Wie wird Improvisation in der Musik gelehrt? Eine theoretische und didaktische Annäherung


Masterarbeit, 2019

91 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Persönliche Vorannahmen und erkenntnisleitendes Interesse

3. Forschungsstand
3.1. Aktuelle musikpädagogische Veröffentlichungen zum Thema Improvisation
3.2. Blick auf die Geschichte der musikalischen Improvisation ab dem 20. Jahrhundert

4. Definitorische Annäherung und didaktische Grundfragen
4.1. Der Begriff der Improvisation in der Allgemeinen Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“
4.2. Aspekte von Improvisation in der Diskussion mehrerer AutorInnen
4.3. Lerntypen nach Terhag
4.4. Methodische Ansätze zur Vermittlung von Improvisation
4.5. Zusammenfassung der definitorischen Annäherung

5. Differenzierung der Forschungsfrage
5.1. Fragen zu Vorgaben und Voraussetzungen von Improvisation
5.2. Fragen zu Gestaltung und Realisation von Improvisation

6. Beschreibung von didaktischer Literatur zum Improvisieren
6.1. Begründung für die Auswahl der didaktischen Veröffentlichungen
6.2. „Trommeln - Tanzen - Tönen“ von Lilli Friedemann
6.2.1. „Ikebana“
6.2.2. „Die regnende Wolke“
6.2.3. Philosophische Implikationen im Ansatz Friedemanns
6.3. „Ensemble & Improvisation“ von Wolfgang Rüdiger
6.3.1. Modell 1: „Klänge“
6.3.2. Modell 8 „Rhythmus-Reisen auf Bass-Gleisen - Divisions on a Ground elementar“
6.3.3. Modell 20: „Die Entfachung des Feuers - Bindfaden / String“
6.3.4. Philosophische Implikationen im Ansatz von Rüdiger
6.4. „Live Arrangement“ von Terhag/Winter

7. Zusammenfassung und Vergleich: wie wird Improvisation gelehrt?
7.1. Stichwort Heterogenität
7.2. Wie werden Aspekte von Improvisation gelehrt?

8. Ergebnisse und weiterführende Forschungsfragen

9. Coda

10. Literaturverzeichnis

11. Anhang
11.1. „Ikebana“
11.2. „Wie geht es dir?“
11.3. Bass-Ostinato des Pachelbel - Kanons
11.4. Tabellarischer Vergleich der Modelle

„Denn als ich mich entschloss, Musiker zu werden, war das ziemlich bitter, weil ich eigentlich immer kreativ war [...]. Wenn ich Musik mache, die ich eben lieber habe als die [bildende] Kunst, kann ich nicht schöpferisch sein. Dann habe ich eben doch zur Musik gegriffen, aber irgendwann ging das nicht mehr. Ich begegnete dann auch einzelnen Musikern, die ähnlich gestimmt waren wie ich, und in einer Tagung kam es sogar zur Sprache. Jemand sagte: Jetzt sitzen wir alle zusammen und können doch nicht zusammen spielen, weil wir keine Noten haben. Das ist doch schlimm!‘“ (Lilli Friedemann 1987, S. 1)

1. Einleitung

In dieser Arbeit möchte ich mich dem Begriff der musikalischen Improvisation auf theoretischer Ebene annähern und Unterrichtsmaterialien zu diesem Thema erkunden. Die übergreifende Forschungsfrage lautet: Wie wird Improvisation gelehrt?

Das Thema Improvisation ist im aktuellen Handbuch Musikpädagogik (Dartsch et al. 2018) zwischen den didaktischen Handlungsfeldern „Musikhören“ und „Komposition“ eingebettet, und tatsächlich gibt es zwischen den dreien Beziehungen bzw. Spannungsfelder, um die es später gehen wird.

Um die Forschungsfrage einzugrenzen, habe ich mich auf die Untersuchung didaktischer Lehrbücher zum Thema Improvisation konzentriert. Andere wichtige Perspektiven wurden ausgeklammert. Beispielsweise wäre es auch möglich gewesen, die Lehrerrolle bei der Vermittlung von musikalischer Improvisation zu untersuchen. Oder es hätte in einer Felduntersuchung die Praxis in verschiedenen improvisationspädagogischen Kontexten beleuchtet werden können. Unterschiedliche institutionelle und außerinstitutionelle Rahmungen und deren Auswirkungen auf den Lernprozess wären ebenfalls spannende Untersuchungsgegenstände gewesen.

Doch auch die Analyse didaktischer Literatur wirkte vielversprechend. Bei der Recherche konnte ich unterschiedliche Veröffentlichungen wie „Live Arrangement“ von Jürgen Terhag/Jörn Kalle Winter und „Ensemble & Improvisation“ von Wolfgang Rüdiger, sowie die fast schon historische Arbeit Lilli Friedemanns, „Trommeln - Tanzen - Tönen“, kennenlernen.

Ein Ziel dieser Masterarbeit ist es, eine Handhabe zur Einordnung und Auswahl improvisationsdidaktischer Literatur bereitzustellen. Sie richtet sich vor allem an Lehrende und Lernende von musikalischer Improvisation.

Aufbau der Arbeit

Nach der Formulierung persönlicher Vorannahmen und dem erkenntnisleitenden Interesse (Kapitel 2) werde ich einige aktuelle theoretische Veröffentlichungen zum Thema Improvisation vorstellen und ein kurzes Schlaglicht auf die musikalische Improvisation im 20. Jahrhundert werfen (Kapitel 3).

Als erster Schritt der eigentlichen Untersuchung wird der Begriff Improvisation theoretisch in seinen verschiedenen Aspekten durchleuchtet (Kapitel 4). Anhand der daraus resultierenden Ergebnisse habe ich die Forschungsfrage in einen Fragenkatalog aufgefächert und auf diese Weise ein Werkzeug zur nachfolgenden Analyse der didaktischen Literatur erhalten (Kapitel 5). Mithilfe dieses Fragenkataloges werden dann die Veröffentlichungen von Friedemann, Rüdiger und Terhag/Winter beschrieben und interpretierend analysiert (Kapitel 6).

Die Interpretation kann dabei nicht frei von subjektiven Einschätzungen und Formulierungen sein, weshalb der Forschungsprozess auch persönlich gefärbt sein wird. Dinge, die mir wichtig erscheinen, könnten für jemand anderes ganz unwichtig sein und umgekehrt. Daher ist die hier vorgestellte Möglichkeit nur eine aus vielen, um zu Ergebnissen zu kommen.

Es geht auch keinesfalls um eine Bewertung der untersuchten Lehrbücher. Die Forschungsergebnisse (Kapitel 7 und 8) sollen vielmehr ein Beitrag zum Diskurs sein und auch zu Widerspruch einladen.

