Die existentielle Psychoanalyse Jean-Paul Sartres


Diplomarbeit, 1989

110 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


INHALT

Verzeichnis der Abkürzungen

Vorbemerkung

1. Philosophische Hintergründe des Existentialismus Jean-Paul Sartres
1.1. René Descartes und das „cogito“
1.2. Husserl, Heidegger und die Phänomenologie

2. Der Existentialismus Jean-Paul Sartres
2.1. Die Existenz des Anderen: Der Blick

3. Die existentielle Psychoanalyse
3.1. Die Kritik des Sartreschen Existentialismus an der Psychologie und der Freudschen Psychoanalyse
3.1.1. Unreflektiertes Bewusstsein und reflexives Bewusstsein
3.1.2. Die substantialistische Täuschung der Psychologie
3.1.3. Das Unbewusste
3.1.3.1. Die alltagssprachliche Bedeutung des Begriffs „unbewusst“
3.1.3.2. Der Begriff „unbewusst“ im Sprachgebrauch des psychologischen Wortschatzes
3.1.3.3. Das Unbewusste in der Psychoanalyse
3.1.3.4. Anmerkung: Le vécu: Die gelebte Erfahrung
3.1.4. Gewalt als Merkmal der psychoanalytischen Beziehung
3.1.3.1. Anmerkung: Die „zwei“ Psychoanalysen
3.2. Die Schlussfolgerungen des Existentialismus Jean-Paul Sartres für die Psychologie
3.2.1. Das Ziel des Für-sich: Das An-und-für-sich
3.2.2. Die Urwahl oder der Urentwurf
3.2.3. Die objektiven Bedeutungen der Dinge oder: Der ontologische Sinn der Qualitäten
3.2.3.1. Die drei großen Kategorien der konkreten menschlichen Existenz: Tun, Haben und Sein
3.2.3.2. Die Enthüllung des Seins der Dinge durch die Qualität – die Psychoanalyse der Dinge
3.3. Theorie der existentiellen Psychoanalyse
3.3.1. Die Grundgedanken der existentiellen Psychoanalyse
3.3.2. Die Aufgaben der existentiellen Psychoanalyse
3.3.3. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der existentiellen Psychoanalyse und der Freudschen Psychoanalyse
3.3.4. Die Biographien: „Der Idiot der Familie“ und „Saint Genet“

4. Anmerkungen: Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der existentiellen Psychoanalyse und anderen Ansätzen aus Psychologie und Psychotherapie

5. Zusammenfassung und Schluss

Anhang

Literaturverzeichnis

VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

VORBEMERKUNG

Der Titel: Jean-Paul Sartre: Die existentielle Psychoanalyse als Thema einer Diplomarbeit in Psychologie mag manchen überraschen. Jean-Paul Sartre, war der nicht Philosoph? Psychoanalyse – die ist doch von Sigmund Freud. Einige mag das wundern. Obwohl ein Psychologe doch weiß, dass seine Wissenschaft untrennbar in der Philosophie wurzelt. Er weiß, dass es zu einer Psychologie als Wissenschaft gekommen ist, weil seit jeher Men-schen sich Fragen wie folgende gestellt haben: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Warum tun wir dies und jenes? Dennoch: Jean-Paul Sartre als Psychologe? Nun gut, gewissermaßen sind alle Philosophen zum Teil auch Psychologen. Aber hat er wirklich etwas Wichtiges zur Psychologie beigetragen? Etwas, das auch von praktischem Wert und Nutzen ist? Die Antwort lautet: Ja. Aber warum erfährt man davon so gut wie gar nichts? Warum gibt es kaum etwas darüber zu lesen, wird nur ganz selten etwas darüber gelehrt? Woran mag das liegen? Nun, zum einen wohl einmal daran, dass Jean-Paul Sartre in der breiten Öffentlichkeit zu allererst als Dramatiker bekannt ist. Und zwar als Dramatiker, dessen Werke auf den ersten Blick einen ziemlich düsteren und hoffnungslosen Eindruck hinterlassen. Ich denke dabei zum Beispiel an „Tote ohne Begräbnis“, „Die schmutzigen Hände“ oder seinen Film „Das Spiel ist aus“. Alleine vom Titel her klingen sie nicht gerade besonders erbaulich. Manch einem mag es dabei die Lust nehmen, sich mit der dahinter-stehenden Philosophie zu beschäftigen, ohne die jedoch diese Dramen eigentlich nur sehr schwer verständlich sind. Zum zweiten mag es daran liegen, dass der Existentialismus be-sonders Während der Nachkriegszeit als eine Lebenseinstellung missbraucht worden ist, die es angeblich dem Einzelnen gestattet, sein Leben unabhängig von allen Anderen und frei von jeglicher Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen in vollster Egomanie aus-zuleben. Auch dieser Eindruck trügt. Menschen, die glauben, die Rechtfertigung für ein solches Dasein aus dem Existentialismus ziehen zu können, haben von ihm überhaupt keine Ahnung.

Es ist ohnehin so eine Sache mit Hinweisen in psychologischer Literatur auf Jean-Paul Sartre und seinen Existentialismus. Sie gibt es meistens gar nicht. Selbst bei Lexika oder in philosophischen Nachschlagewerken verhält es sich nicht viel anders. Nur ansatzweise oder überhaupt nicht ist dabei von ihm die Rede. Meistens beweisen ihre jeweiligen Verfas-ser anhand ihrer Interpretationen und Schlussfolgerungen, die sie aus dem Sartreschen Denkgebäude ziehen, dass sie seine Philosophie – wenn überhaupt – nur oberflächlich verstanden haben. So schreibt beispielsweise das Neue Duden Lexikon (Neues Duden Lexikon, 1984, Band 8, Seite 3319, Spalte 1) über Jean-Paul Sartre: „… als bewusster Atheist sieht Sartre den Menschen ‚zur Freiheit verurteilt’, in das Nichts, die absurde Welt gestellt. Der von allen Bindungen befreite Mensch setzt den Sinn des Lebens selbst, trägt die totale Verantwortung und sucht Bewährung in dem Streben nach dem (nicht erreich-baren) Ideal des ‚Für-Sich-Seins’.“

Oder Georg Hensel in seinem „Spielplan“: „Der Theaterbesucher wird von Sartre anhand von Modellsituationen, von beispielhaften Personen und Vorgängen, über die Grundsätze seines atheistischen Existentialismus belehrt. Zu ihnen gehört die Behauptung, dass der Mensch absolut frei, ja zur Freiheit verurteilt und folglich für jede seiner Taten verantwortlich sei. Das ist eine (idealistische) Proklamation, nichts sonst. Die ‚Existenz’ des Menschen geht, nach Sartre, seiner ‚Essenz’ voraus, d.h. der Mensch ist zunächst nichts als eine sinn-freie Existenz, die sich ihren Sinn selbst immer wieder neu gibt durch jede ihrer frei entschlossenen Taten. Der Mensch erfindet und inszeniert gewissermaßen sein eigenes Wesen selbst, indem er handelt.

