aliud
3. Verallgemeinerung
IV. Rechtsfolgen der unzulässigen Erweiterung
1. Disclaimer-Lösung
2. Streichung
3. Ohne Disclaimer

C. Erweiterungen im Einspruchs-, Beschränkungs- und Nichtigkeitsverfahren
I. Überblick
II. Feststellung unzulässigen Erweiterung

D. Behandlung im Verletzungsverfahren

E. Unzulässige Erweiterungen des europäischen Patents
I. Gesetzliche Vorschriften
II. Prüfung der unzulässigen Erweiterung

F. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A. Problemaufriss

In der Praxis erfolgt die abschließende Patenterteilung durch das DPMA bzw. EPA regelmäßig auf der Grundlage von Unterlagen, die von den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen des Patentanmelders abweichen. Die Abänderung des Patentanspruchs während des Erteilungsverfahrens geschieht aus mehreren Gründen. Zum einen wird der Anmelder von den Prüfstellen mitunter aufgefordert, die festgestellten Mängel zu korrigieren oder unklare Formulierungen des Patentanspruchs und damit die Erfindung zu präzisieren. Zum anderen nimmt der Anmelder im Laufe des Erteilungsverfahrens aber auch selbst Änderungen vor, indem er die in der Beschreibung sowie den Ansprüchen verwendeten Begriffe ändert, streicht, ergänzt oder sogar zusätzliche neue Merkmale oder sogar Ansprüche nachträglich einfügt.

Allerdings kann eine dieser eben dargestellten Änderungen zu einer unzulässigen Erweiterung der Patentansprüche führen. Dabei stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen tatsächlich eine Patenterweiterung anzunehmen und ob diese zulässig ist.

Diese Seminararbeit befasst sich mit dieser Frage, welche im Folgenden anhand einer Vielzahl von höchstrichterlicher Entscheidungen begutachtet wird.

B. Unzulässige Erweiterung nach dem Patengesetz (PatG)

I. Ausgangsverfahren

1. Streitverfahren „Rotorelemente“

Im Streitverfahren „Rotorelemente“ aus dem Jahr 2015 ist die Beklagte Inhaberin eines Streitpatents. Das Streitpatent betrifft eine Vorrichtung zum Herstellen von Elementen aus bandförmigem Material, wobei die Elemente im Gebrauch aufeinander gestapelt werden, um eine Anordnung von gestapelten Elementen für eine elektrische Maschine zu bilden. Eine elektrische Maschine mit ausgeprägten Polen ist unter dem Fachbegriff Schenkelpolmaschine bekannt.1

Während des Erteilungsverfahrens hat die Klägerin in den Anspruch 1 sowohl neue Merkmale aufgenommen und als auch Merkmale ausgetauscht. Die Klägerinnen machen geltend, der Gegenstand des Streitpatents sei unzulässig erweitert und nicht patentfähig. Das Patentgericht hat das Streitpatent für nichtig erklärt. Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten zum BGH, die weiterhin die Abweisung der Klage anstrebt.

2. Streitverfahren „Polymerschaum II“

Im Streitverfahren „Polymerschaum II“ aus dem Jahr 2015 ist die Beklagte Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 1 102 809 (Streitpatents), das am 30. Juli 1999 unter Inanspruchnahme einer US-amerikanischen Priorität vom 31. Juli 1998 international angemeldet worden ist und Polymerschaum enthaltende Artikel sowie ein Verfahren zu deren Herstellung betrifft.2

Der im Rahmen der internationalen Patentanmeldung WO 00/06637 A1 ursprünglich eingereichte Verfahrensanspruch sah vor, dass eine "polymer composition" und eine Vielzahl von Mikrokügelchen unter bestimmten Prozessbedingungen miteinander vermischt werden sollen, womit man das gewünschte Produkt bekommt, nämlich einen Polymerschaum mit einer besonders glatten Oberfläche.

Im Laufe des Patenterteilungsverfahrens vor dem Europäischen Patentamt wurde der Verfahrensanspruch geändert. Er sieht in der zur Erteilung gekommenen Fassung vor, dass eine "molten polymer composition" und eine Vielzahl von Mikrokügelchen unter bestimmten Prozessbedingungen miteinander vermischt werden sollen, um an das gewünschte Produkt zu bekommen.