Diese Arbeit bildet den Abschluss meines Studiums „Master of Art Musikpädagogik“, welches ich in den Jahren 2016-2019 an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln absolvieren durfte. Mein Dank gilt Prof. Dr. Heinz Geuen und Prof. Dr. Natalia Ardila- Mantilla, sowie der Studiengangsleiterin Prof. Dr. Anne Niessen.

2. Persönliche Vorannahmen und erkenntnisleitendes

Interesse

Die Untersuchung des Begriffes Improvisation und die kontroverse Debatte darüber, ob diese überhaupt gelehrt werden könnte, und wenn ja, wie, hat mich schon seit langer Zeit interessiert. Einerseits gibt es im institutionellen Rahmen viele praxisorientierte Initiativen, die sich mit dem Phänomen auseinandersetzen. Andererseits sollte die theoretische Reflexion in künstlerisch orientierten Angeboten noch weitergeführt werden.

Aus eigener Erfahrung sowohl als Studierender als auch Lehrender bin ich überzeugt davon, dass Improvisation lehrbar ist. Allerdings kenne ich auch das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Vorgaben, in dem sich sowohl die Lehrenden als auch die Schülerinnen und Schüler befinden. Als Lehrer finde ich es nicht einfach, herauszufinden, wie viel Freiheit für einen Schüler angemessen ist, und ab wann diese eher zu Verunsicherung führt. Das scheint sich dann auch noch von Person zu Person zu unterscheiden. Und auch die Schülerinnen und Schüler selber können sich überlegen, ob sie - beispielsweise in Ensembles - eher auf der sicheren Seite bleiben und vorgegebene Parts übernehmen wollen, oder sich trauen, eine improvisierte Begleitung oder sogar eine exponierte solistische Rolle mit größeren Improvisationsanteilen übernehmen möchten. Wie entwickelt man das Fingerspitzengefühl, um niemandem in seiner künstlerischen Persönlichkeit zu nahe zu treten oder zu einem Musizieren zu drängen, von dem die Person nicht selber überzeugt ist? „Einigen graut es davor, ohne die Hilfe von Noten allein gelassen zu werden, andere improvisieren munter wie ein Fisch im Wasser, haben aber Probleme mit dem Notenlesen“ (Terhag 2004, S. 224). Aber ist es überhaupt sinnvoll, zu versuchen, Schülerinnen und Schüler dazu zu drängen, improvisatorisch tätig zu werden? Gibt es didaktische Ansätze, die dazu eine Hilfestellung bieten?

Einige Male konnte ich Überraschungen erleben: ein Schüler, der im Instrumentalunterricht überhaupt nicht aus sich herauskommt, entpuppt sich als jemand, der zu Hause stundenlang zu Aufnahmen spielt. Er übt vielleicht niemals notierte Musik für den Unterricht, und wird von mir zunächst als eher schwach eingestuft. Wenn dann vielleicht zufällig eine „zweite musikalische Identität“ sichtbar wird, kann es überraschend sein, über welche ungeahnten improvisatorischen Kompetenzen (z. B. das freie Spiel zu eigenen Lieblingsaufnahmen) der Schüler auf seinem Instrument verfügt, wenn nur der äußere Rahmen stimmt. Als Lehrer habe ich mich dann geärgert, nicht schon früher einen anderen Weg gegangen zu sein, und stattdessen wochen- oder monatelang ein eigenes Konzept verfolgt zu haben - das hinsichtlich seiner Erfolgsaussichten fragwürdig geblieben wäre.

Mit Studierenden, Schülerinnen und Schülern konnte ich des Öfteren diskutieren, welchen Stellenwert Improvisation gegenüber Komposition hat, ob letztere nicht ernsthafter wäre und nur das Spielen von komponierten Stücken einen eigentlichen Wert besäße. In solchen Momenten scheint es mir sinnvoll, eine gute Argumentationsgrundlage zu haben, die hilft, von etwas zu überzeugen, das ich zwar unzweifelhaft aus eigener Praxis kenne, aber theoretisch noch nicht ganz durchleuchtet habe.

Soweit zu meinem persönlichen Forschungsinteresse; Gründe genug, Literatur zum Thema Improvisation und entsprechende didaktische Ansätze vergleichend gegenüberzustellen.

3. Forschungsstand

3.1. Aktuelle musikpädagogische Veröffentlichungen zum Thema Improvisation

Eine der aktuellsten theoretischen Veröffentlichungen zum Thema Improvisation im deutschsprachigen Raum findet sich wahrscheinlich im Handbuch Musikpädagogik (Krämer in: Dartsch et al. 2018, S. 319-326). In dem Beitrag werden Bestimmungen des Begriffes zusammengefasst, das musikpädagogische Potenzial von Improvisation erläutert, ein Überblick über den Stellenwert von Improvisation in der Geschichte der Musikpädagogik gegeben, sowie methodische Grundformen und Ansätze zum Thema vorgestellt.

Der Tagungsband „Improvisation erforschen - improvisierend forschen“ (Gagel und Schwabe 2016) vereint Beiträge von insgesamt 14 AutorInnen. Gagel plädiert dafür, Improvisation zu erforschen, um sie „substanziell zu hinterfragen und zu begründen“ (ebd., S. 10). Er verweist auf eine zunehmende Anzahl von Forschungsprojekten, wünscht sich allerdings auch eine wachsende und möglichst interdisziplinäre Forschung. Die Beiträge in dem Band widmen sich u.a.

- den Aspekten von Improvisation,
- einer Forschungsarbeit, die mittels Auswertung videografischer Daten und Interviews im Stil der Grounded Theory Methodology das Lernen von Improvisation erforscht,
- der Untersuchung neurologischer Vorgänge bei für die Improvisation typischen, „schnellen“ Entscheidungsprozessen,
- der Reflektion eigener Spielpraxen,
- der unterschiedlichen Rolle des Körpers bei interpretatorischen und improvisatorischen Spielbewegungen und
- der Performativität als Aspekt von Improvisation

Ein weiteres Buch ist im Anschluss an das Symposion „ImproVIsatION“ erscheinen (Steffen-Wittek und Dartsch 2014). Die Beiträge beschäftigen sich mit Improvisationspraktiken auf der Bühne bzw. im performativen Rahmen und im außerschulischen Musikunterricht, wobei besondere Schwerpunkte auf Verbindungen von Improvisation zur elementaren Musikpädagogik und zur Tanz- und Bewegungspädagogik gelegt werden. Ein Kapitel von Marianne Wittek thematisiert performative Improvisationspraxis seit 1960, zeichnet die künstlerischen Verbindungen zwischen Neuer Musik und Free Jazz nach, und gibt Einblicke in die wichtigsten Szenen auf dem Globus: Free Jazz in New York, Creative Music in Chicago und auch die europäischen Zentren improvisierter Musik. Besondere Erwähnung finden hier der Stadtgarten und das Loft in Köln. (ebd., S. 326-349).