Wo kein Gott ist, ist auch keine Sünde, keine Reue, keine Vergebung, keine Gnade: Wert oder Unwert seiner Taten ist dem subjektiven Gerechtigkeitsgefühl des Menschen unter-worfen und …, dem Urteil der Gesellschaft. Sartres allein auf die Gesellschaft bezogenen sittlichen Forderungen sind von einer eisigen, puritanischen und im Effekt wohl auch le-bensvernichtenden Strenge, wie sie das Christentum nicht kennt, dessen sittliche Forder-ungen auf Gott bezogen sind – auf einen Gott, der die eingeborenen menschlichen Schwächen so kennt wie das Erbarmen und die Gnade …. Sartre schätzt die sinnzeugende Tat so hoch, wie dies nur ein Intellektueller kann, der darunter leidet, dass er mehr sinn-volles denkt als tut. Doch während in seiner Philosophie der Mensch nur dadurch existiert, dass er handelt, existieren die Menschen in seinen Stücken nur dadurch, dass sie reden. Es sind lauter scharfsinnige Intellektuelle, die immer einen unsichtbaren Kaffeehausstuhl bei sich führen für ihre Orgien der Beredtsamkeit. Pausenlos analysieren, interpretieren und kommentieren sie sich selbst, die allgemeine und ihre besondere Lage. Sie argumentieren, also sind sie.“ (Hensel, ²1975, S. 978)

Ein besonders krasses Beispiel der Missdeutung des Sartreschen Existentialismus bietet Alois Reutterer in seinem Buch „Philosophie“. Er schreibt dort: „Im Mittelpunkt der Sartreschen Philosophie steht der autonome, freie Mensch. Der Mensch ist zunächst ‚Nichts’. Er muss sich zuerst zu dem machen, was er ist. ‚Man ist, was man will.’ Der Mensch ist zur Freiheit verdammt. Er ist ungefragt in die sinnlose Welt geworfen und sich allein verantwortlich. Es ist sinnlos, dass wir geboren sind, es ist sinnlos, dass wir sterben. So bleibt dem Menschen nur der ‚Ekel am Dasein’. ‚Die Hölle, das sind die anderen.’ Gäbe es einen Gott, so könnte der Mensch nicht frei handeln. Er würde alles ‚um Gottes Willen’ tun.“ Und weiter: „Der Existentialismus bietet also sehr oft eine durchwegs pessimistische (nur das Schlechte in der Welt sehende) Lebensauffassung, die psychologisch aus ihren Motiven erklärt werden muss.“ (Reutterer, 1985, S. 69f.) Auf Seite 124 seines Buches nun reißt Reutterer Sartres Satz „Das Mensch-Sein kommt zustande, in dem das Seiende sich nichtet“ vollends aus seinem Zusammenhang und führt ihn als ein besonders krasses Bei-spiel von unsinnigen Aussagen an.

Dass all diese Aussagen den Leser wohl kaum animieren, sich näher mit dem Sartreschen Gedankengut zu beschäftigen, versteht sich wohl von selbst.

Ich gebe zu, dass vor allem die philosophischen Werke Jean-Paul Sartres nicht einfach zu verstehen sind – schon gar nicht auf den ersten Blick. Dies mag hauptsächlich daran liegen, dass sich der Leser zumeist anhand seiner eigenen, im Lauf seines Lebens entstandenen Ansichten über Philosophie, Wissenschaftstheorie oder das Leben selbst an die Thematik heranmacht. Um Sartre jedoch wirklich gerecht werden zu können, ist es notwendig, all das zuerst einmal zu vergessen. Aus diesem Grund scheint es mir nun geboten, die wichtigsten Bausteine des Sartreschen Existentialismus in einem kurzen Abriss darzustellen, bevor ich im weiteren dann auf die eigentliche existentielle Psychoanalyse zu sprechen kommen werde.

Im folgenden Kapitel werde ich mich jedoch zuerst jenen Philosophen zuwenden, auf deren Arbeit Sartres Werk fußt: René Descartes, Edmund Husserl und Martin Heidegger.

1. PHILOSOPHISCHE HINTERGRÜNDE DES EXISTENTIALISMUS JEAN-PAUL-SARTRES

1.1. René Descartes und das „cogito“

Gegen Ende der 20er Jahre des 17. Jahrhunderts hielt sich der junge Franzose René Descartes im Winterlager des bayerischen Herzogs Maximilian nahe Neuburg an der Donau auf. Er zeigte recht wenig Interesse an den politischen Wirren des noch jungen Dreißigjährigen Krieges und fand so Zeit und Muße, um über die Dinge des Lebens nachzudenken. Als er Jahrzehnte später diese Gedanken zu Papier gebracht hatte, bedeu-teten sie den Beginn einer neuen philosophischen Tradition und gleichzeitig die Geburt der universalen Methode des modernen wissenschaftlichen Denkens.

Descartes hatte versucht, einen grundlegenden philosophischen Ansatzpunkt zu finden, von dem aus sich später dann andere verlässliche Wahrheiten über das Wesen der Welt ableiten ließen. Um diesen Ansatzpunkt zu finden, bediente er sich des Zweifels. Er hoffte nämlich, etwas zu finden, woran sich nicht zweifeln ließ.

Am Ende von Descartes´ philosophischen Überlegungen steht jener berühmte Satz „Cogito, ergo sum“. Ich denke, ich zweifle, also existiere ich wirklich. Die Existenz der räum-lichen Welt wie auch die Existenz anderer Menschen kann ebenso bezweifelt werden wie mein eigener Körper und die Empfindungen, die ich habe. All dies könnte nichts anderes als eine Illusion sein. Eines lässt sich jedoch nicht bezweifeln: Die Tatsache, dass ich zweifle. Somit muss es ein Ich geben, welches den Zweifel denkt, d.h. ich existiere wirklich.

Ausgehend von diesem grundlegenden Philosophem zerteilte René Descartes nun die Wirklichkeit in eine Zweifelnde und in eine Bezweifelte, Geist und Materie, Seele und Leib. „Res cogitans“, die denkende Wirklichkeit, und „Res extensa“, die ausgedehnte Wirklich-keit, sind die Begriffe dafür. Ausgehend vom Dualismus dieser beiden Wirklichkeiten glaubte Descartes, auf logisch-mathematische Weise die Existenz der räumlichen Wirklich-keit deduktiv ableiten zu können.

100 Jahre später jedoch schien das Unternehmen, die Existenz des gesamten Universums aus dem „cogito“ ableiten zu können, zum Scheitern verurteilt. Immanuel Kant bezeich-nete es den „Skandal der Philosophie“ und die „Niederlage der Vernunft“, dass es immer noch nicht gelungen sei, das Dasein der Dinge außer uns selbst zwingend zu beweisen. Die Frage nämlich, was man sich unter einem sogenannten reinen Bewusstsein vorzustellen hat, ist immer noch unbeantwortet. Oder ist sie gar falsch gestellt? Bewusstsein ist doch immer Bewusstsein von etwas, was sich bereits auf die Welt bezieht, also Weltbewusstsein. Der Leser dieser Zeilen mag sich beispielsweise des Stuhles bewusst sein, auf dem er gerade sitzt oder der Temperatur des Raumes, in dem er sich gerade befindet. Bewusstsein drückt dabei das Verhältnis des „Bewusstseinsträgers“ gegenüber der Welt aus. Ein leeres Be-wusstsein ist also gar kein Bewusstsein.

Auf den cartesianischen Dualismus geht auch jenes Leib-Seele Problem zurück – heute Geist-Gehirn Problem genannt -, über das sich nicht nur die Philosophen den Kopf zer-brechen. Es handelt sich dabei um die Beziehung zwischen unserem Geist oder unserer Seele gegenüber dem eigenen Körper oder Leib. Ein weiteres, ganz besonderes Problem wirft auch die Frage nach der Existenz von Fremdbewusstsein auf. Wie soll man beweisen, ob es sich bei unseren Mitmenschen tatsächlich um eigenständige Bewusstseine handelt. Könnte der Andere nicht genauso gut eine Puppe oder ein Roboter sein? Ohne die An-twort auf diese Frage scheint es unmöglich, irgendwelche Aussagen über die soziokulturelle Wirklichkeit zu machen. Diese setzt nämlich ein Fremdbewusstsein voraus. Sie wird ge-prägt durch den Austausch von Informationen, durch Diskussionen mittels der Sprache, welche ja selber ein soziokulturelles Produkt ist; und dieser intersubjektive Austausch von Daten, Fakten und Theorien ermöglicht es doch überhaupt erst, Aussagen zu treffen über die sogenannte Natur der Dinge. Steht demzufolge am Ende der logischen Schlussfol-gerungen des cartesianischen Gedankengebäudes nicht doch jener Solipsismus, welcher den Menschen dazu verurteilt sieht, für immer und ewig in seinem eigenen Bewusstsein eingeschlossen zu sein und damit keine Aussagen machen zu können über die Dinge außerhalb dessen. Der Beweis des Fremdbewusstseins, d.h. dass es außer mir noch andere Subjekte gibt, erscheint mir insofern um einiges notwendiger zu sein, als etwa der Existenz-beweis der transphänomenalen Natur. (der gesamte Abschnitt 1.1. bezieht sich auf: Schroeder, 1986)

Husserl, Heidegger und die Phänomenologie

Einer der einflussreichsten deutschen Philosophen unseres Jahrhunderts, Edmund Husserl, fragte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ob denn jener Skandal, von dem Kant gesprochen hatte, nicht eher darin bestehen würde, dass man solche Beweise immer noch verlange; oder verhielt es sich nicht eher so, dass uns die Wirklichkeit direkt um uns herum nicht immer schon unmittelbar gegeben war? Husserl vertrat die Ansicht, dass – wolle man zu Aussagen oder gar einem Existenzbeweis der transphänomenalen Natur gelangen – also der Wirklichkeit, welche sich hinter der von uns erfahrbaren quasi an sich verbirgt und jene überhaupt erst hervorbringt – so könne man doch nur ausgehen von der primären Wirk-lichkeit, also jener, die für uns unmittelbar erfahrbar ist. Zu dieser Wirklichkeit gehören die Phänomene, die Erscheinungen der Dinge in unserem Bewusstsein. Seitdem wird Edmund Husserl als Begründer der Phänomenologie bezeichnet.