Die Parteien streiten darüber, ob die vor der Patenterteilung vorgenommene Einfügung "molten" polymer composition" eine unzulässige Erweiterung darstellt und ob der Anspruch 1 gegenüber dem Stand der Technik neu und erfinderisch ist. Das Bundespatentgericht hat der Nichtigkeitsklage zunächst stattgegeben und das Patent für nichtig erklärt.

II. Unzulässige Erweiterung im Laufe des Erteilungsverfahrens

Das Patentgesetz knüpft die Zulässigkeit von Änderungen der in der Anmeldung enthaltenen Angaben bis zur Erteilung des Patents an eine Reihe von Voraussetzungen. Zwar ist bis zum Erlass des Patenterteilungsbeschlusses der Patentinhaber befugt, die Unterlagen des Patents von sich aus zu ändern.3 Allerdings ist nicht jede nach dem Eingang der Anmeldung vorgenommene Änderung zulässig und berechtigt den Patentinhaber, aus ihr Schutzrechte zu begründen oder abzuleiten.

1. Gesetzliche Regelungen

a. Die Regelung des § 38 Satz 1 PatG

Nach § 38 Satz 1 PatG sind Änderungen der in der Anmeldung enthaltenen Angaben, die den Gegenstand der Anmeldung nicht erweitern, bis zum Eingang des Prüfungsantrags, zulässig. Dies ist jedoch nur dann der Fall, soweit es sich um die Berichtigung offensichtlicher Unrichtigkeiten, um die Beseitigung der von der Prüfungsstelle bezeichneten Mängel oder um Änderungen des Patentanspruchs handelt. Dies gilt auch, wenn der Prüfungsantrag i.S.v. § 44 PatG beim Patentamt bereits gestellt wurde.4 Unzulässig sind jedoch Änderungen, die sich nicht in diesem Rahmen halten. In einem solchen Fall genügt die Anmeldung dann nicht den vorgeschriebenen Anforderungen und muss von der Prüfungsstelle beanstandet werden, wie sich aus § 42 Abs.1 und § 45 Abs. 1 PatG ergibt. In diesem Zusammenhang beziehen sich diese Regelungen ausdrücklich auf § 38 PatG. Danach stellt die unzulässige Erweiterung einen Mangel der Anmeldung dar. Falls eine Beseitigung dieses Mangels nicht rechtzeitig vorgenommen wird, so muss die Anmeldung nach §§ 42 Abs. 3, 45 insgesamt zurückgewiesen werden. Änderungen erteilter Patente werden von der Vorschrift des § 38 S. 1 PatG nicht erfasst.5

b. Die Regelung des § 38 Satz 2PatG

Nach § 38 Satz 2 PatG können aus Änderungen, die den Gegenstand der Anmeldung erweitern, Rechte nicht hergeleitet werden. Dies Bestimmung entspricht, soweit es sich um Änderungen der Anmeldungsunterlagen handelt, Art. 123 Abs. 2 EPÜ. Diese Regelung lässt die Schlussfolgerung zu, dass erweiternde Änderungen in jedem Stadium des Erteilungsverfahrens unzulässig sind.6

c. Die Bestimmung der §§ 21 Abs. Nr. 4 PatG

In Übereinstimmung mit Art. 100 lit. c EPÜ bestimmt § 21 Abs. 1 Nr. 4 PatG den von jedermann geltend zu machenden Widerrufsgrund der unzulässigen Erweiterung. Soweit sich die Änderungen im Rahmen des ursprünglichen Offenbarungsgehalts der Anmeldung nicht halten, dann können diese Änderungen unter dem Gesichtspunkt des Einspruchsgrundes der unzulässigen Erweiterung nach § 21 Abs. 1 Nr. 4 PatG innerhalb der Einspruchsfrist i.S.v. § 59 Abs. 1 PatG beseitigt werden. Daraus ergibt sich, dass das DPMA die unzulässige Erweiterung eines Patentanspruchs im Laufe des Erteilungsverfahrens nicht von Amts wegen prüfen bzw. berücksichtigen muss.7

d. Die Bestimmung der § 22 PatG

Die Erweiterung stellt weiterhin einen Nichtigkeitsgrund nach § 22 Abs. 1 1. Alt. i. V. m. § 21 Abs. 1 Nr. 4 PatG dar, wenn sie in das Patent eingeht. In einem solchen Fall wird das Patent imRahmen des Nichtigkeitsverfahrens gem. § 81 PatG für nichtig erklärt. Die Frage, ob eine vollständige Nichtigerklärung im Fall der unzulässigen Erklärung zu erfolgen hat, wird im Abschnitt B. IV.näher erläutert.