Der Eintrag zum Stichwort Improvisation in „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ (2008, S. 538-610) wird in dieser Arbeit gleich zu Beginn auszugsweise referiert, um eine erste theoretische Grundlage zu schaffen. Der größte Teil des enzyklopädischen Eintrags widmet sich historischen Erscheinungsformen von Improvisation in der europäischen Kunstmusik. Ich werde später vor allem auf den terminologischen Teil eingehen.

Die Dissertation von Corinna Eikmeier (Eikmeier 2016) beschäftigt sich mit der Feldenkrais- Methode und bringt diese in Zusammenhang mit improvisatorisch erworbenen Bewegungsmustern. „Nebenbei“ werden sehr ausführlich Aspekte von Improvisation erläutert.

Gagel (2015) betont in seinem Buch den sozialen Charakter von Improvisation. Er stellt die Interaktionen beim Improvisieren als das „schöpferische Moment, [.] das Art und Qualität des Schaffensprozesses“ bestimmt, in den Mittelpunkt. Musikalische Strukturbildung wird als „Konsequenz von Kommunikationen“ beschrieben. Die musikalische Qualität, die dabei entstehen kann, leitet sich dann aus der Qualität des Interaktionsprozesses, der gleichermaßen von Fühlen und Handeln geleitet ist, ab (ebd., S. 40).

Die vorhandene Forschungsliteratur wurde an dieser Stelle nur ausschnitthaft genannt. Dennoch sollte sie dazu geeignet sein, einen fundierten Hintergrund für die Untersuchung darzustellen, zumal im Verlauf der Arbeit weitere Quellen herangezogen werden.

Eine Besprechung und Gegenüberstellung von Gruppenimprovisationskonzepten wie denjenigen von Friedemann, Rüdiger und Terhag/Winter konnte ich in der Literatur nicht finden. Daher handelt es sich um ein Forschungsdesiderat.

3.2. Blick auf die Geschichte der musikalischen Improvisation ab dem 20. Jahrhundert

Im Vergleich zu historischen Improvisationsformen haben sich die Bedingungen für Improvisation im 20. Jahrhundert unter dem Einfluss von zwei Aspekten geändert. Zum einen führte die Auflösung der Dur-Moll-Tonalität in der Neuen Musik auch zu erweiterten Möglichkeiten für Improvisation. Zweitens änderte sich die Musizierpraxis unter dem Einfluss der technischen Entwicklung und der Entwicklung der Medien (Die Musik in Geschichte und Gegenwart 2008, S. 584-586). Durch die Möglichkeit der technischen Aufzeichnung ergab sich die Schwierigkeit, beim Hören einer Audioaufnahme zwischen Komposition und Improvisation zu unterscheiden. Das nachträgliche Transkribieren von Improvisationen erhöhte auch deren Wirksamkeit (ebd., S. 587). Ein Beispiel dafür sind Stücke Charlie Parkers, die zunächst improvisiert, anschließend transkribiert, und dadurch zu schriftlich fixierten Kompositionen wurden.

In der europäischen Kunstmusik drifteten Komposition und Improvisation im 20. Jahrhundert zunehmend auseinander und die Improvisation wurde in vielen Bereichen hinterfragt (vgl. ebd., S. 588).

Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigten sich daher improvisationspädagogische Ansätze, die „gegen die Herabstufung der Improvisation im Verhältnis zur Komposition opponierten“ (ebd.). Allerdings wurde dabei meist nicht auf frühere Formen der Improvisation rekurriert, sondern die Improvisation unter dem Produktionsbegriff genutzt, um „die musikalischen Grundelemente zu verdeutlichen, [.] und ,zu musizieren, d. h., um selbsttätig in die Formen- und Gefühlswelt der Musik einzudringen‘“ (D. Stoverock in: ebd., S. 589).

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts versuchten Komponisten wie John Cage, den Widerspruch zwischen Komposition, Interpretation und Improvisation zu überwinden. Dazu änderten sie ihre „Kompositionstechniken [.] so, dass sie unbestimmte, [.] nicht im Voraus fixierte klangliche Resultate ergeben konnten“ (ebd., S. 590). Durch neue Formen graphischer und verbaler Notation ergaben sich für die Musiker Freiheiten, die improvisatorisch genutzt werden konnten. Diese musikalischen Entwicklungen begünstigten auch in der Musikpädagogik eine zunehmende Hinwendung zu Konzepten, die das improvisatorische Erfinden von Musik in den Vordergrund stellten (ebd., S. 593). In den 1960er-80er Jahren erschienen musikpädagogische Werke von zeitgenössischen KomponistInnen (z. B. Lilli Friedemann, von der noch die Rede sein wird), die das improvisierende Musizieren stark in den Vordergrund stellten.

Improvisation in verschiedenen Ausprägungen war in der europäischen Kunstmusik über lange Jahrhunderte hinweg ein selbstverständlicher Bestandteil des Musizierens. Es würde den Rahmen dieser Arbeit überschreiten, die musikalischen Entwicklungen in den gesellschaftlich-politischen Kontext des 20. Jahrhunderts zu stellen oder, die Ausbildung des musikpädagogisch-kanonischen Repertoires nachzeichnend, zu fragen, welche Auswirkungen diese Zeitläufte auf den Status der musikalischen Improvisation hatten.

4. Definitorische Annäherung und didaktische Grundfragen

In diesem Kapitel werde ich Definitionen und Beschreibungen des Begriffes Improvisation aus vorhandener Literatur referieren und gegenüberstellen, um herauszufinden, auf welche Art und Weise sich über didaktische Ansätze Zugang zur Improvisation verschafft werden kann. Der Eintrag „Improvisation“ in „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ wird in Abschnitt 4.1. ausschnittweise wiedergegeben und versucht, daraus Schlussfolgerungen für die spätere Untersuchung der didaktischen Literatur zu ziehen. In 4.2. werde ich Aspekte der musikalischen Improvisation aus der Perspektive unterschiedlicher AutorInnen diskutieren.

4.1. Der Begriff der Improvisation in der Allgemeinen Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“

Der Eintrag zum Stichwort Improvisation in „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ ist in Abschnitte zur Terminologie und zur Historie der Improvisation unterteilt. Es wird von den Autoren darauf hingewiesen, dass es hier insbesondere um Improvisation in der europäischen Kunstmusik geht.

Improvisation ist „unvermutetes, unvorbereitetes [.], unvorhergesehenes Handeln“ (ebd., S. 538). Die Ergebnisse dieses Handelns erscheinen sowohl für die Handelnden als auch die von der Handlung betroffenen Personen unvorhergesehen. Bezogen auf Musik ist damit üblicherweise das Fehlen einer schriftlichen Vorlage gemeint. Daher ist der Begriff „im engeren Sinne“ nicht auf außereuropäische Musik wie z. B. Jazz, Neue Musik, Elektroakustische Musik und Popularmusik zu beziehen. Diese Aussage ist m. E. verwirrend, aber doch schlüssig, da es in den genannten Genres meistens schriftliche Vorlagen gibt. Allerdings wirkt es etwas fragwürdig, hier pauschal von „außereuropäischer“ Musik zu sprechen.