Wohlgemerkt, die Phänomenologie ist kein philosophisches System, sondern eine Me-thodenlehre, die gleichsam als Leitfaden zur Wirklichkeitsfindung dient. Ihr Ausgangs-punkt ist nicht das cartesianische „cogito“, sondern immer das volle Weltbewusstsein des Menschen. Nur wenn man ausgeht von jenen unmittelbar erlebbaren Phänomenen der primären Wirklichkeit, kann man zu Aussagen gelangen, die die Wissenschaft des Trans-phänomenalen betreffen. Die meisten der modernen Wissenschaften, wie z.B. die Physik, beinhalten aber sogenanntes sekundäres Wissen. Die Physik versucht eine Beschreibung der Welt an sich, unabhängig von unserer Wahrnehmung, ja unabhängig von der Existenz des Menschen selbst. Aber auch der Physiker geht ja von der primären Wirklichkeit aus, um zu seinen Theorien gelangen zu können. Zuallererst muss auch er immer etwas in der primären Wirklichkeit wahrnehmen oder beobachten, und wenn dies auch nur Ausschläge von irgendwelchen Zeigern seiner experimentellen Messgeräte sind. Erst danach ist es ihm gestattet, Hypothesen und Theorien aufzustellen, die das An-Sich-Sein der Welt oder des Universums betreffen. Will er diese Hypothesen und Theorien überprüfen, so muss er sich wieder in der primären Wirklichkeit aufhalten. Denn diese Überprüfung findet statt durch ihn als wahrnehmendes Subjekt. Demzufolge ist es wissenschaftlich nicht korrekt, wenn man versuchen will, die Evidenz der primär erlebten Wirklichkeit zu widerlegen durch sekundäres Wissen, welches ja immer nur hypothetisch und nie endgültig beweisbar sein kann. Natürlich kann das sekundäre Wissen zum Teil erklären, warum wir überhaupt eine phänomenale Wirklichkeit wahrnehmen. Das ändert aber nichts daran, dass wir zu diesem Wissen erst gelangen über die primäre Wirklichkeit des unmittelbar Erlebbaren, und dass jenes insofern eben sekundäres Wissen darstellt.

Ich möchte noch einmal besonders auf diesen letztgenannten Zusammenhang hinweisen, da dieser im folgenden noch sehr wichtig sein wird für das Verstehen von einigen Zusam-menhängen des Sartreschen Existentialismus.

Nahezu gleichzeitig – im Jahre 1933 – machte der Physiker Werner Heisenberg in Mün-chen eine Entdeckung, die das physikalische Weltbild von Grund auf revolutionieren sollte. Diese Entdeckung veranschaulicht noch einmal jenen Zusammenhang zwischen der pri-mären oder phänomenalen Wirklichkeit und dem sekundären Wissen, welches aus ihr gewonnen wird. Bei dieser Entdeckung handelt es sich natürlich um die Heisenbergsche Unschärferelation, über deren Konsequenzen ihr Begründer später folgendes schreiben sollte: „Die alte Einteilung der Welt in einen objektiven Ablauf in Raum und Zeit auf der einen Seite und die Seele, in der sich dieser Ablauf subjektiv spiegelt, auf der anderen, also die Descartessche Unterscheidung von res cogitans und res extensa, eignet sich nicht mehr als Ausgangspunkt zum Verständnis der modernen Naturwissenschaft. Im Blickfeld dieser Wissenschaft steht vielmehr vor allem das Netz der Beziehungen zwischen Mensch und Natur. Die Naturwissenschaft steht nicht mehr als Beschauer vor der Natur, sondern er-kennt sich selbst als Teil dieses Wechselspiels zwischen Mensch und Natur.“ (zit. Nach: Schroeder, 1986; Sperrdruck von mir)

Die Heisenbergsche Unschärferelation bedeutete die Zerstörung des alten Ideals der Na-turwissenschaften, nämlich, dass es da eine objektive, unabhängig von uns existierende Natur geben könne, welche wir quasi von außen als Beschauer messen können. Nach der Unschärferelation können wir nicht gleichzeitig Ort und Impuls eines Teilchens wissen. Je genauer wir versuchen, den Ort dieses Teilchens zu messen, desto weniger können wir über seinen Impuls aussagen (Zukav, 1985) und umgekehrt. Ein kurzes Gedankenexperi-ment, welches Heisenberg meistens selbst benutzte, soll dies erläutern.

Es handelt sich dabei um die Frage nach der Beobachtung eines Elektrons. Alle Dinge, die wir sehen können, können wir eben nur deshalb sehen, weil Lichtquanten von ihnen in unser Auge gelangen. Um jenes Elektron also erblicken zu können, müssen wir es zuerst mit Photonen – also Lichtteilchen – bestrahlen. Aufgrund der geringen Größe des Elek-trons muss diese Strahlung jedoch eine sehr kurze Wellenlänge besitzen. Gammastrahlung ist dafür geeignet. Diese aber ist sehr energiereich. Treffen nun Photonen und Elektron zusammen, so können wir jetzt zwar mit Hilfe der Versuchsapparatur den Ort des Elek-trons bestimmen, nicht jedoch den Impuls, weil nämlich die hohe Energie des Photons den vorherigen Impuls des Elektrons (also desjenigen, welches das Elektron an jenem Ort besaß, den wir gerade gemessen haben) bereits verändert hat. Daraus folgt, dass wir mit Hilfe unserer Versuchsanordnungen die Dinge, die wir da objektiv zu messen versuchen, durch unsere Messung selber beeinflussen; und damit ist das Ideal der Naturwissenschaften, das seit Newton die westliche Wissenschaft beherrscht, zerstört. Wir können die Welt als solche, objektiv und unabhängig von unserer Existenz, weder wahrnehmen noch erkennen. Forschungsgegenstand allein kann die Beziehung zwischen uns und der Natur bleiben. Und das war genau der Zusammenhang, den die Phänomenologen in philosophischer Hinsicht behaupteten. Alles, was wir wissen können, bezieht sich auf unsere phänomenale Erlebniswelt und drückt höchstens noch das Verhältnis zwischen ihr und einer trans-phänomenalen Wirklichkeit aus. So erleben wir beispielsweise die Dinge unserer Anschau-ungswelt immer unmittelbar als leicht, süß, appetitlich, langsam, hell usw. Diese Ausdrücke, auch phänomenale Eigenschaften genannt, haften unserem Bewusstsein von den jeweiligen Dingen an. In der Physik oder der Chemie spielen diese Eigenschaften jedoch keine Rolle und umgekehrt kämen wir auch niemals auf die Idee, dass, wenn uns ein Chemiker die che-mische Zusammensetzung beispielsweise eines Stuhles nennt, es sich dabei um ein Ding zum Sitzen handelt.