2. Begriffsbestimmung

Das Erteilungsverfahrengibt dem Anmelder die Gelegenheit, den Patentanspruch im Rahmen der erfolgten Offenbarung sachgerecht zu formulieren, um sein Recht auf die Erfindung angemessen schützen zu lassen.8 Demnach ist die Anpassung der Patentansprüche an die ursprüngliche Offenbarung jederzeit zulässig.9 Diesem Änderungsrecht des Anmelders unterfällt eine Änderung der Anmeldung bzw. der Patentansprüche jedoch nicht mehr, sobald darin eine unzulässige Erweiterung zu sehen ist.

Von einer unzulässigen Erweiterung des Patentanspruchs ist dann auszugehen, wenn sich der Erteilungsantrag in Form einer Änderung der Patentansprüche auf einen Gegenstand bezieht, welcher über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht.10 Esist unzulässig, mit der Anspruchsänderung erstmals einen Gegenstand zu offenbaren, der nicht Inhalt der ursprünglichen Anmeldung war.11 Damit stellt eine Änderung der Ansprüche nur dann eine unzulässige Erweiterung dar, wenn dadurch nicht nur ihr Schutzbereich entsprechend der ursprünglichen Offenbarung, sondern auch der Gegenstand der Anmeldung erweitert wird.12

Das Verbot der unzulässigen Erweiterung dient der Gewährleistung der Rechtssicherheit für Dritte.13 Dritte dürfen darauf vertrauen, dass sich der Schutzbereich des erteilten Patents auf einen Gegenstand bezieht, welcher der Fachmann anhand der Anmeldungsunterlagen erkennen konnte.14

3. Ermittlung der unzulässigen Erweiterung

Beurteilungsmaßstab für die Frage, ob der Patentanspruch eine unzulässige Erweiterung durch eine nachträglich vorgenommene Änderung darstellt, ist die Sicht eines Durchschnittsfachmanns.15 Die in der Anmeldung enthaltenen Angaben orientieren sich an dem zuständigen Fachmann16.17 Nach der Rechtsprechung des BGH darf eine Änderung der Anspruchsfassung nur erfolgen, soweit der Fachmann auch die Erweiterung bereits der Gesamtheit Anmeldung in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung seines allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig entnehmen kann.18 Dieser hat daher bei Änderungen in der Patentanmeldung darauf zu achten, dass die neue Anspruchsfassung keine andere Erfindung zum Gegenstand hat und der Bereich des bisherigen Erfindungsgedankens somit nicht verlassen wird.19

a. Gegenstand des Patents

Bevor ein Vergleich des Gegenstandes des Patents mit den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen erfolgt, ist der Gegenstand des angegriffenen Patents in seiner Gesamtheit in der geltenden Fassung entsprechend der Auslegungsregeln des § 14 PatG zu bestimmen.20 Der Gegenstand des Patents ist nicht der Gesamtinhalt der Offenbarung aus der Patentschrift . Vielmehr ist das, was durch die Patentansprüche definiert wird, wobei Beschreibung und Zeichnungen lediglich zur Auslegung der Ansprüche herangezogen werden, die maßgebliche Grundlage für die Bestimmung des Gegenstands.21 Bereits im Urteil „Momentanpol II“ hat der BGH klargestellt, dass dem erteilten Patentanspruch Rechtsnormcharakter zukommt.22 Die Auslegung des Patentanspruchs ist nicht nur unerlässliche Voraussetzung für die sachgerechte Verletzungsprüfung oder für die Prüfung auf Patentfähigkeit.23 Vielmehr ist die Auslegung des Patentanspruchs von entscheidender Bedeutung, wenn ein anderer Nichtigkeitsgrund zu prüfen ist, wie etwa die Frage einer unzulässigen Erweiterung.24 Denn erst wenn der genaue Gegenstand des Patentanspruchs mit Hilfe der erfolgten Auslegung feststeht, kann sinnvoll weiter geprüft werden, ob dieser Gegenstand bereits in den ursprünglichen Unterlagen offenbart ist und zur angemeldeten Erfindung gehört.25