Improvisation wird von Komposition weiterhin dadurch unterschieden, dass in schriftlichen Aufzeichnungen mindestens ein „primärer Parameter“ (ebd., S. 539), also entweder Tonhöhe oder -dauer nicht festgelegt ist. Sekundäre Parameter wie Dynamikangaben etc. gehören zur Interpretation. Schriftlich fixierter Notentext und Improvisation schließen sich allerdings nicht aus: Es kann sich bei dem Notentext auch um ein Hörprotokoll einer Improvisation handeln. Demnach kann nicht immer eindeutig festgestellt werden, ob es sich bei einer schriftlichen Aufzeichnung um eine Komposition oder eine Improvisation handelt. Darüber hinaus ist es auch möglich, innerhalb fixierter Notation durch schriftliche Anweisungen zur Improvisation aufzufordern.

Eine weitere Form von Improvisation liegt vor, wenn es zu unerwarteten oder unerwartbaren Ereignissen kommt, obwohl ein Notentext vorhanden ist. Dieser kann mangelhaft oder uneindeutig sein, wodurch es zu Verschiebungen in der Abgrenzung zwischen Interpretation und Improvisation kommen kann.

Voraussetzung von Improvisation ist die Gleichzeitigkeit der „Vorgänge der Erfindung und Ausführung“ (ebd., S. 540). In jeder musikalischen Live-Performance kann es zu unerwarteten und unerwartbaren Ereignissen kommen. Diese sind ebenfalls Improvisationen, wenn sie trotz vorliegender schriftlicher Komposition nicht voraussehbar sind. Auch das erste Erklingen einer Komposition ist eine Improvisation. Dieses ändert sich allerdings schon dann, wenn eine technische Aufzeichnung mehrfach gehört werden kann. Dann sind Improvisation und Komposition nicht immer unterscheidbar. Das Analysieren von aufgezeichneter improvisierter Musik ist fragwürdig, da die Live-Kommunikation nicht rekonstruiert werden kann. Es ist auch anhand einer Audioaufnahme nicht analysierbar, in welchem Umfang improvisiert oder interpretiert wurde.

Vorhersehbarkeit und Unvorhersehbarkeit können sich während der Improvisation verbinden. Dazu gibt es zwei Möglichkeiten: Improvisation ist vorhersehbar, wenn sie sich aus dem vorher Gehörten und vorhandenen Hörgewohnheiten (des Hörers oder Ausführenden) erschließen lässt. Aber auch die Kenntnis von Improvisationsvorgaben kann das Ergebnis vorhersehbar(er) machen.

In der Definition von Improvisation in „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ werden drei Spannungsverhältnisse sichtbar:

- Improvisation scheint einerseits unvorhersehbar, unvorhergesehen und unplanbar und damit vielleicht einer vorausplanenden Lehre schwer zugänglich zu sein. Andererseits kann es eben doch schriftliche Vorgaben geben, die beispielsweise nur einen musikalischen Parameter oder Anweisungen in Textform vorgeben. Wie könnten diese Vorgaben ausgestaltet sein, wie können sie „geübt“ und die Improvisation somit in einen didaktischen Kontext eingebunden werden?
- Durch bei Spielern oder Hörern existierende Hörerfahrungen kann die Improvisation durch das vorher Gespielte bzw. Gehörte vorbestimmt oder vorhersehbar werden. Hier lohnt es sich m. E. zu untersuchen, welche Hörerfahrungen das sein können und wie die Beteiligten damit umgehen. Beispielsweise können prädeterminierte solistische Fortsetzungen gespielt oder auch den Hörerwartungen widersprechende Wendungen gewählt werden. Wie kann die Didaktik mit dem Phänomen des Hörens und der Interaktion mit dem Gehörten umgehen?
- Ein weiteres Spannungsverhältnis ergibt sich bei Betrachtung der angeblichen Gleichzeitigkeit von Erfindung und Ausführung in der Improvisation. Bei einer tatsächlichen „Null-Latenz“ hat das Bewusstsein bzw. die Ratio auf den ersten Blick keinerlei Möglichkeiten, in den Improvisationsvorgang zu intervenieren. Die Improvisation ist damit vollständig motorischen Reflexen und Emotionen ausgeliefert. Es kann jedoch auch sein, dass der Improvisierende hier einen Steuerungsspielraum hat, und reflektieren kann, in welchem Maße er sich emotional gesteuerten Impulsen hingibt oder doch bewusste Improvisationsentscheidungen trifft. Wie kann dieses bewusste Steuern trainiert und sogar so weit getrieben werden, dass emotionale und rationale Entscheidungen für den Außenstehenden nicht mehr auseinanderzuhalten sind und sogar für die Spielenden zu einer Einheit werden?

Der Prozess des Improvisierens wird auch anhand eines handlungstheoretischen Modells beschrieben:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Handlungsplanung

Laut diesem Modell kann eine „zentrale kognitive Koordinationseinheit des Gehirns“ (ebd.) Informationen aus vorhandenem Wissen, der Orientierung in der Performance-Situation, überdauernden Haltungen und situativen Emotionen flüssig verarbeiten, da sie „austauschbar kodiert“ (ebd.) sind. Zusätzlich begünstigend wirkt die subjektive und selektive Ausrichtung der Aufmerksamkeit des Spielenden.

Für die Fragestellung nach der Lehrbarkeit von Improvisation scheint der Zugriff auf die „Wissensbasis“ (siehe obiges Modell) entscheidend. Auch die „Orientierung“, also der Umgang mit dem Kontext, Publikum, Musikern, dem Instrument und eigenen Spiel kann ein für musikpädagogische Bemühungen fruchtbares Feld darstellen.

4.2. Aspekte von Improvisation in der Diskussion mehrerer AutorInnen

In der deutschsprachigen Literatur existieren divergierende Definitionen von Improvisation und keine allgemein anerkannte „Theorie der Improvisation“: „Eine Krise der improvisierten Musik, wie ich sie sehe, ist, dass wir im Prinzip einen Nachholbedarf haben in der Theorie. Wir haben eigentlich kein theoretisches Feld oder nur ein sehr mangelhaftes“ (Gagel und Schwabe 2016, S. 14).

Zur weiteren Annäherung an den Begriff sollen daher (zusätzlich zur Zusammenfassung des enzyklopädischen Artikels im vorigen Kapitel) Aspekte von Improvisation aus der Sicht mehrerer AutorInnen beschrieben werden, um den Begriff in seinen unterschiedlichen Dimensionen zu erfassen.