Bei den oben genannten phänomenalen Eigenschaften der Dinge handelt es sich auch jeweils um meine, d.h. ich bin es, der das Licht in diesem Zimmer als zu hell empfindet oder die Temperatur als zu warm. Mir erscheint z.B. ein Kunstwerk als ästhetisch, während ein Anderer es als absolut hässlich empfinden mag. Martin Heidegger, ein Schüler Edmund Husserls, spricht in diesem Zusammenhang von der Jemeinigkeit der phänomenalen Ei-genschaften der Dinge. (Heidegger, 1927)

Besonders deutlich drückt sich diese Jemeinigkeit darin aus, dass ich alle Dinge, die ich wahrnehme, jeweils auf mich hin anordne und zu mir in Beziehung setze. Immer bin ich der Mittelpunkt meines Anschauungsraumes. Wenn ich hier auf dem Sofa sitze, so befindet sich die Lampe links von mir, das Fenster rechts von mir, der Schrank vor mir, während sich das für meinen Gegenüber genau umgekehrt verhält. Für ihn ist die Lampe rechts von ihm, das Fenster links von ihm und der Schrank hinter ihm. Auch da wiederum verhält es sich im physikalischen Raum ganz anders. Dieser hat, eben weil er als unabhängig von unserem Bewusstsein gedacht wird, keinen Mittelpunkt, kein Zentrum, um das sich die Dinge anordnen.

Aber das ist noch nicht alles. Ich beziehe auch die Dinge um mich herum jeweils funk-tional auf mich. Die jeweilige Funktionalität der Dinge hängt ab von meinen momentanen Zielen, Absichten und Plänen. Ich möchte das an einem kurzen Beispiel erläutern. Ich kann mich des Elementes Wasser in vielerlei Hinsicht bedienen. So kann ich es trinken, um meinen Durst zu stillen; ich kann damit meinen Körper reinigen; ich kann darin schwim-men, um mich fit zu halten; ich kann es als Kühlwasser für mein Auto benutzen, ich kann mein Treibhaus damit bewässern oder eine Turbine damit antreiben. Grundsätzlich – das heißt an sich – ist es jedoch, ebenso wie das Stück Holz, das ich am Wegrand finde, nichts von alledem. Jenes Stück Holz kann mir. Z.B. als Spielzeug für meinen Hund dienen, als Waffe gegen einen möglichen Angreifer, als Instrument, mit dessen Hilfe ich mich endlich am Rücken kratzen kann und somit meinen Juckreiz beende. Möglicherweise nehme ich es auch überhaupt nicht wahr und lasse es unbemerkt an seinem Platz liegen. Vielleicht bin ich auch darüber gestolpert und ärgere mich nun furchtbar über seine Existenz. Es hängt immer von mir, meinen Absichten, Zielen und Plänen ab, was dieses Stück Holz jeweils für mich ist.

Jedes Subjekt ordnet die Dinge seiner phänomenalen Anschauungswelt jeweils nach sei-nen eigenen Bedürfnissen, Hanglungsabsichten und Entwürfen, Zielen und Plänen hin an, und zwar immer nur für sich. Selbst wenn ich einen Strauß Blumen pflücke, um ihn meiner Freundin als Geschenk zu machen, so bin doch ich es, dem er aufgrund der Absicht oder des Zieles, einer bestimmten Person ein Geschenk machen zu wollen, als Möglichkeit für ein solches Geschenk überhaupt erst erscheint; d.h. die Blumen selbst sind kein Geschenk, sondern ich bin es, der sie durch eine bestimmte Handlung zu solch einem machen kann. Für jemand anderen aber mögen sie etwas vollkommen anderes sein. Er mag sie als etwas erkennen, womit sich Geld verdienen lässt, wenn er z.B. diese frisch gepflückten Blumen in seinem eigenen Blumengeschäft zum Verkauf anbieten kann. So mag ein vom Blitz getroffener Baum mitten in einem Wald für einen Holzarbeiter z.B. ein Problem darstellen, weil er noch nicht genau weiß, wie er ihn absägen soll, ohne den herumstehenden anderen Bäumen einen gröberen Schaden zuzufügen; für ein paar Kinder mag dieser Baum nun ein ideales Spielzeug sein, um darauf herumzuklettern, ein Baumhaus zu bauen oder was auch immer.

Heidegger spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Seinsweise der Dinge um uns herum primär nicht Vorhandenheit ist, sondern „Zuhandenheit“ und von ihrem „Zeugcharakter“. (Heidegger, 1927)

Selbst wenn ich den Baum, die Blumen, das Stück Holz oder das Wasser wissenschaftlich untersuchen will, um herauszufinden, wie sich eben jener Teil der Natur an sich und unab-hängig von mir verhält, so ändert das jedoch gar nichts daran, dass auch das meine Absicht und mein Plan ist. Ich bin es, der die Welt dabei als etwas erfasst, was unabhängig von mir existiert und nach der Unschärferelation wirkt sich sogar diese Absicht, die Natur absichts-los zu betrachten, auf die Erkenntnisse aus, die ich aus einer solchen Betrachtung gewinne; weil eben auch sie nichts anderes darstellt als eine Beziehung zwischen mir und der Natur, die sich sowohl auf die Natur als auch auf mich hin auswirkt.

Genauso wie es sich mit den Gegenständen unserer Umgebung verhält, ist es auch mit der Zeit. Martin Heidegger schreibt in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ (1927) darüber, dass der Mensch sich andauernd zeitigt. Was heißt das? Wenn wir die gegenständliche Welt um uns herum jeweils bestimmen nach unseren Handlungen oder Unterlassungen, die wie-derum von unseren jeweiligen Plänen und Absichten bestimmt werden, so entwerfen wir dabei immer ein zukünftiges Geschehen vor uns. Beispielsweise komme ich eines Abends nach Hause und stelle fest, dass ich meinen Wohnungsschlüssel verloren habe. Ich ent-wickle nun also einen Plan, auch ohne diesen Schlüssel in meine Wohnung hineinzuge-langen. Dabei kommt mir eine Idee, bekannt aus vielen Krimis und Fernsehserien: Ich kann mit Hilfe meiner Scheck- oder Kreditkarte versuchen, das Schloss zu öffnen. D.h. in diesem Moment erscheint mir meine Scheckkarte als Werkzeug zum Öffnen einer Türe. Dennoch stehe ich in diesem Moment immer noch vor der Türe, d.h. meine Wahrneh-mung dieser Scheckkarte als Türschlüsselersatz richtet sich hin auf etwas Zukünftiges. In diesem Moment bin ich jemand, der sich in seiner Wohnung befinden will, der aber dort noch nicht ist, d.h. ich entwerfe mich in die Zukunft, ich zeitige mich – oder auch ich verwirkliche mich – als jemand, der ich noch nicht bin, denn noch immer bin ich nicht: Jemand, der sich in seiner Wohnung aufhält.

Wir Menschen machen das immer so. Wir entwerfen uns als jemand, der wir noch nicht sind. Noch bin ich nicht: Diplompsychologe. Auf dieses Ziel hin jedoch richte ich viele meiner Handlungen: Ich lese Bücher, denke nach, schreibe diese Diplomarbeit oder stehe morgens früh auf, um in eine wichtige Vorlesung zu gehen bzw. unterlasse es, stattdessen etwas anderes zu tun, wie z.B. ausschlafen, einen Freund besuchen, um mich jenem Ziel „Diplompsychologe“ näher zu bringen. Ich zeitige mich auf etwas hin, was ich noch nicht bin. Auf dieses Ziel hin teile ich mir meine Zeit ein, egal, ob es sich dabei um den Ablauf der nächsten paar Jahre oder nur den des folgenden Tages handelt. Auch, wenn es sich um „kleinere“ Ziele handelt, verhält es sich nicht anders. Egal, ob es darum geht, meinen Kühlschrank wieder aufzufüllen oder mir im Kino einen bestimmten Film anzusehen, immer strukturiere ich die Zeit vor mir auf dieses bestimmte Ziel hin.