Mit der Problematik, dass die Auslegung der Ansprüche stets vorzuziehen ist und der Sinngehalt des Patentanspruchs vor der Prüfung der unzulässigen Erweiterung ermittelt werden muss, setzte sich der BGH in den Ausgangsverfahren „Rotorelemente“ und „Polymerschaum II“ auseinander . 26

i. Streitfall „Rotorelemente“

(1) Entscheidung des BPatG27

Das BPatG hat es nach Ansicht des BGH unterlassen, den Patentanspruch unter Heranziehung der Beschreibung sowie der Zeichnungen auszulegen, bevor es sich der Frage zuwendete, ob der Gegenstand des Patents in den ursprünglichen Unterlagen offenbart sei. Vielmehr bejahte es eine unzulässige Erweiterung der ursprünglichen Offenbarung in Form eines „Aliuds“. Nach Auffassung des BPatG lasse der Patentanspruch 1 offen, welches Stanzelement stationär und welches beweglich sei. In den Merkmalen 4.1 und 4.2 spreche der Anspruch von einer gemeinsamen Mittellinie als Bezugslinie für die Bewegung. In den ursprünglichen Unterlagen habe sich die Mittellinie auf den Grundkörperabschnitt bezogen. Werde die Mittellinie aber auf das Blechband oder die Stanzanlage bezogen, wären das erste Stanzelement und die Grundkörperabschnitte stationär und folglich die zweiten Stanzelemente und die Polabschnitte beweglich angeordnet, was ein Aliud zu der ursprünglich offenbarten Anlage darstelle.

(2) Entscheidung des BGH28

In dem zu entscheidenden Fall hat der BGH seine im Urteil „Zugriffsrechte“ 29 vertretenen Auffassung und somit seine bisherige Rechtsprechung fortgeführt.30 Sowohl im Verletzungs- als auch im Nichtigkeitsverfahren sei eine Auslegung des Patentanspruchs in jedem Fall geboten und dürfe auch bei einem vermeintlich eindeutigen Wortlaut nicht unterbleiben. Hierbei seien alle Auslegungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Wie bereits im Streitfall „Spannschraube“ 31 stellte der BGH erneut klar, dass die Beschreibung des Patents Begriffe eigenständig definieren und insoweit ein „patenteigenes Lexikon“ darstellen kann. Außerdem bestätigt der BGH seine bisherige Ansicht32, dass bei der Auslegung des Patentanspruchs Beschreibung und Zeichnungen heranzuziehen sind, um ein vom bloßen Wortlaut des Anspruchs abweichendes Verständnis des Patentanspruchs zu vermeiden. Bei Widersprüchen zwischen Patentanspruch und Beschreibung darf die „Anspruchsgeschichte“ zur weiteren Klärung der Frage herangezogen werden, ob mit dem Anspruch ein Gegenstand unter Schutz gestellt worden ist, der von dem in der Beschreibung offenbarten abweicht oder hinter diesem zurückbleibt. Dabei verweist der BGH auf die früheren Entscheidungen in den Fällen Okklusionsvorrichtung“ 33 und „Polymerschaum I“ 34.

Entgegen der Auffassung des BPatG enthalten nach BGH die beiden nebengeordneten Patentansprüche 1 und 7 des Streitpatents bei zutreffender Auslegung keine Abweichung vom Offenbarungsgehalt der Anmeldung. Nach Ermittlung des Sinngehalts des Patentanspruchs steht fest, dass zwei Begriffe im Patentanspruch 1 des Klagepatents gegeneinander auszutauschen seien.

ii. Streitfall „Polymerschaum II“

(1) Entscheidung des BPatG35

Das Bundespatentgericht ist der Ansicht, der Begriff "molten polymer composition", welcher in dem angegriffenen Patent verwendet wurde, sei eng auszulegen. In diesem Sinne solle der Begriff "molten" nicht nur den mehr oder minder geschmolzenen Zustand, sondern den schmelzflüssigen Zustand beschreiben. Nach Auffassung des BPatG lasse sich den ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen nirgendwo entnehmen, dass die Polymerzusammensetzung bereits im engeren Sinne geschmolzen sein muss, bevor ihr die Mikrokügelchen zugemischt werden. Dieser Umstand lasse den Schluss zu, dass der erteilte Patentanspruch 1 gegenüber dem ursprünglichen Offenbarungsgehalt der Anmeldungsunterlagen eine unzulässige Erweiterung darstelle. Das BPatG kam jedoch zu dem Ergebnis - was BGH in der Revision auch für zutreffend hielt -, dass dieser Umstand nach der Rechtsprechung des BGH36 nicht für die Nichtigerklärung des Patents ausreichen kann. Denn die Aufnahme des ursprünglich nicht offenbarten Merkmals "molten polymer composition" lediglich zu einer reinen Einschränkung des Patentanspruchs führe.