Das Unvorhergesehene und Unerwartete

Improvisation bezieht sich als allgemeiner Begriff zunächst auf alle Lebensbereiche. Beispielsweise kann man ohne Rezept aus vorhandenen Zutaten eine Speise für einen unerwarteten Gast „improvisieren“. Auch „alltägliche Situationen, wie das Warten im Supermarkt an der Kasse oder ein Gespräch am Küchentisch“ (Eikmeier 2016, S. 72) finden zu großen Anteilen improvisatorisch statt. Unvorhergesehen und unerwartet können improvisatorische Handlungen allerdings nur dann sein, wenn es einen Rahmen gibt, in dem andere Handlungen erwartet worden wären. Dieser Rahmen kann aus Erfahrungen und Wissen des Spielers bestehen und durch kulturelle Hintergründe geprägt werden (ebd., S. 73).

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Vorgaben sollen die Spieler dazu bringen, ausgetretene Pfade zu verlassen und festgefahrene Spielgewohnheiten zu durchbrechen. Die Herausforderung bei der Gestaltung von Vorgaben ist es, dem „Spieler die Zuflucht zu seinen persönlichen Klischees“ zu versperren, „ohne ihn andererseits durch einen genauen Notentext kreativ zu entlasten“ (Wilson und Polaschegg 2014, S. 35).

Ein Beispiel für eine Improvisationsvorgabe ist die Einschränkung. Dabei kann das verwendbare Tonmaterial reduziert werden. In diesem Fall kann der Spieler die Artikulierung, Dynamik, Phrasierung, Rhythmisierung etc. in den Vordergrund stellen (Eikmeier 2016, S. 87).

Eine ganz andere Vorgabe ist eine verbale Spielanweisung, z. B. „play like Coltrane!“, die den Spieler vor eine Herausforderung, bzw. ein (hoffentlich) zu lösendes „Problem“ stellt (vgl. ebd., S. 88).

Auch außermusikalische Inspirationen können eine Form von Vorgaben sein. Beispielsweise können visuelle Reize in einer „musikalischen Adaption neuen Sehens“ (Wilson und Polaschegg 2014, S. 31) den Improvisierenden auf ungewöhnliche musikalische Ideen bringen. Das Vertonen von Bildern oder auch die musikalische Live- Begleitung eines Fußballspiels - das im Gegensatz zu einem Spielfilm auch improvisiert wird - sind nur zwei Beispiele einer beliebig erweiterbaren Zahl von Möglichkeiten.

Lilli Friedemann bezeichnet Vorgaben als einen gleichbleibenden „Untergrund“, über dem man phantasieren kann. Beispielsweise kann man darüber abwechslungsreiche Melodien spielen oder mit einem Mitspieler in einen musikalischen Dialog treten: „Aus diesen Möglichkeiten kann man sehr sehr viele Spiele entwickeln“ (Friedemann 1987, S. 2). Vorgaben oder Improvisationsspiele können auch festgelegte Rollen aufbrechen. Beispielsweise können eher begleitende Musiker dazu gebracht werden, die Führung zu übernehmen und umgekehrt. Es kann auch zum Nachahmen oder zum bewussten Gegenspielen aufgefordert werden. Dann sind die Musiker nicht ganz frei, sondern orientieren sich an dem vorher Gespielten (vgl. ebd.).

Freie Improvisation ohne Vorgaben ist ein Extrempol, der kaum zu erreichen ist, da schon das Instrument an sich, der kulturelle Hintergrund des Musizierenden und seine persönliche Verfasstheit, sowie der äußere Rahmen Vorgaben darstellen. Eikmeier spricht zusätzlich von einem „Spannungsfeld zwischen der künstlerischen Freiheit des Improvisators und den musikalischen Gesetzmäßigkeiten“ (Eikmeier 2016, S. 113). Schon eine einzige gespielte Note erzeugt eine energetische Spannung, die den Improvisierenden vor eine Herausforderung bezüglich seiner zukünftigen musikalischen Entscheidungen stellt (ebd., S. 119).

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Zeitnähe von Einfall und Ausführung

Eikmeier beschreibt zwei Improvisationshaltungen, die darauf hinweisen, dass Erfindung und Umsetzung in unterschiedlicher zeitlicher Distanz stattfinden können: Der Improvisierende kann mit dem Klang verschmelzen und durch die Entwicklung der „Spieltechnik aus einer Spielfreude heraus“ (ebd., S. S. 83) diese Spielfreude zum prägenden Faktor vor eine kompositorische Haltung stellen. Dann wird Spieltechnik häufig zum integralen Bestandteil der Improvisation, wie es bei unorthodox bedienten Instrumenten der Fall sein kann. Ähnlich äußert sich Friedemann: „Also für mich ist der Bewegungsimpuls das eigentliche, schöpferische Element gewesen. Also: was will meine Hand?“ (Friedemann 1987).

Eine andere Improvisationshaltung ist etwas distanzierter und versucht, einen kompositorischen Überblick über das Stück zu behalten - auch wenn der Spieler selber gerade nicht spielt. „Er sieht sich als Erstes in der Rolle des Komponisten und erst als Zweites in der Rolle des Spielers“ (Eikmeier 2016, S. 83).

Während auf der einen Seite der mit dem Klang verschmelzende Improvisator in Echtzeit erfindet und ausführt, kann andererseits der „komponierende Improvisator“ bewusst auf Distanz gehen, Spielpausen einlegen und Zeitfenster zwischen Einfall und Ausführung entstehen lassen.

Die weiter unten ausführlich beschriebene Interaktion zwischen den Musikern führt zu einer Verschmelzung von Vergangenheit und Zukunft in Prozessen des „Aufeinander­Eingehens“. Friedemann beschreibt dies als „Leben im Augenblick“ (Lillie Friedemann in: Thomforde 2005, S. 62).

Durch ihre Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit ist Improvisation „die Feier des Jetzt“ (Wilson und Polaschegg 2014, S. 34) und durch die „Gewissheit des Unwiederbringlichen“ verschmelzen Musizierende und Publikum zu einer „Gemeinde, die das Ritual Improvisation zelebriert“ (ebd.). Hier ist von einer besonderen Verbindung die Rede, die erst durch die Einmaligkeit des gemeinsamen Erlebnisses erzeugt wird und eng mit der Einheit von kreativem Moment und Spiel zusammenhängt. Denn durch diese Einheit ist es schlechterdings nicht möglich, die kreative Aufmerksamkeit in die Vergangenheit oder Zukunft zu richten - es kommt zu einer intensivierten Wahrnehmung der Gegenwart.

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Lernen von Spieltechnik durch Improvisation

Biesenbender (2005) fügt einen instrumentalpädagogischen Aspekt hinzu: „Befreit spielende, d. h. improvisatorisch bewegliche, fließende Bewegungen, die immer neue und spontane Antworten auf immer neue innere und äußere Bedingungen finden“ (ebd., S. 14). Er berichtet von seinen musikalischen Kontakten mit improvisierenden Musikern im Anschluss an sein klassisches Studium und die Entdeckung, dass seine „ordentlich“ eingeübten Bewegungsabläufe „die ungehinderte Umsetzung [seiner] Empfindungen“ (ebd., S. 16) einschränkten. Je mehr Bewegungen er ohne die Kontrolle durch einstudierte Muster zulassen konnte, desto mehr konnte er sich in seinem Spiel durch die Musik leiten lassen. Daraus lässt sich folgern, dass das Erlernen von Spieltechnik „improvisierend“, das heißt, im Zusammenspiel mit der Klangvorstellung und einer dadurch geleiteten Spielbewegung möglich ist. Diese These steht im Widerspruch zu einem von der Musik isolierten Einüben vorgeschriebener Bewegungsabläufe (vgl. ebd.).