Und sobald ich eines dieser Ziele erreicht habe, stellt sich unweigerlich sofort wieder die Frage: „So, und was nun?“ Natürlich kann ich mir vornehmen, einfach gar nichts zu tun, bloß dazusitzen und die weiße Wand vor mir betrachten, dennoch ist auch das eine Hand-lung. Auch dabei tue ich etwas und zwar etwas ganz Bestimmtes. Ich rücke mir den Sessel zurecht, mache es mir darin bequem und suche mir einen bestimmten Punkt an jener wei-ßen Wand. Und selbst während ich nun diesen Punkt anstarre, tue ich doch auch dabei ak-tiv etwas: Ich halte meine Augen offen oder geschlossen, atme und entspanne mich; und dabei vergeht Zeit.

Der Mensch ist nun mal kein zeitloses Wesen, welches an einem bestimmten Zeitpunkt ausharren kann, so gerne er dies vielleicht auch möchte. Ja, es fällt uns sogar unglaublich schwer, und es bedarf äußerst tiefer Trancezustände oder auch Zustände tiefster medita-tiver Versenkung, um sich – wenn das überhaupt möglich ist – einen Zeitpunkt vorstellen zu können. Als Menschen müssen wir uns verzeitlichen, wir können gar nicht anders. Dieser Prozess ist erst beendet mit unserem eigenen Tod. Vielleicht liegt auch darin der Sinn jener Worte, die Faust zu Mephisto spricht: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Ver-weile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn! Dann mag die Totenglocke schallen.“ (Johann Wolfgang Goethe: Faust I Vers 1699-1703) Und tatsächlich stirbt Faust ja in dem Moment, in dem er jenes „Verweile doch, du bist so schön!“ ausspricht.

Erst dadurch, dass wir uns andauernd verzeitlichen, werden wir, was wir sind. Ich bin Student – und deshalb eben sitze ich hier und schreibe an dieser Arbeit. Dadurch ver-deutliche ich mich als jemand, der studiert und stelle dies erneut unter Beweis.

Wir Menschen verzeitlichen uns immer, das heißt eigentlich: Wir werden. Der Augen-blick eines bestimmten Seins, d.h. jener Zeitpunkt null, ist für uns niemals erfahrbar, denn immer befinden wir uns in der Zeit. Daraus folgt, der Mensch ist eigentlich nie etwas, immer ist er einem Prozess der Veränderung unterworfen, einem Prozess des Werdens. Die west-liche Zivilisation tut sich jedoch außerordentlich schwer, dies sprachlich auszudrücken. Das Verb „sein“ bezeichnet einen Zustand, aber ein Zustand existiert eigentlich gar nicht. Alles ist im Fluss, sagen die Chinesen und der griechische Philosoph Heraklit. Sie meinen genau das damit. Aufgrund der Philosophiegeschichte des Westens und seines nahezu wahnhaft anmutenden Zwanges, alles analytisch auf ein reduzierbares Etwas gründen zu wollen, hat es sich so ergeben. Wie oft sprechen wir von Prozessen als Dingen, drücken sie anhand sogenannter Nominalisierungen aus, wie z.B. Wahrnehmung, Hilfe, Schrecken, Einfühlung, Erfolg usw. All diese Begriffe bezeichnen eigentlich Prozesse.

Ja selbst unser eigener Körper ist im Grunde genommen ein Prozess, welcher erst be-endet wird mit dem Eintritt des Todes. Andauernd teilen sich irgendwelche Zellen, der Blutkreislauf fließt und Energie wird umgewandelt.

Mit Hilfe der phänomenologischen Methode gelangen wir also zu höchst aufschluss-reichen Aussagen über die Wirklichkeit, welche sich direkt vor unserer Nase befindet. Und danach hatte Jean-Paul Sartre gesucht. Nach einer Philosophie nämlich, die Aussagen machen kann über so einfache und triviale Dinge wie z.B. eine Tasse Kaffee. Sartre unter-brach 1933 seine Zeit als Gymnasiallehrer in Le Havre und reiste nach Berlin um sich dort eingehend mit Husserl und Heidegger zu beschäftigen. Über den Zusammenhang der Ver-zeitlichung des Menschen schrieb er später einen berühmt gewordenen Satz nieder, der jedoch auf den ersten Blick recht verwirrend erscheint. „Wir sind nicht, was wir sind, und wir sind, was wir nicht sind.“ Wenden wir uns nun also direkt dem Sartreschen Existen-tialismus zu.

2. DER EXISTENTIALISMUS JEAN-PAUL SARTRES

Nachdem Jean-Paul Sartre 1934 seinen Studienaufenthalt in Berlin beendet hatte und seinem Beruf als Gymnasiallehrer wieder nachkam, wandte er sich in den folgenden Jahren verstärkt jener phänomenologischen Methode zu, erweiterte den Begriff des Phänomens, wie Heidegger ihn gebraucht hatte und begründete damit seinen Existentialismus. Im Sep-tember 1939 wurde er dann zur Armee eingezogen, geriet aber schon bald – nämlich 1940 – in deutsche Kriegsgefangenschaft.

Über dreihundert Jahre nach Descartes fand wieder ein französischer Denker in einem Winterlager auf deutschem Boden Zeit und Muße, - jedoch unter weit weniger angeneh-men Umständen wie dieser damals – nachzudenken und die Philosophie noch einmal völ-lig neu zu begründen. Denn eines war ja selbst den Phänomenologen nicht gelungen, näm-lich den Beweis zu erbringen dafür, dass es außer dem eigenen Bewusstsein noch anderes, also fremdes Bewusstsein oder den Anderen geben musste. Seine philosophischen Gedan-ken erschienen 1943 in seinem ersten philosophischen Hauptwerk „L’Etre et le Néant“ – „Das Sein und das Nichts – Versuch einer phänomenologischen Ontologie“.

Auf den achthundert Seiten dieses Werkes stellt Sartre erstmals seine Philosophie voll-ständig dar. Natürlich wird es mir im folgenden nicht möglich sein, den Inhalt dieser Abhandlung auf ein paar Seiten aufs genaueste wiederzugeben. Dennoch will ich versuchen, die Grundgedanken des Existentialismus – auch anhand einiger Beispiele – zu beleuchten.

Ausgangspunkt dieser philosophischen Theorie ist jener berühmt gewordene Satz: Die Existenz geht dem Wesen voraus. Was ist damit gemeint? Wenn wir mit Hilfe der Phäno-menologie so tun, als ob uns die Phänomene der uns umgebenden primären Wirklichkeit zum allerersten Male begegnen würden (und genau darin liegt die Schwierigkeit dieser Me-thode), so erscheint uns das bloße Vorhandensein der Dinge, also die Gegenständlichkeit von Steinen, Pflanzen, Tieren und Menschen, ja selbst der des eigenen Körpers, als rein zufällig. (Sartre, 1981) Darin kommt jene Erweiterung des Heideggerschen Phänomenbe-griffs zum Vorschein, die ich zuvor kurz angedeutet habe. Sartre lässt damit das Sein alles Seienden vollständig in seiner Erscheinung, also dem Phänomen aufgehen.

Wenn wir z.B. einen Stein betrachten – wohlgemerkt: immer so, als würden wir dies zum allerersten Mal tun – so gibt es dabei absolut keinen Hinweis auf ein Wesen, welches gleichsam hinter diesem Stein ihm zugrunde liegen würde. Der Stein ist bloße Existenz als Stein. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass es sich nur um die Erscheinung eines Steins handeln könne, welche auf ein dahinter sich befindendes Sein eines Dinges an sich verwei-sen würde. Es weist nichts darauf hin, dass es sich bei dem vor mir liegenden Stein nur um eine Erscheinung handeln könne, quasi die Erscheinung einer geistigen Idee eines Steines, die Rückschlüsse zulassen würde auf so etwas wie das Wesen des Steins an sich; oder auch, dass dieser Stein nur ein Abbild sein könnte von einem absoluten Stein. Ein solches Wesen des Steins gibt es nicht.

Damit hob Sartre das Hauptproblem der klassischen Metaphysik auf, nämlich den Dua-lismus von „Ding an sich“ (oder auch: Wesen, Essenz) und Erscheinung dieser Essenz oder dieses Wesens im Gegenstand. Dieser Stein ist ein Gegenstand, ein Objekt; und sein Sein ist ein Sein-an-sich (être en soi). Er wird immer Stein bleiben, sich niemals von sich aus in etwas anderes Verwandeln, also etwa Holz oder Wasser. Und sein bloßes Vorhan-densein, seine Existenz hat keinen Sinn, keine Notwendigkeit, wirkt rein zufällig und letztendlich überflüssig.