Nach BPatG sei das Patent trotzdem für nichtig zu erklären. Es ging von dem Standpunkt aus, dass ein ursprünglich nicht offenbartes Anspruchsmerkmal, das nachträglich in einen Patentanspruch aufgenommen wurde, nicht als Abgrenzungskriterium geeignet ist, um den Patentanspruch auf seine Patentfähigkeit gegenüber dem Stand der Technik zu untersuchen37. Da alle anderen Merkmale des Anspruchs 1 bereits aus dem im Verfahren befindlichen Stand der Technik bekannt waren, hat das BPatG den angegriffenen Anspruch und mit ihm das ganze Patent für nichtig erklärt.

(2) Entscheidung des BGH38

Auch im Fall „Poylmerschaum II“ bestätigt der BGH seine mit Urteil „Formstein“ 39 entwickelte Rechtsprechung.40 Danach ist eine Auslegung des Patentanspruchs stets geboten und darf auch bei einem scheinbar eindeutigen Anspruchswortlaut nicht außer Acht gelassen werden. Von der Auslegung dürfe nicht abgesehen werden, das Merkmal sei unklar bzw. unbestimmt und daher zur Abgrenzung vom Stand der Technik ungeeignet. Außerdem betont der BGH auch hier, dass die Patentschrift in einem sinnvollen Zusammenhang zu lesen ist, solange sich keine Widersprüche ergeben. Falls die Patentschrift keinerlei ausdrückliche Definitionen oder Informationen für den Fachmann enthält, wie ein im Anspruch verwendete Ausdruck auszulegen ist, verlangt der BGH in Fortsetzung des Urteils Straßenbaumaschine“ 41, dass in einem solchen Fall eine funktionsorientierte Auslegung des Ausdrucks aus der Sicht des Fachmanns vorgenommen werden muss.

Nach BGH hat das BPatG es im konkreten Fall unterlassen, zuerst durch Auslegung der Patentansprüche zu klären, welche Bedeutung dem Anspruchsmerkmal "molten polymer composition" zukommt und ob der Begriff "molten" tatsächlich im strengeren Sinne einer echten Schmelzflüssigkeit zu interpretieren ist. Im konkreten Fall muss nach BGH die Polymerzusammensetzung bei Zugabe der Mikrokugeln nicht im strengen Sinne geschmolzen sein. Vielmehr muss ihre Viskosität lediglich soweit herabgesetzt sein, dass sie in einem Extruder verarbeitbar ist. Denn der Begriff "molten polymer composition" ist im Sinne der Lehre des Streitpatents funktionell zu verstehen. Daher ist darin keine unzulässige Erweiterung zu sehen und der Begriff "molten polymer composition" geht nicht über das hinaus, was bereits in den ursprünglich vom Patentanmelder eingereichten Unterlagen offenbart war.

Trotzdem ist nach BGH das Patent für nichtig zu erklären. Denn das Verfahren bei einer derart weiten Auslegung des Begriffs "molten polymer composition" unterscheide sich nicht von den bereits bekannten Verfahren.

iii. Auslegung des Patentanspruchs

(1) Anwendung des § 14 PatG und Art. 69 EPÜ

Nach § 14 S. 2 PatG und Art. 69 I 1 EPÜ wird der Schutzbereich eines Patents durch den Inhalt der Ansprüche bestimmt, während Beschreibung und Zeichnungen nur zur Auslegung heranzuziehen sind. Die deutschen Gerichte wenden das Protokoll zu Art. 69 EPÜ, welches der Auslegung des Art. 69 EPÜ dient, nicht nur bei der Auslegung der deutschen Patente an. Vielmehr findet dieses Protokoll auch bei der Auslegung der deutschen Patente nach § 14 PatG Anwendung, welcher am 01.01.1978 im Rahmen der Harmonisierung an dem Art. 69 EPÜ angepasst wurde.42