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Intuitives oder kontrolliertes Musizieren

Beim Improvisieren, insbesondere im Ensemble, kann man - abgesehen von den Improvisationsvorgaben - nur zu einem gewissen Anteil Kontrolle über den Verlauf behalten. Improvisierende „brauchen Neugier und Offenheit“ (Eikmeier 2016, S. 84), um sich freiwillig der Situation auszusetzen. Hinderlich für die kreative Entfaltung sind „Sicherheitsbedürfnis oder festgefahrene Erwartungshaltungen, [die] unmittelbare Entscheidungen“ (ebd.) verhindern.

Wenn der Spieler zu genau weiß, was er macht, kann die Kreativität darunter leiden. Das Improvisieren kann mit dem Tanz auf einem Seil verglichen werden, der spannend ist, weil er mit einem Risiko verbunden ist (vgl. Friedemann 1987, S. 7). Eine Möglichkeit, Kontrolle abzugeben, ist es, der Intuition mehr Raum zu geben. Laut Eikmeier werden Improvisationsentscheidungen „aus dem Bauch getroffen“, wenn die „Komplexität zu hoch ist“ (Eikmeier 2016, S. 107). Intuitive Handlungen können zu „enormer Klarheit“ (ebd., S. 110) führen.

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Emotionen

Der „Ausdruck frei improvisierter Musik wird regelmäßig als Protokoll momentaner emotionaler Befindlichkeit interpretiert, als akustisch artikulierter Affekt“ (Wilson und Polaschegg 2014, S. 25). Es handelt sich dabei in Wirklichkeit jedoch nicht um eine „emotionale Tagesform“, sondern eher um eine „Jahrzehnte gewachsene Haltung zum Klang“ (ebd.).

Hier kann man einwenden, dass beispielsweise Kinder noch auf der Suche nach ihrer eigenen Klangvorstellung sind, und die aktuelle emotionale Situation doch unreflektierter in das Spiel einfließt, als es bei gereiften Musizierenden der Fall ist. Und selbst erfahrende Improvisierende können sicher nicht ganz ihre persönliche Lebenssituation von der Musiziertätigkeit trennen. Vielleicht ist es sogar wünschenswert, wenn das Spiel durch aktuelle Emotionen mitgeformt wird, und kann dadurch eine größere Tiefe bekommen.

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Interaktion mit den Musikern; Hörerwartungen und Anschlusshandlungen

Statt im Ensemble zu spielen, ist es auch möglich, solistisch zu improvisieren und es gibt Beispiele von KünstlerInnen, die einen Teil ihrer Karriere darauf aufgebaut haben (Evelyn Glennie, Albert Mangelsdorff, Keith Jarrett etc.).

Andere MusikerInnen wie Derek Bailey bevorzugen das Spiel im Ensemble:

„Das Solospiel ist eine Art Improvisation zweiter Klasse. Das wirklich Magische an Improvisation passiert zwischen den Spielern. [...] Es ist wie ein Gespräch, aber man kann auch gleichzeitig sprechen und so eine Aussage machen, von der man als einzelner nicht wusste, dass man sie machen kann.“ (ebd., S. 108)

Die improvisatorische Interaktion der Musizierenden beim Zusammenspiel im Ensemble kann als ein permanentes „Wechselspiel zwischen Ausgangs- und Anschlussaktionen“ beschrieben werden, für das es „verschiedene Strategien und Fragestellungen“ (Eikmeier 2016, S. 110) gibt:

- „Möchte ich verändern, was ich gerade spiele?
- Soll ich das Gleiche weiterspielen?
- Soll ich etwas Neues spielen?
- Soll ich aufhören, zu spielen?
- Soll ich einsteigen?
- Soll ich mich einfügen?
- Soll ich die Führung übernehmen?
- Soll ich einen neuen Impuls geben?“ (ebd., S. 91).

Jack deJohnette und Charlie Perry beschreiben vier Möglichkeiten der Interaktion mit anderen MusikerInnen:

- Das gleichzeitige Spiel: von diesem kann man sprechen, wenn ein Solist eine Phrase und ein Begleitmusiker diese Phrase zum gleichen Zeitpunkt spielen.
- Das Echo: in diesem Fall spielt der Solist eine Phrase und der Begleitmusiker wiederholt diese Phrase zu einem anderen Zeitpunkt.
- Die Antwort: wenn der Solist eine bestimmte Phrase und der Begleitmusiker zu einem anderen Zeitpunkt eine Variation dieser Phrase spielt, spricht man von einer Antwort.
- Das vom Mitspieler unabhängige Spiel: auch in diesem Fall spielt der Solist eine Phrase. Der Begleitmusiker spielt nun allerdings scheinbar unabhängig von dieser Phrase seine eigene Melodie, Rhythmik und Harmonisation. (Johnette und Perry 1989, S. 10-11).

Etwas losgelöster von konkreten musikalischen Begriffen stellt Wilson unter der Überschrift „Selbstverwirklichung - oder Selbstaufgabe im Kollektiv“ verschiedene Pole gegenüber:

- „Streben nach stilistischer Geschlossenheit, nach unverwechselbarem Gruppenklang [...] - oder Suche nach Brüchen, Absurditäten, [...] Polystilistik.
- Weben an einem gemeinsamen Klangteppich [...] - oder Streben nach Prägnanz der individuellen Gestalten [.].
- Der Klang als Kontinuum, als ständig neu gefärbtes [.] Band - oder als Universum scharf abgegrenzter Mikrogestalten: Klangverbund oder Pointillismus.
- Suche nach dem Organischen, dem Fluss - oder Inszenieren von Brüchen, harten Schnitten [.]“ (Wilson und Polaschegg 2014, S. 28).

Friedemann betont das bewusste Üben des Zusammenspiels mit anderen Musikern: „Wir aber arbeiten schwer daran, dass durch die Übung im Aufeinander-Hören und Gestalten nachher etwas herauskommt, das interessieren kann“ (Friedemann 1987, S. 8). Es geht darum, mit Sensibilität aufeinander zu reagieren, und versuchen, „zu spüren, was sich da entwickelt und dem dann nachzugehen“ (ebd.).

Aufgrund der Vielfalt an Interaktionsmöglichkeiten ist es hier nicht möglich, von einem Kontinuum mit zwei Polen, wie bei anderen Aspekten von Improvisation, zu sprechen.