Wir alle kennen vermutlich das, was passiert, wenn wir irgendeinen Begriff, also z.B. „Stein“ für einige Minuten laut vor uns hin murmeln, ihn immer wieder wiederholen. So-wohl der Begriff selbst, wie auch der Gegenstand, welchen dieser Begriff bezeichnet, verliert für uns vollkommen an Bedeutung, existiert nur noch als anscheinend zufällig zusammengewürfelte Buchstabenkombination. Alles, was bleibt, ist das Vorhandensein oder die reine Existenz dieses Dinges. Besonders deutlich wird diese Erfahrung im Zen-Buddhismus, wo das stundenlange Meditieren über einen einzigen Begriff eine der Grund-übungen darstellt.

Und ebenso, wie es sich mit jenem Stein verhält, verhält es sich auch mit allen anderen Dingen, die uns umgeben. Auch, wenn es sich dabei um meinen Hund, meinen Nachbarn oder meinen eigenen Körper handelt. Alles ist sinnlos und zufällig. Sartre drückt diese Er-fahrung auf sehr drastische Weise in seinem ersten Roman, „Der Ekel“, der 1938 erschien, aus.

Der Mensch jedoch muss aufgrund seiner Verzeitlichung mit den Dingen um sich herum etwas „anfangen“. Er kann gar nicht anders, selbst wenn er einer derjenigen sein sollte, von denen man sagt, „der kann mit sich uns deiner Welt nichts anfangen“, so bleibt er dennoch einer, der aktiv nichts damit anfängt. Daraus ergibt sich folgendes: Erst der Mensch ist es, der den Dingen um sich herum ein Wesen verleiht, ihnen – volkstümlicher ausgedrückt – einen Sinn gibt; und dieses Wesen, dieser Sinn, den er den Dingen verleiht, verweist immer auf ihn zurück – auf ihn als ein Subjekt und damit Zentrum seiner Anschauungswelt.

Dies mag sich vielleicht etwas kompliziert anhören oder schwer verständlich erscheinen. Dieser Prozess, in dem der Mensch dem Sein-an-sich (être en soi) der Dinge ein Wesen verleiht, hat keinen zeitlich genau definierten Anfangspunkt, einfach, weil es auch keinen zeitlich genau definierten Anfangspunkt gibt, an welchem das Leben eines Menschen beginnt (in der Diskussion um die Abtreibung kommt dies ja sehr gut zum Vorschein).

Um dies zu verdeutlichen, nehmen wir als Beispiel etwa ein kleines Kind, dem wir einen bestimmten Gegenstand – vielleicht einen Bal – zum allerersten Male reichen. Der Ball ist für das Kind zuerst einmal nicht Ball, sondern bloß irgendein Gegenstand. Nehmen wir nun weiter an, das Kind rollt ihn auf dem Boden herum oder tippt ihn einige Male darauf auf. Dadurch gewinnt dieser Gegenstand durch das Tun des Kindes an Bedeutung für es. Diese Bedeutung mag vielleicht lauten: Ein Ding, mit dem sich spielen lässt oder: Ein Ding, mit dem sich Spaß haben lässt. Freilich wird das Kind das nicht sprachlich formulieren, denn seine Reflexionsfähigkeit, die ja sehr eng zusammenhängt mit der Verbalisierung, hat sich noch nicht entwickelt. Erst wenn wir auf den Gegenstand zeigen, dem Kind einige Male sagen, „das ist ein Ball“, wird es vielleicht beim nächsten Mal, wenn es diesen Gegen-stand erblickt, darauf zeigen und „Ball“ sagen. Diese vier Buchstaben werden erst dann auf reflexiver Ebene mit dem Gegenstand verbunden, der somit seinen Namen erhält. Beim Spiel selber jedoch ist das Kind ganz Bewusstsein vom Ball, oder – wie man sagt – es geht in seinem Spiel auf.

Ähnlich verhält es sich bei unserem oben genannten Scheckkartenbeispiel. Von dem Mo-ment an, in der mir die Idee kommt, die Scheckkarte als Ding zum Öffnen meines Tür-schlosses benutzen zu können, ist mein Bewusstsein erfüllt von dieser Scheckkarte, d.h. ich bin ganz Bewusstsein dieser Scheckkarte als Ding zum Türschlossöffnen (und im Moment eben nicht als Ding zum Geldabheben). Damit habe ich dieser Scheckkarte ein ganz bestimmtes Wesen verliehen, welches auf mich als Subjekt zurückweist. Die Scheckkarte an sich (en soi) besitzt kein Wesen. Sie ist nur bloße Existenz. Erst durch mich erhält sie ihr Wesen, d.h. durch meine Fähigkeit, die Dinge meiner Anschauungswelt auf mich hin be-ziehen zu können. Nur mein Bewusstsein kann dies oder – besser ausgedrückt -: Das Be-wusstsein ist diese Fähigkeit. Sartre drückt das folgendermaßen aus: „Das Bewusstsein ist ein Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, insofern dieses Sein ein Sein in sich einbezieht, das ein anderes als es selbst ist.“ (SuN, S. 29 im Original gesperrt) Das Beispiel mit der geschlossenen Wohnungstüre und der Scheckkarte macht dies deutlich. Ich will in meine Wohnung gelangen; d.h. es geht mir in diesem Plan um mich selbst, um mein Sein als jemand, der sich in seiner Wohnung befindet; und bei diesem Plan beziehe ich die Objekte meiner Umgebung mit ein – die Objekte, die ja nur ein Sein-an-sich (être en soi) besitzen. Das An-sich-Sein dieses Dinges, welches wir Scheckkarte nennen, be-kommt für mich durch mein Handeln oder Tun, oder dadurch, dass ich Bewusstsein von ihm werde, einen ganz bestimmten Sinn, ja es existiert für mich in diesem Moment sogar nur als dieser Sinn. Ich nehme es nicht zuerst als Ding-zum-Geldabheben und dann als Ding-zum-Türschlossöffnen wahr, nein – ich nehme es sofort als Ding-zum-Türschloss-öffnen wahr und bin damit ganz Bewusstsein von ihm als ein solches Ding.

Das Bewusstsein existiert also dadurch, dass es nicht anders kann, als die Dinge seines Anschauungsraumes auf sich hin zu beziehen, als ein Sein-für-sich (être pour soi). Jenes Pour-Soi ist dadurch bestimmt, dass es sich zu sich selbst verhalten und sich transzen-dieren kann, welches sich aber ebenso auf Anderes – also Welt im weitesten Sinne – bezie-hen kann. Ein Objekt kann dies nicht. „Von jenem Tisch kann ich sagen, er sei einfach der Tisch. Jedoch kann ich mich nicht darauf beschränken, von meinem Glauben zu sagen, er sei Glaube: mein Glaube ist Bewusstsein (zu) glauben.“ (SuN, S. 126) Und: „das Bewusst-sein (zu) glauben ist Glaube, und der Glaube ist Bewusstsein (zu) glauben. In keinem Fall aber können wir sagen, das Bewusstsein sei Bewusstsein und der Glaube sei Glaube. Ein jeder der beiden Begriffe verweist auf den anderen und geht in den anderen über, und trotzdem ist jeder Begriff von dem anderen verschieden. Weder der Glaube, noch das Ver-gnügen oder die Freude können … überhaupt sein, bevor sie bewusst sind; denn das Be-wusstsein ist das Maß ihres Seins;“ (SuN, S. 127f.)