(2) Auslegungsgrundsätze

Der Patenterteilungsbeschluss ist ein Verwaltungsakt, der eine an die Allgemeinheit gerichtete, abstrakt-generelle Regelung darstellt.43 Im Streitfall „Polymerschaum II“ führt der BGH aus, dass das Patent wie ein Rechtssatz auslegungsfähig ist. Die Auslegung hat zum Ziel, den Aussagegehalt der Ansprüche, insbesondere die darin verwendeten technischen Begriffe, klarzustellen sowie die Bedeutung und Tragweite der dort beschriebenen Erfindung zu erläutern.44 Maßgeblich ist die fachmännische Sicht, also das Vorverständnis, das sich aus dem Fachwissen und -können des von der Erfindung angesprochenen Fachmanns ergibt.45 Daraus folgt, dass es nicht auf die subjektive Vorstellung des Patentinhabers, sondern auf den objektiven Offenbarungsgehalt ankommt.46

[...]


1 Dazu BGH GRUR 2015, 875 -Rotorelemente.

2 Dazu BGH GRUR 2015, 868 - Polymerschaum II.

3 Vgl. Moufang/Schulte, PatG, § 38, Rn. 15.

4 Dazu Kraßer/Ann, Patentrecht, § 25, A VIII a) Nr. 1.

5 Vgl. Mes, PatG, § 38, Rn. 4; Keukenschrijver/Busse, PatG, § 38, Rn. 5.

6 Vgl. Keukenschrijver/Busse, PatG, § 38, Rn. 13.

7 Vgl. Schäfers/Benkard, PatG, § 38, Rn. 43; Kraßer/Ann, Patentrecht, § 26, B II Rn. 138.

8 Dazu Schäfers/Benkard, PatG, § 38, Rn. 7 ff.; Flad GRUR 1995, 178; Moufang/Schulte, PatG, § 38, Rn. 15.

9 Vgl. Kraßer/Ann, Patentrecht, § 25, A VIII a) Nr. 6; Rogge/Kober-Dehm/Benkard, PatG, § 21, Rn. 30; Moufang/Schulte, § 38 Rn. 8f.

10 Daz u Keukenschrijver/Busse, PatG, § 38, Rn. 18; Moufang/Schulte, § 38 Rn. 14.

11 Vgl. Kraßer/Ann, Patentrecht, § 25, A VIII a) Nr. 2; Keukenschrijver/Busse, PatG, § 38, Rn.18.

12 Vgl. Moufang/Schulte, PatG, § 38, Rn. 16.

13 Vgl. Schäfers/Benkard, PatG, § 38, Rn. 40; Moufang/Schulte, PatG, § 38, Rn. 20; Flad GRUR 1995, 178.

14 Daz u Schäfers/Benkard, PatG, § 38, Rn. 40; Moufang/Schulte, PatG, § 38, Rn. 20; Flad GRUR 1995, 178.

15 Vgl. Keukenschrijver/Busse, PatG, § 38, Rn. 18.

16 Zum Begriff „Fachmann“ siehe die Ausführungen unter B II 3. c.

17 Vgl. Rogge/Kober-Dehm/Benkard, PatG, § 21, Rn. 30; Moufang/Schulte, PatG, § 38, Rn. 21.

18 Vgl. BGH GRUR 2005; 1024 - Einkaufswagen I; GRUR 2010, 513 - Hubgliedertor II; 2012, 373 - Glasfesern.

19 Vgl. BGH GRUR 2010, 513 - Hubgliedertor II; Moufang/Schulte, PatG; § 38, Rn. 19.

20 Vgl. BGH GRUR 2015, 868 - Polymerschaum II.

21 Vgl. BGH GRUR 86, 803, 805 - Formstein; BGHZ 150, 149, 153 - Schneidmesser I; BGH GRUR 2008, 887 - Momentanpol II.

22 Vgl. BGH, GRUR 2008, 887 - Momentanpol II.

23 Vgl. Keukenschrijver/Busse, PatG, § 14, Rn. 20.

24 Vgl. Meier-Beck GRUR 2015, 721.

25 Ständige Rechtspr. BGH GRUR 2015, 875- Rotorelemente; GRUR 2015, 868 - Polymerschaum II; GRUR 1986, 803 - Formstein; BGHZ 150, 149 - Schneidmesser I; BGHZ 172, 108 - Informationsübermittlungsverfahren I; GRUR 2012, 1124 - Polymerschaum I.