Später soll untersucht werden, welche Rolle das Thema Interaktion in der didaktischen Literatur spielt.

Ethik in der Improvisationsszene

Wenn das Spiel der Improvisatoren so verschränkt ist, wie soeben beschrieben, betrifft das auch den persönlichen Umgang und die moralische Integrität der Beteiligten. Gerade aufgrund der Freiheiten, die das improvisatorische Musizieren ermöglicht, sind Disziplin, Verantwortung und eine gemeinsame Vertrauensbasis sowohl für das Spiel als auch für die Mitmusizierenden von Bedeutung. „Einfachheit, Integrität, Selbstlosigkeit, Toleranz, Bereit­Sein, Identifikation mit der Natur, Akzeptieren des Todes“ zitiert Wilson Cornelius Cardew (Wilson und Polaschegg 2014, S. 28).

Es gibt Auffassungen von improvisierter Musik, ein „publikes und publizistisches Zerrbild“ (ebd., S. 29), die den ethischen und moralischen, impliziten wie expliziten Regeln der Szene widersprechen. Das sensible Geflecht improvisierter Musik verlangt jedoch nach einem vertrauensvollen und integren zwischenmenschlichen Umgang. „Freiheit, die jeder hat, ist nicht eingeschränkt durch ein Verbot von vornherein, sondern nur eingeschränkt durch ein wachsendes Feingefühl für die Partner“ (Friedemann 1987, S. 5).

In Bezug auf die pädagogische Arbeit mit Kindern betont Gagel (2013) die Entscheidungsfreiheit über das eigene Spiel. Diese wird nur durch die anderen Gruppenmitglieder eingeschränkt, die eine Idee annehmen oder ablehnen können. Gagel sieht hier ein Modell für soziale Gruppenprozesse, das utopischen Charakter haben kann, jedoch auch dem Risiko des Scheiterns unterliegt, wenn sich beispielsweise „jemand in den Vordergrund spielt [oder] alle nur für sich oder sogar gegeneinander“ (ebd., S. 156) spielen. Die Kenntnis dieses Risikos kann Lehrende davon abhalten, das Mittel der Gruppenimprovisation im Unterricht zu nutzen. Voraussetzungen für die Gruppenimprovisation sind „Präsenz, Konzentration und Aufmerksamkeit für sinnliche Ereignisse“, die ein Lehrender erst einmal in einer Schülergruppe erreichen muss (ebd., S. 157). Im Erfolgsfall kann bei den Schülerinnen und Schülern eine reflektiertere Selbstwahrnehmung, ein intensiveres „Selbst-Bewusstsein“ über die eigene Rolle in der Gruppe erreicht werden (ebd., S. 160).

Interaktion mit den äußeren Rahmenbedingungen der Performance

Das improvisatorische Musizieren findet in einem Umfeld statt, das einen Einfluss auf die Spieler hat. Dies können der Ort und Zeitpunkt, die Art der Situation (Konzert, Probe, Unterricht), die An- oder Abwesenheit eines Publikums und externe Geräuschquellen (Eikmeier 2016, S. 80) sein.

Wilson hebt hervor, dass improvisierte Musik sich den Raum aneignen und zunutze machen kann, wie es komponierter Musik nur in „Nuancen der Interpretation“ möglich ist. Aus diesem Grund erschließen Improvisierende sich auch immer wieder neue Räume: „Tiefgaragen, das Innere von Staumauern, leergepumpte Wasserspeicher, Treppenhäuser, Gasometer, das Völkerschlachtdenkmal von Leipzig“ (Wilson und Polaschegg 2014, S. 36) sind Beispiele für entdeckte und erspielte Klang-Räume.

Stilistik und kulturelle Rahmenbedingungen

Improvisation findet sich in verschiedenen musikalischen Stilistiken in jeweils unterschiedlicher Ausprägung.

Eckhardt (1995, S. 211-213) benennt vier Hauptströmungen: Improvisation in

- historischer Musik bzw. europäischer Kunstmusik
- Volksmusik
- Jazz und jazzverwandter Musik
- Neuer Musik

Zusätzlich lassen sich als Beispiele für Musik mit expliziten Improvisationsanteilen die klassische indische Musik und auch die brasilianische Musik anführen. Diese Liste ließe sich fortführen.

Es spielt eine wichtige Rolle, ob Improvisation in der Performance stattfindet oder ein Mittel ist, um Kompositionen und Orchesterpartituren zu er-improvisieren.

Im zweiten Teil dieser Arbeit wird untersucht, welche stilistisch-ästhetischen Ergebnisse bei bestimmten Improvisationsweisen zu erwarten sind.

Komposition und Improvisation

Die gängige Gegenüberstellung von Komposition und Improvisation könnte zumindest teilweise daher rühren, dass die beiden Konzepte in verschiedenen Genres eine jeweils unterschiedliche Gewichtung haben.

Der Begriff „Instant Composition“ als Synonym für Improvisation verrät die Nähe der beiden Handlungsformen. Dennoch fragt sich, wo denn genau die Unterschiede der Verfahren liegen. Laut Wilson ist die Bezeichnung „Instant Composing“ ein Hinweis auf den Wunsch der Improvisierenden, mit den KomponistInnen auf eine Stufe gestellt und nicht mehr als zweitklassig angesehen zu werden. Aufgrund der Möglichkeiten von Improvisation ist dies jedoch nicht notwendig: „Momente des Unkomponierbaren, wie sie sich zumal in kollektiver Improvisation ereignen, Momente, in denen Improvisation alle Möglichkeiten des notatorisch Konstruierbaren transzendiert, sind aber nicht „instant composition“, sondern instantane Magie“ (Wilson und Polaschegg 2014, S. 26).

Die Unterscheidung von Komposition und Improvisation über das Vorliegen oder Nicht­Vorliegen einer schriftlichen Vorlage greift laut Wilson zu kurz. Vielmehr ist es das Zustandekommen eines Werkes durch kollektive Gestaltungsprozesse, welches die Improvisation von der Komposition signifikant unterscheidet (ebd.).

Das Handbuch Musikpsychologie (Lehmann 2018) bezeichnet Komponieren und Improvisieren als Teil der „kreativen Tätigkeiten“ in der Musik. Diese Tätigkeiten werden in „Prozessabläufen“ beschrieben, die die entscheidenden Schritte der jeweiligen Verfahren offenlegen. Es handelt sich dabei um das von Musik. Auf der Ebene des Ausführens entscheidet sich dabei, welcher Weg eingeschlagen wird: der des „Spielens“ (Improvisation) oder der des „Schreibens“ (Komposition). (ebd., S. 353). Ähnlich wie bei Wilson wird für die Improvisation die Interaktion zwischen den Musikern als entscheidend identifiziert. Kompositionen zeichnen sich demgegenüber durch eher individuelle und „oft verschlungene Problemlösungsprozesse“ (ebd., S. 341) aus.