Genauso, wie es sich mit den Objekten verhält, ist es mit dem Menschen: Auch sein Wesen muss er sich selber schaffen. Wir sind nicht schon immer Arzt, Autofahrer, Ehe-mann, Verbrecher, liebenswürdig, aggressiv, freigiebig usw. gewesen. Wir müssen uns dieses Wesen immer erst erschaffen (König (Hrsg.) 1986); und zwar in jedem Moment unseres Lebens aufs Neue. Aufgrund unserer Verzeitlichung müssen wir uns immer wieder neu entwerfen, uns quasi als jemanden schaffen, der in dieser oder jener Beziehung das Eine oder das Andere ist. In dem Moment jedoch, in dem wir dies tun, sind wir es ja noch nicht. Jemand, der Autofahrer werden will, muss zuerst einmal den Führerschein machen; und während dieser Zeit muss er sich immer wieder aufs Neue entscheiden, ob er diesem Ziel auch weiterhin nachkommen will oder nicht.

Der Mensch hat – im Gegensatz zu den Objekten – die Freiheit zu entscheiden, ob er Kellner, Psychologe, zärtlich oder grausam sein will. Vielmehr – er ist diese Freiheit. (Sartre, 1962) Wir können gar nicht anders, als uns immer wieder auf die Zukunft gerichtet zu ent-werfen. Ein vielleicht etwas krasses Beispiel soll dies noch einmal verdeutlichen: Ich hatte, da ich ja ganz Freiheit bin, in jedem Augenblick meines Lebens die Möglichkeit, mich durch Selbstmord zu töten. Ich habe dies weder getan, noch irgendwie diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung gezogen, d.h. ich habe mich immer wieder aufs Neue entschieden, ein Lebender zu sein. Diese Entscheidung – und das ist für das Folgende von besonderer Wichtigkeit – war nur in ganz seltenen Fällen eine Entscheidung meines reflexiven Be-wusstseins. Vielmehr habe ich mich einfach auf präreflexiver Ebene gewählt als jemand, der lebt – mich gewissermaßen als Lebenden geschaffen. Dies war also keine reflexive Auswahl aus verschiedenen Möglichkeiten, die mir von außen dargeboten wären, sondern ich habe quasi an die Möglichkeit des Selbstmordes gar nicht gedacht, obwohl sie objektiv freilich in jedem Augenblick unseres Lebens gegeben ist.

An dieser Stelle erscheint es mir notwendig, kurz den Begriff des präreflexiven Bewusst-seins zu erklären. Dieser spielt in der Sartreschen Philosophie eine tragende Rolle. Wir ha-ben weiter oben gesehen, dass Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist. „Das bedeu-tet, dass es kein Bewusstsein gibt, dass nicht Setzung eines transzendenten Objektes wäre, oder, wenn man lieber will, dass das Bewusstsein keinen ‚Inhalt’ hat.“ (SuN, S. 16) Und: „Jedes Bewusstsein ist darin setzend, dass es sich transzendiert, um ein Objekt zu erreichen, und es erschöpft sich in dieser Setzung selbst: Alles, was es an Intention in meinem aktuellen Bewusstsein gibt, ist nach außen gerichtet …“ (SuN, S. 17) An einem Beispiel erläutert Sar-tre dies noch näher: „Das unmittelbare Bewusstsein, was ich gerade wahrnehmen will, erlaubt mir weder ein Urteilen, noch ein Wollen, noch ein Sichschämen. Es erkennt nicht meine Wahrnehmung, es setzt sie nicht: Alles, was es an Intention in meinem aktuellen Be-wusstsein gibt, ist nach außen gerichtet, auf die Welt. Umgekehrt ist dieses spontane Be-wusstsein meiner Wahrnehmung konstitutiv für mein Wahrnehmungsbewusstsein. Anders ausgedrückt ist jedes setzende Bewusstsein vom Objekt zu gleicher Zeit nicht-setzendes Bewusstsein von sich selbst. Wenn ich die Zigaretten zähle, die in dieser Dose sind, habe ich den Eindruck der Enthüllung einer objektiven Eigenschaft dieser Menge Zigaretten: es sind zwölf. Diese Eigenschaft erscheint meinem Bewusstsein als eine in der Welt vorhande-ne Eigenschaft. Dabei brauche ich durchaus kein setzendes Bewusstsein davon zu haben, dass ich sie zähle; ich ‚erkenne mich nicht als Zählenden’. Der Beweis dafür besteht darin, dass Kinder, die eine Addition spontan durchzuführen fähig sind, hinterher nicht erklären können, wie sie dabei vorgegangen sind…. Und dennoch habe ich in dem Augenblick, wo diese Zigaretten sich mir als zwölf enthüllen, ein nicht setzendes Bewusstsein von meiner Addiertätigkeit. Denn wenn man mich prüft, wenn man mich fragt: „Was machen sie da?“, würde ich sofort antworten: „Ich zähle“, und diese Antwort zielt nicht allein auf das augen-blickliche Bewusstsein, das ich durch Reflexion erreichen kann, sondern auch auf die Be-wusstseinszustände, die vergangen sind, ohne reflektiert worden zu sein, auf diejenigen, die auch in meiner jüngsten Vergangenheit für immer unreflektiert sind. Das nicht reflexive Be-wusstsein macht die Reflexion erst möglich: Es gibt ein präreflexives cogito, das die Vor-aussetzung des cartesianischen cogito ist.“ (SuN, S. 18f.) Dieses „präreflexive cogito“, also das präreflexive Bewusstsein meiner selbst, ist „Bedingung dafür, dass ein erkennendes Be-wusstsein Erkenntnis seines Objektes ist, dass es Bewusstsein von sich selbst als von dieser Erkenntnis ist.“ (SuN, S. 17) Dieses unreflektierte Selbstbewusstsein, welches Sartre im fol-genden mit „Bewusstsein (von) sich“ bezeichnet und dabei das (von) in Klammern setzt, ist „ die einzige mögliche Daseinsweise für ein Bewusstsein von etwas.“ (SuN, S. 19f.)

Seit einiger Zeit sitze ich an meinem Schreibtisch und schreibe an dieser Arbeit weiter. Objektiv hätte ich jeden Moment die Möglichkeit gehabt, aufzustehen und zu sagen „nein, ich mache jetzt nicht mehr weiter“. Aber diese Möglichkeit ist mir nur manchmal auf re-flexiver Ebene erschienen. Meistens habe ich gar nicht daran gedacht, d.h. meistens habe ich sie nicht wahrgenommen als eine Möglichkeit, mich zu verzeitlichen oder mir ein Wesen zu schaffen. Sie hat also für mich gar nicht existiert; und dennoch entsprang diese Nichtexistenz jener Möglichkeit meiner freien Entscheidung, meiner freien Wahl, und zwar ausgehend vom „präreflexiven cogito“.

Der Mensch wählt sich selbst – in jeder Situation neu, ja er kann nicht anders, er ist – wie Sartre sagt – „zur Freiheit verurteilt“. Damit ist gemeint, dass wir verurteilt sind, wählen zu müssen, uns selbst immer wieder neu schaffen zu müssen bis zu unserem Tod; und wir tra-gen dabei für alles, was wir tun und für jede Möglichkeit, die wir verwirklichen, für alles, was wir aus uns machen, die volle Verantwortung. Ich kann mich nicht darauf hinausreden, jemand anderes oder etwas anderes oder gar so etwas wie ein Sachzwang hat mich dazu zwingen können, dies oder jenes zu tun. Immer bin ich es, der die Situationen, die mir be-gegnen oder in die ich gerate, auf mich hin bezieht und sie als Situationen wahrnimmt, die mir dies oder jenes abverlangen. Insofern trage ich dafür die volle Verantwortung.