26 Dazu BGH GRUR 2015, 875- Rotorelemente; GRUR 2015, 868 - Pollymerschaum II.

27 Vgl. BPatG, 23.01.2013 - 1 Ni 1/12.

28 Dazu BGH GRUR 2015, 875 - Rotorelemente.

29 BGH GRUR 2015, 159 - Zugriffsrechte.

30 Vgl. BGHZ GRUR 1986, 803 - Formstein; BGHZ 150, 149 - Schneidmesser I; BGHZ 172, 108 - Informationsübermittlungsverfahren I; GRUR 2012, 1124 - Polymerschaum I.

31 Vgl. BGH GRUR 1999, 909 - Spannschraube.

32 Dazu BGH GRUR 2008, 887 - Momentanpol II; GRUR 2009, 653 - Straßenbaumaschine, GRUR-Prax 2011, 297 - Okklusionsvorrichtung

33 Dazu BGH GRUR 2011, 701 - Okklusionsvorrichtung.

34 Vgl. BGH GRUR 2012, 1124 - Polymerschaum I.

35 Vgl. BPatG, 26.02.2013 - 3 Ni 28/09.

36 Dazu BGH, GRUR 2001, 140 - Zeittelegramm.

37 So die ständige Rechtsprechung: BGH, GRUR 2001, 140 - Zeittelegramm; GRUR 2011, 40, 41 - Winkelmesseinrichtung; GRUR 2011, 1003 - Integrationselement.

38 Vgl. BGHZ BGH - Urt. v. 9.6.2015 - X ZR 101/13 - Pollymerschaum II.

39 Vgl. BGHZ GRUR 1986, 803 - Formstein.

40 Vgl. BGHZ 150, 149 - Schneidmesser I; BGHZ 172, 108 - Informationsübermittlungsverfahren I; BGH GRUR 2012, 1124 - Polymerschaum I; GRUR 2015, 159 - Zugriffsrechte.

41 Vgl. BGH MDR 2009, 940 - Straßenbaumaschine.

42 Vgl. BGH in GRUR 2002, 511 - Kunststoffrohrteil; ferner BGH, GRUR 2004, 845 - Drehzahlermittlung; GRUR 2006, 311 - Baumscheibenabdeckung; GRUR 2006, 313, 315 - Stapeltrockner; GRUR 2007, 410 - Kettenradanordnung.

43 Vgl. Bacher/Benkard, PatG, § 1, Rn. 2a; Hufnagel/Dieners/Reese, § 14, Rn. 112.

44 Vgl. BGH in st.RSpr., GRUR 2004, 413, 414 - Geflügelkörperhalterung; BGHZ 150, 149 - Schneidmesser I; GRUR 2002, 511 - Kunststoffrohrteil; GRUR 2002, 523 - Custodiol I; 2002, 527 - Custodiol II; zuvor GRUR 1986, 803 - Formstein.

45 Vgl. BGH GRUR 1999, 909 - Spannschraube; GRUR 2004, 845 - Drehzahlermittlung.

46 Vgl. BGH GRUR 2004, 1023 - Vereinzelungseinrichtung; siehe auch Keukenschrijver/Busse, PatG, § 14, Rn. 20; Haedicke, Patentrecht, Kap. 8, Rn. 16.

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Details

Titel
Unzulässige Erweiterungen bei Patentansprüchen. Wie lassen sie sich ermitteln?
Untertitel
Unter Berücksichtigung des BGH-Urteils vom 09.06.2015 - X ZR 101/13 - Polymerschaum II
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Gewerblichen Rechtsschutz)
Veranstaltung
Patentrecht
Note
1,0 - Hervorragend
Autor
Jahr
2016
Seiten
31
Katalognummer
V915741
ISBN (eBook)
9783346233646
ISBN (Buch)
9783346233653
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Unzulässige Erweiterung des Patentanspruchs / BGH - Polymerschaum II
Arbeit zitieren
Faouzia Below (Autor:in), 2016, Unzulässige Erweiterungen bei Patentansprüchen. Wie lassen sie sich ermitteln?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/915741

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