- Imaginieren
- Generieren
- Ausführen und
- Bewerten

Improvisation und Komposition müssen kein Widerspruch sein. Komponisten der europäischen Kunstmusik wie Ludwig van Beethoven, Franz Liszt, Joseph Haydn etc. schätzten die „Vorzüge des freien Spielens als Inspirationsquelle für die Komposition“ (ebd., S. 343). Und Lilli Friedemann berichtet:

„Also bei Hindemith, da gab es eine Spielart, die nannte sich „Räuberorchester“: das bestand zum Teil daraus, dass wir das spielten und ausprobierten, was wir komponiert hatten, und andererseits haben wir da tatsächlich versucht, ein bisschen zu improvisieren“ (Lilli Friedemann 1987, S. 2).

Eine anthropologische Sicht auf die beiden Phänomene hat Wolfgang Suppan (Krieger 2007, S. 203-212) dargestellt. Zum einen betont er die Unterschiede in den Sinneswahrnehmungen: Das Komponieren und Interpretieren verlangt nach visueller Wahrnehmung beim Schreiben oder Blattspielen. Diese Betonung des Sehens hat einen Einfluss auf das Hören und verstärkt eine intellektuellere Wahrnehmung, beispielsweise beim Mitlesen einer Partitur. Beim Improvisieren tritt das Hören in den Vordergrund, die Wahrnehmung kann sich Klängen, die über das Notierbare hinausgehen, widmen, und Emotionen mehr Raum geben (vgl. ebd., S. 204).

Die anthropologische Frage nach dem, was der Mensch ist und was er kann, beantwortet Suppan in Bezug auf Musik mit dem musikalischen „Sich-Ausdrücken und Sich-Mitteilen“, das über die Sinne „Hören, Sehen, Schmecken, Riechen, dem taktilen Verhalten“ (ebd., S. 206) geschieht. Sowohl bei Komposition als auch bei Improvisation geht es dann um die künstlerische Fähigkeit, ästhetische Wahrnehmung in den „Dienst der Kommunikation [...] und Nachrichtenübermittlung“ (ebd., S. 211) zu stellen. Beide Möglichkeiten sind im Menschen durch „angeborene Verhaltensprogramme und Auslösemechanismen“ angelegt, die im „vererbten genetischen Code“ (ebd.) weitergegeben werden.

Wie nahe die beiden Pole Interpretation und Improvisation sich kommen können, lässt sich auch an folgendem Zitat ablesen:

„So we would just try to play what was written down there, and then we would add onto that according to where our ears would take us because we didn't know anything about any kind of harmony. All I knew was to read the notes that were written there. Then, if you wanted to play something else, you just played whatever sounded good.

(Art Farmer in: Krieger 2007, S. 90)

Allerdings kann es aus instrumentalpädagogischer Sicht sinnvoll sein, das Interpretieren und Improvisieren voneinander abzugrenzen und die jeweiligen Herausforderungen zu benennen. Busch fordert, im Instrumentalunterricht „kontinuierlich Improvisationsanlässe zu schaffen“, um einen „spontanen, unbefangenen Umgang mit dem Instrument“ (Busch et al. 2016, S. 235) zu ermöglichen. Bei weniger improvisationserfahrenen Lernenden ist es sinnvoll, gezielt zum Spiel mit zunächst eher engen Improvisationsvorgaben aufzufordern (ebd.).

Das Interpretieren fordert Schülerinnen und Schülern dagegen ab, über eine Komposition zu reflektieren und diese mit höchster künstlerischer Sensibilität wiederzugeben. Für den Instrumentalunterricht bedeutet dies, dass „bereits kleinste musikalische Einheiten bedeutungstragend sind“ (ebd., S. 236) und entsprechende Aufmerksamkeit auf eine angemessene Umsetzung am Instrument gerichtet werden muss.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

4.3. Lerntypen nach Terhag

In diesem und dem folgenden Abschnitt nehme ich auch methodische/didaktische Aspekte von Improvisation in den Blick, um die improvisationspädagogischen Lehrbücher später daraufhin untersuchen zu können.

Terhag (2004) unterscheidet zwischen vier verschiedenen Lerntypen, die beim Improvisieren besonders deutlich sichtbar werden. Er legt nahe, auf deren individuelle Bedürfnisse einzugehen:

- Die Gehemmten sind oft diejenigen mit einer abendländischen Musikausbildung. Sie verfügen über gute Blattlesekenntnisse, können sich aber schwer zum Spiel ohne Noten überwinden und haben Bedenken, falsche Töne zu spielen.
- Die Ungeübten sind diejenigen mit musikalischer Vorerfahrung weder im Blattspiel noch im Spiel ohne Noten.
- Die Unbedarften sind beispielsweise Autodidakten, die z. B. über eine „Probenkeller-Sozialisation“ verfügen und in bestimmten Kontexten, z. B. in der Bluesform oder mit Pentatonik umstandslos improvisieren können. Allerdings fehlt ihnen oft die Flexibilität, in unterschiedlichen musikalischen Kontexten zu bestehen.
- Zu den Souveränen zählen diejenigen, die sowohl abendländisch-schriftlich als auch ohne Noten versiert musizieren können, und somit einerseits Zugang zur Erweiterung der musikalischen Kenntnisse und ihres Vokabulars über das Notenlesen haben, andererseits keine Schwierigkeiten haben, die Noten beiseitezulegen und „einfach zu spielen“ (ebd., S. 228).

Nach meiner Erfahrung kann es aber auch sein, auf Schülerinnen und Schüler zu treffen, die nicht diesen Lerntypen entsprechen. Beispielsweise gibt es abendländisch-schriftlich sozialisierte Schüler, die Improvisation als Ausbruch und Befreiung nutzen, um der Routine zu entkommen. Oder „Probenkeller-Sozialisierte“, die sich wünschen, endlich mal „ordentlich“ Technik und Blattspiel zu lernen, um ihre Ausdrucksmöglichkeiten systematisch zu erweitern.

Darüber hinaus ist es zweifelhaft, ob bei Kindern und Jugendlichen tatsächlich schon eine solche Festlegung Sinn macht, da diese sich schnell wieder ändern kann bzw. die Gefahr besteht, Lernende durch Zuschreibung in konstruierte Schubladen zu stecken.

[...]

Ende der Leseprobe aus 91 Seiten

Details

Titel
Wie wird Improvisation in der Musik gelehrt? Eine theoretische und didaktische Annäherung
Hochschule
Hochschule für Musik Köln  (Fachbereich 5)
Note
1,5
Autor
Jahr
2019
Seiten
91
Katalognummer
V918146
ISBN (eBook)
9783346233189
ISBN (Buch)
9783346233196
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Improvisation, Musikpädagogik, Methodik, Didaktik, Jazz, Neue Musik, Instrumentalpädagogik
Arbeit zitieren
Benjamin Viale (Autor:in), 2019, Wie wird Improvisation in der Musik gelehrt? Eine theoretische und didaktische Annäherung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/918146

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