Noch einmal zurück zu unserem obigen Scheckkartenbeispiel, um dabei noch kurz die bei Sartre sehr wichtigen Begriffe des „Nichts“ und des „Nichtens“ ins Spiel zu bringen. Habe ich es nun endlich geschafft, das Schloss zu öffnen, und befinde ich mich dann endlich in meiner Wohnung, so hat die Scheckkarte für mich ihr Sein als Werkzeug zum Türschlossöffnen verloren. Ich kann höchstens noch sagen, sie war ein Ding, womit ich meine Wohnungstüre aufbekommen habe. Im Moment jedoch ist sie dieses Werkzeug nicht mehr für mich, schließlich bin ich ja nun in meiner Wohnung und nicht mehr drau-ßen. Die Scheckkarte nimmt erst dann wieder für mich ein bestimmtes Sein an, wenn mir die Idee kommt, sie wieder auf ein bestimmtes Ziel oder eine bestimmte Absicht hin handhaben zu können. Das kann z.B. dann wieder der Fall sein, wenn mein Geldbeutel leer ist und ich demzufolge etwas Geld von meinem Konto abheben möchte. Voraus-setzung dafür ist, dass es mir an etwas ermangelt, eben beispielsweise Geld. Ich gehe zu einem Geldautomaten und dort wird die Scheckkarte dann wieder ein Etwas für mich. Ihre bloße Existenz wird durch meinen Plan, Geld von meinem Konto mit Hilfe des Geldauto-maten abzuheben, zu einer bestimmten Seinsweise für mich. In der Zwischenzeit war diese Scheckkarte jedoch nur eine bloße Existenz, die ich normalerweise nicht einmal zur Kennt-nis genommen habe. D.h. sie ruhte in ihrer Existenz in meinem Geldbeutel und war für mich ein Nichts; und zwar so lange, als ich nicht an sie gedacht habe. Sie wurde erst wieder zu etwas für mich von dem Moment an, als ich aus Mangel den Plan gefasst habe, mir beim Geldautomaten Geld zu holen. In der Zwischenzeit war sie ein Nichts; und dadurch, dass ich diesen Mangel genichtet habe, wurde sie wieder zu etwas. (Immer natürlich auf mich als ein Subjekt hin gerichtet.) Aufgrund eines wahrgenommenen Mangels erhielt die Scheck-karte von mir ein bestimmtes Sein für mich.

Der Mensch schafft sich sein Wesen selbst, ist verurteilt zur Freiheit, gar nicht anders zu können, und trägt somit die gesamte Verantwortung für sein Handeln allein. Das sind die Kerngedanken des Sartreschen Existentialismus. Johann Wolfgang Goethe drückt dies in seinem Faust II folgendermaßen aus (auch, wenn dabei der Begriff „Freiheit“ anders ver-standen wird): „Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muß. Und so verbringt, umrungen von Gefahr, Hier Kind-heit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.“ (Goethe: Faust II, S. 207, Vers 11574 – 11578)

Wie oben schon einmal kurz angedeutet, lautet eine von Sartres Lieblingswendungen fol-gendermaßen: Wir sind nicht, was wir sind, und wir sind, was wir nicht sind. Das bedeutet zweierlei: Das, was wir im Moment sind, sind wir bereits nicht mehr (weil ja der Moment schon vergangen ist), sondern gewesen. Es liegt als schon abgelebte Vergangenheit hinter uns. Und wie vorhin bereits dargelegt, sind wir im gegenwärtigen Augenblick noch nicht, was wir gewählt haben zu werden.

Ich habe weiter oben angedeutet, dass Jean-Paul Sartre in jenem Winterlager in deutscher Kriegsgefangenschaft die Philosophie noch einmal von Grund auf neu begründet hatte. Er war dazu von einem vollkommen neuartigen Ansatzpunkt ausgegangen. Ihm und seinen Konsequenzen werde ich mich im nächsten Abschnitt zuwenden.

2.1. Die Existenz des Anderen: der Blick

Im Gegensatz zum philosophischen System René Descartes, welches auf jener einen Grundgewissheit der Existenz des eigenen Ich (also des cogito) basiert, gründet Sartres Existentialismus noch auf einer zweiten ebenso unbedingten Grundgewissheit. Es handelt sich dabei um die unmittelbar gegebene Gewissheit der Existenz von fremdem Bewusst-sein, also des Anderen.

Wodurch nun ist mir diese Gewissheit gegeben? Ganz einfach darin, dass ich erblickt werde von einem Anderen. Aufgrund jenes Erblickt-Werdens durch den Anderen drängt sich mir unweigerlich und unmittelbar anschaulich die Tatsache auf, dass es da noch ein anderes Subjekt geben muss – ein anderes Bewusstsein außerhalb meines eigenen. Um dies klarzumachen, möchte ich wieder ein Beispiel verwenden. Vorausschickend will ich aber noch einmal betonen, dass wir zu dieser Erkenntnis mit Hilfe der phänomenologischen Methode gelangen, also so tun müssen, als ob sich jenes Geschehen für uns zum aller-ersten Mal ereignet.

Nehmen wir an, ich fahre eines Morgens noch relativ in der Früh an einen bis dahin noch völlig verlassenen See. Dieser See wird mir jedoch weder als ruhiges Plätzchen zum Ausruhen, womöglich nach einer durchzechten Nacht, erscheinen, noch als gemütlicher Ort, um mich zu sonnen oder gar als kühles Nass, in dem ich mich erfrischen möchte, denn aus keinem dieser Gründe bin ich hier. Mir geht es eher darum, mein Halskettchen wiederzufinden, das ich beim nächtlichen Schwimmen irgendwo verloren haben könnte. Ich denke also darüber nach, welchen Weg ich gestern Nacht gegangen bin und ob mein Halskettchen sich vielleicht am Ufer des Sees links von mir, zwischen den Büschen vor mir oder unter dem Baum rechts von mir befinden könnte. Wie oben bereits näher erläutert, ist dieses Gebiet mein momentaner Anschauungsraum, dessen Zentrum ich bin. Plötzlich nun betritt aus dem mir gegenüberliegenden Wald ein eigenartiges Objekt die Wiese. Es ist ein älterer Herr. Noch kann ich nicht sagen, ob es sich dabei um ein Subjekt handelt, denn alles, was ich sehe, ist ein menschlicher Körper, so wie ich ihn aus der Betrachtung meines eigenen her kenne. Ob sich dahinter jedoch ein Bewusstsein verbirgt, kann ich nicht wissen, denn es könnte sich ja auch um einen perfekt gebauten Roboter handeln. Noch hat dieser ältere Herr mich nicht entdeckt. Und nun geschieht etwas Eigenartiges: Dieses Objekt hat die Fähigkeit, die Dinge auf sich hin anzuordnen – und zwar die Dinge meines Anschau-ungsraumes. „Ein ganzer Raum ordnet sich um den Anderen herum an, und dieser Raum wird aus meinem Raum gebildet; er ist eine Neuanordnung aller meinen Mikrokosmos anfül-lenden Dinge, der ich beiwohne und die sich mir entzieht.“ (SuN, S. 341) Es pflückt ein paar Blumen und hält sie in seiner Hand; es nimmt einen Stein und wirft ihn von sich weg übers Wasser; es setzt sich auf einen Baumstumpf, nimmt eine Zeitung heraus und hält sie vor seine Augen. Ganz anders als alle anderen mich umgebenden Objekte verhält sich die-ses besondere Objekt, und ich nehme mit immer größer werdendem Unbehagen wahr, dass sich in meinem Anschauungsraum gleichsam ein zweites Zentrum hineingedrängt hat, welches sich anschickt, mir quasi meine Welt zu entreißen und sie sich zu eigen zu machen. In gebieterischer Manier lehnt es sich zurück und überblickt den See, als ob der ihm gehöre. Augenscheinlich organisiert es die Dinge, um sich herum nach seinen Absichten und Zie-len. Es erscheint mir so, als versuche dieses Objekt, mich als Zentrum meiner Erlebniswelt zu verdrängen. Sartre bezeichnet diesen Vorgang des Auftauchens des Objekt-Anderen in meiner Erlebniswirklichkeit mit höchst dramatischen Worten als ein „Ausbluten“ meiner Welt. (SuN, S. 348) Alles entzieht sich mir, fließt weg von mir und hin auf diesen Objekt-Anderen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 110 Seiten

Details

Titel
Die existentielle Psychoanalyse Jean-Paul Sartres
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
1,3
Autor
Jahr
1989
Seiten
110
Katalognummer
V91663
ISBN (eBook)
9783638055574
ISBN (Buch)
9783638946827
Dateigröße
946 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Psychoanalyse, Jean-Paul, Sartres
Arbeit zitieren
Dipl.-Psych. Uli Buchner (Autor:in), 1989, Die existentielle Psychoanalyse Jean-Paul Sartres, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/91663

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Titel: Die existentielle Psychoanalyse Jean-Paul Sartres



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